Phase 5 - Kai Ringlstetter - E-Book

Phase 5 E-Book

Kai Ringlstetter

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die ganze Welt schaut bei einem riesigen Experiment zu. Zweihundert Menschen werden auf eine Insel gebracht und leben dort fortan ohne Geld. Sie versorgen sich selbständig in einem völlig autarken System und arbeiten nur noch, um sich selbst zu verbessern. Doch wenn die Welt richtig hinsehen würde, würde sie bemerken, dass das alles nur zum Schein existiert. Das eigentliche Experiment geht tiefer und ist viel schrecklicher und nur zwei wären vielleicht in der Lage, zu entkommen und die Katastrophe zu verhindern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Das Labor – 22:00 Uhr

Das Herrenhaus

Das Labor – 23:05 Uhr

Gejagt

Das Büro des Doktors

PRB36 – Adam Shaw

Überwachungseinrichtung Alpha

Der Heimweg

Der Plan

K-16/13

Karen´s Zuflucht

Der nächste Tag

Karen

Gebäudeeinheit W14

Karen´s Labor

Es gibt kein Zurück

Der Weg zum Professor

Der Kerker

Die Flucht

Ausweglos

Die Stimme

Für Danica

Prolog

Ein barscher Wind wehte einzelne Flugblätter der momentan vorherrschenden Präsidentschaftskampagnen über die Straßen. Jetzt, in den letzten Tagen des Oktobers, kurz vor dem ersten Dienstag des Novembers, dem Wahltag des amerikanischen Präsidenten, wurden die Menschen regelrecht überflutet von allerlei Versprechen und Weissagungen.

Weniger Arbeitslose!, oder kostenfreie Gesundheit!, hieß es, während Präsidentschaftskandidaten ihr Konterfei auf großen Wahlplakaten ausstellten und um jede Stimme buhlten. Der heftige Wind, die Plakate und die ständig gelb blinkende Ampel verursachten beim Betrachter ein Gefühl des Sturms, des Durcheinanders, einen Gefühlseindruck der Kälte, die in alle Knochen zieht und sich dort häuslich einrichtet.

Der Straßenzug war gesäumt von einer Reihe Häuserblocks, zum Teil bewohnt, teilweise mit einfacheren Geschäften, die aber eher weniger abwarfen. Lediglich ein Gemüsehändler und ein kleiner Zeitschriften-Shop, sowie die Apotheke waren in der Lage, hier Umsatz zu generieren und das auch nur, wenn die meistens unpünktliche Straßenbahn hielt. Hier gaben sich diverse Anwohner die Klinke in die Hand. Die einen kamen nach Hause, die anderen gingen zur Arbeit. Aber wirklich lebendig war es hier nie.

Vielleicht war das der Grund, warum der Professor genau diese dunklen Ecken der sonst so hektischen Stadt ausgesucht hatte, um seine Aufgabe zu erfüllen. Tief unter der Brücke gab es nämlich eine kleine Immobilie, die im oberen Teil zum Ladenlokal umgestaltet war. Sie war sogar in Betrieb. Hier konnten die wenigen Menschen, die es dann doch hierher zog, in Ruhe einen Kaffee trinken, bevor sie sich wieder auf den Weg zu ihrer gewählten Beschäftigung aufmachten.

Das Ladenlokal war relativ unspektakulär eingerichtet und vom Aufbau ungefähr so gestaltet, wie die kleine Bar aus Edward Hoppers „Nighthawks“, das Lieblingsbild vom Pro fessor. Es gab einen langen Tresen, dahinter gewöhnliche Einrichtungen wie Spüle, ein paar Schränke mit Gläsern und einigen Bechern. Ganz rechts ein großer Kühlschrank. Am Tresen befanden sich zehn Stühle in einer Reihe. Und wenn man auf einem dieser Stühle saß, hatte man eine riesige Scheibe im Rücken, die Passanten dazu einlud, hineinzuschauen.

Der Professor hatte mehrfach bewiesen, je mehr man den Menschen Einblick in eine Sache gewährte, desto weniger schauten sie hin. Und so hätte jeder unbegrenzt hineinsehen und den Mann hinter der Bar beobachten oder sogar regelrecht studieren können. Aber keiner tat es. Niemanden interessierte das Treiben, keiner wollte wissen, wie lange der Barmann brauchte, um einen Kaffee oder Tee zu servieren, einen Cocktail oder Longdrink zu mixen. Keiner wollte wissen, wie viele Menschen - und vor allem welche - dort den ganzen Tag über ein- und ausgingen. Und vielleicht fiel auch gerade deswegen niemandem auf, dass einer dieser Menschen morgens zu unterschiedlichen Zeiten durch die kleine Tür ins Lager ging und den ganzen Tag nicht wieder herauskam. Selbst wenn es jemanden interessiert hätte, er hätte, ohne sich selbst davon zu überzeugen, lediglich mutmaßen können, dass es sich hier um den Manager handelte, der hinter verschlossener Tür seinen alltäglichen Geschäften nachgeht.

Doch das war nicht der Fall. Hinter der schlichten Tür befand sich zwar ein spärlicher Schreibtisch, der sowohl mit einem Butler für Kugelschreiber, Stempel, Lineal und einigen Quittungsblöcken, als auch mit einem Monitor, einem kleinen PC und einem etwas altertümlichen Telefon ausgestattet war. Von dem Menschen, der morgens hier hineinging, fehlte allerdings jede Spur.

Hätte es jemanden interessiert, hätte dieser sich außer dem Schreibtisch nur noch ein relativ einfaches Bild von einer Zahlenfolge ansehen können, die in einigen Farben und in fünf Reihen wiederholt wurde. Es war die vierstellige Zahl 6834, die zwar mit illusionierenden Effekten versehen, aber dennoch relativ klar zu erkennen war. Hätte man diese Ziffernfolge in das Telefon eingegeben, hätte eine kleine Vorrichtung in der Wand dafür gesorgt, dass eine versteckte Tür aufgeht, die direkten Zugang zu der Treppe ins Labor gewährte.

Das Labor – 22:00 Uhr

Endlich hatte er es geschafft. Nachdem er tagelang an vier Probanden die theoretischen Resultate überprüft hatte, war es gelungen. Sein Atem ging stoßweise. Er war fasziniert und traurig zugleich. Mit diesen eindeutigen Ergebnissen hatte er zwar bewiesen, dass sowohl eine Kommunikation über Gedanken, als auch die gezielte Steuerung von Körperfunktionen – wenn auch eingeschränkt - möglich ist, gleichzeitig war er in Gedanken aber auch bei den ganzen Opfern, die hierfür gebracht werden mussten. Dutzende Ratten waren bei den diversen Versuchen qualvoll verendet und hatten ein ums andere Mal um ihr Leben gekämpft.

Das Labor war etwa 40 Quadratmeter groß und quadratisch aufgebaut. Es gab noch zwei anliegende Räume, einer zum Anlegen von Sicherheitskleidung und eine kleine Toilette, die allerdings erbärmlich stank. Das war der Tatsache geschuldet, dass sie sich hier in einer unterirdischen Einrichtung befanden, für die eigentlich nie so richtig eine Toilette geplant war. Wann immer er es vermeiden konnte, erledigte er sämtliche dringenden Angelegenheiten in dieser Richtung eher zu Hause oder unterwegs. Jedes Bahnhofsklo war akzeptabler und so hatte er vorsorglich sogar ein „Außer Betrieb“ Schild an der Tür angebracht.

Wenn man das Labor über die Treppe erreichte, betrat man zunächst einen Gang, von dem rechts die beiden Räume abgingen und links eine Art Glaswand, die die eigentliche Forschungsstation von dem großen Kellergewölbe abtrennte. Schritt man den Gang entlang, kam man zu einer Sicherheitsschleuse mit Entlüftungs- und Desinfektionsanlage. Diese wurde für alle Eventualitäten eingebaut, allerdings war sie für die Forschung, die er mit dem Professor zusammen betrieb, momentan nicht weiter notwendig. Es reichte, sich den abgesehen von den Blutflecken der Ratte Casper typisch weißen Kittel anzulegen und durch die meist offene Schleuse zu treten.

Im vorderen Teil stand die provisorisch zusammengebaute Kaffeemaschine. Weiter hinten waren die Käfige mit den Studienteilnehmern und der restliche Raum barg genug Platz für den Versuchsaufbau.

Die Probanden wurden hier in ein typisches Labyrinth gesteckt, in welchem sie die Aufgabe hatten, Ziffern zu lesen. Nur hinter der Tür mit der richtigen Zahl steckte auch die Belohnung. In Monate langer Forschung hatte der Professor theoretisch bewiesen, dass man mittels ins Hirn implementierter Nano-Drähte gezielt mit der Ratte kommunizieren konnte. Außerdem war man sogar fähig, die Wahrnehmung der Nager zu analysieren und in Töne und Sprache zu übersetzen. Es war ferner möglich, die Gefühle, Empfindungen und Reize im Gehirn der Ratte auszulösen und zu steuern. Natürlich konnte diese keine Zahlen lesen – aber der Mensch, der mit ihr in Verbindung stand, schon.

Der Wunsch, diese Forschung zu Ende zu bringen, resultierte sicherlich aus seiner Kindheit. Bereits früh hatten sich seine Eltern getrennt. Seine Mutter, einst eine intelligente und wunderschöne Frau mit Doktortitel in theoretischer Physik, war leider an den Falschen geraten, der durch seine gescheiterte Karriere und anderer widriger Umstände früh den Glauben an so gut wie alles verloren hatte. Er flüchtete sich in den Alkohol und trieb die Familie damit in den Wahnsinn. Das Beste, was er schließlich tun konnte, war, die Familie zu verlassen. Doch er hinterließ einen Trümmerhaufen, den niemand so richtig aufzubauen vermochte. Seine Mutter zog sich immer weiter zurück und überließ den kleinen Jeremiah Owen seinem Schicksal. Sie schaffte es, ihn vom Kindergarten, Impfungen, sozialen Kontakten und dem eigentlichen Leben fernzuhalten, widmete sich ihren Tabletten und Psychosen und scherte sich einen Dreck um ihr Dasein.

So oft hatte er sich gewünscht, sie zu verstehen. Die Menschen zu begreifen. Doch es war ihm leider nicht gegönnt. Die Tage verlebte er einsam, das Wort „Schlafenszeit“ bestimmte sein Leben und so wurde aus ihm bereits in frühestem Kindesalter ein eigenbrötlerischer Mensch, der stets auf sich allein gestellt war.

Es grenzte an ein Wunder, dass eine Sozialarbeiterin, die zufällig mit dem Auto an dem Haus der Owens vorbeifuhr, einen Platten hatte und ihr Fahrzeug verlassen musste. Mit einem Seitenblick, der eigentlich dazu bestimmt war, sich in dieser düsteren Gegend abzusichern, nahm sie den kleinen Jungen mit dem pausbäckigen Gesicht und den durchdringend blauen Augen wahr. Er sah ihr von der anderen Seite durch ein Fenster völlig leer und verwahrlost entgegen, seinen Stoffteddy mit dem abgerissenen Ohr und dem kleinen, am seidenen Faden heraushängenden Knopfauge ganz fest an sich gedrückt.

Es waren Schicksale wie diese, die sie in diesen Job getrieben hatten und auch ihre Kindheit war nicht wirklich die Beste. Sie beschloss also, anonym in ihrer Dienststelle anzurufen und eine Vermutung zu Protokoll zu geben. Dort nahm man sich des Falles an und stellte recht schnell fest, dass hier dringender Handlungsbedarf bestand. So nahm man den kleinen Jeremiah Owen in Obhut und versuchte, ihm eine bessere Zukunft zu bescheren als die, die über ihm zusammenzubrechen drohte. Nach einiger Zeit in einer Einrichtung, in der er zwar nicht für immer bleiben wollte, die ihm aber merklich besser tat, als sein früheres Leben, blühte er mehr und mehr auf.

Zwei Sachverhalte haben ihn nie losgelassen. Keiner erklärte ihm je irgendetwas und niemanden verstand er so richtig. Er versuchte immer, sich alles selbst beizubringen, guckte sich von anderen viel ab und lernte autodidaktisch. Diese unrühmliche Kindheit weckte nicht nur seinen Forscherdrang und die Richtung, in die er forschen wollte, sie trieb ihn geradezu voran. Und so kam es dann schließlich, dass er sich der Verhaltensforschung des Menschen widmete. Bald war er renommierter, als man es je hätte annehmen können und heimste mal hier mal da den einen oder anderen Wissenschaftspreis ein.

Doch dies alles war für ihn immer noch elementare Forschung. Er wollte weit über das Ziel hinaus und beweisen, dass man in den Menschen reingucken kann.

So begab es sich zu einer Zeit, dass er nach einer Veranstaltung, bei der er Gastredner war, auf Dr. Mattes traf. Der Doktor war ein hochgewachsener Mann mit schwarzen Haaren, die ihm mehr oder weniger verwirbelt vom Kopf abstanden. Er hatte blassgrüne Augen, die hinter einer kleinen, runden Brille intelligent hervor funkelten. Ein Mann, der es vorzog, andere zu beobachten und wenig von sich selbst preiszugeben. Sein messerscharfer Verstand und seine direkte Art hielten bereits in früher Kindheit andere davon ab, sich mit ihm abzugeben.

In einem Gespräch zwischen den ganzen anderen fand der Doktor kurz Gelegenheit, Professor Owen seine Forschungsergebnisse bezüglich Nano-Technologie zu präsentieren. Für den Professor war dies das interessanteste Gespräch seit langem und so kam es dazu, dass die beiden sich ein weiteres Mal trafen, um dieses Thema nochmals ausführlich zu besprechen. Schnell gerieten sie ins Schwärmen, was man alles machen könnte, wenn man die Forschung auf diesem Gebiet weiter trieb. Immer weiter befeuerte Dr. Mattes den Professor, trieb seine Gedanken an und entfachte einen wahren Großbrand an Leidenschaft.

Bis zu dem Zeitpunkt, als der Professor Dr. Mattes völlig betrunken erlebte. Mit ausgezogenen Socken, heraushängendem Hemd und von Alkohol geschwängerter Zunge begrüßte er ihn eines Abends an der Haustür und beschimpfte die gesamte Wissenschaft in schier endlosen Tiraden als System-gesteuerte Stümper. Diese Erfahrung löste tiefe Verachtung in ihm aus und er erinnerte sich daran, dass er den Doktor bereits häufiger angetrunken vorgefunden hatte. Obwohl dieser es verstand, die Skepsis des Professors einzulullen und den Vorfall, sowie den angeblich gelegentlichen Griff zur Flasche mit einem traumatischen Erlebnis zu erklären, war dessen Vorsicht und Misstrauen doch angewachsen. Zwar fand er die Einfälle des Doktors durchaus weiterhin interessant, sein Innerstes sträubte sich aber vehement gegen eine Zusammenarbeit.

Und so zog er sich mehr und mehr zurück und überließ den Doktor seinem Schicksal, welches anscheinend daraus bestand, weiter zu trinken und dann seinerzeit einfach von der Bildfläche zu verschwinden.

Doch Professor Jeremiah Owen hatte durch die Gespräche viel Wissen aufgesogen. Er hatte schlichtweg zu wenig Zeit, um all das, was er gerne erforschen würde, auch umzusetzen. Eine Zweiteilung wäre ausgezeichnet, doch da das eher unwahrscheinlich war, musste ein Partner her. Einer, der genauso verbissen forschte, von dem er aber nie abhängig war. Ein intelligenter und williger Gehilfe, der verlässlich war, gutherzig und den Willen zum Verändern der Welt verspürte, aber gleichzeitig nicht allzu viel darüber nachdachte, was er mit seiner Forschung bewirken könnte. Denn es gab Risiken. Große Risiken.

Ein Abendessen bei seinem Sohn entpuppte sich dann für den Professor als wahrer Glücksfall. Da seine Ehefrau früh verschied, trafen sie sich oft und unternahmen zusammen allerlei Ausflüge, spendeten sich gegenseitig Trost, fachsimpelten über die Wissenschaft, spielten Schach oder regten sich sonst irgendwie zu intellektuellen Höchstleistungen an. Micky Owen genoss die Stunden mit seinem Vater und wann immer er konnte, versuchte er, ihn in sein Leben zu integrieren.

An besagtem Abend war eigentlich eine kleine Dinner-Party geplant, doch durch die einen oder anderen Umstände hatten sich gleich drei Gäste entschuldigen lassen. So blieb am Ende lediglich der Kommilitone Steven McAllister übrig und Micky beschloss, seinen Vater dazu einzuladen.

Im Verlaufe des Abends stellte der Professor recht schnell fest, dass er sich perfekt mit Steven unterhalten konnte. Er bemerkte interessante Ansätze in der Denkweise, stechende Logik, einen talentierten und wachen Geist und gleichzeitig die Fähigkeit, sich begeistern zu lassen und andere mitzureißen. Steven war all das, was der Professor sich von einem Forschungspartner erhoffte, was er in verschiedenen Ansätzen weiter überprüfte.

An dem Abend noch stellte er fest, dass sein Hauptinteresse der Biochemie galt. Auf diesem Gebiet war er zu Hause und beantwortete alle Testfragen, die der Professor ihm insgeheim stellte, mit sehr zufriedenstellender Ausführlichkeit. Jeremiah Owen war beeindruckt. Mehr und mehr lernte er über die Persönlichkeit des Steven McAllisters. Er war intelligent, strebsam, wissensdurstig aber trotzdem recht einfach strukturiert, definitiv kein Frauenschwarm trotz seines guten Herzens aber das war nicht nur nicht notwendig, es würde auch hilfreich sein für eine eventuelle gemeinsame Arbeit. Schließlich würde er sich dann mehr auf das Wesentliche konzentrieren können und die möglichen Ablenkungen oder Unpässlichkeiten, die gewöhnliche Familienväter - nicht mal zwingend schuldhaft - an den Tag legten, waren auf ein Minimum begrenzt.

Der Professor hatte ihn gefragt, was er von Tierversuchen halten würde. Auch er war stets dagegen gewesen, diese zur Forschung auf dem Gebiet des Make-ups oder auf andere unvorstellbare Arten dem Forscherdrang des Menschen zu unterwerfen. Zwar musste er sich eingestehen, dass diese dennoch für gewisse Tests notwendig waren, um den Fortschritt und vor allem den Fortbestand der Menschheit zu gewährleisten, trotzdem war ihm hier das Minimalprinzip ein wichtiges Anliegen. Nicht mehr als nötig bei gleichzeitig bestmöglichen Probanden und dementsprechenden Ergebnissen.

Steven war Vegetarier und fand, dass alle Tiere frei und in Frieden vor sich hinleben sollten. Er fachsimpelte gerne über Tierhaltung und daraus resultierende Werbelügen wie „Freilaufende Hühner“ oder „Kühe aus Weidehaltung“ bei denen einfach offensichtlich war, dass sich die Leute der werbenden Firma zusammen setzten und die immer gleichen Gespräche führten und Taktiken anwendeten.

„Es sei ein Spiel der Auslegungssache...“, fachsimpelte er und erklärte, dass die Zuständigen sich zunächst fragten, was eigentlich die rechtliche Definition von „Weidehaltung“ sei, Schritt 1. Und wenn sie feststellten, dass im Gesetz steht „Weidehaltung“ hieße, dass eine Kuh an X Tagen Zugang zu einer Weidefläche von X qm haben musste, dann sorgten sie dafür, dass diese Kuh nachweisbar genau das bekam, nicht mehr, aber manchmal sogar weniger. Zwar belegten die entsprechenden Papiere, dass die Tage eingehalten werden, aber der Wahrheit entsprach das leider nicht immer. Es ging um die Einhaltung der gesetzlichen Definition, nicht um die Kuh, Schritt 2, Auslegung und Sicherstellung.

Schritt 3 sei dann letzten Endes die Schaffung einer illusionären Werbelüge, bei denen die Menschen sich beim Kauf wohlfühlten und nicht weiter drüber nachdachten. Ein Leitsatz, der den Konsumenten nicht nur beim Erwerb, sondern auch während des Genusses ein gutes Gefühl gab und dafür sorgte, dass sie es selbständig ins Gespräch bringen. „Also wir kaufen nur Milch von Kühen aus Weidehaltung!“, sollten diese sich auf Partys erzählen… und genau das taten sie auch.

Dass die Kühe ansonsten ein elendes Leben führten, zusammen auf engstem Raum, dass die Kälber unnötig früh von ihren Müttern getrennt werden, dass die Euter überstrapaziert wurden und all die weiteren Gerüchte, die Steven McAllister beschäftigten und bei denen er sich in Rage sprach, das stand leider nicht auf der Packung.

Es waren Monologe wie diese, die den Professor überzeugten, dass er sein Herz am rechten Fleck hatte und er konnte ihn kontrollieren, dessen war er sich sicher.

Er lud ihn an einem Nachmittag zu sich nach Hause ein und erläuterte ihm seine visionären Forschungsträume. Für Steven war das eine ganz große Nummer. Er wähnte sich bereits bei dem Gespräch in einem Atemzug beschrieben an der Seite des populären Professors bei der Übergabe diverser Wissenschaftspreise. Die beiden würden Großes schaffen, und vielleicht die Menschheit verändern. Seine Neugier und sein Forschungsdrang waren geweckt. Er wollte am liebsten sofort anfangen und so tolerierte er auch, dass die Probanden leider eine kleine Operation über sich ergehen lassen mussten, die er zum Glück nicht selber vornehmen sollte. Dafür hatte der Professor ein weiteres Team akquiriert, welches die Probanden entsprechend vorbereitet lieferte.

Es war eine harte Prüfung für Steven, aber letztlich hatte er sich mit der Situation abgefunden und beschlossen, den Tieren wenigstens in der Zeit, in der er sich um sie kümmerte, ein gutes Leben zu geben. Soweit das möglich war.

Steven ging tagein tagaus in sein Labor und studierte das Verhalten seiner Probanden immer mit dem Blick auf das beispiellose Forschungsziel.

An dem Tag, an dem sein ganzes Leben umgekrempelt wurde, hatte er bereits morgens den falschen Fuß auf die Erde gesetzt. Er war abends beim Fernsehen eingeschlafen und hatte sich weit nach 0:00 Uhr aufgerappelt und in sein Bett geschleppt. Viele Gedanken ratterten in seinem Kopf, er spürte, dass er mit seinen Versuchen kurz vor dem Durchbruch war und so kam es natürlich, dass er nicht wieder richtig einschlafen konnte. Er wälzte sich hin und her und wenn er dann doch mal kurz einnickte, träumte er von Operationen, bei denen ihm Drähte in den Kopf gesetzt wurden.

In dem Traum betrachtete er das Geschehen zunächst von außen. Er sah, wie sein Kopf in einem riesigen Metallgestell eingespannt war und die Ärztemannschaft, von der jeder mit einer anderen Art Säge bewaffnet war, langsam auf ihn zuging. Er schrie laut und versuchte, sich zu befreien, aber keiner hörte ihn. Der Professor stand mit seinem Sohn in einer Ecke des Raumes und erklärte dem wissbegierigen, kleinen Micky Owen jeden einzelnen Schritt der Operation. In dem Moment, in dem die Schwester die Stichsäge an seinem Kopf ansetzte und größter Schmerz zu erwarten war, wechselte seine Perspektive auf den Blick aus einem Gefängnis. Eingeschlossen in einem Käfig knabberte er an einem Stück Thunfischpizza, immer noch völlig außer Atem, da er vorher wie irre durch ein Labyrinth schoss und überall gegen lief. Um ihn herum und in seinem Kopf waren Männer- und Frauenstimmen, die ihn anfeuerten, die ihm Befehle gaben. „Rechts, Links, im Kreis drehen!“ Sein Orientierungssinn war durch diese schrecklichen Stimmen nahezu außer Gefecht gesetzt. Dann, als er die golden leuchtende Tür durchschreiten wollte, wechselte wieder die Perspektive. Der Professor hielt ihn auf seinem Arm und streichelte seinen Rattenkopf, der sich immer noch im Metallgestell befand, während er auf vier weitere Käfige starrte. Er wachte auf, nachdem sich diese der Reihe nach aufblähten und in einem riesigen Schwall voller Blut explodierten.

Als der Wecker schließlich klingelte, fühlte er sich wie gerädert. Er ging ins Bad, fluchte, als ihm die Kappe der rotweiß gestreiften Zahnpasta, die er vom Geschmack her so sehr liebte, mal wieder unter den Schrank rollte und schnitt sich dann auch noch beim Rasieren knapp unterhalb der Nase. Er hatte erneut eine dieser günstigen Klingen aus dem gegenüber liegenden Supermarkt benutzt, statt sich wie von Micky Owen empfohlen doch endlich mal die teuren zu kaufen. Sein Freund hatte ihm in langen Monologen über die Herstellung und die Qualitätsansprüche berichtet, ähnlich wie die Ansprachen von Steven, wenn es um die Tierhaltung ging, und ihm sehr ans Herz gelegt, dass er doch endlich umsteigen sollte. Sogar vorgerechnet hatte er, dass er mit den Qualitätsklingen am Ende auch noch sparen würde –und doch gab es kein Einsehen bei ihm. Heute zahlte er wieder mal den Preis dafür.

Noch dazu stolperte er dann über seine Klamottenspur, die er in der Nacht quer durch die ganze Wohnung liegen gelassen hatte. Der Toast war wie immer verbrannt und der Zeitungsjunge hatte wieder einmal alle Exemplare, die für dieses Hochhaus gedacht waren, wahrscheinlich irgendwo in den Müll geschmissen. Es war ein Chaos sondergleichen und so fluchte er sich ein ums andere Mal von einer Situation in die nächste.

Der indische Taxifahrer bedachte ihn beim Einsteigen mit einem stirnrunzelnden Blick und musterte sowohl die Zahnpasta Flecken auf seinem Kragen, als auch die kleinen Toilettenpapier-Schnipsel, die er sich zum Blut stillen auf die offenen Wunden gelegt hatte. Dann drehte er seine Musik lauter und bestand in seinem ganz typisch akzentuierten Englisch auf die Barzahlung des Fahrpreises, da sein Kreditkartenleser angeblich defekt sei. Er rümpfte die Nase, als Steven dieses Gehabe mit keinem Trinkgeld honorierte. Vielleicht sollte er nächstes Mal mit dem Fahrrad fahren – aber wäre das besser? Sicher wusste er das nicht.

Im Labor angekommen, machte er sich dann an die Arbeit. Er hatte sich wie immer diese merkwürdigen Dioden an den Kopf gebaut und versuchte nun, dem jeweiligen Versuchstier gezielt den Weg durch das Labyrinth mitzuteilen. Um Zufälle auszuschließen oder auch, um zu verhindern, dass der Proband sich den Weg merkt, hatte er nach einem chaotischen Prinzip ständig wechselnde Anweisungen gedacht, die der Ratte den Weg weisen sollten. Bei vielen Probanden waren die Versuche über die Zeit leider immer wieder nach hinten losgegangen, denn ihr Körper wehrte sich gegen die Installation der Nanodrähte und versuchten, diese loszuwerden. Das endete stets mit einem qualvollen Tod und so war er sehr motiviert, entsprechende Chemikalien herzustellen, die die Abstoßung verhinderten und idealerweise zusätzlich dafür sorgten, dass die Empfangsbereitschaft seiner Gedanken erhöht wurden.

Am heutigen Tag war es dann soweit. Nachdem er lange mit der Formel herumprobiert hatte und schließlich bei Version 13.3 angekommen war, wurde er für den vielen Fleiß belohnt. Ständig aufs Neue hatte er die Tiere durch sein Labyrinth gelotst. Wann immer er rechts dachte, hatten die Ratten sich auch dorthin gewendet, wenn er links dachte, begaben sie sich ebenfalls in die korrekte Richtung. Er spürte, dass heute sein größter Tag werden würde, obwohl er ja so schlecht angefangen hatte, und dokumentierte alles penibel genau. Am Ende des Tages hatte er das Labyrinth sage und schreibe zwanzig Mal umgebaut und teilweise sogar Belohnungen weggelassen oder dafür gesorgt, dass die Tiere sich im Kreis drehten. Sie taten alles, was er wollte und was er ihnen per Gedanken mitteilte, während sie sich dabei und auch nach diesem harten Tag bester Gesundheit erfreuten. Sogar die Aufzeichnungen der Hirnströme am PC belegten das deutlich. Er hatte es ebenfalls geschafft, dass die Ratten Laute von sich gaben, wenn er es befahl. Der Wand-Test war sicherlich ein wenig schmerzhaft, aber notwendig. Bei diesem hatte er die Probanden nur leicht abgebremst gegen eine Wand laufen lassen. Jedes normale Tier wäre vorher stehen geblieben, doch nicht seine Versuchsteilnehmer. Das tat ihm natürlich sehr leid, aber auch so ein Test musste laut Protokoll sein - all das war ein Durchbruch, SEIN Erfolg. Es war beliebig oft reproduzierbar und ein absoluter Volltreffer.

Zum Schluss brachte er seine Lieblingsratte in den für ein Versuchstier leicht überdimensionierten Käfig zurück. Dieses Gehege war durch ein abenteuerliches Leben bereits stark beansprucht worden. Selbst dem Namensschild, auf dem man nur noch den Buchstaben „J“ erkennen konnte, fehlten zwei Ecken und auch die Farbe war schon lange abgeplatzt.

Er servierte ihr noch das Lieblingsfutter und brachte dann die Phiole mit der Aufschrift Phase in die Vitrine. Danach speicherte er die zugehörige Formel unter Phase_v_13.3 auf dem USB-Stick und steckte diesen in den Safe, der in die Wand hinter seinem Schreibtisch eingelassen war.

Darauf rief er den Professor an. Es klingelte dreimal, bis dieser ranging. „Jeremiah? Ich habe es geschafft! Kommen Sie am besten sofort wenn es Ihnen möglich ist.“, sagte er atemlos und legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wusste, dass der Professor die Nummer erkannt hatte und er war sich auch dessen bewusst, dass dieser schon lange auf eine derartige Meldung gewartet hatte. Er hatte sein ganzes Leben quasi auf diese Worte hingearbeitet und jeder Schritt, sei es in der Schule oder im Studium hatte ihn genau zu diesem Telefonat geführt. Deswegen war er sich auch sicher, dass jetzt nur noch etwa 40 Minuten vergingen, bis er aufgeregt in sein Labor kam und sich die Forschungsergebnisse präsentieren ließ.

Danach würden sie feiern, vielleicht eine Zigarre rauchen. Er würde seine Prämie kassieren und sie würden sich gemeinsam an einen Tisch setzen und die nächsten Schritte besprechen. Man musste die Ergebnisse nun festigen, Nebenwirkungen und sonstige unerwünschte Beigeschmäcker erforschen und anschließend eliminieren.

In der Folge konnte man das Ganze dann mit riesigem Tamtam an die große Glocke hängen. Sie würden Geschichte schreiben. Wenn er recht überlegte, hatte er das eigentlich sogar jetzt schon. Innerhalb weniger Monate war ihm dieses Kunststück gelungen. Das hätte selbst er nicht geglaubt, als er damals vor der Tür des Professors stand und von ihm in diese faszinierende Welt eingeweiht wurde.

Er beschloss, sich einen Kaffee zu kochen und zu warten. Währenddessen überlegte er, ob er bei etwaigen weiteren Forschungen mehr Gehalt verlangen konnte und wie er dem Professor das am besten beibringen sollte, wenn er gleich euphorisch durch die Tür schritt.

Doch es sollte alles anders kommen.

Das Herrenhaus

Zwei Jahre später.

Nach der lange andauernden Fahrt kamen sie schließlich in ein abgelegenes Waldgebiet. Sie bogen von der langgezogenen Waldstraße in eine kleine Abzweigung und arbeiteten sich weiter voran in eine niedliche Allee. Hier war der Weg bereits wieder geteert und nach einer erneuten Biegung hatten sie ein riesiges Anwesen erreicht, welches scheinbar still und heimlich in diesem Wald vor sich hin existierte.