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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Vergnügt kletterten die Kinder von Sophienlust aus dem roten Schulbus. Sie kamen vom Sonntagsgottesdienst, den sie in Begleitung des Musik- und Zeichenlehrers Wolfgang Rennert und dessen Frau Carola in der Kirche von Wildmoos besucht hatten. Die Heimleiterin, Frau Rennert, flankiert von dem Bernhardiner Barri und der schwarzen Dogge Anglos, erwartete die Kirchgänger auf der Freitreppe. Carolas erste Sorge galt – wie meist, wenn sie etwas länger fort gewesen waren – ihren Zwillingen. Auf ihre besorgte Frage antwortete ihre Schwiegermutter: »Alexandra und Andreas haben fast die ganze Zeit geschlafen.« »Gott sei Dank!«, rief die junge Frau. »Dann hast du nicht viel Arbeit mit den beiden gehabt?« »Aber nein, mein Kind.« Die Heimleiterin lächelte ihre bildhübsche Schwiegertochter an. »Außerdem macht es mir große Freude, sie zu versorgen.« »Jedenfalls danke ich dir sehr, dass du auf sie aufgepasst hast, Mutter.« Carola gab der älteren Dame einen Kuss auf die Wange, betrat das weitläufige Haus und eilte zu ihrer kleinen gemütlichen Wohnung, die sich in einem Anbau des Herrenhauses befand. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass ihre Lieblinge tatsächlich friedlich schliefen, atmete sie befreit auf. Vielleicht komme ich heute endlich wieder einmal dazu, mich mit meiner Malerei zu beschäftigen, dachte sie und betrat das kleine Atelier. Seitdem sie zwei Kinder hatte, kam das Malen etwas zu kurz. Aber ihre Kinder bedeuteten ihr eben noch mehr als die Kunst. Nachdenklich betrachtete Carola das angefangene Bild auf der Staffelei. Eigentlich hatte sie vorgehabt, dieses Landschaftsbild auszustellen. Aber wenn sie weiterhin so wenig daran arbeitete, würde es wohl niemals fertig werden.
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vergnügt kletterten die Kinder von Sophienlust aus dem roten Schulbus. Sie kamen vom Sonntagsgottesdienst, den sie in Begleitung des Musik- und Zeichenlehrers Wolfgang Rennert und dessen Frau Carola in der Kirche von Wildmoos besucht hatten.
Die Heimleiterin, Frau Rennert, flankiert von dem Bernhardiner Barri und der schwarzen Dogge Anglos, erwartete die Kirchgänger auf der Freitreppe. Carolas erste Sorge galt – wie meist, wenn sie etwas länger fort gewesen waren – ihren Zwillingen. Auf ihre besorgte Frage antwortete ihre Schwiegermutter: »Alexandra und Andreas haben fast die ganze Zeit geschlafen.«
»Gott sei Dank!«, rief die junge Frau. »Dann hast du nicht viel Arbeit mit den beiden gehabt?«
»Aber nein, mein Kind.« Die Heimleiterin lächelte ihre bildhübsche Schwiegertochter an. »Außerdem macht es mir große Freude, sie zu versorgen.«
»Jedenfalls danke ich dir sehr, dass du auf sie aufgepasst hast, Mutter.« Carola gab der älteren Dame einen Kuss auf die Wange, betrat das weitläufige Haus und eilte zu ihrer kleinen gemütlichen Wohnung, die sich in einem Anbau des Herrenhauses befand. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass ihre Lieblinge tatsächlich friedlich schliefen, atmete sie befreit auf.
Vielleicht komme ich heute endlich wieder einmal dazu, mich mit meiner Malerei zu beschäftigen, dachte sie und betrat das kleine Atelier. Seitdem sie zwei Kinder hatte, kam das Malen etwas zu kurz. Aber ihre Kinder bedeuteten ihr eben noch mehr als die Kunst.
Nachdenklich betrachtete Carola das angefangene Bild auf der Staffelei. Eigentlich hatte sie vorgehabt, dieses Landschaftsbild auszustellen. Aber wenn sie weiterhin so wenig daran arbeitete, würde es wohl niemals fertig werden.
Als sie mit der Arbeit beginnen wollte, fing einer der Zwillinge an zu weinen. Seufzend legte Carola Pinsel und Palette wieder fort und eilte ins Kinderzimmer.
Die meisten Kinder des Kinderheims waren inzwischen in den Park gelaufen, um den herrlichen Vormittag im Freien zu verbringen. Nur Angelina Dommin, ein reizendes, ungefähr elfjähriges Mädchen mit langen rotblonden Haaren und unzähligen Sommersprossen, die ihr den Spitznamen Pünktchen eingebracht hatten, hatte sich den Kindern nicht angeschlossen.
Auch der zukünftige Herr von Sophienlust, der fünfzehnjährige Dominik von Wellentin-Schoenecker, der von allen Nick genannt wurde, war zurückgeblieben. »Kommst du denn nicht mit in den Park?«, fragte er seine kleine Freundin, die er als Fünfjährige sozusagen von der Straße aufgelesen hatte, weshalb er sich für das Mädchen in gewisser Weise auch jetzt noch verantwortlich fühlte.
»Nein, Nick. Ich möchte gern die Huber-Mutter besuchen. Gestern Abend hat sie mir von ihrem Fenster aus zugewinkt. Ich glaube, sie wollte mir etwas sagen. Aber gestern war es für einen Besuch bei ihr schon viel zu spät.«
»Ich komme mit«, entschloss sich der Junge und sprang schon die Stufen der Freitreppe hinauf. Pünktchen folgte ihm.
Die Huber-Mutter, eine Kräuterfrau mit hellseherischen Fähigkeiten, bewohnte ein hübsches Zimmer im Herrenhaus von Sophienlust. Obwohl ihr Alter aus den Kirchenmatrikeln des Dorfes leicht feststellbar gewesen wäre, lag es dennoch im dunkeln. Fest stand jedoch, dass sie das achtzigste Lebensjahr bereits weit überschritten hatte. Trotzdem war sie immer noch sehr rüstig und auch geistig rege. Nach einem Zeitungsbericht war ihre prophetische Gabe bekannt geworden. Damals war sie von so vielen Leuten, die sie für eine Wahrsagerin gehalten hatten, bestürmt worden, dass Denise von
Schoenecker die Greisin nach Sophienlust geholt hatte, um sie vor weiteren Belästigungen zu schützen. Die alte Frau genoss nun ihren Lebensabend in Ruhe und Frieden in Sophienlust. Über die Besuche der Kinder, die ihr jedes Wort glaubten, freute sie sich stets. Besonders Nick war fest überzeugt, dass die Huber-Mutter tatsächlich in die Zukunft blicken konnte.
Der sonst so kecke Junge klopfte jetzt zaghaft an die Tür. Auch Pünktchens Mundwerk stand still, als Nick nach dem leisen »Herein« die Klinke herunterdrückte und vor Pünktchen das Zimmer der alten Frau betrat, in dem ein feiner Duft nach Kräutern lag.
Die Huber-Mutter saß in ihrem Lieblingssessel am Fenster. Als die Kinder eintraten, wandte sie ihnen ihr runzliges Gesicht mit den tiefliegenden, noch erstaunlich klaren Augen zu. »Kommt nur weiter«, forderte sie das Mädchen und den Jungen freundlich auf. »Ich freue mich über euren Besuch.«
»Guten Morgen, Huber-Mutter.« Nick ergriff die trockene Hand der Greisin ehrfürchtig. »Ich hoffe, wir stören dich nicht«, sagte er leise.
»Aber nein, Nick.« Sie lächelte ihn an und wandte sich dann Pünktchen zu, um sie ebenfalls zu begrüßen. »Du wirst immer hübscher, meine Kleine«, stellte sie fest.
Pünktchen errötete über das Kompliment bis zu den Haarwurzeln.
»Setzt euch«, bat die Huber-Mutter und deutete auf das geblümte Sofa. »Ich bin froh, dass ihr gekommen seid. Nick, kommt deine Mutter heute nach Sophienlust?«
»Ich weiß es nicht genau, HuberMutter. Möchtest du Mutti sprechen?«
»Ja, Nick. Ich möchte sie um etwas bitten. Gestern war ich wieder einmal in Bachenau, um einige meiner Bekannten aufzusuchen. Eine sehr gute Freundin von mir ist krank und braucht Hilfe. Anna Kunert ist eine einfache alte Frau. Seit einigen Monaten hat sie ein Pflegekind. Aber nun muss sie ins Krankenhaus und ist dadurch gezwungen, das kleine Mädchen jemandem zu geben, bei dem es gut aufgehoben ist.«
Nick sprang wie elektrisiert auf. »Ich rufe Mutti sofort an!«, rief er. »Sie wird ganz bestimmt noch heute kommen. Pünktchen, warte hier auf mich. Bis gleich!« Schon war er draußen.
»Wie alt ist das Kind denn?«, fragte Pünktchen die alte Frau.
»Es ist noch sehr klein, etwa drei Jahre alt, vielleicht aber auch schon vier.«
»Also in Heidis Alter. Glaubst du, dass das Kind nach Sophienlust kommt, Huber-Mutter?« Aufgeregt rutschte Pünktchen auf dem Sofa jetzt hin und her.
»Wenn Frau von Schoenecker es im Kinderheim aufnimmt, dann wird es wohl hierherkommen, Pünktchen.«
»Erzähle mir doch etwas mehr von dem kleinen Mädchen, Huber-Mutter.«
»Leider weiß ich auch nicht viel von dem Kind.«
*
Während Pünktchen versuchte, mehr über das kleine Mädchen zu erfahren, eilte Nick in das Büro des Kinderheims, wo sich das Telefon befand. Aufgeregt wählte er die Nummer von Schoeneich.
Zu seinem Kummer erfuhr er von der ehemaligen Kinderfrau Marie, die jetzt den Posten einer Haushälterin ausfüllte, dass seine Mutter, sein Vater und Henrik ausgeritten seien.
»Zu dumm«, erwiderte er. »Bitte, Marie, richte Mutti doch aus, dass ich ihren Anruf in Sophienlust erwarte. Ja, bestelle ihr, es handle sich um etwas sehr Wichtiges.«
»Wird gemacht, Nick.«
Nick legte enttäuscht auf, dabei fiel sein Blick aus dem Fenster. Seine finstere Miene hellte sich auf, und sein Herz vollführte einen Freudensprung, als er die drei Reiter erblickte, die soeben den Gutshof erreichten. Es waren seine Mutter, sein Stiefvater und sein kleiner Bruder Henrik, der stolz auf einem kräftigen Shetlandpony saß.
»Prima!«, rief Nick und stürmte aus dem Büro. In der Halle rannte er fast das Hausmädchen Ulla um.
»Was ist denn in dich gefahren?«, rief sie ihm kopfschüttelnd nach.
Nick drehte sich nicht einmal um. Er war schon draußen und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Freitreppe hinunter.
»Ihr kommt wie gerufen!«, rief er seinen Eltern zu.
»Wo brennt’s denn schon wieder?«, fragte Denise, eine bildschöne schwarzhaarige Frau mit dunklen Augen und einem ovalen Madonnengesicht. Sie war noch immer gertenschlank. Der elegante Reitdress betonte ihre mädchenhaft schmale Taille noch mehr.
»Unterstehe dich nicht, die sonn?tägliche Ruhe deiner Mutter zu stören, mein Sohn!«, rief Alexander von
Schoenecker, ein hochgewachsener Mann mit klugen dunklen Augen. Dabei drohte er seinem Stiefsohn, den er ebenso wie seine eigenen beiden Söhne Sascha und Henrik liebte, scherzhaft mit dem Zeigefinger.
»Leider geht es nicht anders, Vati! Die Huber-Mutter möchte Mutti sprechen. Sie hat etwas auf dem Herzen. Mutti, nicht wahr, du stattest ihr einen Besuch ab?«
»Alexander, du siehst, ich muss mich der Gewalt beugen«, scherzte Denise und glitt aus dem Sattel. »Ich beeile mich!«, rief sie noch und eilte dann die Freitreppe hinauf.
Auch Alexander stieg vom Pferd. Henrik dagegen gab seinem Pony die Sporen. »Ich reite zur Ponykoppel!«, rief er seinem Vater zu.
»Aber reite nicht so wild!«
»Keine Angst, Vati.« Der Siebenjährige hob grüßend seine Reitgerte und spornte das Pferdchen an.
»Nick, musste das wirklich sein?«, fragte Alexander nun ganz vorwurfsvoll. »Hatte das nicht Zeit bis morgen?«
»Vati, ich weiß ja, dass Mutti auch mal Ruhe braucht. Aber eine kranke Frau befindet sich in Not. Außerdem handelt es sich um ein kleines Kind. Aber Genaues weiß ich auch noch nicht. Ich laufe mal schnell zur Huber-Mutter.«
»Tu das, mein Sohn!« Alexander schmunzelte. Er kannte Nicks Neugierde und Ungeduld. Meist konnte der Junge es kaum erwarten, Genaues über alle Geschehnisse in Sophienlust und Schoeneich zu erfahren.
Als Nick das Zimmer der HuberMutter wieder betrat, saß seine Mutter der alten Frau gegenüber und unterhielt sich mit ihr. Pünktchen stand am Fenster und strahlte Nick an, als er erschien.
»Anna Kunert ist die Tochter einer Freundin von mir«, sagte die Greisin gerade und blickte vor sich hin. »Meine Freundin ist ja schon lange tot, denn Anna ist bereits über Sechzig. Ja, ja, die Zeit vergeht. Die Stunden, Tage, Monate und Jahre fliegen nur so dahin.« Die Huber-Mutter blickte wieder auf De-
nise. »Nun muss Anna ins Krankenhaus. Der Arzt besteht darauf. Aber seit einigen Monaten hat sie ein kleines Mädchen in Pflege …« Wieder verlor sich der Blick der alten Frau in der Ferne. »Ich sehe eine junge Frau, verzweifelt und …« Verwirrt fuhr sie sich über die Augen. »Es wäre nett, wenn Sie sobald wie möglich Frau Kunert besuchen würden, Frau von Schoenecker. Hier habe ich die Adresse aufnotiert.« Sie reichte Denise einen Zettel.
Denise versprach der alten Frau, sich um Anna Kunert und ihr Pflegekind zu kümmern. »So, Kinder, nun kommt«, bat sie ihren Sohn und Pünktchen.
Die beiden Kinder verabschiedeten sich von der Greisin, nachdem auch Denise ihr zum Abschied die Hand gedrückt hatte.
Nur ungern folgten die Kinder De-nise. »Wenn wir noch ein Weilchen bei der Huber-Mutter geblieben wären, wüssten wir jetzt mehr über das Kind«, beschwerte sich Nick draußen. »Du hast doch auch bemerkt, dass sie einen Blick in die Zukunft geworfen hat. Nicht wahr, Mutti?«
»Ja, Nick, allerdings. Aber sie wollte nicht darüber reden.«
»Ich habe es auch bemerkt«, erklärte Pünktchen eifrig. »Die Huber-Mutter hat immer einen so seltsamen Ausdruck in den Augen, wenn sie in die Zukunft sieht. Dann ist sie mir richtig unheimlich. Weißt du, Tante Isi, ich kann mir ganz einfach nicht vorstellen, dass sie auch einmal jung gewesen ist.«
»Jeder Mensch ist mal jung gewesen, Pünktchen. Die Huber-Mutter ist sogar einmal ein Baby gewesen«, spottete Nick gutmütig.
»Aber das weiß ich doch!« Pünktchen kränkte sich über die spöttische Belehrung ihres großen Freundes. »Nur kann ich mir das schwer vorstellen.«
»Ich kann das verstehen, mein Kleines.« Denise strich dem Mädchen liebevoll über die samtweiche rosige Wange.
»Ob ich auch einmal so viele Runzeln wie die Huber-Mutter bekomme, wenn ich alt bin?«, überlegte Pünktchen weiter.
»Ganz bestimmt!«, rief Nick übermütig.
»Aber du bekommst ebenfalls ein runzeliges Gesicht, ätsch!«
»Ich nicht!« Der helle Schalk blitzte aus den dunklen Jungenaugen. »Ich werde immer jung bleiben. So wie Dorian Gray!«
»Dorian Gray? Wer ist denn das?«, fragte Pünktchen verwundert.
»Ein Romanheld, Pünktchen. Der Schriftsteller Oscar Wilde hat das Buch geschrieben. Aber dafür bist du noch zu klein. Später, wenn du älter bist, leihe ich es dir einmal. Dann kannst du es lesen.«
Lächelnd hörte Denise der Debatte zu, doch ihre Gedanken beschäftigten sich bereits mit dem kleinen Mädchen, das vermutlich in Kürze zu den Kindern von Sophienlust gehören würde.
Als sie mit ihrem Mann über diesen Fall sprach und ihm sagte, sie wolle auf der Stelle nach Bachenau fahren, bot er an, sie zu begleiten.
»Alexander, das ist lieb von dir. Dann reiten wir sofort nach Schoen-eich zurück, damit ich mich umziehen kann. Wo steckt denn Henrik?«
»Er ist zu der Ponykoppel geritten.«
»Mutti, darf ich mitfahren?«, fragte Nick.
»Nick, es ist mir lieber, wenn du hierbleibst und dich um deinen kleinen Bruder kümmerst.«
»Um ihn brauchst du dir gewiss keine Sorgen zu machen, Mutti. Henrik reitet bereits wie der Satan.«
»Das ist es ja, mein Junge. In allem eifert er dir nach. Alexander, bitte, hilf mir in den Sattel.«
Enttäuscht schaute Nick den beiden nach, als sie durch das Tor ritten. Dann aber rief er nach Pünktchen. Gemeinsam liefen die beiden Kinder zu den Koppeln, um nach Henrik zu suchen.
*
Barbi kniete auf einem Schemel und presste ihre Nasenspitze an der Fensterscheibe platt.
Anna Kunert beobachtete die Kleine vom Bett aus mit kummervoller Miene. Was sollte nur mit Barbi geschehen, wenn die Huber-Mutter ihr Versprechen vergessen haben sollte?, fragte sie sich sorgenvoll. Wenn sie nur die geringste Ahnung davon gehabt hätte, dass sich ihr Rheumatismus so verschlechtern würde, hätte sie das Kind gar nicht erst in Pflege genommen. Das Schlimme war, dass sie nicht einmal die Adresse von Barbis Mutter hatte.
»Tante Kunert, ein Auto kommt!« Barbi riss die alte Frau, der die Tränen gekommen waren, aus ihren traurigen Gedanken. »So ein schönes Auto habe ich noch nie gesehen!« Das Kind kletterte von dem Schemel herunter und lief zum Bett der Kranken.
»Tante Kunert, vielleicht kommt meine Mami und holt mich.«
»Das glaube ich kaum, Barbi. Sie hätte gewiss vorher geschrieben und ihre Ankunft angekündigt.«
»Ja, Tante Kunert.«
»Möchtest du denn, dass deine Mami kommt?«
»Ich weiß nicht.« Ein nachdenklicher Ausdruck trat in die blauen Kinderaugen. »Mami ist immer so nervös. Sie mag es nicht, wenn ich laut bin. Ich muss immer still sitzen.«
»Und das gefällt dir wohl nicht?«, fragte Anna Kunert lächelnd. Dabei umfasste ihr Blick zärtlich das reizende blondhaarige Mädchen.
»Nein, Tante Kunert, ich spiele viel lieber mit anderen Kindern. Darf ich ein bisschen hinauslaufen?« Die Vierjährige hob bittend die Händchen.
»Jetzt nicht, mein Schätzchen. Später, wenn die Kinder von nebenan auf dem Hof sind, darfst du zu ihnen hinunterlaufen.«
»Fein, Tante Kunert. Barbi hat Hunger.«
»Ich mache sofort das Essen warm.« Anna Kunert richtete sich mühsam auf. Ächzend schob sie die Bettdecke zurück und griff nach ihrem Morgenmantel. Im selben Augenblick läutete es an der Wohnungstür. Sofort sank sie wieder in die Kissen zurück. »Wer mag das wohl sein?«, fragte sie. »Barbi, mach’ bitte auf.«
Ob die Huber-Mutter ihr Versprechen wahr gemacht und mit der Besitzerin von Sophienlust gesprochen hatte? fragte sie sich, als sie allein war.
Barbi öffnete die Tür und musterte die elegante Dame mit dem lieben Lächeln erstaunt.
»Bist du die Barbi?«, fragte Denise und blickte gerührt auf das winzige Persönchen hinunter.
»Ja, ich bin die Barbi. Und wer bist du?«
»Ich bin Tante Isi.«
»Oh.« Barbi schien sich unschlüssig zu sein, ob sie die fremde Tante hereinbitten durfte.
»Barbi, wer ist denn gekommen?«, rief Anna Kunert aus dem Schlafzimmer.
»Die Tante Isi ist da!« Barbi lächelte Denise scheu an. Dann lief sie aufgeregt zu ihrer Tante Kunert. »Sie ist eine liebe Tante und …«
»Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen hier«, unterbrach Denise das Kind, dem sie gefolgt war. »Ich bin Frau von Schoenecker. Die Huber-Mutter hat mir …«
»Oh, dann hat sie ihr Versprechen gehalten«, fiel die Kranke der Besucherin lebhaft ins Wort. »Ich bin ja so froh, dass Sie zu mir gekommen sind, Frau von Schoenecker. Nur dürfen Sie sich hier im Zimmer nicht so genau umsehen. Seitdem ich bettlägerig bin, bleiben alle Hausarbeiten liegen.«
»Ich habe aber Staub gewischt, Tante Kunert«, warf Barbi vorwurfsvoll ein.
»Aber ja, mein Schätzchen, ich weiß, das hast du getan. Dafür bin ich dir auch sehr dankbar«, lobte Anna Kunert das Kind. Aus dem liebevollen Tonfall ihrer Stimme erkannte Denise, dass die alte Frau das kleine Mädchen sehr lieb behandelte.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Frau von Schoenecker«, bat Anna Kunert. »Ich wollte gerade das Mittagessen aufwärmen. Aber bei mir dauert jede Arbeit entsetzlich lange, seitdem ich mich kaum bewegen kann. Ich hoffe nur, dass mir die Ärzte im Krankenhaus Linderung verschaffen können. Denn mit diesen Schmerzen vergeht einem jede Freude am Leben«, fügte sie seufzend hinzu.
»Heutzutage vollbringen die Ärzte oft Wunder, liebe Frau Kunert«, sprach Denise ihr Mut zu. »Wann müssen Sie denn ins Krankenhaus?«
»Sobald wie möglich. Sowie ich Barbi in guten Händen weiß, werde ich mich von meinem Arzt ins Krankenhaus einweisen lassen.«
Barbi warf einen schnellen Blick aus dem Fenster, aber die Nachbarskinder waren noch immer nicht zu sehen. Deshalb setzte sie sich still auf den Schemel und lauschte mit großen Augen auf die Unterhaltung der Erwachsenen. Tante Kunert hatte ihr bereits gesagt, dass sie wahrscheinlieh in ein Kinderheim kommen würde, damit sie selbst in das Krankenhaus gehen könne. Ob Tante Isi gekommen war, um sie abzuholen?
»Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich Barbi gleich mit«, schlug Denise vor.
»Würden Sie das wirklich tun? Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen. Nicht wahr, Barbi, du würdest gern mit Tante Isi nach Sophienlust fahren?«, wandte sie sich an das Kind.
»Ist das ein Kinderheim?«, fragte Barbi ernst.
»Ja, mein Schätzchen. Sophienlust ist ein Kinderheim.«
»Es ist ein wunderschönes Kinderheim, Barbi«, versicherte Denise und schilderte dem Kind das Leben dort in den leuchtendsten Farben. Sie erzählte von dem riesigen Park mit dem Gartenpavillon, der als Spielraum diente, von dem Weiher und dem Waldsee, in dem man im Sommer baden konnte. Sie berichtete von dem sprechenden Papagei Habakuk und dem Aquarium mit den vielen exotischen Fischchen. Sie erwähnte auch die Pferde und die Ponys, sprach von den Kühen und Ochsen.
»Oh«, flüsterte Barbi, fassungslos über so viele Herrlichkeiten.
»Wir haben aber auch Hunde und Katzen. Und die Kinder in Sophienlust freuen sich sehr, wenn du nach Sophienlust kommst.«
»Wirklich?«, staunte die Kleine. »Aber sie kennen mich doch gar nicht.«
»Sie wissen, dass du ein liebes kleines Mädchen bist, Barbi.«
»Dann sind sie lieb zu mir?«
»Ja, Barbi, das sind sie gewiss.«
»Nicht wahr, Tante Kunert, du bist mir nicht böse, wenn ich gern dorthin fahren möchte?«
»Aber nein, mein Schätzchen. Im Gegenteil, ich bin sogar froh darüber. Dort weiß ich dich in guten Händen.« Anna Kunert wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln fort. Niemals hätte sie für möglich gehalten, dass ihr der Abschied von dem kleinen Mädchen so schwer fallen würde. Das Kind war ihr in den wenigen Monaten ans Herz gewachsen. Das sagte sie auch Denise, die verständlicherweise mehr über Barbis Familie wissen wollte.
