Phasen des Überlebens - Paul Desselmann - E-Book

Phasen des Überlebens E-Book

Paul Desselmann

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Beschreibung

DAS GANZE LEBEN DEN FALSCHEN ZIELEN GEWIDMET! Diese schockierende Feststellung muss Nathan Seeger machen, als er auf dem Krankenbett die Zeit findet, die schlimmen Nachrichten von weltweiten Unwetterkatastrophen, Hungersnöten und Unruhen im Fernsehen anzuschauen. Gemeinsam mit seinem Assistenten diskutiert der schwerreiche Industriemagnat, was die Ursachen für all das Chaos sind und kommt schnell zu der Einsicht, dass die dramatische Überbevölkerung die Wurzel allen Übels darstellt. Doch welche Möglichkeiten gibt es, den bevorstehenden Kollaps der Menschheit zu verhindern? Im Grunde genommen kann nur noch eine drastische Verringerung der Weltbevölkerung das Schlimmste aufhalten. Nathan besitzt die nötigen finanziellen Mittel für die gravierenden Maßnahmen, doch er stellt auch klar, dass er eine möglichst humane Lösung möchte, um das Leid der Menschen nicht noch zu verschärfen. Paul Desselmann wünscht viel Spannung auf den folgenden Seiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Phasen des Überlebens

Phase 1: Einsicht

August 2021, Nathan Seeger

Schwere Hammerschläge in seinem Kopf rissen ihn aus seinem Schlaf. Nathan schreckte hoch, schaffte aber nur wenige Zentimeter, bevor er wieder kraftlos in sein Kissen zurücksank.

Eine vertraute Stimme neben ihm befahl, dass er sich entspannen sollte. Leichter gesagt, als getan. Was fiel diesem Idioten überhaupt ein, ihm Befehle zu erteilen? Doch anstatt seinen Assistenten zurechtzuweisen, verlangte Nathan krächzend nach einem Spuckeimer, der auch prompt eintraf. Daniel half ihm sogar dabei, sich auf die Seite zu legen, damit er den kaum vorhandenen Inhalt seines Magens entleeren konnte. Die Brühe brannte scheußlich in seiner staubtrockenen und ohnehin gereizten Kehle. Der Würgereflex wollte heute wieder mal kein Ende finden. Keine Ahnung, wo er die Kraft hernahm, um einfach immer weiter zu erbrechen.

Wundersamerweise ließ es nach einer Ewigkeit doch nach, und Nathan krächzte nach Wasser. Das brauchte er jetzt, um den widerlichen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben. Dabei wusste er nur zu gut, dass das Wasser seinem Magen nur Nachschub lieferte, den er sofort wieder auskotzen konnte. Die zweite Runde war immerhin nicht ganz so schlimm, das hatte er durch die vorherigen Behandlungen bereits erfahren dürfen. Übung macht den Meister? Von wegen.

Nathan spülte erneut seinen Magen aus, bevor er kraftlos auf den Rücken zurückrollte.

Inzwischen hatte sich auch endlich mal sein behandelnder Arzt die Ehre gegeben und war erschienen, um nach seinem Patienten zu schauen. Nun fragte der Trottel doch tatsächlich, wie es ihm gehe.

„Beschissen“, knurrte Nathan zurück. Was sollte er auch anderes sagen? Am liebsten hätte er ihm noch mehr an den Kopf geworfen, doch dafür fehlte ihm die Kraft, zum Glück des Quacksalbers. Nathan fragte sich, wozu er eigentlich die Vorzugsbehandlung bezahlte, wenn das Krankenhaus ihm solche Stümper zur Seite stellte. Gerade fingerte er an ihm herum und tastete alle möglichen und unmöglichen Stellen ab. Seine Stabtaschenlampe jagte ihm glühende Lichtstrahlen durch die Augen bis tief ins Gehirn hinein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er zum Ende und machte einen zufriedenen Eindruck. „Die Behandlung scheint gut anzuschlagen. Ich bin optimistisch. Die Nebenwirkungen sollten in den kommenden Stunden und Tagen abklingen, aber das kennen Sie ja bereits. Trinken Sie viel und in ein paar Stunden lasse ich Ihnen eine leichte Suppe zur Stärkung bringen.“ Damit drehte der Weißkittel sich um und verließ das Krankenzimmer, um über sein nächstes Opfer herzufallen.

Nathan quittierte dies mit einem Grunzen und fragte seinen Assistenten, wofür er eigentlich so viel Geld zahlte.

Daniel blieb ihm eine Antwort schuldig und fragte stattdessen, ob er die Wirtschaftsnachrichten sehen wollte.

Nathan nickte und gab den Sender überflüssigerweise vor. Nathan schaute immer denselben Nachrichtensender, seit er hier im Klinikum dahinvegetierte, anders konnte man dieses Scheißleben ja nicht nennen.

Er kam gerade recht, um einen Beitrag zum aktuellen Stand der Corona-Pandemie zu sehen. Die Zahlen schienen wieder leicht anzusteigen, obwohl es doch seit gut einem halben Jahr Impfstoffe gab. Die anfängliche Nachfrage nach dem Zeug war gigantisch, obwohl es wegen der kurzen Entwicklungszeit noch gar nicht richtig getestet werden konnte. Trotzdem war der Impfstoff schnell vergriffen und diverse Nebenwirkungen schockierten die Menschen. Dabei waren die harmlos im Vergleich zu solch einer weltweiten Katastrophe. Sicher starb mal hier und da einer an den Nebenwirkungen. Dass dadurch aber Millionen andere eine Überlebenschance bekamen, wurde von den Skeptikern völlig übersehen.

Nathan gehörte, dank seiner Erkrankung, zu einer der ersten Personen, die mit dem Impfstoff behandelt worden waren. Er hatte dafür noch nicht einmal Geld locker machen müssen, die Ärzte verpassten es ihm anstandslos. Selbst Daniel als sein engster Vertrauter hatte ein Röhrchen voll bekommen. Bei ihm war allerdings schon etwas Aufwand nötig, um die entscheidenden Behörden zu überzeugen. Nathan brauchte den Jungen, gerade jetzt, wo er sich kaum um seine Firmen kümmern konnte. Daniel bildete die dringend notwendige Verbindung zwischen ihnen.

Und ausgerechnet jetzt musste Nathan so schwer erkranken, wo die Pandemie eigentlich seine volle Aufmerksamkeit erfordern würde. Gleich mehrere seiner Firmen kämpften mit der Krise und sicherlich würde er nicht überall ohne Entlassungen auskommen können. Das zog wieder den Unmut der Belegschaften mit sich, während er hier in seinem unbequemen Bett darauf wartete, dass ein Wunder geschah, welches ihn wieder auf 100 Prozent Leistungsfähigkeit puschen würde.

Der Fernsehbericht ging weiter zu der Hochwasserkatastrophe, die vor kurzem Teile von Deutschland heimgesucht hatte. Nathan erinnerte sich, dass eine seiner kleineren Firmen in dieser Gegend produzierte und schwer betroffen war. Er fragte Daniel danach und sah an seinem Gesichtsausdruck, dass er keine guten Nachrichten vorlegen konnte.

„Große Teile des Gebäudes sind massiv beschädigt. Statiker haben es sich bereits angeschaut und befürchten, dass es einsturzgefährdet ist. Das Inventar ist völlig unbrauchbar und muss ersetzt werden.“

Nathan seufzte und ließ sich auf Daniels Laptop die letzten Umsätze des Unternehmens zeigen. „Sorgen Sie dafür, dass sie Insolvenz anmelden. Dort ist nichts mehr zu machen. Die Angestellten werden aus der Versicherungssumme mit einer Abfindung bedient.“

Daniel bestätigte, ohne sich dazu zu äußern, während Nathan sich wieder den Nachrichten zuwendete. Die Hiobsbotschaften schienen heute mal wieder nicht enden zu wollen. Der nächste Bericht widmete sich den gigantischen Waldbränden, die im Süden Europas und im Westen von Nordamerika wüteten. Wo die einen zu viel Wasser bekamen, hatten die anderen zu wenig.

Und dann war da ja auch noch das schwere Erdbeben, das vor wenigen Tagen Teile von Haiti in Schutt und Asche gelegt hatte, kurz bevor ein Tropensturm dasselbe Gebiet heimsuchte und die humanitäre Lage weiter verschärfte.

Nathan konnte nur mit dem Kopf schütteln. Gerade laut genug, damit es Daniel verstehen konnte, flüsterte er, dass sich die Welt nun endgültig gegen seine Bewohner zu wehren schien. Und das aus allen Richtungen. Hitzewellen, Sintfluten, fürchterliche Krankheiten und Erdbeben. Dazu kamen immer mehr Ungeziefer, Tierseuchen und Pflanzenkrankheiten, die den Anbau von Nahrungsmitteln schwieriger machten.

Gleichzeitig wurden von den Regierungen wichtige Bekämpfungsmittel aus Umweltschutzgründen verboten. Und da wunderte sich die Bevölkerung noch, dass die Lebensmittel immer teurer wurden?

Er selbst hatte durch eine seiner Lebensmittelfabriken entsprechenden Einblick in dieses Terrain.

„Seien Sie froh, dass Sie keine Kinder haben, Daniel. Sie würden sich nur um ihre Zukunft sorgen müssen. Ich bin froh, dass ich den Untergang der menschlichen Zivilisation nicht mehr miterleben werde.“

Daniel quittierte seine Worte mit einem frustrierten Seufzen. „Glauben Sie, man kann diese Katastrophe noch abwenden?“ wagte er zu fragen.

Nathan lachte freudlos auf. „Dafür müssten ziemlich viele Menschen auf ihren Luxus verzichten. Die Industrie müsste von jetzt auf gleich komplett umgestellt werden, was viele Unternehmen nicht überleben würden. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter an, das führt zu Unruhen und sämtliche stattlichen Organe kollabieren. Politische Randgruppen kommen dann an die Macht und machen mit Kriegen alles noch viel schlimmer.“

„Aber wo liegt das eigentliche Problem bei unserer derzeitigen Krise?“ fragte Daniel weiter.

„Ganz klar, die Überbevölkerung!“ krächzte Nathan gereizt heraus. „Stellen Sie sich vor, wir hätten von heute auf Morgen nur noch die Hälfte der Bevölkerung, aber noch immer die gleichen Technologien und das Wissen. Wir bräuchten weniger Rohstoffe, weniger Energie, die Flächen für die Landwirtschaft könnten für klimawichtige Wälder Platz machen. Der Bedarf an Produktion würde schrumpfen und damit den Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren. Umweltschädliche Kraftwerke könnte man problemlos abschalten, denn die bereits verfügbaren erneuerbaren Energien würden vollkommen ausreichen.

Die Überlebenden hätten mehr Platz für ihre Existenz und der ständige Expansionsdrang wäre überflüssig. Damit würde es weniger Kriege geben, was wiederum der Umwelt hilft, sich zu erholen.“

„Klingt nach einem tollen Traum“, warf Daniel ein.

Nathan nickte und fragte, was nötig sei, um dieses Ziel schnellstmöglich zu erreichen.

Daniel schüttelte seinen Kopf. „Man müsste wahrscheinlich die Weltbevölkerung innerhalb kurzer Zeit um 50 Prozent reduzieren. Das wäre nur durch einen aggressiven Virus zu erreichen, oder man lässt einen Asteroiden auf die Welt fallen, wie damals bei den Dinosauriern.“

„Das klingt ziemlich radikal. Fällt Ihnen keine humanere Lösung ein?“

Daniel schnaufte und schaute auf seine Uhr. „Ich glaube, heute nicht mehr. Ich hab in ein paar Minuten meinen wohlverdienten Feierabend und Katja wird gleich für Sie da sein. Vielleicht hat sie ja eine brauchbare Idee.“

Nathan lachte auf. „Katja mag ja gut aussehen und auch ein gutes Herz haben, aber in ihrem Kopf ist nichts als Stroh und selbst das füllt ihn nicht ganz aus.“

„Seien Sie nett zu ihr. Ich weiß, dass Ihnen das nicht leicht fällt. Sie ist aber eine wertvolle Unterstützung“, meinte Daniel schmunzelnd und verabschiedete sich mit besten Wünschen bei seinem Chef, bevor er eiligst verschwand.

Nathan war etwas frustriert, weil Daniel ihn im Stich ließ. Konnte der nicht wenigstens heute mal etwas länger seinen Job machen? Gereizt schnappte er nach der Fernbedienung und schaltete den Horrorkanal des Weltuntergangs aus, während er über seinen Assistenten nachgrübelte.

Er ging allmählich auf die 40 zu und arbeitete nun schon seit gut acht Jahren direkt für Nathan. Anfangs war er noch ziemlich eingeschüchtert von seinem steinreichen Chef. Nathan hatte mehrfach mit dem Gedanken gespielt, ihn als untauglich einzustufen. Zweimal hatte er ihn sogar gefeuert, aber schnell herausgefunden, dass die Nachfolger nicht annähernd so viel Ahnung von ihrem Job mitbrachten, wie Daniel zuvor. Besonders sein Organisationstalent war für Nathan unersetzbar. Jedes Mal gelang es ihm, den schlanken Einzelgänger mit einer kleinen Gehaltsverlockung wieder in sein Team zurückzuholen.

Letztendlich sah Nathan ein, dass er sich an Daniel anpassen musste, und nicht umgekehrt. Das fiel ihm besonders schwer und noch heute missglückte ihm diese Umstellung gelegentlich, wenn er seine Wut an dem Jungen abreagierte. Daniel schien sich allerdings inzwischen damit arrangiert zu haben und wagte es gelegentlich sogar, seinen Boss zu einer Entlassung aufzufordern. Er wusste ganz genau, welchen Stellenwert er im Leben des Chefs hatte und zog ihn gerne mal damit auf, wenn Nathan es wieder übertrieb.

Mittlerweile war er wie ein Sohn für Nathan geworden und er hatte ihn längst in seinem Testament bedacht, auch wenn Daniel das erst während des Notartermins erfahren würde. Sicherlich rechnete er bereits mit einer Zuwendung, doch bestimmt nicht in dieser Größenordnung. Finanzielle Sorgen würde er sich nach Nathans Tod nicht mehr machen müssen, und dass er mit Vermögen umzugehen wusste, hatte er längst im Konzern bewiesen. Seit Jahren überwachte Daniel die Buchhalter seines Unternehmens.

Nathans Gedanken wurden unterbrochen, als es geradezu zärtlich an der Tür klopfte. Er schmunzelte und wartete absichtlich, bis das Klopfen sich wiederholte, diesmal einen winzigen Funken lauter als zuvor. Er blieb gnädig und ließ seine Privatpflegerin eintreten.

Katja war ein recht attraktives Ding. Mittelgroß, kräftig gebaut ohne dick zu sein, und ein wunderschönes Gesicht, das von langen braunen Haaren eingerahmt wurde.

Sie stammte aus Litauen und sprach nur ein gebrochenes Deutsch. Doch Nathan mochte diesen Akzent, auch wenn er manchmal nachfragen musste, weil er sie nicht verstanden hatte.

Katja arbeitete seit einem dreiviertel Jahr für ihn. Daniel zog sie an Land, nachdem Nathan die Diagnose Lungenkrebs bekommen hatte – und das, obwohl er nie geraucht hatte. Seither leistete sie ihm gute Dienste und bei ihm kam bislang noch nicht einmal der Gedanke auf, sie zu feuern. Das gab es nicht oft in seiner Karriere, denn er wusste, dass er ziemlich jähzornig werden konnte. Katja schien diesen Job dringend zu brauchen, sonst hätte sie wahrscheinlich schon längst das Kopfkissen auf seinem Gesicht aufgelockert.

Trotz allem ließ sie sich nichts anmerken und gab ihr Bestes, um den Boss bei Laune zu halten. Berührungsängste schien sie dabei nicht zu haben, denn sie hatte weniger Probleme damit, seinen durch Krankheit und Behandlung zerfressenen Körper zu waschen, als er selbst. Okay, als Krankenpflegerin musste man so etwas können, doch Katja war diesbezüglich noch mal etwas ganz besonderes.

Auch heute kam sie direkt zum Punkt, ging ins Badezimmer und brachte kurz darauf einen Behälter mit Warmwasser und einen Lappen herein. Sie begann ohne Umschweife mit ihrer Arbeit, während sie Nathan fragte, ob er die gestrige Chemo-Behandlung gut überstanden habe. Er versuchte sich keiner Blöße hinzugeben und bestätigte, obwohl er noch vor drei Stunden lieber gestorben wäre. Katja glaubte ihm wohl und freute sich darüber.

Nathan wechselte das Thema und fragte, wie es ihrem Nachwuchs ging. Katja war im vierten Monat schwanger und der Kindsvater lebte noch immer in Litauen.

Sie bestätigte ihm höflich, dass sie sich wohlfühlte und mit ihrem Gehalt zurechtkam. Ob sie es ehrlich meinte, konnte er aber nicht genau sagen, denn sie war in allen Dingen viel zu bescheiden. Nathan entschied, dass er Daniel eine Anweisung geben sollte, ihr Gehalt nach oben zu korrigieren. Er würde das Geld ohnehin nicht mehr ausgeben können. Vielleicht sollte er auch noch mal mit dem Notar sprechen und ihr einen Anteil am Erbe zuteilen, damit wenigstens das Kind versorgt war. So konnte er zumindest am Ende seines dekadenten Lebens mal etwas Anständiges tun.

Er ertappte sich dabei, wie er auf ihren Bauch schaute. Viel zu sehen gab es noch nicht, und so bedauerte er es, dass er dieser Frau nicht den Hof machen konnte. Sie hätte gerne seine Dritte werden dürfen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass er auch bei den beiden vorigen Frauen ähnlich gedacht hatte.

Nathan war in seinen 71 Lebensjahren zwei Mal verheiratet gewesen. Die längere Ehe war die erste, mit viereinhalb Jahren. Die Zeit hatte genügt, um mit Lydia eine Tochter zu zeugen. Sie war inzwischen 32 Jahre alt und er hatte fast die ganze Zeit ihres Heranwachsens verpasst.

Von ihrer Mutter trennte er sich im Streit und weil er sich anschließend völlig in seine Arbeit vergraben hatte, riss auch der Kontakt zu seiner Tochter ab. Er wusste, dass dies keine Ausrede war, doch er gewöhnte sich mit der Zeit daran, sodass er inzwischen ganz gut damit leben konnte.

Ein weiterer hilfreicher Punkt bezüglich seines Gewissens war, dass er seine Geschäfte nicht immer mit legalen Mitteln aufgebaut hatte. Nathan war diesbezüglich sehr ehrgeizig und durfte vom Glück reden, dass die Behörden ihm nie etwas anhaben konnten. Und wenn es doch mal etwas brenzliger wurde, stand immer noch einen Stab aus Anwälten hinter ihm, die ihn für einen Extra-Bonus gerne aus dem Dreck herauszogen.

Wahrscheinlich hatte er diese Scheißkrankheit, die ihn im Moment plagte, sogar verdient. Nun bereute er viele der Dinge, die er getan hatte, doch es war zu spät, um alles wieder gut zu machen.

Die zweite Ehe hielt immerhin knapp drei Jahre und im Nachhinein konnte er sagen, dass er diese Frau nur wegen ihres Aussehens geliebt hatte und sie ihn des Geldes wegen. Mit ihr ein Kind zu zeugen, kam für ihn nicht in Frage und darüber war er mittlerweile auch sehr froh. Sonst hätte sie ihm bei der Scheidung garantiert noch ein paar Millionen mehr aus den Rippen geleiert. So kam er verhältnismäßig glimpflich davon.

Ansonsten war sein Leben von unzähligen Affären und Abenteuern geprägt, die seines Wissens aber keine Nachkommen zur Folge hatten. Eine Frau wollte ihm mal ein Kind anhängen. Nathan setzte daraufhin einen Detektiv auf sie an und der konnte das „Missverständnis“ schnell aufklären. Es folgte ein bisschen unsanfter Druck auf die Dame und er hörte nie wieder etwas von ihren Forderungen.

Wie gesagt, Nathan war nicht auf alles in seinem Leben stolz, und so bedauerte er nun, dass er keine Zeit mehr haben würde, um doch noch etwas Großes zu erreichen.

Endlich klopfte es an der Tür und ein Pfleger brachte die angekündigte Suppe herein. Katja übernahm die Schüssel und ließ den Inhalt etwas abkühlen, während sie versuchte, ihr Naserümpfen vor dem Boss zu verbergen. Nathan sah es trotzdem und ahnte, was ihm da bevorstand. „Vielleicht bringen Sie mir morgen etwas Besseres mit. Sie kochen hervorragend“, meinte er und spürte, wie sein Magen schon bei dem Geruch der Krankenhaus-Plörre in Wallung geriet.

Katja lächelte und erklärte mit ihrem verführerischen Akzent, dass dies leider nicht erlaubt sei. Als sie mit dem Fraß näher herankam, passierte, was heute eigentlich nicht mehr passieren sollte. Einmal mehr suchte sein Mageninhalt den Ausgang und fand ihn schneller, als Katja reagieren konnte. Der Vorteil daran war, dass sich das Thema mit der Suppe im Anschluss auch gleich erledigt hatte. Sie landete nämlich beim ihrem Versuch, nach dem Spuckeimer zu greifen, auf dem Boden.

Katja entschuldigte sich panisch und rannte ins Badezimmer, um kurz darauf mit Putzmitteln zurückzukehren. Nathan schmunzelte und bedankte sich bei ihr. „Hören Sie auf, sich dafür zu entschuldigen. Sie haben mir gerade das Leben gerettet.“

Sie schaute auf und zeigte ihr wunderschönes Lächeln, versprach aber zugleich, morgen etwas von ihrer eigenen Suppe hereinzuschmuggeln.

„Das wäre das Schönste, was Sie für mich tun könnten“, bestätigte Nathan daraufhin. Trotzdem verschwand sie wenig später und kam nach einiger Zeit mit einer Scheibe Weißbrot zurück, die er mit Wasser herunterspülte. Es blieb diesmal sogar drinnen und so schlief er schon bald erschöpft von einem harten Tag ein.

Alte Freunde

20.August 2021

Als Nathan wieder zu sich kam, schien bereits die Sonne durch das Fenster. Katja hatte wohl schon Feierabend gemacht und dafür stand einmal mehr Daniel bereit, um ihm sein Frühstück aufzudrängen. Das bestand mal wieder aus einem Krankenhausbrei, der genauso aussah und roch, wie er schmeckte – nämlich nach absolut gar nichts. Nach längerem Drängen gab Nathan nach und versuchte etwas davon. Viel schaffte er nicht, bevor sein Magen erneut zu rebellieren begann. Überraschend blieb der Fraß dieses Mal drinnen.

Anschließend widmeten sie sich den neuesten Firmendaten, doch irgendwie schwebten die Zahlen heute einfach durch seinen Kopf hindurch.

Irgendwann hatte er genug, denn was er herausfiltern konnte, klang ohnehin nicht so berauschend. Eigentlich war es ihm auch egal, denn vermutlich würde er es nicht mal mehr bis in sein Büro schaffen, ohne dem Sensenmann zu begegnen. Sollten sich doch die Vorstandsmitglieder um diesen Mist kümmern.

Stattdessen fragte er Daniel, ob er über ihr Gespräch gestern nachgedacht habe.

Der kräuselte nachdenklich seine Stirn und hatte offensichtlich keinen Plan, was er meinen könnte.

Nathan ließ seine Augen rollen. „Ich meine, ob Sie eine Idee haben, wie man die Menschheit auf humane Art um 50 Prozent reduzieren könnte?“

Daniel schnaufte und fragte, wieso er immer noch über diesen Unsinn nachdachte.

„Weil das eine bedeutende Frage ist!“ stellte Nathan klar.

„Also gut. Nein, ich habe nicht darüber nachgedacht. Bevor Sie mir mit Arbeitsverweigerung drohen, ich hatte in dieser Zeit nach einem zwölfstündigen Arbeitstag Feierabend und habe mir die Frechheit herausgenommen, durch Schlaf Kraft für den heutigen Zwölf-Stunden-Arbeitstag zu sammeln. Bitte vergeben Sie mir diesen Frevel.“

Nathan schüttelte seinen Kopf und fragte laut, was nur aus dem schüchternen Jungen von vor acht Jahren passiert war.

„Den haben Sie gefeuert, zwei Mal“, knallte Daniel ihm vor den Bug.

„Mein Gott, ich habe ein Monster geschaffen!“ grunzte Nathan, lächelte aber zugleich. „Also gut. Da Sie ihre Aufgabe nicht erfüllt haben, möchte ich Ihnen meine Gedanken vortragen.“

„Sehr gerne, Herr Seeger. Aber bitte denken Sie daran, dass ich heute Nachmittag noch ein Firmenmeeting habe. Da sollte ich nicht zu spät kommen.“

„Sie haben auch immer irgendeine billige Ausrede, was?

Also gut, fassen wir noch mal kurz zusammen. Wir haben gestern festgestellt, dass die Erde sich offensichtlich immer mehr gegen ihre Bewohner wendet. Die einzige reelle Möglichkeit, die endgültige Katastrophe abzuwenden, wäre eine deutliche Reduzierung der Menschheit. Wie schaffen wir das, ohne dabei allzu grausam vorzugehen?“

„Ich hoffe, dass ist eine rein rhetorische Frage, Sir.“ Nathan mochte es, wenn man ihn mit Sir anredete. Herr klang ihm irgendwie zu förmlich, während Sir für ihn etwas Gehobenes ausstrahlte.

„Selbstverständlich, Daniel. Ich möchte das nur mal im Geiste durchspielen. Verzeihen Sie einem Todgeweihten diese Marotte.“

Daniel seufzte und zeigte damit, dass er nicht wirklich begeistert von diesem Spielchen war. Trotzdem ließ er sich darauf ein. „Also kommen Kriege und tödliche Seuchen schon mal nicht in Betracht“, stellte er klar und Nathan bestätigte nickend.

„Ich will den Planeten retten, und ihn nicht zerstören!“ erklärte der alte, und offensichtlich senile Mann.

Daniel lachte freudlos auf. „Dann müssen wir die Menschheit in den Weltraum bringen. Bei derzeit knapp acht Milliarden dürfte das etwas schwierig umzusetzen sein, selbst wenn man Milliardär ist“, witzelte Daniel und verstummte, als er merkte, dass sein Boss das weniger lustig fand. Deswegen schlug er vor, die Geburtenrate stark zu beschränken. Die Chinesen hatten die Ein-Kind-Regelung bis vor einigen Jahren durchgesetzt, diese aber inzwischen wieder aufgehoben, weil sie eine Überalterung ihrer Bevölkerung befürchteten.

Nathan nickte. „Dabei wäre die Überalterung global gesehen das geringere Problem der Menschheit. Leider werden das viele Länder so sehen. Nehmen wir nur mal Deutschland. Wenn es keine Geburten mehr gäbe, hätten wir immer mehr Rentner, die vom Staat finanziert werden müssten. Das hält auch die beste Rentenkasse auf Dauer nicht aus. Also fördert man mehr Geburten und trägt dadurch seinen Anteil am Bevölkerungswachstum und dem daraus folgenden globalen Kollaps bei.

Ärmere Länder nehmen sich daran ein Beispiel und beschleunigen so das Ganze deutlich.“

Daniel schnaufte genervt. „Freiwillig wird sich kein Land darauf einlassen, zumal eine solche Regelung das Wirtschaftswachstum ausbremsen würde. Sie wissen selbst, wie wichtig das Umsatzplus an jedem Quartalsende für ein Unternehmen ist. Wenn es im Vorquartal 5 Prozent erwirtschaftet hat und im Folgenden nur noch 3 Prozent, wird das Unternehmen bereits an der Börse gnadenlos abgestraft. Dabei geht es doch aufwärts, wenn auch nicht ganz so schnell. Ich finde diese Einstellung geradezu pervers. Alles ist nur noch auf Wachstum ausgerichtet, egal ob unsere Welt es überhaupt braucht oder verträgt.

Wenn ich sehe, dass der Erdüberlastungstag (jährlicher Tag, an dem die global verfügbaren Ressourcen eines Jahres aufgebraucht sind) in jedem Jahr weiter nach vorne rutscht, wird mir hundeelend. Dabei wird auf Teufel komm raus weiter produziert, obwohl man oft genug schon vorher sagen kann, dass den Krempel niemand kaufen wird. Hauptsache, die Zahlen stimmen.“

Nathan nickte betrübt. Er selbst kannte dieses Problem nur zu gut. Nicht wenige seiner Firmen agierten genau so, weil der permanente Zwang zum Wachstum es verlangte. Nachhaltigkeit stand da ganz hinten an. „Ich würde Sie gerne damit beauftragen, bei den Regierungen dieses Thema zu fördern. Es muss ein Nachhaltigkeitsgesetz aufgelegt werden, um diese Missstände in den Griff zu bekommen. Sie sind kompetent genug und haben auch genügend Einfluss, damit Ihre Stimme wahrgenommen wird. Dafür muss man natürlich auch in unseren Firmen entsprechende Änderungen vornehmen, damit unsere Forderungen glaubwürdig sind. Holen Sie dafür auch unsere PR-Abteilung mit ins Boot.“

„Das wird unseren Aktionären nicht gefallen, weil dann die Gewinne sinken“, gab Daniel zu erinnern und kehrte damit zum altbekannten Denken zurück.

„Dann machen Sie ihnen klar, dass sie noch viel mehr Geld verlieren werden, wenn sie nicht endlich umdenken. Das Unternehmen, das wir im Ahrtal nach dem Unwetter dicht machen müssen, ist da ein perfektes Beispiel“, fauchte Nathan ärgerlich heraus und bekam einen heftigen Hustenanfall, der Daniel nötigte, medizinisches Personal anzufordern.

Erst einige Stunden später hatte sich Nathans Lunge soweit beruhigt, dass er leise weiterdiskutieren konnte, obwohl es ihm der Arzt verboten hatte. Er bekräftigte seine vorherige Aussage und forderte Daniel dazu auf, den Konzern in diese Richtung zu lenken und gleichzeitig die Regierung mit einzubeziehen.

Für das andere Thema, zur humanen Reduzierung der Menschheit blieb ihnen heute keine Zeit mehr – zum Glück, aus Daniels Sicht, denn es bereitete ihm deutliches Unbehagen. Er war froh, als endlich Katja zu ihrer Schicht eintraf und er zügig in sein Büro verschwinden konnte.

Dort grübelte er über die Forderung seines Chefs nach und fragte sich, wie er diese optimal umsetzen könnte, ohne dass es zu viel Gegenwind der anderen Vorstände und Aktionäre gab.

Es dauerte nicht lange, bis er erste Ideen beisammen hatte. Für deren Umsetzung rief er Jana Gerber in sein Büro. Sie war die PR-Managerin des Konzerns und konnte entsprechende Ratschläge liefern. Die 43-jährige Frau war sehr durchsetzungsstark, was sie in vielen Pressekonferenzen und Aktionärsversammlungen bereits unter Beweis gestellt hatte. Dabei wirkte sie auf den ersten Blick eher gemütlich und entspannt. Hatte man allerdings vor, sie zu reizen, musste man sich immer eine Fluchtroute offenhalten. Vor einigen Monaten erst bekamen dies zwei aufdringliche Reporter eines Nachrichtensenders zu spüren. Die folgenden Beschwerden gegen sie wischte Nathan Seeger mal eben vom Tisch und wies den Nachrichtensender an, zukünftig respektvoller mit Jana umzugehen. Jana hingegen bekam anschließend eine Bonuszahlung vom Chef.

Heute hörte sie sich Daniels Vorschlag an und fragte nur selten nach, wenn etwas unklar war. Gelegentlich machte sie sich einige Notizen dazu.

Als Daniel fertig war, seufzte sie und stellte damit klar, dass die neue Gesinnung des Chefs keine einfache Sache werden dürfte. Trotzdem brauchte sie nicht lange, bis sie erste Vorschläge unterbreitete und die klangen für Daniel überaus interessant. Er segnete es ab und stellte ihr ein entsprechendes Budget zur Verfügung.

Einzige Bitte von ihm war, dass sie sich möglichst beeilte, denn niemand konnte abschätzen, wie viel Zeit Herrn Seeger noch blieb. Es wäre schön, wenn er es noch miterleben könnte.

Jana ging im Anschluss sofort an die Arbeit, während Daniel eine E-Mail an das Büro des Bundes-Wirtschaftsminister schickte und ihn um ein Treffen bat.      

Nathan Seeger versuchte sich inzwischen ein wenig zu entspannen. Bis gerade eben hatte er sich von seiner Privatpflegerin mit leichten Bewegungsübungen malträtieren lassen, während sie den üblichen Smalltalk führten.

Nun genoss er die Ruhe und grübelte weiter über sein Szenario nach. Er freute sich, dass er mit Daniel schon einen guten Anfang gemacht hatte. Das Projekt mit der nachhaltigeren Produktion würde den Jungen fordern und Nathan war sich sicher, dass sein Assistent das Zeug hatte, diese Herausforderung zu meistern. Er war gespannt, wie die Öffentlichkeit und vor allem sein Vorstand darauf reagieren würden.

Zum Kernstück seiner Gedanken musste Nathan allerdings feststellen, dass Daniel das Thema so gar nicht zu schmecken schien. Wahrscheinlich befürchtete er, dass sein Boss womöglich doch auf die Humanität verzichten könnte und einen tödlichen Virus erschaffen wollte, der den Großteil der Weltbevölkerung umbringen würde. Bei seinem Kontostand wäre das zweifellos machbar.

Doch für Nathan war dies keine Option. Er wollte den Menschen mit seiner Idee möglichst wenig Schaden zufügen.

Er wurde von einem Rascheln abgelenkt und schaute zu Katja hinüber. Sie war von ihrem Tisch aufgestanden und lief Richtung Badezimmer. Sie bemerkte nicht, dass er wach war, und so konnte er sie unauffällig beobachten. Er gönnte sich ein Lächeln, als sie zu ihrem Babybauch griff und darüber streichelte.

Jetzt wurde ihm klar, dass dies der Ansatzpunkt sein musste. Nur wenn die Weltbevölkerung nicht weiter wuchs, vielleicht sogar schrumpfte, würden die Menschen eine Chance haben, auf Dauer zu überleben.

Doch wie konnte man die Menschen davon überzeugen? Wie Daniel bereits gesagt hatte, würden sie sich niemals auf eine weltweite Geburtenregulierung einlassen. In den Staaten, in denen es tatsächlich umgesetzt würde, müsste man mit Widerständlern rechnen, welche die Regierungen gefährdeten. Unruhen wären vermutlich die Folge und es käme zu den Opfern, die Nathan eigentlich vermeiden wollte. Viele andere Staaten würden gar nicht erst mitmachen, sodass die Bemühungen der wenigen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein wären.

Er rang sich ein Seufzen ab und versuchte seinen Kopf freizubekommen. Doch das missglückte gründlich. „Sie müssten von selbst auf das Kinderkriegen verzichten wollen“, flüsterte er leise.

Katja hörte es trotzdem und kam herüber, um nach ihm zu schauen. „Sie sollen sich doch ausruhen!“ mahnte sie mit ihrem sympathischen Akzent.

Nathan nickte und schloss seine Augen. Er hörte, wie sie zu ihrem Platz zurückkehrte und grübelte weiter. Seine Gedanken wanderten einige Jahre zurück und nach Brasilien. Dort wurde über einen Virus berichtet, der für Erwachsene weitgehend ungefährlich war, aber ungeborene Babys im Mutterbauch angriff. Diese kamen dann mit schweren Fehlbildungen zur Welt und waren kaum überlebensfähig. Viele starben noch vor ihrer Geburt.

Wenn sich dieses Virus über die ganze Welt verbreiten würde und viele Menschen sich damit ansteckten, wäre das Problem so gut wie gelöst. Ärzte könnten im Vorfeld feststellen, ob ein Paar infiziert war und die meisten von ihnen würden sich dann zwangsläufig gegen Nachwuchs entscheiden. Wer wollte schon ein Kind zur Welt bringen, wenn er bereits vor der Zeugung wusste, dass es schwerstbehindert sein würde, und seine Lebenserwartung bestenfalls nur auf wenige Jahre beschränkt war? Die Leute könnten dann auf das Kinderkriegen verzichten und ihr Leben fast normal weiterleben. Das wäre eine humane Lösung, weil niemand ernsthaft darunter leiden würde.

Sicher versuchten es wahrscheinlich viele Menschen trotzdem, doch wenn die Bevölkerung erst einmal sah, was dabei herauskam, dürften die anderen es sich nochmals genau überlegen, ob sie diesem sinnlosen Weg folgen wollten.

Ein Haken bei dieser Idee waren die wenigen Kinder, die trotzdem zur Welt kamen. Um sie täte es Nathan sehr leid, doch er war sich auch sicher, dass ihr Opfer, im Vergleich zu einer aussterbenden Menschheit, vertretbar wäre. Man müsste nur sicherstellen, dass es irgendwann wieder rückgängig gemacht werden konnte. Wobei, selbst wenn die Menschen ganz aussterben würden, gäbe es zumindest noch eine Erde, die sich wieder erholen konnte.

Primärziel wäre aber natürlich, dass die Menschen überlebten und hoffentlich geläutert in eine verantwortungsvolle Zukunft gehen würden.

Nathan bedauerte, dass er dies nicht mit Daniel ausdiskutieren durfte. Er konnte sehr gut um die Ecke sehen und fand damit Punkte, die man bedenken musste. Doch bei solch einer gravierenden Maßnahme würde sein Kopf eher aussetzen und Nathan musste befürchten, dass Daniel seinen Chef endgültig für unzurechnungsfähig erklären ließ. Vielleicht war er das ja sogar, doch weil er gerade ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, spann Nathan seine Gedanken weiter.

Seinen Assistenten konnte er dafür nicht gebrauchen. Der sollte bei seiner Aufgabe bleiben. Dort würde er so richtig aufblühen. Nathan musste eben mit seinen Gedanken zweigleisig fahren.

Als Gesprächspartner fiel ihm hierfür ein guter Freund ein. Marco Ramirez kannte er bereits seit 25 Jahren. Er hatte den Mexikaner auf einer Wirtschaftsmesse in Detroit kennengelernt. Kurz darauf verkaufte Marco sein Chemieunternehmen an Nathans Konzern, blieb aber dem Vorstand erhalten und leitete die Umweltabteilung der Firma.

So hatten sie sich angefreundet und waren einmal im Jahr nach Wyoming zum Angeln gefahren. Dazu kamen häufige Treffen zu dienstlichen Zwecken, die man so oft wie möglich um ein paar Tage verlängert hatte.

Außerdem schätzte Nathan ihn als Berater in vielen Unternehmensfragen.

Zu blöd, dass er in den USA lebte und immer sehr beschäftigt war. Es würde nicht leicht werden, ihn hierher zu bekommen, und das möglichst zeitnah.

Trotzdem wollte er es versuchen, und sei es nur, um sich von ihm zu verabschieden. Deswegen brach Nathan nun sein Schweigegelübde und wies Katja an, Daniel zu informieren. Er sollte seinen Kumpel um ein Treffen bitten.

Daniel saß gerade mal wieder in seinem Büro und ließ seinen Kopf rauchen. Er hatte sich voll und ganz der Sache verschrieben, die sein Boss ihm aufgetragen hatte. Bislang war das ganze Projekt noch weitestgehend eine Machbarkeitsstudie, in die firmenintern nur die PR-Beraterin eingeweiht war.

Allerdings hatte Daniel inzwischen einige interessante Punkte beisammen, die sie eigentlich schon heute, beziehungsweise in den nächsten Wochen zur Umsetzung bringen konnten. Dafür musste er aber zunächst noch diverse Hürden überwinden, und diese waren ziemlich hoch. Genaugenommen handelte es sich dabei um die drei höchsten Vorstände des Konzerns, die auf seine Ideen bestimmt weniger euphorisch reagieren dürften. Die Umsetzung kostete nämlich Geld und würde so den Konzerngewinn langfristig um die eine oder andere Milliarde schmälern. Trotzdem musste er irgendwann diesen Schritt wagen, damit Nathan noch die Möglichkeit bekam, nötigenfalls ein Machtwort zu sprechen.

Gerade als er zum Telefon griff, um seine Sekretärin anzuweisen, ein entsprechendes Meeting anzuberaumen, meldete sie sich bei ihm und übermittelte den Wunsch von Herrn Seeger, dass er seinen Freund aus Amerika hierher bitten sollte.

Daniels Stimmung stieg schlagartig, denn er mochte Marco Ramirez. Wenn der sich wirklich die Zeit nahm, um hierherzukommen, würde das bestimmt Nathans Gesundheit, zumindest aber seiner Stimmung gut tun. Außerdem hatte Marco als leitender Umweltbeauftragter in den amerikanischen Unternehmensteilen ganz sicher einige gute Vorschläge auf Lager. An ihn hätte er eigentlich schon früher denken können, aber im Moment war sein Kopf so vollgestopft, da konnte schon mal was durchs Raster rutschen.

Voller Vorfreude vergaß Daniel, was er eigentlich Linda auftragen wollte und wählte Marcos Nummer. Zudem übersah er, dass es in Los Angeles noch sehr früh am Morgen war. Deshalb war es wenig verwunderlich, dass sein Opfer ziemlich verschlafen klang, als er nach mehreren Klingeltönen den Hörer abnahm.

Inzwischen hatte Daniel seinen Fehler realisiert und entschuldigte sich sofort für den Fauxpas.

„Ist schon gut, Schlaf ist ohnehin geschäftsschädigend. Wie kommt es, dass Sie mich anrufen? Bekommt das der alte Haudegen nicht mehr selbst auf die Reihe? Der hat schon länger nichts mehr von sich hören lassen.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, Mr. Ramirez“, erklärte Daniel und bekam überraschend Zustimmung von seinem Gesprächspartner. „Leider geht es Nathan nicht so gut. Er liegt seit über zwei Wochen im Krankenhaus und wird wegen Krebs behandelt.“ Daniel vernahm ein heftiges Schnaufen am anderen Ende der Leitung.

„Wie schlimm?“ fragte Marco schließlich knapp.

„Er hat gerade eine weitere Behandlung hinter sich und die Ärzte sind vorsichtig optimistisch.“

Wieder ein Schnaufen, welches auch ein Seufzen gewesen sein könnte. „Dann steht es nicht gut. Wenn die Ärzte sowas verzapfen, hat Nathan kein gutes Blatt auf der Hand.“

„Das interpretieren Nathan und ich ähnlich, Sir“, meinte Daniel bedrückt. „Er würde sich freuen, wenn Sie ihn besuchen könnten. Ehrlich gesagt scheint er mir in den letzten Tagen ein bisschen depressiv, weswegen es ihm sicherlich gut tun würde, wenn Sie ihm seinen Kopf wieder geraderücken könnten.“

Marco ließ ein dünnes Lachen hören. „Ich hatte eigentlich gedacht, dass diesen Fels so schnell keine Sturmflut umhauen würde. Trotzdem ist er ziemlich stark und ich gehe davon aus, dass er so eine blöde Krankheit auch übersteht. Aber ich werde ihm gerne einen Besuch abstatten. Ist nur nicht ganz einfach, bei all dem Chaos wegen Corona gerade.“

„Soll ich Ihnen einen Jet buchen? Dann dürfte es etwas einfacher werden.“

Marco dachte einen Moment darüber nach, lehnte aber vorerst ab. Seine Firma hatte einen eigenen Flieger, der dringend mal wieder bewegt werden müsse. „Ich werde das erst noch abklären und gebe Ihnen später Bescheid. Wenn alles gut geht, kann ich Nathan morgen Abend, oder übermorgen in den Hintern treten, damit er den Selbigen wieder aus dem Bett bewegt.“

Daniel lachte und gab an, dass er sich um das Hotel kümmern werde. Nachdem er aufgelegt und diese Aufgabe an Linda weiterdelegiert hatte, brauchte er einen Moment, um wieder zu seinem eigentlichen Thema zurückzufinden. Hierfür bat er die Vorstände des Konzerns zu einer Videokonferenz am morgigen Nachmittag.

Widerstand

21.August 2021

Nathan Seeger war heute überraschend gut beieinander, als Daniel sein Krankenzimmer betrat. Die Tür war noch nicht einmal ganz offen, als er ihm schon mit kräftiger Stimme entgegenrief, ob er etwas Vernünftiges zum Frühstück besorgt habe.

„Natürlich nicht. Genügt Ihnen der Sternekoch des Krankenhauses nicht?“ antwortete Daniel trocken und sah, wie der Chef sein Gesicht zu einer Grimasse verzog.

„Die tischen mir das auf, was die Schweine auf dem nächsten Bauernhof nicht haben wollen“, knurrte er ungehalten zurück. „Ich habe Hunger, und zwar jetzt.“

„Ich werde mal beim Arzt nachfragen, ob ich Ihnen eine schöne fettige Pizza zum Mittag bestellen darf“, gab Daniel ungerührt zurück.

„Sie verarschen mich doch bloß“, maulte Nathan daraufhin. „Was macht die Firma?“ lenkte er schließlich vom Thema ab.

„Ich habe heute Nachmittag eine Konferenzschaltung mit Emerson, Mori und Sokolow. Dann werde ich ihnen mitteilen, dass der Konzern nach den neuen ökologischen Kriterien umgebaut werden soll. Ziel ist es, die Überproduktion in sämtlichen Unternehmen deutlich zu reduzieren. Ich schlage eine Reserve von zehn Prozent in den Lagern vor, um Engpässe überbrücken zu können.“

Nathan hörte sich Daniels Pläne noch eine ganze Stunde lang an und gab nur gelegentlich Hinweise, was er anders anpacken müsste. Alles Weitere würde er bei der Konferenz lernen und Lernpotenzial gab es mit Sicherheit genügend. Schließlich war Daniel fertig und so verlangte Nathan, dass er ebenfalls eine Verbindung zum Meeting bekam.

„Das wird den Ärzten bestimmt nicht gefallen!“ meinte Daniel besorgt.

„Die sollen ja auch nicht daran teilnehmen“, gab Nathan ungehalten zurück. „Ich werde im Hintergrund bleiben und wenn die Vorstände kooperativ sind, werden sie nicht einmal merken, dass ich dabei bin.“

„Und wenn sie nicht mitspielen?“ fragte Daniel unglücklich.

„Sie kennen mich gut genug!“

„Genau das macht mir Sorgen, Sir.“

Nathan ging nicht darauf ein und bestand auf die Verbindung nach draußen. „Ich muss mit meinen Anwälten einiges klären und auch mit unserer PR-Abteilung habe ich ein Wörtchen zu reden. Sie wissen doch, wie streng die hier mit Besuch sind.

Apropo Besuch. Haben Sie mit Marco telefoniert? Ich muss Einiges mit ihm besprechen.“

„Heute schafft er es leider nicht mehr. Er trifft morgen ein. Ich habe bereits versucht, für ihn eine Besuchserlaubnis zu bekommen, doch die Krankenhaus-Verwaltung ist, wie Sie selbst erwähnt haben, etwas schwierig.“

„Ich muss aber mit ihm sprechen. Tun Sie, was nötig ist. Nehmen Sie von mir aus Geld in die Hand und wenn das nicht funktioniert, ziehen Sie Marco ein Krankenschwestern-Outfit über.“ Nathan gelang es nicht, seinen Ernst in der Stimme beizubehalten und ließ ein leises Kichern hören, als er sich Marco bildlich in dem Kostüm vorstellte.

Daniel hingegen blieb bei seinem kühlen Ausdruck. „Das steht ihm bestimmt ganz hervorragend, Sir. Er wird begeistert sein.“

„Ist mir egal, machen Sie es einfach möglich. Ansonsten werde ich noch morgen diese Folterkammer verlassen und nach Hause gehen.“

Daniel seufzte und meinte, dass dies wahrscheinlich der einfachere Weg wäre. Das Krankenhaus freute sich bestimmt über ein weiteres freies Bett, das es an einen dankbareren Patienten vergeben konnte.

„Soll mir recht sein. Wenn es mir in den nächsten Tagen auch so gut geht, werde ich ohnehin unterschreiben und hier verschwinden.“

„Dann werde ich Sie jetzt verlassen. Ich brauche etwas Zeit, um das alles zu organisieren.“

„Ja, ja. Machen Sie nur“, gab Nathan zurück. Offensichtlich ging es ihm tatsächlich schon deutlich besser, denn er war wieder derselbe launische Mensch, den Daniel aus seiner Anfangszeit kannte.

Nathan hingegen drehte sich mürrisch auf die Seite, doch lange sollte er seine Ruhe nicht genießen dürfen. Zwei Pfleger suchten ihn heim und schleiften ihn durch verschiedene Untersuchungsräume, bevor sie ihn letztendlich im Vorzimmer der Hölle zwischenparkten. Hier hauste eine professionelle Physiotherapeutin, die ihn deutlich härter rannahm, als es Katja jemals wagen würde. Skrupel schien dieses Ungeheuer nicht zu haben und seine Schmerzenslaute überhörte sie völlig. Und dafür zahlte er auch noch Unsummen.

Als die Pfleger ihn wieder in sein Zimmer brachten, fühlte er sich wie durch den Fleischwolf gedreht und anschließend von einem Laster überfahren. Dabei ging es ihm am Morgen doch noch so gut. Schon befürchtete er, morgen womöglich doch noch nicht nach Hause gehen zu können.

Endlich lag er wieder in seinem Bett und gerade als er einzuschlafen versuchte, flog die Tür ein weiteres Mal auf und die nächste Krankenschwester kam hereingepoltert. Er wollte sie schon anschreien, als er realisierte, dass sie sein Mittagessen dabei hatte. Sofort meldete sich sein Magen lautstark zu Wort und verlangte nach einer Füllung. Hatte der denn immer noch nicht kapiert, dass die ihn hier vergiften wollten?

Die Schwester stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch ab und der Duft des Essens schwebte zu ihm herüber. Der war gar nicht mal so übel, doch Nathan wusste, dass dies nicht viel bedeutete. „Was gibt’s denn heute?“ fragte er trotzdem hoffnungsvoll.

Die Schwester war noch ziemlich jung und das erste Mal bei ihm. Vermutlich wollten die anderen nichts mehr mit dem schwierigen Patienten zu tun haben, weswegen sie die Jüngste in die Höhle des Raubtieres vorschickten.

„Ich habe Kürbissuppe mit Karotten und Kokosmilch für Sie“, antwortete die junge Frau und lächelte ihn unter ihrer Atemschutzmaske an.

Nathan seufzte. Eigentlich klang das nach einer guten Vorspeise, doch nach mehreren Wochen hier kannte er die Kochkünste der Küche. Die schafften es sogar, eine einfache Instant-Hühnerbrühe zu verunstalten. Trotzdem hoffte er, wenigstens heute mal Glück zu haben und ließ das Kopfteil seines Bettes nach oben fahren.

Die Schwester, auf ihrem Namensschildchen stand Anna, reichte ihm die Schüssel und einen Löffel. Nathan warf einen Blick hinein und stöhnte. Es war, wie befürchtet. Die Suppe bestand aus einem orangenen zähen Brei, der mit besonders viel Elan in die Schüssel geklatscht worden war. Nathan ließ ein Knurren hören, das nicht von seinem Magen stammte. „Fragen Sie mal den Koch, ob heutzutage in den Kochschulen nicht gelehrt wird, dass das Auge mitisst. Ist es denn wirklich so schwierig, den Fraß wenigstens optisch ansprechend zu dekorieren? Ein Klecks Sahne obendrauf und noch ein paar frische Kräuter dazu, und der Appetit vergeht einem nicht schon beim Anblick. Wenn ich das hier sehe, möchte ich am liebsten gleich wieder alles auskotzen.“

„Tut mir Leid. Wenn es Ihnen nicht gefällt oder schmeckt, müssen Sie sich an die Verwaltung wenden“, antwortete Anna ungerührt, beugte sich aber zu ihm runter. „Ich bezweifle allerdings, dass das etwas ändern wird.“ Als sie sich wieder aufrecht stellte, zwinkerte sie ihm zusätzlich zu.

Nathan entrutschte ein Lächeln. Die Kleine hatte echt Arsch in der Hose, das konnte er spüren. Zumindest ließ sich das zierliche Mäuschen nicht so leicht von einem alten grantigen Brummbär beeindrucken. Stattdessen fragte sie, ob er selber essen wollte, oder gefüttert werden müsse. Kurz überlegte Nathan. Wenn er noch jung und frisch gewesen wäre, hätte er sicher ihre Fütterung angenommen, doch so als alter kranker Sack, ließ er es lieber bleiben und gab an, sich den Fraß selbst in den Hals schieben zu können.

„Immer schön tapfer, mit dem Gelumpe“, säuselte sie und verließ das Zimmer.

Leider täuschte der erste Eindruck von der Suppe nicht. Sie schmeckte, wie sie aussah. Dick, zäh und von Gewürzen hatte der Koch wohl noch nie etwas gehört. Wenigstens verspürte Nathan so schneller ein Sättigungsgefühl, weshalb es ihm nicht schwer fiel, ein Drittel der Pampe wieder zurückgehen zu lassen.

Eine andere Schwester kam und rügte ihn dafür, dass er nicht aufgegessen hatte. Nathan war hingegen froh darüber, denn kurz darauf traf Katja ein. Kaum dass die Tür hinter ihr geschlossen war, holte sie eine Plastikschüssel aus ihrer Tasche heraus und einen Löffel. Der Duft, der ihr entwich, als sie den Deckel öffnete, war geradezu himmlisch.

„Ich habe Kartoffelsuppe gemacht, mit Würstchen! Sie ist aber nicht mehr warm.“ gab Katja an.

„Egal. Her damit“, rief Nathan heraus und verschüttete beinahe vor Ungestüm die gute Suppe. Schon der erste Löffel war eine Offenbarung und so genoss er jedes Aroma in vollen Zügen, bevor er herunterschluckte. Er pulte sich ein Stück Würstchen heraus und schob es sich in den Mund.

„Ich habe die Haut abgezogen, damit es für Sie leichter verdaulich ist“, flüsterte sie mit ihrem wunderschönen Akzent.

„Sie sind ein Engel“, gab Nathan mit vollem Mund zurück und schluckte erneut runter. „Wenn Sie nicht schon vergeben wären…“, den Rest des Satzes ließ er offen und genoss das schüchterne Lächeln von Katja.

Leider wurde ihre Ruhe erneut gestört, als plötzlich Schwester Anna mit einem großen Karton in den Händen hereinplatzte. Nathan und Katja verharrten in Schockstarre, weil sie in flagranti erwischt worden waren.

Anna genauso, doch bei ihr hielt das nur eine Sekunde an, bevor sie nach draußen auf den Gang schaute und schließlich die Tür hinter sich mit dem Fuß zukickte.

Jetzt kam Katja wieder zu sich und versuchte, sich für das mitgebrachte Essen zu entschuldigen. Anna jedoch winkte ab und meinte, dass sie ihrem Chef damit das Leben retten würde. Und Krankenhäuser seien schließlich genau dazu da.

„Ist das für mich?“ fragte Nathan und zeigte mit dem Löffel auf den Karton.

Anna nickte. „Soll ich es für sie auspacken?“

Nathan nahm das Angebot gerne an und während er weiter aß, beobachtete er, wie sie einen Laptop aus dem Karton zog. Daniel hatte offenbar den ersten Teil seines Auftrages umgesetzt.

„Wollen Sie sich schmuddelige Filmchen ansehen?“ fragte Anna kichernd.

Nathan lachte auf und ließ dabei einige Kartoffelstückchen über das Bett fliegen. Schnell schluckte er herunter und erklärte, dass er heute noch ein wichtiges Firmenmeeting habe, bei dem er unmöglich fehlen durfte.

Nun schaute Anna ihn doch mit strengerem Blick an, doch Nathan widerstand ihm, weshalb sie nachgab. Allerdings ermahnte sie ihn, dass er es nicht übertreiben sollte und reichte ihm den Umschlag, den sie noch im Karton gefunden hatte.

Anschließend verschwand sie, kehrte aber wenige Minuten später wieder zurück, um ihm das WLAN-Passwort zu übergeben.

Das Meeting zwischen Daniel, Emerson, Mori und Sokolow fand drei Stunden später statt. Dass Nathan mithörte, wusste aber nur Daniel, der den drei Vorständen zunächst einen kurzen Bericht über den Gesundheitszustand des Chefs abgab. Anschließend kam er direkt zu seinen Umstrukturierungsplänen für den Konzern.

Bereits bei seinen ersten Worten sah Nathan, welche Reaktionen sie bei den älteren Männern auslösten. Bislang hielten sie sich aber noch mit Protesten zurück. Das währte nicht lange. Als Daniel konkreter wurde und die Reduzierung der Überproduktion ansprach, platzte es schon aus Emerson heraus. Er war für den amerikanischen Markt zuständig und kam nun mit den üblichen Ausflüchten, mit denen Wirtschaftsbosse schon seit ewigen Zeiten argumentierten. Die beiden anderen stimmten ihm etwas verhaltener zu.

Nathan beobachtete Daniel, der erstaunlich gelassen blieb und abwartete, bis sich Emerson ausgetobt hatte. Entspannt berichtete er weiter über seine Pläne zur nachhaltigeren Produktion. Viele Firmen richteten sich bereits entsprechend aus und ihr Konzern hinkte dem deutlich hinterher.

„Unsere Firmen sind weitgehend eigenständig und somit frei in ihren Entscheidungen. Uns interessiert nur, dass der Gewinn stimmt“, erklärte Hiroki Mori, der Chef für den asiatischen Markt.

„Genau das hat mich Nathan beauftragt zu ändern. Wir müssen mehr Einfluss nehmen und die Firmen wenn nötig zwingen, eine ökologischere Produktion aufzubauen.“

„Das wird Unsummen an Geld kosten. Firmen werden unrentabel und fallen in die Verlustzone. Wenn das publik wird, werden die Aktienkurse abstürzen“, protestierte John Emerson erneut.

Daniel blieb wieder erstaunlich ruhig. Nun stand er auf und schaute mit strengem Blick in die Kamera und somit jedem Vorstand direkt in die Augen. „Nathan Seeger hat den Umbau des Konzerns so abgesegnet und es ist unsere Aufgabe, dies umzusetzen. Wenn Ihnen das nicht gefallen sollte, steht es Ihnen frei, den Konzern zu verlassen. Zuvor sollten Sie sich aber im Klaren sein, was passiert, wenn wir unser Denken und Handeln nicht verändern. Weltweit sehen wir eindeutige Veränderungen des Klimas und das meine Herren, wird uns mittelfristig noch sehr viel mehr kosten, wenn wir jetzt nicht unseren Anteil an einer Besserung beitragen.“ Zur Untermauerung seiner Aussage ließ Daniel einige Bilder von Naturkatastrophen und unterernährten Kindern in staubigen Wüstenregionen im Schnelldurchgang ablaufen.

Nathan erkannte, dass die Bilder und Daniels Androhung einer Kündigung bereits Erfolg bei den Vorständen zeigten. Nun schauten sie betreten auf die Tischplatten vor ihnen. Nur Oleg Sokolow, der Verantwortliche für den russischen und osteuropäischen Markt, zeigte einen undurchdringlichen Blick. Es war nicht abzuschätzen, wie er über dieses Thema dachte.

Daniel setzte sich wieder hin und legte weitere Pläne vor. Dazu gehörte auch, dass die Zulieferer ihrer Unternehmen möglichst regional um die Industrien angesiedelt werden sollten. Gerade jetzt in der Corona-Krise zeichneten sich deutliche Probleme bei der Materialbeschaffung ab. Manche ihrer Unternehmen mussten bereits die Produktion zurückfahren, weil es Nachschub-Schwierigkeiten gab.

„Das ist doch zeitlich begrenzt“, brauste Emerson erneut auf. „Sobald Corona besiegt ist, werden auch die Lieferengpässe verschwinden. Die meisten Zulieferer befinden sich in China, wo wir deutlich günstiger produzieren können. Haben Sie eine Ahnung, wie viel uns eine Umverlagerung nach Europa und in die Vereinigten Staaten kosten wird? Allein die Umsetzung der landesspezifischen Vorschriften für die Produktion würden uns Unsummen kosten. Denken Sie doch nur mal an die Umweltauflagen in Ihrem Europa.“

„Genau da liegt das Problem, John. Die Umweltauflagen werden strenger und Konzerne wie wir hebeln sie aus, indem wir die Herstellung einfach nach China abgeben, wo die Umwelt nur ein lästiges Übel ist. Genau so zerstören wir unseren Planeten. Wie lange wird es noch dauern, bis die Bevölkerung aufgrund von Unwettern, Naturkatastrophen und Kriegen wieder schrumpft? Dass diese durch Industrie im Übermaß entstehen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Das wissen Sie selbst, auch wenn Sie es vermutlich zu leugnen versuchen.

Wie wollen Sie Ihr Wachstum beibehalten, wenn die Bevölkerung schrumpft? Einfach weiterproduzieren, bis alles endgültig eskaliert? Da hat niemand etwas davon. Selbst Sie nicht, wenn Sie sich in ihrem Luxusbunker verschanzen und darauf hoffen, dass irgendwann alles wieder besser wird. Wie lange wollen Sie denn unter der Erde hausen? Zehn Jahre, zwanzig, oder vielleicht fünfzig Jahre? Viel Spaß dabei.

Ich unternehme lieber jetzt etwas und hoffe, dass wir wenigstens noch ein Bisschen von unserer Kultur retten können. Und dafür müssen wir uns jetzt verändern. Nathan Seeger steht voll und ganz hinter dieser Maßnahme.“

Als Daniel sich eine Pause gönnte, um seine Kehle anzufeuchten, nutzte nun auch Oleg Sokolow erstmals die Gelegenheit, ein paar Worte zu sagen. „Im Grunde verstehe ich, was Herr Hausmann und natürlich Herr Seeger uns damit sagen möchten. Ich frage mich allerdings, ob wir das so von jetzt auf gleich in unserem Konzern umsetzen können. Das ist eine gewaltige Aufgabe und wird eine Menge Zeit und Geld beanspruchen. Wäre es nicht sinnvoller, mit einzelnen Firmen zu beginnen und so Schritt für Schritt den Wandel zu vollziehen? Wir könnten daraus lernen und bei größeren Unternehmen Fehler und somit unnötige Kosten vermeiden.“

Plötzlich zuckten sämtliche Vorstände zusammen, als ein weiterer Bildschirm auf ihren Monitoren aufpoppte und sie ihren obersten Chef erkannten. Sichtlich geschockt von seinem Aussehen, welches leider die Chemotherapie mit sich brachte, verschlug es ihnen die Worte. Das nutzte Nathan direkt aus und kam ohne Umschweife und lästige Begrüßungen direkt zum Thema.

„Lieber Oleg, Daniel, John und Hiroki. Was Oleg hier vorschlägt ist aus ökonomischer Sicht sicher sinnvoll. Der Haken an der Sache ist allerdings der, dass uns die Zeit für einen langsamen Umbau fehlt. Wir alle sehen in den Nachrichten, wie unsere Welt sich gegen seine Bewohner wendet. Dabei ist dies erst der Anfang. Wenn wir jetzt nicht hart, und sicherlich schmerzhaft durchgreifen, werden wir wirklich alles verlieren. Was sind unsere Firmen dann noch wert? Sicher nicht mehr als der Krankenhausfraß, den ich heute Mittag zu mir nehmen musste.“ Nathan erkannte tatsächlich Belustigung in den Gesichtern der Vorstände, doch er selbst blieb ernst bei der Sache. „Wir müssen das jetzt durchziehen und dafür so viel Geld in die Hand nehmen, wie wir aufbringen können. Ich möchte, dass Sie jedes unserer Unternehmen auf den Prüfstand stellen. Finden Sie heraus, wie wir sie durch Umstrukturierung umweltfreundlicher und zugleich krisensicherer machen. Kostengünstige Maßnahmen dürfen sofort umgesetzt werden, größere Aktionen sollten mit Daniel abgesprochen werden. Er hat diesbezüglich mein vollstes Vertrauen und besitzt die nötigen Vollmachten.

Sollte der Wandel bei Firmen nicht, oder nur mit sehr viel Aufwand umsetzbar sein, werden wir die Unternehmen abstoßen. Im Gegenzug können wir auch andere Firmen aufnehmen, die unseren Plänen eher entsprechen. Ziel ist ein optimiertes Portfolio, um besser für die Zukunft gerüstet zu sein.

Der Anfang wird zweifellos schwer und nicht alle Aktionäre werden mit uns diesen Weg einschlagen wollen, doch ich bin überzeugt, dass wir am Ende gestärkt aus diesem Wandel herausgehen und mit ein bisschen Glück die bevorstehenden globalen Veränderungen überstehen können.

Wachstum ist ab sofort nicht mehr unser Primärziel, sondern unser Überleben.“

Nathan atmete durch, was auch dringend nötig war. Dabei beobachtete er die Gesichter der Vorstände und versuchte daraus ihre Stimmung abzulesen. Bei Daniel war das kein Problem, denn er hatte ein dezentes Lächeln auf den Lippen. In Emerson hingegen schien es zu brodeln. Auf ihn würde er, oder besser gesagt Daniel, ein Auge haben müssen.

Mori zeigte sich nachdenklich. Vermutlich überlegte er bereits, wie er die neue Agenda möglichst kostengünstig umsetzen und einen Börsencrash verhindern konnte.

Sokolow hatte, wie eigentlich immer, sein Pokerface aufgesetzt und ließ sich nicht in die Karten, beziehungsweise in den Kopf schauen. Trotzdem war er der erste, der eine Gegenfrage brachte.

„Die reduzierte Produktionsmenge setzt Arbeitskräfte frei, die wir nicht mehr beschäftigen können. Wir werden Entlassungen vornehmen müssen.“

Nathan nickte. „Ohne die wird es nicht gehen. Versucht, das so sozial wie möglich abzuwickeln. Ihr könntet auch Firmen miteinander vernetzen und so qualifiziertes Personal untereinander austauschen. Der Fachkräftemangel bereitet uns schon lange Sorgen, sodass wir vielleicht sogar Lücken schließen können.“ Nathan beobachtete, wie Emerson unmerklich seinen Kopf schüttelte, sich aber ansonsten heraushielt. Auch in der folgenden Stunde änderte sich nichts daran, während Mori und Sokolow immer wieder Fragen stellten, die zumeist Daniel beantwortete.

Nachdem die Konferenz beendet war, blieben nur noch Daniel und Nathan in der Leitung. Der Chef fragte seinen Assistenten nach seiner Einschätzung.

„Sokolow macht auf mich den offensten Eindruck. Ich glaube nicht, dass wir mit ihm Probleme haben werden. Mori scheint sich den Kopf zu zerbrechen, wie er möglichst unbeschadet aus der Situation herauskommt.“

„Und Emerson?“ fragte Nathan neugierig.

Daniel seufzte und bestätigte die Einschätzung seines Chefs. „Er wird uns ganz sicher Steine in den Weg werfen, und zwar sehr große.“

„Dann sollten wir uns überlegen, ob ein Austausch nicht besser wäre.“

Daniel brauchte einen Moment, bis er lächelnd bestätigte. „Ich wüsste auch schon einen geeigneten Kandidaten. Er trifft morgen in Deutschland ein.“

„Marco kommt nicht dafür infrage. Er hat seinen Job, den er nicht aufgeben wird.“

„Haben Sie eine Alternative?“

Nathan schüttelte seinen Kopf. „Nichts auf die Schnelle. Trotzdem sollten wir uns deswegen Gedanken machen, aber nichts überstürzen. Lassen wir Emerson etwas Zeit, vielleicht fängt er sich wieder.“

Daniel konnte noch einen kleinen Erfolg vermelden. Am 24.August wollten sich der Wirtschaftsminister und die Umweltministerin mit ihm treffen. Mit ihrer Unterstützung hofften sie, neue Lösungsansätze zu finden, um konzernintern und vielleicht auch auf deutscher, oder sogar europäischer Ebene eine Veränderung in Schwung zu bringen.

Nathan zeigte sich begeistert und hoffte, dann wieder per Konferenzschaltung dabei sein zu können.

Gleichzeitig ging die Konferenz auch zwischen Sokolow, Emerson und Mori auf einem anderen Kanal weiter. Wie befürchtet ließ der Amerikaner seiner aufgestauten Laune freien Lauf und fragte offen, ob der Boss während seiner Behandlung den Verstand verloren hätte. „Wenn das publik wird, fallen unsere Aktien in den Keller. Auf die nächste Aktionärsversammlung gehe ich dann nur mit einer schusssicheren Weste und hinter Panzerglas. Von unseren eigenen Anteilen ganz zu schweigen.“

„Seh das mal nicht ganz so schwarz“, unterbrach Mori den cholerischen Anfall seines Kollegen. „Wenn wir das geschickt angehen, glaube ich, dass wir glimpflich davonkommen. Ich werde mich mit den Vorgaben beschäftigen und versuchen, sie zumindest teilweise umzusetzen. Guten Willen zeigen, wenn Du es so nennen willst.“

„Was soll das Ganze“, brauste Emerson erneut auf. „Wir werden alles verlieren und können froh sein, wenn uns anschließend nicht unsere eigenen Häuser gepfändet werden.“

„Das ist doch Unsinn“, donnerte jetzt Sokolow dazwischen und ließ seine Kollegen von dem seltenen Gefühlsausbruch zusammenzucken. „Nathan hat Recht. Wenn die Menschheit jetzt nichts unternimmt, wird es in 20 oder 30 Jahren keine Industrie mehr geben. Bestenfalls noch Rüstungsfirmen, die die Kriege einiger reicher Länder fördern. Wir können unsere Portfolio also auf Waffenherstellung ausrichten, oder mit Nathans Vorschlag versuchen, ein Umdenken in der gesamten Weltwirtschaft zu erreichen. Wer könnte das besser, als ein Großkonzern wie Seeger Industries? Ich möchte jedenfalls nicht das Aussterben der Menschheit unterstützen und werde mein Möglichstes tun, um die Vorgaben umzusetzen.“

Während Mori sich mit einer Antwort zurückhielt, schnaufte Emerson sichtlich wütend und meinte, dass Oleg den Verstand verloren habe, genau wie der Boss selbst.

Das Gespräch reduzierte sich anschließend nur noch auf Emerson und Mori. Der Amerikaner schimpfte weiter und schlug ernsthaft vor, den Geisteszustand von Nathan Seeger offiziell infrage zu stellen. Nötigenfalls müsse er für unzurechnungsfähig erklärt werden.

„Selbst wenn Du das durchbringst, ist da immer noch Daniel Hausmann, der den Chef bedingungslos unterstützt.“

„Darum kann ich mich kümmern“, gab Emerson mit scharfem Ton zurück.

„Was hast Du vor?“ fragte Mori daraufhin besorgt.

„Was schon? Ich werde sanften Druck auf den Burschen ausüben. Und wenn das nicht zieht, kann ich etwas nachdrücklicher werden. Lass mich mal machen.“

Mori seufzte, gab aber letztendlich seine Zustimmung.

Daniel ahnte nichts davon und leitete noch am Abend die ersten Umstrukturierungsmaßnahmen für einige Unternehmen des europäischen Portfolios in die Wege. Dazu gehörte auch die Verkaufsankündigung dreier Firmen, die so gar nicht in das neue Konzept hineinpassten.

Außerdem gab er den Insolvenzantrag für ein Unternehmen frei, welches bei der Hochwasserkatastrophe in Nordrhein Westfalen schwere Schäden davongetragen hatte. Die 84 Mitarbeiter würden aus der Versicherungssumme mit einer Abfindung entschädigt werden. Einigen von ihnen sollten Jobs in anderen Unternehmen des Konzerns angeboten werden.

Der vorauskalkulierte Verlust dürfte um die 16 Millionen Euro betragen.

Auch Nathan wendete an diesem Abend noch ein bisschen Energie auf, um mit seinem Laptop einige Kapitalumschichtungen vorzunehmen. Hierfür richtete er ein neues Konto auf den Cayman-Inseln ein. In den nächsten Tagen würde dort einiges an Liquidität eingehen.

Planspiele

23.August 2021

Nathan Seeger hatte noch immer richtig miese Laune. Schuld daran war Daniel, weil der es nicht geschafft hatte, dass sein Freund Marco ihn besuchen durfte. Gestern früh war der in Deutschland eingetroffen und saß seitdem alleine in seinem Hotel herum, anstatt ihn am Krankenbett zu besuchen.

Wenigstens hatten sie via Skype miteinander telefonieren dürfen und Marco versuchte, ihn etwas zu beruhigen. Doch Nathans Laune konnte er nicht besänftigen, denn Marco war ein vielbeschäftigter Mann, der nun nutzlos in seinem Hotel dahinvegetierte.

Marco hatte gefragt, was es denn so Wichtiges zu besprechen gab, doch Nathan wehrte ab und erklärte, dass das kein Thema für das Telefon sei. Er werde seinem Quacksalber gegen das Schienbein treten und darauf bestehen, dass er noch heute nach Hause durfte. Dort könnten sie sich dann in gemütlicher Umgebung treffen.

Marco versuchte ihn davon abzuhalten, doch Nathan blieb stur wie in den guten alten Zeiten. Tatsächlich gelang es ihm irgendwie, den Arzt zu überzeugen.

Daniel und Katja hatten ihn schließlich abgeholt und nach Hause gebracht. Während er Daniel anschließend aus dem Haus jagte, ließ er Katja ein anständiges Abendessen organisieren.

Marco traf wenig später bei ihm ein und schon ging der cholerische Anfall weiter, bis Marco ihn daran erinnerte, dass Nathan seine Kraft lieber sparen und zum Thema kommen sollte.

Das wirkte, doch Nathan geduldete sich, bis Katja mit dem Essen fertig war und ebenfalls das Haus verließ. Sie hatte extra für ihren Chef wieder eine bekömmliche Suppe gekocht, die aber tausend Mal besser schmeckte, als der Fraß im Krankenhaus. Marco hingegen durfte sich über ein üppiges Drei-Gänge-Menü mit Fisch als Hauptspeise freuen. Ein bisschen Unwohl war ihm beim Essen schon, als er die Unterschiede auf den Tellern sah.

Nathan hielt sich nicht damit auf und berichtete Marco, dass er vorhabe, den Konzern grundlegend umzustrukturieren. Er erzählte über seine Gründe hierfür und wie er das Ganze umsetzen wollte.

„Du wirst doch auf deine alten Tage nicht noch zum Menschenfreund werden? Oder ist das dein schlechtes Gewissen, das dich plagt?“

Nathan lachte auf. „So ganz Unrecht hast du wohl nicht. Ich hatte im Krankenhaus viel Zeit, um die Nachrichten anzuschauen. All die Krisen auf der Welt haben mir die Augen geöffnet. Wozu ist mein ganzes Vermögen nutze, wenn ich morgen in die Kiste steige?“

„Ganz so eilig wirst du´s wohl nicht haben“, fragte Marco besorgt nach.

„Lass dich von meinem jugendlichen Aussehen nicht täuschen“, meinte Nathan sarkastisch. „Auch wenn es mir seit der Behandlung etwas besser geht, könnte es in wenigen Tagen oder Wochen mit mir schon vorbei sein.“

Marco seufzte. „Ich würde einen wertvollen Freund verlieren.“ Er kam nach einer kurzen Pause wieder zum eigentlichen Thema zurück und erklärte, dass Nathans Bemühungen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein seien und noch dazu gewaltige wirtschaftliche Risiken für das Unternehmen mit sich brachten. Er hatte Zweifel, dass dieses Projekt in globaler Sicht etwas bewirken konnte.

„Deswegen will ich die Regierungen mit ins Boot holen und so hoffentlich mehr Akzeptanzen schaffen. Vielleicht schließen sich dann andere Unternehmen an.“

Marco blieb weiterhin skeptisch, weswegen Nathan seinen zweiten Punkt ansprach. „Ich habe mit Daniel über die Ursachen des Klimawandels gesprochen. Die globale Industrie ist nur zum Teil daran schuld. Es gibt noch einen viel größeren Verursacher, für all die Probleme, die unseren Planeten plagen.“

„Die Menschheit selbst!“ stellte Marco fest, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Nathan nickte aufgeregt. Offensichtlich hatte Marco sich selbst schon mit diesem Thema beschäftigt. Das waren gute Voraussetzungen für ihr Gespräch. „Wenn wir die Überbevölkerung in den Griff bekommen, löst sich das Problem mit der Umweltverschmutzung automatisch.“

„Falsch“, unterbrach Marco. „Wenn wir ab heute nicht mehr wachsen würden, sondern unsere Bevölkerungszahlen stabil halten, wird sich der bevorstehende Kollaps zwar verzögern lassen, aber stoppen wird es ihn nicht. Wir müssten die Menschheit reduzieren, und zwar deutlich.“

„Genau das habe ich mit Daniel diskutiert. Wie kann man die Menschheit, sagen wir, um 50 Prozent reduzieren, ohne ihnen allzu sehr damit zu schaden? Kriege und grausame Seuchen schließe ich also von vornherein aus.“

„Du meinst Geburtenkontrolle“, warf Marco sofort heraus und bewies, wie intelligent er war. Allerdings legte er sofort nach, dass dies in China weitestgehend gescheitert war. Außerdem müsste sich die ganze Welt daran beteiligen und das würde niemals funktionieren.