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Picknick am Arendsee ist eine fiktive Familiengeschichte von drei Generationen. Für die Handlung wurden reale Orte gewählt. Schauplatz sind die Stadt Berlin sowie die in Sachsen-Anhalt gelegene pittoreske Landschaft der Altmark mit dem herrlichen Arendsee und der Kleinstadt Seehausen, vor und nach der Wiedervereinigung Deutschlands.
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für meine geliebte Frau Silke Christine,
die ihr Leben mit dem meinen vereint hat.
Was gibt es Schöneres auf dieser Welt?
Und natürlich für meine Familie überhaupt.
Erinnerungen…
Die Großeltern
Der Betriebsausflug
Begegnung am Arendsee
Der Krankenhausaufenthalt
Erikas erster Besuch und Bummel in Berlin
Die Verlobung
Wieder ein Ausflug zum Arendsee
Die Verlobungsfeier in Berlin
Das Weihnachtsfest alle Jahre wieder …
Die Hochzeitsplanung
Die standesamtliche Trauung in Berlin
Die kirchliche Hochzeit in Seehausen
Die Erbschaft
Die Zeit nach der Wende
Die Eltern
Das Praktikum
Die Hochzeit der Eltern
Sommer in Seehausen einige Jahre später
Der Bereitschaftsdienst
Die Hochzeit am Arendsee
Ein Tag im November …
Drei Jahre später …
Nach einigen Regentagen war der wolkenverhangene Himmel aufgerissen und die Sonne konnte wieder mit ihrem gleißenden Licht die pittoreske Landschaft der Altmark mit ihrem Arendsee durchfluten. Der Wetterdienst hatte für diese Tage ein neues Hoch mit anhaltendem Sonnenschein, hohen Temperaturen und Trockenheit vorausgesagt. Es waren Gott sei Dank Schulferien in dieser Zeit, sonst hätte es Hitzefrei geben müssen. Juliane Haberkant lag wie so oft, wenn sie für den Unterricht lernen musste, im Schatten des großen Walnussbaumes gleich hinter dem Haus neben der Terrasse gedankenversunken auf einer Liege. Heute musste sie nicht lernen, denn es waren große Ferien.
Zunächst hatte sie noch einmal die letzte Unterrichtsstunde vor Augen und das Klingeln der Schulglocke im Ohr, die im Winckelmann Gymnasium in Seehausen die lang ersehnte letzte Unterrichtsstunde des zurückliegenden Schuljahres beendete. Beim Abschied hatten sie sich noch einmal freundschaftlich umarmt. Juliane Haberkant war mit Frank Bendisch, einem Mitschüler ihrer Klasse, sehr eng befreundet. Sie hatten neben anderen das zurückliegende 11. Schuljahr mit guten Leistungen geschafft. Die meisten stürmten nun mit ihren mehr oder weniger guten Zeugnissen nach Hause. Für Juliane und Frank bedeuteten Ferien mitunter immer eine längere und traurige Trennung, denn er war in Havelberg zu Hause und Juliane hier in der Hansestadt Seehausen in der Altmark. Trotzdem wollten sie in den Ferien so viel wie möglich zusammen unternehmen. Vom Beginn der 9. Klasse, waren sie nun schon befreundet und ein unzertrennliches Paar. Sie schworen sich, dass niemand sie auseinander bringen kann und besiegelten das mit ihrem ersten Kuss.
Beim Rascheln der Blätter des Walnussbaumes in der lauen Luftbewegung war Juliane schnell eingeschlafen und fing an zu träumen.
Zunächst waren ihre Gedanken wieder bei Frank, wie er sie in den Armen hielt und sie sich küssten. Dann erschienen ihre Eltern, die sie von ihm wegreißen wollten. Ihre Eltern konnten sich sowieso nicht vorstellen, dass Jugendliche in der Pubertät schon wahre Liebe für einander empfinden können und nahmen sie nicht ernst. Ihr Vater versuchte sogar, aus für sie bislang unerklärlichen Gründen, das Verhältnis mit ihrem Frank zu unterbinden. Trotzdem blieben sie unzertrennlich und ihre Liebe zueinander war schon zu dieser Zeit stärker als manch einer glaubte.
Zwischendurch erinnerte sie sich im Traum bildhaft an die Erzählungen ihres Großvaters Walter, wie er und unter welchen glücklichen Umständen seinen Schatz Erika, also ihre geliebte Oma, damals kennenlernte. Sie hätte dabei ihrem Großvater stundenlang zuhören können. Im Gegensatz dazu verlief die Ehe ihrer Eltern nach ihrer Geburt mitunter nicht so harmonisch. Die Eltern hatten sich bereits während des Studiums kennen und lieben gelernt, was eigentlich nichts Ungewöhnliches war. Aber einige Jahre später war von Liebe und Harmonie nicht mehr viel zu spüren. Als Kind bekam sie viele Streitereien mit, die immer sehr bedrückten. Im Traum hattte sie angstvolle Vorstellungen, dass sich die Eltern trennen würden. Das war noch in der Zeit, als sie in Berlin wohnten. Mutter und Vater sahen nach dem Studium zunächst nur ihre Karriere und hatten wenig Zeit für ihre Tochter, aus beruflichen Gründen, wie sie vorgaben. Dann war sie immer bei den geliebten Großeltern, bei denen sie sich geborgen fühlte. Von ihnen erfuhr sie die eine oder andere Geschichte ihrer Familie, eigentlich alles. Mit den Eltern gab es zumindest gemeinsame Urlaube in den Ferien und so manch einen Wochenendausflug mit einem Picknick am Arendsee.
Wieder wanderten im Traum die Gedanken zu ihrem Frank, den sie über alles liebte. Aus der anfänglichen pubertären Verliebtheit zwischen ihr und Frank wurde eine tiefe Liebe. Spätestens nach seinem Architekturstudium wollten sie heiraten und im Gegensatz zu ihren Eltern von Beginn an in einer glücklichen Beziehung leben, so wie es ihre Großeltern vorlebten, aber entsprechend in ihrer neuen modernen Zeit.
Julianes Großvater Walter Haberkant wurde in Berlin geboren und somit war er ein waschechter Berliner. An seinem Sprechen konnte man das nicht feststellen, denn seine Mutter fand diesen Dialekt nicht sehr schön. Sie hatte stets darauf geachtet, dass Walter hochdeutsch sprach, trotzdem sein bester Freund immer im Berliner Dialekt sprach. Walter wohnte noch zusammen mit seiner Mutter Gertrud in einer sehr geräumigen Dreieinhalb-Zimmer-Altbauwohnung. Die Wohnung befand sich in der dritten Etage eines Mietshauses im Stadtteil Köpenick von Berlin in der Florian-Geyer-Straße, nicht weit vom nächsten S-Bahnhof Adlershof entfernt. Walters Eltern waren beide berufstätig und hatten für ihn oft keine Zeit. Sein Vater arbeitete als Abteilungsleiter in der Produktion in dem nahe gelegenen VEB Kabelwerk Oberspree während seine Mutter in dem bekannten Glühlampenwerk in der Lohnbuchhaltung tätig war, in dem sehr großen Kombinat, das unter dem Namen NARVA im ganzen Land bekannt war.
Nach dem frühen Tod seines Vaters Alfred vor acht Jahren konnte Walter kurz vor seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag in ein größeres Zimmer innerhalb der Wohnung umziehen. In dem großen Zimmer hatte er viel mehr Platz für seine Sachen und mit den zwei Fenstern war es wesentlich heller. Es gab sogar einen Balkon zum grünen Innenhof. Wenn man das Zimmer vom Korridor aus betrat, stand gleich hinter der Tür in der linken Ecke ein großer Kachelofen und ein Stück davon entfernt ein monströser Schrank, ein Erbstück, dessen Türen rechts und links mit geschnitzten Verzierungen versehen waren, während im oberen Mittelteil des Schrankes in zwei Regalfächern Bücher standen. Im Anschluss befand sich an gleicher Wandseite eine große Anrichte, auf der ein alter Schwarz-Weiß-Fernseher der Marke Rubens Platz gefunden hatte. Daneben hatte Walter ein Radio und einen Plattenspieler. Die Schallplattensammlung, die er wie einen Schatz hütete, befand sich unterhalb in den Fächern des Möbelstücks. Zwischen Fernsehgerät und Plattenspieler hatte er noch zwei Pokale gestellt, die er mit seinem Freund Horst Klawitter beim Rudern mit ihrem Zweier gewonnen hatte. An der Wand über der Anrichte hingen außer einer älteren Uhr noch ein paar Urkunden von Sportwettkämpfen auch aus seiner Schulzeit. An der Fensterseite des Raumes hatte er vor einem Fenster den dunkel gebeizten Schreibtisch mit dem Lehnstuhl seines Vaters aufgestellt. An diesem Schreibtisch hatte er schon als Kind gern gesessen und gemalt. An der rechten Seite des Zimmers stand sein breites, bequemes Bett. Anschließend kam man direkt auf eine Sitzgruppe zu, die aus einem an der Wand stehenden Schlafsofa, einem davor befindlichen quadratischen Kacheltisch mit zwei nicht unbedingt dazugehörenden wuchtigen Sesseln bestand. Zwischen dem Bett und dem Sofa stand eine dreiarmige Stehlampe, die das Zimmer in den Abendstunden mit ihren trichterförmigen Lampenschirmen in einem gemütlichen warmen Licht erstrahlen ließ. An dieser rechten Wandseite war außerdem noch ein breites Hängeregal befestigt, auf dem viele Bücher sortiert standen. Den Fußboden schmückte ein sehr großer Teppich von etwa 3 x 4 m mit großem abstraktem Muster, den er aus dem Zimmer seines Vaters übernommen hatte.
Die Familie besaß einen Kleingarten in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung mit einer selbst gebauten gemütlichen Laube in der Kolonie Am Adlergestell bereits Anfang der fünfziger Jahre. Die Laube, mit einer Grundfläche von 4 x 6 m, hatte sein Vater Alfred noch gebaut und Walter hatte ihm dabei viel geholfen, vor allem beim Mischen des Betons von Hand für die Fundamentplatte, auf der die Gartenlaube errichtet wurde. Der Garten war die kleine idyllische grüne Oase der Familie und von ihrer Wohnung schnell zu erreichen. Der Weg dorthin ins Jrüne, wie Walter manchmal sagte, betrug nicht mal zehn Minuten. Der kleine Garten bedeutete für seine Mutter Gertrud alles. Auch Walter war von dem Garten mit der Vielfalt der duftenden Blumen und ihrer gemütlichen Gartenlaube begeistert, allerdings vom Unkraut jäten weniger, wenn er gerade mit seinem Freund Horst Klawitter etwas unternehmen oder nur zusammen klönen wollte. An den Wochenenden war Walter mit seiner Mutter vom Frühjahr bis zum Herbst in ihrem Garten häufig anzutreffen oder er fuhr mit seinem Freund in Grünau in ihrem Boot zum Training auf dem Wasser. Im Garten gab es immer etwas zu tun. Meistens handelte es sich um die notwendige Gartenarbeit oder es war nach dem Tod des Vaters handwerkliches Können von Walter gefragt, um die Laube instand zu halten oder zu verschönern. Manchmal fanden im Sommer auch kleine Familienfeiern und viele fröhliche Feste mit den Nachbarn in der Kleingartenanlage statt. Bei diesen Anlässen oder manch einem seiner Geburtstage wurden im Garten bunte Lampions und Luftballons aufgehängt.
Seine Eltern verstanden sich mit ihren Gartennachbarn Manfred und Elfriede Klawitter sehr gut und saßen an manchem Sommerabend zusammen. Dann brutzelten auf einem jeweils selbstgebauten Grill Nackenstaeks oder Bratwürste. Nach dem üppigen Fleischverzehr klangen die Abende oft feuchtfröhlich bei Bier, selbst gekeltertem Obstwein mit erfundenen edlen Namen oder einer Bowle mit Früchten aus dem Garten aus. Walter war mit Nachbars Sohn Horst oder Hotte, wie alle zu ihm sagten, schon in der Schulzeit befreundet. Während Walter Haberkant glücklich und zufrieden nach einem gut bestandenen Schulabschluss den Beruf eines Sanitärklempners erlernte und von seinem Lehrbetrieb Hollerbusch & Söhne übernommen wurde, lernte sein Freund Zimmermann. Später wechselte er seinen Beruf und wurde nach nochmaliger Ausbildung ebenfalls Sanitärklempner. Die Freundschaft wurde im Ruderclub in Grünau vertieft, wo sie von Jugend an mit ihrem Doppelzweier trainierten. Sie saßen sozusagen weiterhin auch während der Arbeit in einem Boot.
„Mensch, Hotte weißt du noch, wie wir mit dem Rudern anfingen“, erinnerte sich Walter gern an die ersten Stunden in einem Doppelzweier mit ihm auf dem Wasser und die Worte ihres Trainers, wenn er mit seinem Freund zusammen klönte und beide ihre zahlreich gewonnenen Preise und Trophäen betrachteten. Die anfänglichen Worte ihres Trainers klangen ihnen immer noch in den Ohren und Walter konnte dessen Stimme so gut imitieren, als er ihnen das Rudern erklärte:
„So Männer, hört jut zu, wat ick euch sage und merkt euch eens, der Doppelzweier hat keen‘ Steuermann, steuern müsst ihr det Boot alleene, det zeig ick euch aber gleich, wie det funktioniert. Anfangs jebe ick euch noch det Kommando vom andern Boot aus über meene Flüstertüte, so nennt man een Megaphon. Später, wenn ick keen Kommando mehr jebe, richtet sich der Hintermann nach dem Vorderen. Is ja ooch logisch, denn der hat ja hinten keene Augen im Kopp. Beim Skullen sollt ihr mit euerm Boot dank eurer Muskelkraft so schnell ihr könnt übers Wasser flitzen und nich mit euern Ruderblättern dabei den Fischen uff ihre Köppe kloppen und erschlagen. Fische werden nämlich jeangelt. Det is aber een anderet Thema. Mit den Ruderblättern wird ooch nich mit dem Vorder- oder Hintermann jefochten. Passt also uff, det ihr beim Skullen mit den Blättern euch nich ins Jehege kommt und nich zusammenknallt. Die Ruderblätter ooch nich zu tief ins Wasser stippen und darin rumrühr’n wie inne Suppe. Det kostet sehr viel Kraft. Aber det Wasser ooch nich nur touchier‘n. Dann kommt ihr ooch nich vorwärts. Also noch mal, die Ruderblätter nich zu tief ins Wasser tauchen und dann gleichmäßig kräftig durchzieh‘n. So, nun rinn ins Boot und los jeht det. Aber schön jeradeaus fahr’n und nich gleich ins Schilf skull‘n, wenn ick bitten darf. Noch Fragen?“
Hinterher mussten beide immer wieder eine Weile darüber lachen. Die Zeit mit ihren sportlichen Erfolgen war einfach herrlich und unbeschwert. Dafür war das Training manchmal beschwerlich und anstrengend.
Für Walter Haberkant wäre es unvorstellbar gewesen, eventuell einmal von Berlin wegzuziehen, schon wegen der vielen Gewässer und des Grüns. Berlin bedeutete für ihn alles. Aber Jahre später kam es eines Tages doch anders als er dachte und geplant hatte.
Eigentlich begann damals alles mit einem alljährlichen Betriebsausflug des VEB Wasser- und Rohrleitungsbau, Abt. Sanitärinstallation aus Berlin-Schöneweide. Dieser Betrieb ging vier Jahre zuvor nach der Verstaatlichung aus dem privaten Sanitär- und Installationsbetrieb Hollerbusch & Söhne hervor. In diesem Betrieb war Walter Haberkant, jetzt 26 Jahre alt, seit insgesamt acht Jahren nach seiner Lehre immer noch als Sanitärklempner tätig.
In den vergangenen drei Jahren, wie auch in dem Jahr 1966, wurde von der Betriebs- und Gewerkschaftsleitung ein Ausflug organisiert. Die Fahrt war zu Pfingsten als Wochenendfahrt mit zwei Bussen geplant. Dieses Mal sollte die Fahrt an den Arendsee in der Altmark durch die zu dieser Jahreszeit bereits sattgrünen Wiesen und Wälder gehen. Nachdem das gebuchte Reisebusunternehmen endlich die notwendige Freigabe über ein entsprechendes Kontingent an Reifen von Amts wegen erhalten hatte, war der Betriebsausflug für die Mitarbeiter der Abteilung Sanitärinstallation und die der Rohrleger gesichert.
In diesem Unternehmen hatte Walter Haberkant fünf Jahre zuvor als ausgebildeter Sanitärklempner eine Arbeit gefunden und war seitdem mit Hotte, Horst Klawitter, seinem Freund und Kleingartennachbar, zusammen in einer Brigade, einem sozialistischen Kollektiv, wie man seiner Zeit ein Arbeitsteam nannte. Horst Klawitter war eigentlich gelernter Zimmermann, aber zum Beruf eines Sanitärinstallateurs umgeschult. Walter wurde von der Betriebsleitung zum Brigadier bestimmt.
„Haste dich schon in die Liste für Pfingsten einjetragen? Oder kommste diesmal nich‘ mit?“ wollte Hotte, sein bester Freund und Kollege, wissen. „Det janze Vergnüjen kostet aber für jeden een‘ Fuffi, den Rest übernimmt die Leitung“, meinte der BGLer.“
„Was sagst du? Fünfzig Mark zuzahlen? Das ist ja die halbe Miete“, protestierte Walter ein wenig. „Aber gut, dass du mich erinnerst. Na klar komm‘ ich mit. Ist natürlich ganz schön teuer, fünfzig Mark. Finde ich jedenfalls. Ich glaube, der alte Chef früher, der Hollerbusch, war aber nicht so knickrig gewesen. Die Betriebsgewerkschaftsleitung hätte ja nun wirklich noch ein bisschen tiefer in die Tasche greifen könn‘. Schließlich zahl’n wir genug Beiträge. Aber wenn man hier in Berlin ausgeht, gibst du das auch aus. Hängt die Teilnehmerliste zum Eintragen wie immer an dem nicht zu übersehenden Schwarzen Brett in unserm Aufenthaltsetablissement?“
„Na klar, da, wo immer die Aushänge ranjepinnt werden. Wo denn sonst?“
„Gut, werd‘ mich zum Feierabend drum kümmern und gleich eintragen. Ich kann dich und die anderen doch nicht alleine fahr‘n lassen. Wird bestimmt wieder sehr lustig, unser Vergnügen“, antwortete Walter.
„Vielleicht treffen wir ooch ein paar Miezen, die sich dort im Jrünen verloofen ham oder sich abends uff de Tanzdiele alleene fürchten. Ick hab‘ nämlich jehört, das abends Schwoof in der Gaststätte von der Pension sein soll. Gleich da, wo wir kampier’n werden“, schwärmte sein Kollege Hotte.
„Ich weiß“, meinte Walter, „das ist dort‘ne alte Lokalität an dem Arendsee und heißt Zur Wildgans oder so.“
„Warum sollte det denn dort am See ooch keene wilden Gänse jeben? Die loofen doch in so eener Jegend bestimmt überall rum. Hauptsache die schnattern nich so ville beim Knutschen“, witzelte Horst Klawitter weiter. Er ließ das bevorstehende Betriebsvergnügen an sich bereits in den für ihn schönsten Momenten gedanklich vorbeiziehen.
„Und du meinst, die wilden Gänse warten nun ausgerechnet auf dich, um von dir gezähmt zu werden?“ Beide lachten und freuten sich weiterhin auf das Betriebsvergnügen.
Walter arbeitete gern in diesem Betrieb. Außer Hotte, seinem Freund und Arbeitskollegen, gab es auch noch Wolle, Klaus Wollenberger, und Atze, Artur Maschlowski, mit denen er sehr gut auskam, sowie mit vielen anderen Kollegen. Er selbst fand für seine qualifizierte Arbeit manch große Anerkennung. Mit seinen 28 Jahren war er noch Junggeselle, aber auch die anderen Kollegen in seinem Kollektiv bis auf Artur Maschlowski waren noch nicht verheiratet. Auf die Betriebsfahrt ‚ins Jrüne‘ zu Pfingsten freute er sich sehr. Es war eine willkommene Abwechslung und vor allem eine kurze Arbeitswoche.
Dann war endlich Freitag, der Tag, dem mit Vorfreude auf die Fahrt an den Arendsee entgegen gefiebert wurde. Morgens fanden sich nach und nach, aber pünktlich, fast alle Kolleginnen und Kollegen mit oder ohne Partner frohgelaunt auf dem Betriebsgelände ein. Frohgelaunt schon deshalb, weil an diesem besonderen Tag niemand arbeiten musste. Heute war auf dem Betriebsgelände nur der Treffpunkt geplant, von dem beide Reisebusse abfuhren.
Ausgerechnet an diesem Morgen hatte Walter verschlafen, weil er nachts ein paarmal mit Bauchschmerzen aufwachte. Am Morgen wachte er gerade noch rechtzeitig auf, um die Abfahrt der bereitstehenden Busse nicht zu verpassen. Es ging ihm nicht gut. Er hatte etwas erhöhte Temperatur trotz fiebersenkender Tablette und musste sich in der vergangenen Nacht mehrmals übergeben. Seine Mutter war sehr besorgt.
„Ich hab‘ dir noch einen Kamillentee gemacht. Trink erst einmal eine Tasse und nimm eine Tablette. Und für unterwegs hab ich dir noch Proviant eingepackt.“
„Danke, Mama.“ Er trank schnell den heißen Tee, aß zwei Stück Zwieback dazu. Dann ein Griff zu seinem Rucksack mit ein paar Utensilien, frischer Wäsche und Proviant, berührte die Wange seiner Mutter mit einem flüchtigen Küsschen und mit einem „Tschüss, bis morgen!“ war er schon zur Tür hinaus und rannte die Treppe runter.
Dreißig Minuten später hatte er den Betriebshof erreicht, die Abfahrtstelle der Reisebusse.
Die Busse standen schon bereit. Der Chef, Herr Klabunkel, hatte alle Kolleginnen und Kollegen mit ein paar Worten begrüßt und allen eine gute Fahrt und viel Vergnügen gewünscht. Dann war etwas Drängelei beim Einstieg angesagt. Da Walter ziemlich spät ankam, stieg er als einer der letzten ein. Seine Kollegen hatten für ihn aber einen Platz freigehalten und empfingen ihn wie im Chor: „Na, da biste ja endlich. Wir dachten schon, du kommst jar nich.“ Die drei hatten einen Platz gefunden, wo sie nun zu viert an einem kleinen Tisch gegenübersaßen.
„Wird ja heute keen Behinderter mitfahr’n, der unsern jeeigneten Platz zum Skat spielen in Anspruch nehmen will“, war Wolles große Sorge, als sie die vier gegenüberliegenden Plätze ergattert hatten.
Kurz darauf, als sie gerade Platz genommen hatten, fuhren die beiden Busse vom Betriebshof runter auf die Straße. Über das Adlergestell ging die Fahrt zum südlichen Berliner Ring Richtung A 2 nach Magdeburg.
„Der Platz hier ist super, da könn‘ wa endlich einen jepflegten Skat kloppen. Haste überhaupt an die Skatkarten jedacht? Die wolltest du mitbringen“, wandte sich nun Wolle fragend an Walter. Der versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, dass es ihm nicht so gut ging. „Na klar, das ist doch das Wichtigste bei so einer stundenlangen Fahrt.“
„Na, Jott sei Dank“, meinte Hotte. „Aber saach‘ mal Walter, wat is’n mit dir heute los? Du siehst ja aus, wie Braunbier mit Spucke!“ Nun musste Walter doch von der letzten Nacht erzählen und dass es ihm nicht besonders gut ginge.
„Hast wohl jestern Abend noch een‘ zur Brust jenomm‘ und davon war vielleicht een Glas schlecht“, begann daraufhin Atze zu lästern und war gerade dabei, einen Flachmann aus seiner Tasche hervorzuholen. „Trinken wa erst mal ‘nen Schluck uff die Jesundheit“, meinte Atze, öffnete die kleine Flasche mit dem Stohnsdorfer Kräuterlikör und reichte sie den Kollegen rüber mit der Bemerkung: „Wenn ick bitten aber darum darf, jeder nur Daumenbreite!“
„Nein, lass‘ man, mir ist wirklich nicht gut“, lehnte Walter dankend ab, denn seine Bauchschmerzen begannen schon wieder. Beim Skat wurde er abgelenkt und es ging ihm bald wieder etwas besser. Er war gerade dran mit Karten geben.
„Kennste den aus Leipzich? Ick meene nich unsern neuen Kollejen, sondern den mit den kurzen Stummelfingern. So wird’s dir ooch erjehn, wenn du noch länger die Karten mischst, statt uns schnellstmöglich een ordentlichet Blatt auf die Kralle zu jeben“, begann Wolle zu meckern.
Walter ließ sich nicht beirren und gab nun die Karten aus.
„Mein Jott, lass dir mal die Finger versilbern. Mir gleich beim ersten Spiel solch einen Mist zu jeben“, regte sich Wolle jetzt auf. „So ville Luschen und trotzdem kann ick nich mal een Null spielen. Det war wohl eben deine jeheime Rache, weil ick dachte, dass du Stummelfinger vom Mischen bekommst, wa? Also, ick hab nüscht und muss passen, saacht euch mal mehr!“
Horst Klawitter reizte bis siebenundzwanzig und musste dann ebenfalls passen, weil Walter Haberkant noch höher ging.
„Wat denn, Hotte, haste von Karo die janze Flöte uff deiner Kralle?“, stellte Atze so nebenher die Frage. „Sei doch stille, du spielst doch die Runde jar nich‘ mit. Müssen doch die andern nich‘ wissen, wat ick habe. Wir spiel’n doch keen Bauernskat mit Ansagen“, knurrte Hotte ihn an.
Walter hatte den Skat inzwischen aufgenommen und gleich wieder beiseitegelegt.
„Wat spielste denn nun? Dürften wa det bei Jelegenheit mal erfahr´n“, wollten die anderen schon ungeduldig und neugierig zugleich wissen. „Mensch Walter, haste dich nu endlich mal entschieden, eine Karte auszuspielen?“
„Na, das muss alles gut überlegt sein. Ich spiel mal einen Grand auf die Schnelle“, verkündete Walter schmunzelnd.
„Sieht bei dir aber jar nich nach schnell aus“, frötzelte Wollenberger, dem alles vor lauter Eifer gar nicht schnell genug ging.
„Wer kommt denn raus?“ fragte Hotte.
„Na du kommst selber, det weeßte doch, immer der, der fragt. Vorne sitzen ist nämlich wie die Frischmilch inne Kuh“.
„Wat soll denn dein blöder Spruch nu wieder heißen. Willste mir verscheißern?“ fühlte sich Horst Klawitter angegriffen.
„Mensch, det saacht man so zu dem, der zuerst ausspielt“, rechtfertigte sich Klaus Wollenberger. „Walter hat doch die Karten jegeben und sich selber dabei det beste Blatt. Und du kommst nun raus, jedenfalls det erste Mal.“
„Na, dann is ja man jut. Ick dachte, du willst mit mir am frühen Morgen stänkern und mir anmachen“, beruhigte er sich wieder. „Hier, beim Grand spielt man Ässe oder man hält die Fresse“, kommentierte Horst Klawitter seine erste Karte, die er ausspielte.
„Mein lieba Krotoschinski“, mischte sich Atze als vierter und gerade aussetzender Spieler jetzt mit kräftiger Stimme wieder ein. „Da haste dir aber ein Blatt jegönnt. Det würde meine Oma auf der Kellertreppe rückwärts im Dunkeln spiel’n“.
„Sei doch bloß endlich mal stille“, fuhr Wolle ihn ziemlich barsch an. „Ick muss mich konzentrier’n, dass wa wenijstens aus’m Schneider komm‘. Kiek lieber aus dem Fenster in die schöne Landschaft, und pass uff, ob sich die Kühe hier von der LPG Flinke Forke, oder wie die heißt, auf ihrer Weide auch een dicket Euter anfressen und so zum Siech des Sozialismus beitragen. Det könn wir dann nämlich in unser Brigadetagebuch schreiben, wenn wir zurück sind und später unsere Betriebsfahrt im Kollektiv auswerten. Kannst uns ja berichten, ob die Kühe nun fressen oder einfach nur so dumm rumstehn und die vorbeifahrenden Autos aus dem Westen uff der Autobahn anglotzen. Det ist hier nämlich die Transitstrecke, wo wir lang fahr’n. Aber quatsch‘ hier nich immer dazwischen“, blaffte Wolle ihn weiter ziemlich laut an.
„Aber Kollechen“, versuchte der neue Kollege von den Rohrlegern in seinem ausgeprägten sächsischen Dialekt die vier erregten Skatspieler etwas zu besänftigen, „nun gommt ä mol alle n‘bissl runnorr mit euerm Gebrille. Dees gann änen ja uffreechen und auf den Gehgs gähn, wenn man euch so labern hört. Bei uns daheeme machen se nich so’n Rabbadz beim Schkat, wie ihr hier drinne.“ Es war Kretschmar, Rudi, der sich zu Wort meldete und erst kürzlich von Karl-Marx-Stadt aus Sachsen nach Berlin gezogen war. Er hatte auch bei ihnen im Betrieb Arbeit gefunden. Und es war sein erster Betriebsausflug.
„Gloobste det, jetzt mischen sich schon Ausländer in unsere jepflegte Unterhaltung ein“, ereiferte sich Klaus Wollenberger dem Kollegen der Rohrleger gegenüber. „Mensch, laß dir erst mal am Hals operier’n, damit wa dir überhaupt verstehn könn‘. Reicht ja wohl, wenn unsere Rejierungsvertreter vom Politbüro keen richtjet deutsch quatschen und so wie du in eener andern Sprache quasseln, det man nüscht versteht. Und nun du ooch noch.“
„Nu mach bloß geene Fissemaddenzchn und blög mich heide nich gleich so an, ich meene ja nur ä mol“, antwortete der sächsische Kollege und verstummte, weil er sich nicht streiten wollte.
„Komm, lass doch den Klugscheißer, Wolle“, versuchte Walter jetzt zu schlichten. „Hier spielt die Musike. Gib mir lieber noch mal so einen schönen Grand.“
Der Disput mit dem neuen sächsischen Kollegen legte sich wieder und war beendet. Im Verlauf der weiteren Fahrt folgten noch etliche Skatrunden und wurden von den Mitspielern in ähnlicher Weise kommentiert. Auch sonst war die Stimmung im Bus bei den anderen Kollegen, die teilweise ihre Partnerinnen mitgenommen hatten, recht ausgelassen. Stimmengewirr und Gelächter wurden lauter, wenn jemand einen Witz erzählte oder etwas Anderes zum Besten gab. Bei Magdeburg fuhren die Busse von der Autobahn ab, um auf der Fernverkehrsstraße Richtung Stendal und weiter über Osterburg nach Seehausen zu gelangen. Von Seehausen waren es nur noch etwa zwanzig Kilometer bis zum Arendsee mit der gleichnamigen kleinen Ortschaft, wo die beiden Reisebusse etwa um die Mittagszeit vor der Jahrzehnte lang bestehenden Pension & Restaurant ‚Zur Wildgans‘ vorfuhren, einer ansprechenden Lokalität, die von ihrem Chef und der Betriebsgewerkschaftsleitung für das diesjährige Vergnügen gebucht wurde. Zunächst wurden an der Rezeption die Zimmer vergeben. Walter Haberkant teilte sich natürlich ein Zimmer mit seinem Kumpel Horst Klawitter. Sie erhielten das Zimmer Nr. 7.
„Bedeutet det nun Glück oder noch mehr Unglück mit der Zimmernummer. Alleene dein Jeschnarche ist schon Unglück jenuch“, meinte er zu seinem Freund Walter. „Na, du sei doch still. Du wirst ja von deinem eigenen Schnarchen wach. Da muss ich gar nichts weiter tun“, gab Walter zur Antwort.
Anschließend fanden sich alle Betriebsangehörigen zum gemeinsamen Mittagessen unten in dem größeren Raum des Restaurants ein, wo bereits für alle Kollegen die reservierten Tische eingedeckt waren. Die Bedienung hastete eilig hin und her, um alle schnellstmöglich zufrieden zu stellen. Derweil fand manch ein Kollege die üblichen passenden und unpassenden Worte speziell zur weiblichen Bedienung. Walter saß mit seinen drei Skatfreunden, die ebenfalls dumme Sprüche von sich gaben, wieder an einem Tisch.
„Junge, Junge, kiek mal, die hat aber een tollet Fahrjestell“, staunte Horst Klawitter und starrte der großen schlanken Bedienung hinterher, die von Tisch zu Tisch eilte. Die blödelnden dummen Bemerkungen im schlimmsten Berliner Dialekt am Tisch gingen weiter. „Sie hat aber auch’n hohen Wasserfall bei ihrer Größe. Die Beene kieken janz schön lang aus dem schwarzen Mini raus. Aber ansonsten hat sie nur eene Fijur wie ein Schneewittchen, keen Arsch und keen Tittchen“, kommentierte nun Artur Maschlowski die Feststellungen von Hotte. Walter wurde es peinlich. „Nun benehmt euch mal. Wir sind nicht auf unserer Baustelle Wir müssen ja nicht überall gleich auffallen“, forderte Walter seine Kollegen auf.
Dann war die Bedienung an ihrem Tisch. „Was darf ich ihnen an Getränken bringen?“ war ihre an alle vier gerichtete Frage. Die vier Kollegen waren zunächst wie kleine Jungs verlegen und verstummt. Bis Hotte endlich stammelte: „Bi…Bier natürlich, vier schöne jepflegte Pils!“ „Kleine oder große?“ „Jroße natürlich, dann müssen se nich so oft loofen“. „Danke, die Herren“, lächelte sie und war schon auf dem Weg.
„Na, ihr seid ja auf einmal alle verstummt. Ist ja auch besser so. Ich finde sie jedenfalls sehr nett. Wie die gleich losflitzt, um unser Bier zu holen, damit wir hier nicht verdursten“, meldete sich Walter wieder zu Wort. Anschließend wurde das Essen serviert. Ein Gelächter brach los, als das Eisbein serviert wurde.
„Kiekt euch bloß mal Atze an. An dem Eisbein, wat der uff seinem Teller hat, hängt ja noch det halbe Schwein dran. Man, is det een Ding. Für dieset Riesenteil haste dir bestimmt vorher den Magen auspumpen lassen, damit du det allet schaffst“, meinte Klaus Wollenberger zu ihm.
„Na, kostet ja heute auch nischt. Zahlt alles der Alte und die Betriebsgewerkschaft aus der Pinke“, gab Atze bereits kauend zur Antwort.
„Det gloobst ooch nur du, dass der neue Chef Klabunke ooch nur eene müde Mark beisteuert. Det is‘ doch’n oller Geizhals. Früher war det so, dass der olle Hollerbusch eine Saalrunde ausjegeben hat. Aber der Knicker von Chef, dem würde ich am liebsten mal seine Krawatte so richtig binden, bis ihm die Puste ausjeht“, erboste sich nun Wolle.
„Du hast ja janz finstere Gedanken. Du willst doch nich‘ wirklich so eenem wichtijen Parteijenossen an die Wäsche woll’n und det Licht ausmachen? Halt‘ bloß deine Füße still und lass die Finger von dieser vollgefressenen Flitzpiepe und stürz dich nich‘ ins Unglück“, warnte Hotte Klawitter vor unüberlegten Dingen.
Am Nachmittag konnte man von dem vorgesehenen Programm wählen zwischen einer Dampferfahrt mit der Queen Arendsee, dem Nachbau eines Raddampfers mit Missisipi-Shuffle-Boat Flair oder einer zünftigen Kutschfahrt mit mindestens zwei Pferdestärken in die nähere Umgebung oder einem Badeaufenthalt im Strandbad am Arendsee. Walter entschied sich zusammen mit Horst Klawitter für die Dampferfahrt und wollte sich ganz in Ruhe über die in der Nachmittagssonne glitzernde Wasserfläche des Arendsees schaukeln lassen.
Für die Altmark war zu Pfingsten wunderschönes Wetter mit viel Sonne vorausgesagt. Für Martha Bachmann war das ein Grund mehr, ihre langjährige Freundin Adelheid Pieplow, die am Arendsee wohnte, endlich zu besuchen. Ein Besuch war schon lange geplant, aber zur Zeit davon abhängig, ob ihre Tochter Erika Zeit hatte, sie mit ihrem ‚Wartburg 311‘, einem in die Jahre gekommenen PKW, dorthin zu fahren. Sie war immer noch durch einen vor einiger Zeit erlittenen häuslichen Unfall, einem Sturz von der Treppe, gehbehindert und konnte nicht selbst mit dem Auto fahren. Und ihr Heinz, Erikas Vater, hatte schon gar keine Lust, Martha zu Ihrer Freundin an den Arendsee zu kutschieren, um sich das Geschnatter der Damen anzuhören, wie er meinte. Er wollte lieber Haus und Hof hüten und hatte dort immer etwas Wichtiges am Haus und im Garten zu tun.
Am Freitag vor Pfingsten hatte Erika tagsüber frei. Sie fuhr ihre Mutter gern zu Tante Adelheid an den Arendsee, wie sie deren Freundin nannte. Zum Dienst musste sie erst wieder am späten Abend. Sie hatte Nachtschicht. Erikas Mutter wollte an diesem Tage nachmittags zusammen mit ihr und Adelheid wieder einmal mit der ‚Queen Arendsee‘ zu einer Rundfahrt in See stechen. Tante Adelheid war mit dem Vorschlag einverstanden und hatte sie bereits zum Mittag eingeladen. Sie freute sich auf ihren angekündigten Besuch.
Erika Bachmann wuchs in Seehausen wohlbehütet bei ihren Eltern auf. Die Eltern besaßen in der kleinen Provinzstadt ein großes Zweifamilienhaus mit einem Walmdach. Dadurch war der Dachboden sehr geräumig und zum Ausbau einer kleinen Wohnung geeignet. Das Grundstück, auf dem das Haus stand, war ebenfalls sehr groß und reichte fast bis an den Aland. Der Aland war ein kleines, eher unbedeutendes Flüsschen, das sich unmittelbar hinter ihrem Grundstück vorbei schlängelte, um dann weiter durch den Ort Seehausen und die Niederungen der Altmark einen Zufluss in die Elbe zu finden. In dem großen Zweifamilienhaus bewohnten Bachmanns die untere geräumige Wohnung im Erdgeschoss. Die darüber liegende Wohnung war weiterhin vermietet. Das elterliche Hausgrundstück befand sich in der Straße Am Schillerhain unweit vom wunderschön gelegenen Waldbad. Sie ging hier in Seehausen zur Schule. Nach dem Abitur am Winckelmann-Gymnasium ließ sie sich zur Krankenschwester im ortsansässigen Diakoniekrankenhaus ausbilden, um vielleicht irgendwann Medizin zu studieren. Zunächst wurde sie gleich nach ihrer Ausbildung im Diakoniekrankenhaus angestellt und arbeitete sehr gern auf der Station für Innere Medizin.
Pünktlich zur Mittagszeit traf Erika mit ihrer Mutter in ihrem sehr gut gepflegten Pkw Wartburg 311 am Arendsee ein. Adelheid Pieplow wohnte schon sehr lange am Arendsee in ihrem kleinen Einfamilienhaus. Es war wie immer ein sehr herzliches Wiedersehen. Seit dem letzten Besuch waren drei Monate vergangen und da gab es viel zu erzählen. Der Mittagstisch war bereits mit dem Geschirr gedeckt, das Erika so gern mochte. Die Teller waren am Rand entlang mit bunten Blumenmotiven verziert und ließen das Porzellan zu einem kleinen Kunstwerk werden. Marthas Freundin trug gleich das Essen herein. Obwohl im Wochenkalender Freitag stand und an diesem Tag vielfach Fischgerichte zubereitet wurden, überraschte sie ihre beiden Gäste mit Hähnchenbrustfilet, Spargel in Weißweinsauce und neuen Kartoffeln. Auch das Kompott, ein Obstsalat mit Sahne, als Nachtisch sah schon köstlich aus. „Guten Appetit, lasst es euch schmecken“, forderte Adelheid zum Essen auf. „Was ist denn nun mit deiner Hüfte? Ist nach dem Sturz wieder alles in Ordnung? Wie ich dich vorhin gesehen habe nehme ich an, dass es noch ein bisschen dauern wird, bis du wieder richtig laufen kannst“, wandte sie sich an Martha während des Essens. „Meine Hüfte ist ganz schön lädiert worden. Ich hatte eine ordentliche Prellung und irgendeinen Riss in der Pfanne vom Hüftgelenk. Jedenfalls muss ich noch eine Weile mit meiner Krücke als Gehhilfe durch die Gegend stolpern, um die Hüfte zu entlasten.“
„Na, du hast ja wenigstens mit Erika eine tüchtige Hilfe“, meinte Adelheid und zwinkerte Erika zu. „Wie ist es überhaupt mit dir Erika, ich meine wie sieht es bei dir mit der Männerwelt aus? Bist du noch mit dem netten jungen Arzt zusammen, von dem mir Martha vor ein paar Wochen erzählte?“, wurde Tante Adelheid jetzt neugierig und machte Erika etwas verlegen.
„Nein, schon lange nicht mehr. Das hätte vielleicht eine feste Beziehung werden können. Dachte ich jedenfalls. Wir waren in Seehausen einmal beim Erntedankfest und an einem anderen Feiertag tanzen. Das war sehr nett und lustig. Wir sind auch einmal zum Picknick an den Arendsee gefahren. Aber das war’s dann auch. Irgendwann merkte ich nämlich, dass er mit einem Labormäuschen bei uns eine ernstere Affäre hatte und habe Schluss gemacht. Das ist für mich längst Vergangenheit und vergessen. Ein paar Monate später ist der Arzt, den du meinst, nach Dresden gegangen. Ich bin also immer noch solo. Kein Wunder, bei meinem manchmal störenden Schichtdienst.“
„Na, vielleicht lernst du im Urlaub mal jemand kennen. Mit deinen erst 25 Jahren kannst du dir ja auch noch Zeit lassen“, beendete Tante Adelheid dieses Thema.
„Du hast uns aber wieder mit deinem leckeren Essen verwöhnt“, wechselte Martha gleich wieder das Thema, nachdem sie gegessen hatten. Adelheid und Erika standen auf und begannen das Geschirr in die Küche zu tragen.
Martha wurde langsam unruhig und schaute auf den alten Regulator, der über dem Vertiko an der Wand in einer Zimmerecke hing. „So ihr Lieben, ich glaube, wir müssen uns langsam fertig machen, wenn wir unsere Kreuzfahrt auf dem See machen wollen. Bei mir geht das nämlich nicht so schnell.“
„Selbst wenn wir langsam dorthin wandern, schaffen wir es in zwanzig Minuten immer“, meinte ihre Freundin. Bereits vierzig Minuten vor Abfahrt trafen die drei Damen schon an der Anlegestelle ein.
„Mein Gott, heute wird es auf dem Schiff aber voll“, staunte Tante Adelheid beim Anblick der vielen Leute, die sich inzwischen alle an der Anlegestelle der Queen Arendsee eingefunden hatten. „Komm Martha, da vorn ist noch auf einer Bank ein freier Platz für uns. Dort setzen wir uns noch einen Augenblick, bevor wir an Bord gehen dürfen. Kommst du auch zu uns auf die Bank, Erika?“
„Nein danke, ich stell mich schon in die Warteschlange. Dann könnt ihr ja zu mir kommen, damit ihr auf dem Schiff einen Sitzplatz habt.“
Auch Walter Haberkant befand sich mit seinem Freund und Kumpel Horst Klawitter unter den wartenden Fahrgästen zusammen mit anderen Kollegen ihres Betriebes die sich für eine Rundfahrt entschieden hatten. Unter den Wartenden fiel Walter Haberkant eine sehr schlanke, bildhübsche junge Frau mit halblangem hellblondem Haar auf. Sie war scheinbar in Begleitung. Gott sei Dank, mit zwei älteren Damen, mit der sie sich angeregt unterhielt, und nicht mit einem Mann, wie Walter feststellen konnte.
„Hast du die eben auch gesehen“, wollte Walter von seinem Freund wissen.
„Wen denn?“ fragte Hotte nur.
„Na, die Blonde mit den zwei älteren Damen dort vorn. Die gerade an Bord gehen“, erwiderte Walter und ließ die blonde junge Frau nicht aus den Augen.
„Na saach mal. Du weeßt doch, dass ick nich uff ältere Damen stehe und die Jungsche mit den blonden Haaren ist nich mein Typ.“
„Na, Gott sei Dank!“ meinte Walter, „sonst hätten wir uns vielleicht heute noch um die schöne Braut gestritten und in den Haaren gelegen.“
Nachdem der Dampfer abgelegt hatte, meinte Walter, dass er sich mal auf dem Vorderdeck ein bisschen die Füße an der frischen Luft vertreten müsse.
„Ick denke, du hast wat mit deinem Bauch und jetzt is det mit den Füßen ooch noch so schlimm, dass du die in die frische Luft halten musst?“ wollte Horst nun spaßeshalber wissen.
„Mann, stell‘ dich nicht so an. Ich habe nichts an meinen Füßen, eher mit meinem Bauch. Aber das weißt du doch, dass mir das heute nicht so gut geht. Und nun ist alles noch viel schlimmer geworden, jetzt sind noch Schmetterlinge in meinem Bauch dazu gekommen.“
„Ick jeb dir’n juten Rat, mein lieba Walter, wenn du die Dame ansprichst, fall‘ bloß nich gleich mit der Tür ins Haus, sonst wird det nichts. Oder se springt gleich ins Wasser, um sich vor dir zu retten. Im Gejenteil zu mir sprichste je wenigstens hochdeutsch. Det kommt ja bei Frauen ooch besser an. Det siehste ja an mir. Deshalb finde ick ja ooch keene Frau, die zu mir passt und wenn, dann kann die nach ein paar Worten meinen Berliner Dialekt nich leiden oder findet sonst wat an mir, wat ihr nich passt und schon isse wieder weg. “
„Ich werde mir Mühe geben und deinen Rat befolgen“, meinte Walter und war schon unterwegs zum vorderen Deck, als die Queen Arendsee gerade ablegte.
Dort auf dem vorderen Deck an der Reling stand sie. Walter erkannte sofort die junge Dame, die sein Herz höher schlagen ließ. Er dachte nur noch eins: Wie wird sie reagieren, wenn ich sie anspreche? Und wie komme ich überhaupt mit ihr ins Gespräch bevor sie vielleicht das Weite sucht? Sie trug tolle echte Jeans der Marke Levis, dazu eine blaue Lederjacke, die vorn geöffnet war und darunter eine weiße Bluse sichtbar werden ließ. Ihre bereits von weitem unverkennbaren halblangen blonden Haare flatterten leicht im Wind. Momentan schaute sie gedankenversunken auf das Wasser, um die in der Sonne wie Kristalle glitzernden Schaumkronen der Bugwellen des Schiffes zu verfolgen, die seitwärts zum Ufer hin ausliefen. Bei dem leicht aufkommenden Wind gab es auf der Wasseroberfläche des Arendsees nun noch mehr Wellen, die im Sonnenlicht weithin wie Diamanten funkelten.
Walter, der bisher immer ein bisschen zurückhaltend war, fasste jetzt allen Mut zusammen, als er sich ihr näherte. Diese Frau wollte er unbedingt kennen lernen.
„Die Queen fliegt über den Arendsee, Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee…“, rezitierte Walter in Abwandlung den Beginn des in der Schule gelernten Gedichtes, als er neben die Dame seiner Begierde trat. Sie fuhr erschrocken herum und starrte ihn einen Moment wie abwesend wie an. Dann wurde sie zunächst etwas verlegen und ihre Gesichtsfarbe rötete sich. Im nächsten Augenblich hatte sie sich wieder gefangen, bevor sie schlagfertig anlehnend an den bekannten alten deutschen Film „Die Feuerzangenbowle“ antwortete: „Das ham‘ sie Schöler aber fein gelernt, setzen se sich!“
„Gestatten sie“, reagierte Walter ebenso schlagfertig, „das würde ich gerne tun, aber ein Sitzplatz an ihrer Seite ist leider nicht vorhanden. Wie ich sehe, gibt es hier nur Stehplätze. Ist denn davon wenigstens einer hier an der Reling neben ihnen noch frei? Ich schaue nämlich auch so gerne aufs Wasser wie sie. Und sie seh’n im Augenblick bestimmt genauso was Schönes wie ich.“ Walter fiel nichts Besseres ein.
„Was soll ich denn ihrer Meinung nach im Wasser sehen?“, wollte sie dann neugierig wissen.
„Na, Fische höchstwahrscheinlich nicht, aber ihr Spiegelbild. Und das ist etwas derartig Schönes. Das finde ich jedenfalls, trotzdem sie durch die eine oder andere Welle immer mal einen Augenblick lang verschwommen sind. Zugegeben in Natur mir hier so vis-á-vis sind sie natürlich viel schöner. Wenn ich ihre strahlenden ausdrucksvollen blauen Augen und dazu ihre genauso im Sonnenlicht strahlenden blonden Haare sehe, bin ich sowas von hin und weg, dass ich beinahe gar nicht mehr weiß, was ich überhaupt wollte“, meinte Walter und verfiel vor Aufregung beinahe in seinen Berliner Dialekt. „Aber bevor ich weiter mit der Tür ins Haus falle, wie man so schön sagt, darf ich mich erst mal vorstellen? Mein Name ist Walter Haberkant. Ich stamme aus Berlin und ich bin hier sozusagen auf Tournee. Also nicht als Künstler, falls sie das jetzt denken. Nein, nein, ich bin nur mit Kollegen von meinem Betrieb heute und morgen auf großer Tour, rein zum Vergnügen. Wir machen immer um die Pfingstzeit unsere Betriebsfahrt. So, nun wissen sie fast alles über mich. Und jetzt sind sie dran? Verraten sie mir auch ihren Namen oder fahr’n sie vielleicht ständig hier vorn am Bug als Galionsfigur dieses Schiffes, der Queen Arendsee mit? Ich meine, die Queen sind sie für mich sowieso. Oder fahr’n sie nur so wie eine Meerjungfrau mit, um die Männerwelt verrückt zu machen, so wie mich?“
„Na, sie sind mir ja einer! Sie muss ich bestimmt nicht mehr verrückt machen. Sie sind es schon“, machte sie sich lustig und lachte. „Ist ja man gut, dass sie selbst merken, wie sie gleich mit der Tür ins Haus fallen. So etwas habe ich ja noch nie erlebt“, erwiderte sie gespielt brüskiert, denn sie fand den jungen Mann, der sich als Walter Haberkant vorgestellt hatte, nicht nur sehr nett und sympathisch. Es hatte bei ihr einfach Klick gemacht, als er wie aus dem Nichts an ihrer Seite an der Reling auftauchte, als sie gerade gedankenversunken auf die Bugwellen des Schiffes schaute. Es war ihre Liebe auf den ersten Blick. Hoffentlich werde ich diesen netten, gutaussehenden und lustigen Mann wiedersehen können, dachte sie im nächsten Augenblick. Ein bisschen aufdringlich ist er schon, aber lustig.Trotzdem wollte sie ihn unbedingt wiedersehen. Im Moment versuchte sie, sich das nicht anmerken zu lassen und hörte Walter beinahe nicht zu, als er antwortete.
„Stimmt, ich bin nur einer. Das haben sie Gott sei Dank richtig erkannt. Wäre ja auch schlimm, wenn sie mich am hellerlichten Tag doppelt sehen würden. Und weil sie, wie sie sagen, sowas wie mich noch nie erlebt haben, fände ich es super, wenn sie die restlichen Stunden des heutigen Tages mit mir gemeinsam verbringen könnten. Es sei denn, zu Hause warten bei ihnen der Mann und ihre Kinder.“
„So fragt man Leute aus. Vielleicht möchte ich das aber auch gar nicht. Sind sie immer so aufdringlich mit ihren direkten und plumpen Annäherungsversuchen? Was bilden sie sich überhaupt ein?“
„Ich denke nicht, dass ich eingebildet bin, aber ich bilde mir ein oder besser gesagt ich hoffe, dass sie meine Einladung für heute Abend annehmen, wenn ich sie jetzt ganz nett darum bitte. Sie gehen doch bestimmt heute auch zum Tanzabend, der in der Wildgans stattfindet, oder zum Schwoof, wie der Berliner sagt? Außerdem hab ich auch fürchterliche Angst, dass sie mir hier vorher noch über die Reling ins Wasser fallen oder springen und ich sie nie wiedersehen könnte. Deshalb fühl ich mich berufen, auf sie aufzupassen“.
„Sie sind ja ein hartnäckiger Spaßvogel. Ich brauch‘ aber keinen Aufpasser und schwimmen kann ich auch, falls ich ins Wasser fallen sollte.“
„In dem eiskalten Wasser kann man noch nicht schwimmen. Wie heißt es so schön? Eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Sommer. Auch wenn das Wetter heute super schön ist. Wir haben jetzt erst Pfingsten. Also mit dem Schwimmen müssen wir alle noch ein bisschen warten“, bemerkte Walter.
„Übrigens habe ich schon einen Aufpasser“, sagte sie etwas trotzig und versuchte ihn damit erst einmal los zu werden.
„Das ist mir egal. Selbst wenn sie verheiratet wären, würde ich warten, bis sie wieder geschieden sind. Aber ich weiß, sie haben heute sogar zwei Aufpasser hier, nämlich die zwei älteren Damen, mit denen sie an Bord gegangen sind.“
„Woher wissen sie denn das? Haben sie mich ständig verfolgt und beobachtet? Sind sie Privatdedektiv oder einer von der Stasi?“
„Nein, weder noch. Aber mit ihren hellblonden Haaren, die im Sonnenlicht so herrlich glänzen, ist das doch kein Wunder, dass sie mir Gott sei Dank sofort aufgefallen sind. Und bei näherer Betrachtung hatte ich dann gleich Schmetterlinge im Bauch.“
„Dann werde ich mir demnächst die Haare dunkel färben, damit sie nicht so geblendet und laufend von Schmetterlingen bekrabbelt werden“, machte sie sich jetzt ein wenig lustig, obwohl sie den jungen Mann, der sich als Walter vorgestellt hatte, gar nicht so übel fand. Und deshalb wollte sie nicht unhöflich sein und verriet dann doch entgegen ihren Gepflogenheiten ihren Namen.
„Ich heiße übrigens schlicht und ergreifend Erika, Erika Bachmann und bin hier in der schönen Altmark zu Hause“, meinte sie nun zu Walter gewandt.
„Sehr angenehm. Jetzt haben sie mich aber überrascht, denn ich habe nicht damit gerechnet, dass sie mir auch nur einen einzigen Buchstaben ihres werten Namens verraten. Aber trotzdem habe ich immer noch keine Antwort auf meine Einladung für den heutigen Abend“, wiederholte Walter sein Anliegen und zuckte etwas zusammen, als er wieder einen stechenden Schmerz im Unterbauch empfand, ließ sich aber nichts anmerken.
„Na gut, wir können uns ja nachher noch treffen. Ich habe aber nicht viel Zeit. Ich fahre abends schon um 20.00 Uhr mit meiner Mutter wieder nach Hause. Ich muss noch zum Dienst, bin wieder mit Nachtschicht dran.“
„An so einem schönen Tag noch arbeiten und dann noch nachts? Ist das nachts nicht ein bisschen gruselig?“ wunderte sich Walter, wollte aber nicht zu neugierig sein und fragen, welchen Beruf sie wegen der Schichtarbeit hatte.
„Aber ich freue mich riesig, dass sie meine Einladung angenommen haben. Wenn uns schon keine Zeit zum Tanzen bleibt, hoffe ich ganz stark, dass ich sie wenigstens zum Essen einladen darf. Wir können ja ins Seglerheim hier gleich um die Ecke der Schiffsanlegestelle gehen. Dann schaffen wir es wenigstens noch, bis um 20.00 Uhr in Ruhe zu Essen, sofern die Bedienung mitspielt. Ich muss nur noch mal schnell mit zur Pension Wildgans, unserm Quartier, zurück.“
„Einverstanden. Es wird aber besser sein, wenn ich sie an der Wildgans mit dem Auto abhole, denn von dort sind es immerhin dreieinhalb Kilometer bis hier zur Anlegestelle. Zu Fuß dauert es sehr lange. Ich warte um 17.00 Uhr vor ihrer Pension auf sie. Aber pünktlich sein. So, nun muss ich mich aber wieder um meine Mutter und die Tante kümmern. Sonst denken sie womöglich noch, dass ich an einer Stelle über Bord gegangen bin. Außerdem legen wir gleich wieder an.“
„Deshalb habe ich ja aufgepasst“, meinte Walter etwas verschmitzt und lächelte „Ja und ich muss auch meinen Kollegen suchen. Also bis nachher und danke nochmals, dass sie meine Einladung angenommen haben“, fügte er noch hinzu.
Als Walter endlich zu seinen Freund Host Klawitter auf dem Oberdeck zurückkehrte, war der ganz schön sauer. „Mensch, da biste ja endlich. Hätte ick mich ja auch gleich alleene an den Strand in die Sonne legen könn‘, als mir hier vor lauter Gram bei der frischen Brise auf hoher See een kaltes Bier nach dem anderen genehmigen zu müssen. Aber keene Bange, so schnell sind die hier ooch nich. Es waren nur zwee Bier.“
„Horst, hör mal, ich muss dich heute Abend alleine lassen. Ich hab‘ nachher noch eine ganz wichtige tolle Verabredung, wenn wir hier vom Kahn runtergehen. Das war heute die schönste Schiffsfahrt meines Lebens, die ich nie vergessen werde“, stellte Walter überschwenglich fest.
„Hab‘ mir so wat schon jedacht. Schon alleene, wenn du so feierlich Horst zu mir saachst und deine Augen dabei glänzen, als wenn Weihnachten wäre, dann steckt da immer wat janz Wichtiges dahinter oder du willst wat von mir. Aber ick bin ja Kummer mit dir jewohnt und gönn‘ dir dein Vergnüjen. Det ist bestimmt die ganz hellblonde Droscheriegermanin, die inne Sonne so jeleuchtet hat, wa?“, fragte sein Freund.
„Ja, die meine ich, eine Traumfrau“, schwärmte Walter.
„Na, dann will ick deinem Glück nich im Weje steh’n“, meinte Hotte beinahe resigniert.
Zehn Minuten später legte der Dampfer wieder an. Sie waren nach der Rundfahrt mit der Queen Arendsee wieder dort angekommen, wo die Rundfahrt begann. Walter und Horst gingen zu den wartenden Bussen, die alle Kollegen zur Pension in den Ortsteil Zießau fuhren. Auf der kurzen Fahrt dorthin bekam Walter wieder Bauchschmerzen im Unterleib. Dieses Mal war es etwas heftiger. VerfluchterMist, Ausgerechnet heute muss det sein, dachte Walter.
„Möchte nur wissen, was das ist“, meinte er zu Hotte und griff sich mit der einen Hand an den Unterbauch, als sie im Bus saßen. „Ich habe schon wieder stechende Schmerzen in meinem Wanst. Hoffentlich wird das nachher nicht noch schlimmer, so wie letzte Nacht zu Hause.“
„Det sind nur die Schmetterlinge, die du im Bauch hast“, lästerte sein Kumpel Hotte.
„Schön wär’s ja“, meinte Walter und krümmte sich ein wenig vor Schmerzen.
Nachdem sich beide ‚landfein‘ zum Ausgehen gemacht hatten, verließen sie kurz vor 17.00 Uhr ihr Zimmer und gingen die mit den Jahren etwas ausgetretene Treppe der alten Pension nach unten, sein Freund Horst Klawitter zu dem angesagten Betriebsvergnügen im großen Saal und Walter zu seinem Rendezvous mit Erika. Unten angekommen verabschiedeten sich beide vor der Rezeption und wünschten sich viel Spaß. Allein der Gedanke an sein Rendevous hatten zunächst seine Bauschmerzen erträglich werden lassen. Erika wartete bereits vor der Tür. Weil die beiden nicht im Blickfeld der anderen Kollegen sein wollten, fuhren sie zurück in das Restaurant Seglerheim.
„Wir können uns ja auf die Terrasse setzen bei den milden Temperaturen heute Abend“, schlug Walter vor. Erika war sofort einverstanden. „Ach, das ist immer wieder schön hier mit dem Blick auf den See und den Bootshafen“, meinte Erika begeistert. Walter wunderte sich. „Waren sie denn schon öfter hier?“ „Ja, mit meiner Mutter und ihrer Freundin. Einmal war auch mein Vater mit dabei. Da haben uns mal Freunde meines Vaters mit ihrem Segelboot mitgenommen.“
Auf der jetzt ruhigen Wasseroberfläche spiegelte sich der Abendhimmel mit der untergehenden Sonne in verschiedenen rötlichen und roten bis violetten Farbtönen und verkündete auch für den nächsten Tag wieder herrliches Sommerwetter. Das Spiegelbild wurde hin und wieder von den Bugwellen der letzten einlaufenden Boote unterbrochen, die an den wenigen freien Plätzen in dem kleinen Bootshafen vor Anker gingen und an den Pollern festmachten, während dabei die entstandenen leichten Wellen zum Ufer hin schwächer werdend ausliefen oder vom angrenzenden Schilfgürtel aufgefangen wurden.
„So schön wie es hier auch ist. In anderthalb Stunden müssen wir oder zumindestens ich schon wieder aufbrechen“, gab sie Walter wiederholt zu verstehen und schaute dabei auf ihre Uhr am Handgelenk. Eigentlich hätte sie sich bei der wenigen Zeit gar nicht auf eine Verabredung einlassen sollen, aber sie fand Walter irgendwie auf seine direkte Art interessant und vor allem hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Ihr gefiel einfach alles an ihm.
„Ja leider, das ist schade“, meinte Walter etwas traurig. „Unser Betriebsausflug ist morgen auch schon wieder zu Ende.“, kamen seine Worte betrübt über die Lippen. Gleichzeitig war er froh, dass sich ihr Rendezvous nicht so lange ausdehnen würde. Ihn plagten jetzt immer stärker werdende Schmerzen, die bis in sein Bein ausstrahlten. Die Schmerzen waren kaum noch auszuhalten und zu unterdrücken. Manchmal rutschte er dabei unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Ausgerechnet heute musste ihm so etwas passieren.