Phosphorsäure - Ralf Kragler - E-Book

Phosphorsäure E-Book

Ralf Kragler

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Beschreibung

Ein neuer Ermittler im Augsburger Land Mord im neu eröffneten Diedorfer Gymnasium! Wer hat ein Motiv, den Chemielehrer Manfred Koller auf so brutale Weise mit Phosphorsäure zu töten? Kommissar Behringer hat eine ganze Reihe Tatverdächtiger und steht unter dem Druck der Öffentlichkeit, den Fall möglichst schnell zu lösen. Aber auch sein Privatleben hält ihn in Atem, da so einiges passiert, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hätte. Ein Krimi, in dem auch Lokalkolorit und Humor nicht zu kurz kommen.

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Seitenzahl: 229

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Man sagt ja: Morgens um 7 ist die Welt noch in Ordnung. Diese Behauptung wird gerade ad absurdum geführt.

Bewaffnet mit einer Tasse Kaffee und einer Honigsemmel sitze ich zu früher Stunde vor meinem Laptop und checke meine E-Mails.

Zu meiner Verwunderung muss ich feststellen, dass sich meine bisherige Lebensabschnittsgefährtin Silke beziehungstechnisch neu orientieren möchte und auf dem modernen Weg der Datenkommunikation mit mir Schluss macht.

Ich verschlucke mich fast an meinem Frühstück und als mein Hustenanfall wieder einigermaßen beendet ist, läutet mein Handy. Es ist meine Dienststelle der Polizeiinspektion Augsburg.

»Hauptkommissar Behringer«, meld ich mich.

»Ja, servus Roland, schönen guten Morgen«, schalmeid mir die Angie aus der Zentrale entgegen, »du, wir hätten einen Mord für dich.«

»Aha – und warum rufst du mich schon so früh daheim auf dem Handy an? Ich wär doch sowieso in einer Stunde im Präsidium bei euch aufgeschlagen. Hätte das nicht mehr gereicht?«

»Genau deshalb ruf ich dich ja an. Du kannst dir den Weg in die Stadt sparen. Die Leiche liegt bei dir draußen.«

»Bei mir draußen?«, frag ich so einigermaßen verständnislos. Erstens bin ich noch nicht so richtig wach, weil es gestern im Vereinsheim wieder etwas später geworden ist, und zweitens wär mir das schon aufgefallen, wenn bei mir daheim irgendwo eine Leiche rumliegen würde.

»Bei dir draußen in deiner Gegend. Im neuen Gymnasium in Diedorf wurde ein toter Lehrer gefunden. Und der Chef hat gemeint, dass du dich vor Ort am besten auskennst, weil du doch da aufgewachsen bist beziehungsweise wohnst. Und so ein toter Lehrer ist doch auch eine heikle Sache. Und der Chef meint, da soll mal jemand mit Fingerspitzengefühl hinschauen, und du wärst eh gleich ums Eck und so …«

»Und so …«, wiederhol ich etwas ironisch. »Ja – schon klar. Einer von der klassischen Landbevölkerung klärt auch am besten die Mordfälle an den Einheimischen auf. Dann muss der Chef auch nicht selber zu uns rausfahren – gell. Und wenn man schon einen Kriminalhauptkommissar hat, der nur ein paar Kilometer daneben in Gessertshausen wohnt, ist das für den Chef doch unheimlich praktisch – hab ich Recht?«

Die Angie lacht und meint, dass man mir nicht viel vormachen kann, und dann leg ich auf.

Aha! Am neuen Gymnasium in Diedorf schon ein toter Lehrer – so kurz nach der Eröffnung – das macht keine gute Presse.

Jahrelang wurde um den Bau des Gymnasiums gekämpft, mehrere Orte hatten sich beim Kultusministerium als Standort beworben und schließlich hat Diedorf zum Leidwesen der anderen Gemeinden den Zuschlag bekommen.

Und jetzt, wo die Schule nicht mal ein viertel Jahr in Betrieb ist, liegt da so ein vermutlich ermordeter Lehrer rum.

Früher, als ich selbst noch Schüler war, hätte ich wohl nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, was daran schlecht sein soll. Aber als Kriminalhauptkommissar darf’s mir natürlich nicht egal sein, auch wenn ich selber nie gern zur Schule gegangen bin.

So mach ich mich also auf den Weg nach Diedorf und während auf der Fahrt die herbstliche Landschaft an mir vorüberzieht, muss ich alles erst mal sacken lassen.

Die Silke traut sich also allen Ernstes, per E-Mail mit mir Schluss zu machen?

So was Verwerfliches hab ich noch nie getan. Ich hab mich wenigstens im Falle eines Falles einfach nicht mehr gemeldet oder bin in den Urlaub abgehauen, bis die betreffende Dame dann schon gewusst hat, was Sache ist.

Aber per E-Mail! So was tut man nicht. Nein – nicht jede neue technische Errungenschaft ist ein Fortschritt für die Menschheit.

Na ja, das mit der Silke und mir war jetzt in letzter Zeit eh nicht mehr so ganz das Wahre. Im Grunde haben wir uns nicht mehr viel gesehen und wenn, hatten wir uns sowieso nicht viel zu sagen.

Aber muss man in einer Beziehung denn unbedingt viel reden?

Laut der weiblichen Klientel im Allgemeinen und Silke im Besonderen – schon. Vor allem über Heiraten und Kinder in diese kaputte Welt setzen, über »die gemeinsame Zukunft« also.

Ich für meinen Teil bin mit dem Ist-Zustand vollkommen zufrieden. Eine lockere, offene Beziehung mit einer verständnisvollen Frau ohne große Verpflichtungen ist für mich in Ordnung. Und in Heirats- beziehungsweise Fortpflanzungsfragen bin ich eben der komplett falsche Ansprechpartner.

Ich denk auch, dass ich bestimmt kein besonders guter Vater wäre, schon allein von Berufs wegen. Erstens bin ich als Polizist viel zu eingespannt und zweitens hab ich da immer wieder mit kriminellen Jugendlichen zu tun.

Kurz: Das, was sich die Silke da so vorgestellt hat, konnte ich ihr eben nicht bieten. Mein Haus, mein Auto, mein …, Sie wissen schon. Nicht mit mir!

Von daher ist es sicher besser, dass wir uns getrennt haben. Aber per E-Mail – das macht mich jetzt echt betroffen und ich muss zugeben, ich bin schon auch ein wenig gekränkt!

Und mein Vorgesetzter braucht also jemand mit Fingerspitzengefühl … so, so! Normalerweise heißt es bei meinen Kollegen immer: »Der Behringer, ja mei, der ist halt vom Land. Eine Todesnachricht kann man den nicht überbringen lassen. Der sagt zur Witwe höchstens: ›Jetzt sind Sie Ihren Mann endlich los. Seien Sie froh und machen Sie sich ein schönes Leben.‹«

Aber jetzt wär ich geografisch gesehen recht. Sauber!

Das Schmuttertal mit seinen morgendlichen Nebelfeldern, durch das sich die Herbstsonne gerade durchkämpft, und die Musik aus dem Autoradio lenken meine Gedanken etwas ab. Nach guten fünf Minuten erreiche ich Diedorf.

Am Gymnasium ist erst mal das große Chaos: alles abgesperrt, etliche Streifenwagen und natürlich die Spurensicherung. Polizisten, Schüler, Lehrer und auch Schaulustige drängeln sich auf dem Schulhof. Die Presse und der Ü-Wagen eines lokalen TV-Senders sind auch schon da und es herrscht ein ziemliches Durcheinander.

Nachdem ich dem Kollegen meinen Dienstausweis gezeigt und mein Auto geparkt habe, bahne ich mir den Weg ins Schulhaus.

»Morgen, Herr Kommissar, die Leiche liegt im Chemielabor. Das ist unten im Keller«, informiert mich der Streifenbeamte an der Treppe.

Ich teile ihm noch schnell mit, dass es »Hauptkommissar« heißen muss, und schenk ihm einen vorwurfsvollen Blick.

Ist doch wahr – für was hat man sich denn hochgearbeitet, all die Jahre!

Im Chemielabor ist schon die Spusi im Einsatz. Mein Kollege Heichele ist auch schon da und wir begrüßen uns.

»Und, was sagst du, Behringer? Endlich mal ein Mord direkt bei dir vor der Haustüre. Ist doch praktisch, oder?«, grinst er mich an.

Ich zucke mit den Schultern, weil ich irgendwie nicht weiß, wieso ein Ermordeter jetzt etwas Praktisches sein soll – ganz egal, wo er liegt – aber ok.

Der Tote hier liegt jedenfalls auf dem Bauch vor einem großen Arbeitstisch, hat einen weißen Laborkittel an und neben ihm liegen die Scherben eines zerbrochenen Glasbehälters inmitten einer merkwürdigen Flüssigkeit.

»Und, wie schaut’s aus? Was wissen wir?«, will ich als Erstes wissen.

»Der Tote heißt Manfred Koller. Er war Physik- und Chemielehrer hier an der Schule. 33 Jahre alt, ledig, keine Kinder, wohnhaft in Leitershofen«, liest Heichele von seinem Block ab.

»Aha. Todeszeitpunkt?«

»Laut dem Doktor gestern Nacht zwischen 21 und 22 Uhr. Der Fundort ist auch der Tatort.«

»22 Uhr? Was macht denn bitte ein Lehrer so spät nachts noch im Chemieraum seiner Schule und das auch noch an einem Sonntag?«

»Keine Ahnung«, meint Kollege Heichele, »vielleicht noch ein paar Chemieexperimente? Das zumindest könnte die Todesursache sein.«

»Wieso? Hat er sich in die Luft gejagt? Sieht hier nicht unbedingt aus wie nach einer Explosion«, sag ich.

Heichele sieht mich etwas betroffen an und meint dann: »Nein. Aber an Säureverätzung kann man auch sterben. Du warst wohl während deiner Schulzeit nicht oft im Chemieunterricht, hm?«

»He, Heichele, Obacht geben!«, werd ich jetzt aber mal sauer.

»Und warum kann es kein Unfall gewesen sein?«, werf ich gleich noch hinterher.

»Weil er von der Säure auch etwas geschluckt hat und wir einige Glassplitter und Schnittverletzungen in seinem Rachen gefunden haben. Jemand muss ihm das Reagenzglas förmlich in den Mund gesteckt haben. Freiwillig schluckt man so was ja normalerweise nicht.«

Die beiden Jungs von der Spusi drehen den toten Lehrer nun um und als ich sein Gesicht sehe, kommt mir fast das Frühstück wieder hoch. Verätzungen über dem halben Schädel und ein verzerrter Blick, der ihm geblieben ist, lassen vermuten, dass es ein äußerst schmerzhafter Todeskampf gewesen sein muss.

»Wer hat den Toten gefunden?«, frag ich.

»Der Hausmeister, ein gewisser Herr Plöschel.«

Ich überleg kurz, schau mir den Toten trotz großer Überwindung etwas genauer an und versuch mir vorzustellen, wie sich alles zugetragen hat. Das muss schon ein besonders kaltblütiger Täter gewesen sein. Jemand, der entweder mit großem Hass oder einfach absolut ohne jede Skrupel gehandelt hat. Es gibt viele Arten, einen Menschen zu töten, man kann ihn erschießen, erstechen, wo runterstürzen, meinetwegen auch vergiften. Aber das hier hat schon seine ganz eigene Qualität.

»Heichele, wo find ich diesen Hausmeister?«

»Den Plöschel?«

»Ja, wenn er denn so heißt …«, sag ich etwas genervt.

»Hab ich dir doch gesagt. Der sitzt hinten in seinem Zimmer. Ist ziemlich fertig.«

»Na dann, auf geht’s«, deute ich ihm und wir setzen uns in Bewegung.

Hab ich eigentlich schon erklärt, warum wir alle zu unserm Kollegen nur Heichele sagen und ihn nicht beim Vornamen nennen?

Es ist so: Kollege Heicheles Eltern kamen vor über 37 Jahren auf die glorreiche Idee, ihren Sprössling allen Ernstes »Traugott« zu nennen. Nun weiß man ja, dass man für seine eigenen Eltern nichts kann – nur für seine Schwiegereltern kann man bekanntlich was. Vermutlich lag es wohl bei Kollege Heichele an der vorhandenen Familientradition, was die Auswahl seines wenig berauschenden Vornamens angeht. Sein Opa hieß bereits Traugott und sein Vater ebenfalls. Und da blieb anscheinend im Zuge des Familienfriedens nichts anderes übrig, als den neugeborenen Stammhalter eben auch so zu nennen.

Meiner persönlichen Theorie nach ist allerdings Kollege Heicheles Vorname auch mit ein Grund, warum er bislang noch keine Schwiegereltern hat. Vielleicht wird er – in der Midlifecrisis angekommen und immer noch alleinstehend – seine Eltern deshalb noch verklagen. Oder umbringen. Oder beides.

Wie also Traug…, äh, ich meine Kollege Heichele und ich den Aufenthaltsraum des Hausmeisters betreten, sitzt da ein ziemlich armseliges Häuflein Elend. Ein kleiner Mann mit Halbglatze, in der Hand eine Bierflasche, eine Zigarette rauchend und vor sich hinstarrend.

»Herr Plöschel?«, red ich ihn behutsam an.

Er blickt hoch. »Ja?«

»Behringer, mein Name. Hauptkommissar Behringer. Ich untersuche den Mord an Herrn Koller. Meinen Kollegen Heichele kennen Sie ja bereits.«

Der Hausmeister nickt und blickt mich dann mit großen, glasigen Augen an. Er sieht wirklich mitgenommen aus – oder vielleicht auch etwas alkoholisiert? Nun ja, wenn ich schon am frühen Morgen eine dermaßen entstellte Leiche finden würde, ging’s mir wohl auch nicht so toll.

»Herr Plöschel, Sie haben den Toten gefunden?«

Er nickt.

»Wann war das genau?«

»Gegen 6.30 Uhr. Da mach ich immer meine Morgenrunde und sperr die Türen auf«, sagt er mit matter Stimme.

»Ok – und als Sie in den Chemieraum kamen, ist Ihnen da irgendwas aufgefallen?«

Jetzt guckt er mich aber mal richtig blöd an.

»Ja, was wird mir da wohl aufgefallen sein? Dass der Koller tot war. Dass er da lag, inmitten der ganzen Säure. Dass er sich nicht mehr gerührt hat. Was wollen Sie noch hören?«

Aus seiner Reaktion schließ ich, dass meine Frage sich ziemlich dämlich angehört hat oder er sie einfach nicht richtig verstanden hat.

»Ich hab gemeint, ob da vielleicht noch jemand in der Nähe war, Sie also sozusagen den Eindruck hatten, nicht allein im Chemieraum zu sein.«

»Der Kommissar meint, ob vielleicht irgendein Geräusch zu vernehmen war«, mischt sich jetzt Heichele ein.

»Nein … da war nichts. Es war im wahrsten Sinn des Wortes totenstill. Ich hab mich beim Eintreten nur gewundert, dass die Tür vom Chemieraum nicht abgesperrt war und das Licht gebrannt hat.«

»Der Koller ist so zwischen 21 und 22 Uhr ermordet worden. Haben Sie eine Ahnung, was der um diese Zeit hier in der Schule wollte?«, frag ich nun.

»Der Koller war öfter mal abends noch im Labor. Der hat oft noch experimentiert, das war so ein Hobby von ihm«, erklärt der Plöschel.

»Aha. Und wann haben Sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen?«, meint jetzt der Heichele.

»Gestern gegen 18 Uhr. Da war ich wieder auf meiner Runde durchs Schulhaus. Da ist er mir im Gang begegnet und hat gesagt, dass er noch arbeiten will. Und dass er absperrt, wenn er fertig ist.«

Ich presse die Lippen aufeinander und überlege, wie sich die letzten Stunden des Herrn Koller zugetragen haben könnten, denn irgendwer muss ihm ja schließlich noch einen folgenschweren Besuch im Labor abgestattet haben.

»Na gut, Herr Plöschel, das war’s mal fürs Erste. Sie müssen aber Ihre Aussage noch zu Protokoll geben, denn Sie sind vermutlich der Letzte, der den Koller lebend gesehen hat«, sag ich dann zu ihm.

Beim Rausgehen dreh ich mich aber nochmal um. »Sagen Sie, Herr Plöschel – wo waren Sie eigentlich gestern so zwischen 20 und sagen wir 23 Uhr?«

Er sieht mich fast schon etwas niedergeschlagen und wirklich mitgenommen an. Nicht ohne eine gewisse Verbitterung sagt er: »In Horgau im Gasthof Linde. 75. Geburtstag meiner Schwiegermutter. Das können rund 25 Personen bezeugen.«

Der arme Mann tut mir langsam wirklich leid. Erst so ein Familienfest und dann am Morgen eine entstellte Leiche finden – was ist da jetzt besser?

Nachdem Heichele und ich nochmal im Chemielabor vorbeigeschaut und mit den Kriminaltechnikern geredet haben, machen wir uns wieder auf den Weg ins Erdgeschoss. Dort kommt uns ein sehr aufgeregter, korpulenter Mann um die 50 entgegen.

»Sie sind die Herren von der Polizei? Geier, mein Name, ich bin der Direktor hier am Gymnasium!«

Wir stellen uns kurz vor, schütteln die Hände und werden dann vom Direktor in sein Büro gebeten.

Wir nehmen vor dem Schreibtisch in gemütlichen Ledersesseln Platz. Direktor Geier nicht, er macht seinem Namen beinahe alle Ehre, indem er nervös sein Büro durchkreist beziehungsweise von einem Eck ins andere läuft.

»Das ist eine absolute Katastrophe, meine Herrn! Das Gymnasium ist erst seit ein paar Wochen in Betrieb und jetzt ein ermordeter Lehrer! Sie wissen gar nicht, was es für ein harter Kampf war, das Gymnasium nach Diedorf zu bekommen. Es gab genug andere Gemeinden, die sich für einen Neubau beworben haben, weiß Gott! Nur der guten Verständigung zwischen dem Bürgermeister und dem Landrat war es zu verdanken, dass wir hier den Zuschlag erhielten! Und jetzt so was!«, lässt er seinem Redeschwall freien Lauf.

Ja, das weiß ich noch genau. Stand damals auch oft genug in der Presse, wie die einzelnen Standorte miteinander konkurrierten. Jeder beanspruchte für sich den geographischen Vorteil, die gute Verkehrsanbindung, die beste Infrastruktur usw. Und als der Zuschlag dann an Diedorf ging, war man anderenorts wenig begeistert, zumal es sich beim Herrn Landrat um einen Ortsansässigen handelte.

»Herr Direktor Geier, ich verstehe Ihre Sorge um den guten Ruf Ihrer Schule, aber glauben Sie wirklich, es handelt sich hier um einen Racheakt eines Konkurrenten einer anderen Gemeinde?«, frag ich ihn jetzt.

»Aber natürlich! Uns hat doch keiner diesen hochmodernen Neubau gegönnt. Man will uns hier das Leben zur Hölle machen! Erst letzte Woche wurde eine Fensterscheibe der Schulküche eingeworfen!« Er wirkt jetzt direkt etwas hysterisch.

»Glauben Sie nicht, dass Sie sich da in was verrennen? Eine eingeworfene Scheibe ist an einer Schule nichts so Ungewöhnliches. Ein dummer Schülerstreich. Und vielleicht hat der Mord an dem Herrn Koller gar nichts mit seiner Lehrertätigkeit hier zu tun«, werf ich jetzt ein.

Der Direktor zieht eine kleine Dose aus seiner Sakkotasche und nimmt eine Tablette heraus. Er schenkt sich ein Glas Wasser ein und schluckt die Tablette schnell hinunter. Dann setzt er sich in seinen Sessel und atmet lange tief durch.

»Herr Kommissar, Herr Koller war ein hervorragender Pädagoge. Ein beliebter Mensch, beim Kollegium wie bei den Schülern – besonders bei den weiblichen«, erklärt er nun.

»Aha – bei den weiblichen, sagen Sie«, will nun auch Kollege Heichele zur Wahrheitsfindung beitragen. »Wie meinen Sie das?«

Der Direktor ringt sich jetzt sogar so was Ähnliches wie ein kleines Schmunzeln ab. »Herr Koller war erst Anfang 30, ledig, gut aussehend. Er kam mit seiner modernen Art bei den Schülern gut an. Sein Unterricht war nicht so trocken, wie es die älteren Kollegen oft noch handhaben. Er verstand es, den Schülern den Stoff spannend und anschaulich zu vermitteln.«

Das mit dem »gut aussehend« war jetzt momentan etwas schwer vorstellbar, wenn man einen Menschen bislang nur mit von chemischer Säure verätztem Gesicht kennt. Aber gut, ich konnte mir schon vorstellen, was der Schulleiter mit seiner Beschreibung des Toten gemeint hatte.

»Mit anderen Worten, Sie können sich also nicht vorstellen, wer was gegen den Herrn Koller gehabt haben könnte. Zumindest so viel, um ihn gleich umzubringen«, sag ich.

Der Direktor schüttelt den Kopf und wirkt ein wenig ratlos.

»Gut, Herr Geier, trotzdem kommt mir offen gesagt Ihre Rachetheorie etwas … sagen wir … abstrakt vor. Was wir von Ihnen brauchen, ist eine komplette Liste der Lehrer und sonstigen Angestellten Ihrer Schule sowie eine Liste mit allen Schülern«, erklär ich ihm jetzt.

Er schaut mich ungläubig an. »Sie glauben doch nicht, dass jemand hier vom Gymnasium …«

»Herr Geier, was wir glauben, ist hier nicht entscheidend. Unsere Arbeit besteht darin, ohne jegliche Vorbehalte alle Fakten zu prüfen und uns ein Bild zu machen. Und wenn irgendwie möglich, in absehbarer Zeit einen Täter beziehungsweise eine Täterin zu ermitteln«, versuch ich ihm klarzumachen.

Geier räuspert sich und nestelt an seiner Krawatte. »Verstehe. Ich werde Sie selbstverständlich bei Ihrer Arbeit nach besten Kräften unterstützen und die nötigen Listen herrichten lassen.« Er drückt auf den Knopf der Sprechanlage. »Frau Rottenhammel!«

»Ja, Herr Direktor?«, flötet es zurück.

»Kommen Sie doch bitte umgehend in mein Büro!«, gibt er seinem Vorzimmerdrachen klare Anweisung.

Keine zehn Sekunden später springt die Bürotür auf und es erscheint – aber hallo – Frau Rottenhammel. Wenn heutzutage Vorzimmerdrachen SO aussehen, möchte ich auch mal Schuldirektor sein. Ein enges Kostüm, ein respektables Fahrgestell, schlanke Beine, eine flotte Frisur und ein hübsches Gesicht stehen auf einmal im Raum.

Die Sekretärin fragt mit süßer Stimme: »Ja, Herr Direktor, Sie wünschen?«

»Frau Rottenhammel, das sind die beiden Herren von der Polizei, die hier wegen unseres Herrn Koller ermitteln. Bitte stellen Sie den beiden sämtliche Unterlagen zusammen, die sie für ihre Arbeit benötigen«, so ihr Chef.

Das »Selbstverständlich, Herr Direktor« und das anschließende, von einer eleganten Hüftdrehung begleitete lautlose Verschwinden wie auf Elfenfüßen lässt keinen hormonell einigermaßen normal veranlagten Mann kalt.

Vor allem Kollege Heichele sitzt immer noch mit aufgerissenem Mund und Stielaugen da, als uns der Direktor bereits zweimal verabschiedet hat. So muss ich ihn aus seiner Trance wachrütteln, ehe wir endgültig den Raum verlassen.

Als ihm draußen Frau Rottenhammel noch den Umschlag mit den Namenslisten mit einem herzlichen Lächeln übergibt und ihm dabei kilometertief in die Augen schaut, muss ich ihn anschließend an der Hand aus dem Schulhaus zerren.

Eine halbe Stunde später schlagen wir in unserer Augsburger Dienststelle auf. Nachdem mir inzwischen der Magen knurrt, begebe ich mich in unsere Kantine.

Kollege Heichele kommt nicht mit, er sagt, dass er überhaupt keinen Hunger hat und erst mal die Listen durchgehen beziehungsweise einen ersten Bericht zum Mordfall schreiben will.

Auweh! Wenn Kollege Heichele freiwillig einen Bericht schreibt und Büroarbeit übernimmt, ist was nicht in Ordnung! Büroarbeit hasst er nämlich normalerweise genauso wie ich und somit kommt mir unvermeidbar der Gedanke, dass er mit seinem komplett durcheinandergeworfenen Hormonhaushalt jetzt allein sein möchte.

Nachdem ich mit Kollege Heichele nun schon einige Jahre zusammenarbeite, habe ich ihn während der ganzen Zeit nie mit einer Frau gesehen oder mitbekommen, dass es eine an seiner Seite gegeben hätte. Mein Verdacht – also eigentlich dachte das insgeheim die gesamte Polizeidirektion –, dass er doch lieber auf der anderen Seite des Hügels grast, konnte allerdings auch nie bestätigt werden.

Na gut, sollte er sich tatsächlich verknallt haben – ich gönn es ihm. Mir gönn ich erst mal ein anständiges Schnitzel mit Bratkartoffeln und einen Pudding zum Nachtisch.

Während ich mich so meinem Dessert widme, steht auf einmal Dr. Dischinger vor mir. Er ist mein Vorgesetzter und wir führen ein, sagen wir, von Respekt, aber nicht unbedingt inniger Sympathie geprägtes Verhältnis.

»Darf ich mich setzen?«, fragt er. Nachdem ich noch den Mund voll habe, deute ich nur auf den Stuhl mir gegenüber.

Er blickt mir einen Moment lang tief in die Augen, dann fragt er: »Und Behringer, wie schaut’s da draußen in Diedorf aus? Was haben wir?«

»Wir haben einen toten Chemielehrer, den jemand per giftiger Säure ins Jenseits befördert hat, und vermutlich jede Menge Tatverdächtige«, sag ich so, während ich weiter meinen Pudding auslöffle.

Jetzt bekommt mein Vorgesetzter diesen ernsten Blick, den ich irgendwie gar nicht an ihm mag.

»Wer ist denn Ihrer Meinung nach alles verdächtig?«

»Im Grunde erst mal jeder, der sich in der Regel im oder um das Schulhaus herum aufhält. Also Lehrer, Schüler, Putzfrauen, sonstige …«, sag ich ruhig.

Er runzelt die Stirn. »Behringer, halten Sie das wirklich für nötig? So ein Mord an einer Schule, das ist was sehr, sehr Heikles. Da bedarf es viel Fingerspitzengefühl und Diplomatie. Da muss man sensibel vorgehen und darf nicht gleich alle unter Generalverdacht stellen. Schlimm genug, dass so was Grausames wie ein Mord da passiert, aber der Täter muss ja nicht zwangsläufig von der Schule sein.«

Inzwischen bin ich mit meinem Pudding fertig und nun schau ich ihn ernst an: »Aber der Verdacht liegt doch nahe, dass es jemand von der Schule war. Es muss ja schließlich irgendwer gewusst haben, dass das Opfer so spät noch im Chemielabor arbeitet. Oder sind Sie der gleichen Meinung wie Direktor Geier, dass es sich um einen Racheakt aus einem bei der Standortvergabe auf der Strecke gebliebenen Ort handelt?«

»Quatsch, Behringer! Der Geier verrennt sich da in etwas. Es geht doch kein Bürgermeister nachts in ein fremdes Gymnasium, das er selber gern in seinem Ort gehabt hätte, um einen Mord zu begehen.«

»Sehen Sie«, sag ich, »genau der Meinung bin ich auch.«

Dr. Dischinger atmet tief durch und beugt sich zu mir über den Tisch. Seine Worte klingen fast eindringlich: »Behringer, ich hab extra Sie mit der Aufklärung dieses Falles beauftragt, weil Sie die Gegebenheiten vor Ort und unter Umständen auch ein paar Leute persönlich kennen. Die Menschen da draußen vertrauen Ihnen, da tun Sie sich bei den Ermittlungen doch wesentlich leichter als ein Fremder von der Stadt. Gehen Sie bitte behutsam mit der Sache um, Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich um eine Schule handelt. Da gibt’s Kinder, Jugendliche, Eltern … Die werden sicher nicht alle den Tod eines Lehrers so einfach wegstecken. Von den Lehrerkollegen ganz zu schweigen. Und was die Presse aus so einem brutalen Verbrechen macht, brauch ich Ihnen ja nicht zu erklären, Sie sind schließlich lang genug dabei.«

»Ich versteh schon, Dr. Dischinger. Ich soll möglichst schnell, unauffällig und behutsam den Mörder finden, ohne großes Aufsehen zu erregen oder jemanden auf den Schlips zu treten«, fasse ich zusammen, nicht ohne einen gewissen ironischen Unterton.

Jetzt wird er aber laut, so dass gleich die übrigen Kantinengäste aufschrecken: »Herrgott, Behringer! Red ich bei Ihnen eigentlich an eine Wand? Man könnte meinen, Sie sind den ersten Tag bei der Polizei!«

Als mein Chef jetzt die Blicke ringsum bemerkt, senkt er seine Lautstärke sofort wieder: »Ich bitte Sie doch nur darum, bei Ihren Ermittlungen mit etwas Fingerspitzengefühl vorzugehen. Es wurde eine Lehrkraft an einem Gymnasium ermordet. Es soll deswegen nicht gleich der ganze Markt Diedorf in einem schlechten Licht dastehen und gleich das halbe Dorf verdächtigt werden.«

Ich muss jetzt beinahe ein wenig schmunzeln. »In Ordnung, ich werde mir meine Vorgehensweise bei den Ermittlungen und der Befragung der Schüler wie auch der Lehrer sowie aller anderen relevanten Personen genau überlegen.«

Mein Dr. Dischinger seufzt und steht auf. »Machen’S das, Behringer. Machen’S das … Ich erwarte dann morgen Ihren Bericht«, sagt er und dreht sich zum Gehen um.

»Äh, Herr Dr. Dischinger«, ruf ich ihm noch nach.

»Ja?«

»Darf ich fragen, warum Sie eigentlich gerade bei diesem Fall so ein gesteigertes Interesse an der sensiblen Aufklärung haben?«, grins ich ihn jetzt neugierig an.

Er kommt nochmal an meinen Tisch zurück, lehnt sich drüber bis kurz vor mein Gesicht.

»Weil mein Neffe aufs Gymnasium in Diedorf geht, ich im Förderverein der Schule sitze und mit dem Bürgermeister befreundet bin. Deshalb.« Seine Worte klingen hart, ernst und humorlos.

Dann dreht er sich wieder um und stapft ärgerlich zurück in sein Büro.

Als ich in unser Büro zurückkomme, sitzt Kollege Heichele mit verklärtem Blick am Schreibtisch und sieht zum Fenster raus. Er bemerkt meine Anwesenheit nicht mal und erst, als ich vor seinem Gesicht mit dem Finger schnippe und »Hallo, Erde an Heichele – jemand zuhause?« sage, fährt er plötzlich hoch.

»Wie? Was?«, ruft er. Keine Frage, wo er gerade mit seinen Gedanken war. Heilig’s Blechle, da hat’s aber einen erwischt! Na, hoffentlich endet das Ganze nicht in einer Katastrophe, nur für den Fall, dass Frau Rottenhammel seinen Vornamen erfährt …

»Heichele – wie schaut’s aus?«, reiß ich ihn endgültig aus seinen Träumen.

»Nun ja«, stammelt er etwas unbeholfen, »wir wollten heute Nachmittag in die Wohnung von dem ermordeten Koller nach Leitershofen schauen. Die Jungs von der Spusi wissen auch schon Bescheid, sind aber momentan noch am Auswerten der Spuren vom Tatort.«

»Gut, dann fahren wir beide eben schon mal los und die Spusi-Kollegen folgen später unauffällig. Auf geht’s«, sag ich so und kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Er sieht einfach zu nett aus mit seinen roten Wangen und den leuchtenden Augen.

Nachdem mein hoffnungslos verliebter Kollege den anderen im Kommissariat und dem Schlüsseldienst Bescheid gegeben hat, düsen wir los zur Kollerschen Wohnung. Leitershofen, Herrgottsberg, eine durchaus feine Adresse.

Anscheinend verdient man als Gymnasiallehrer für Physik und Chemie nicht so schlecht oder jedenfalls besser wie als Polizeibeamter …

Beim Wohnsitz des Herrn Koller handelt es sich um eine Doppelhaushälfte neuerer Zeit und es wirkt alles sehr ordentlich. Der Rasen ist gemäht, die Büsche im kleinen Vorgarten sind geschnitten. Ein wenig Garten-Deko und auch sonst alles sauber, vielleicht sogar ein klein wenig spießig.

Der Mann vom Schlüsseldienst steht rauchend in seinem blauen Overall an das Mülltonnenhäuschen gelehnt und sieht uns etwas gelangweilt an, als wir gerade aus dem Dienstwagen steigen.

»Sagt mal, für was ruft’s denn ihr einen Schlüsseldienst, wenn die Tür eh schon auf ist?«, fährt er uns an.

Heichele und ich sehen uns verwundert an. »Wieso – schon auf?«, frag ich und wir gehen auf die Eingangstür zu.

»Weil da anscheinend schon jemand schneller war als ich«, deutet der Schlüsselmann auf die Türe.

Und tatsächlich – die Haustür ist offen. Aber nicht auf die übliche Art und Weise geöffnet, sondern mit Gewalt. Eindeutige Einbruchsspuren sind zu erkennen, die Tür wurde aufgestemmt.

Wir staunen nicht schlecht und sind einigermaßen verwirrt, das müssen wir zugeben.

»Wenn ihr mich fragt, war das kein Profi. Mit so brachialer Gewalt macht man keine Tür auf, wenn man nicht erwischt werden will«, erklärt uns der Blaumann.

»Ich hätte nicht gedacht, dass man eine relativ neue Haustür überhaupt so aufstemmen kann. Die haben doch heute Sicherheitsschlösser«, tut sich jetzt Heichele besserwisserisch hervor.

Der Schlüsselmann schenkt uns nur ein müdes Lächeln. »Habt’s ihr eine Ahnung. Ich bring euch jede Haustür im ganzen Landkreis auf, ohne groß Spuren zu hinterlassen.«

»Aha«, sag ich, »Sie sind eben Experte, was?«

Er lächelt wieder schief und meint: »Jahrelange Erfahrung … Hab sie aber auch abgesessen – fünf Jahre JVA Kaisheim.«

Wir grinsen zurück. »Ok – dann wissen wir wenigstens, dass wir es bei der Art von Einbruch mit KEINEM Fachmann zu tun haben. Lass uns mal reinschauen, Heichele«, sag ich.

Gerade wollen wir rein, da faucht uns der Einbruchs-Fachmann an: »He – und wer bezahlt mir jetzt die Anfahrt?«