Pietà - Steinerner Tod - Alex Thomas - E-Book

Pietà - Steinerner Tod E-Book

Alex Thomas

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Beschreibung

Als an einem Wintermorgen unter dem Brandenburger Tor die blutüberströmte Leiche eines Mannes in den Armen einer Frau entdeckt wird, schrillen bei Ex-Kriminalkommissar Magnus Böhm sämtliche Alarmglocken. Er hat diese Skulptur aus Menschenkörpern schon einmal gesehen, 14 Jahre zuvor in Rom. Die Presse stürzt sich auf den Fall und spricht von der Berliner Pietà. Doch dieses Mal gibt es einen entscheidenden Unterschied: Das weibliche Opfer hat überlebt.

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Seitenzahl: 415

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Alex Thomas

Pietà – Steinerner Tod

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © giko / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-7716-4

Widmung

Für Arthur

Zitat

Der Schwache hat ein Schicksal,

der Starke eine Bestimmung.

(Emmas Tagebuch)

1

Sie saß unter dem Brandenburger Tor, unter der Quadriga, dem Streitwagen mit dem Vierergespann, auf dem die geflügelte Siegesgöttin Victoria den Frieden in die Stadt brachte, und musterte die anwachsende Menschenmenge. Die Leute filmten und fotografierten sie.

Und sie tuschelten.

Und das Tuscheln wurde lauter.

Ist das Blut?

Ist sie verletzt?

Ist er tot?

Bei jeder dieser Bemerkungen zuckte sie innerlich zusammen, jedes Wort traf sie, doch nach außen hin blieb sie ungerührt. Man hätte glühende Zigaretten auf ihrer Haut ausdrücken können, und sie hätte sich nicht geregt. Wie erstarrt saß sie da, inhalierte den Geruch von Blut und blickte auf die besudelte, nackte Gestalt in ihren Armen.

Und wieder drang das Gemurmel der Leute zu ihr durch.

Was ist hier passiert?

Was hat sie vor?

Woher kommt all das Blut?

Seht doch, wie sie dasitzt …

Seht doch, wie er daliegt …

Ein tragisches Liebespaar …

… wie die Pietà von Michelangelo!

Die Pietà.

Sie erinnerte sich. Sie hatte mal ein Abbild der Skulptur im Kunstunterricht gesehen. Eine junge Maria, die den Leichnam ihres erwachsenen Sohnes Jesus auf dem Schoß hielt.

Sie senkte den Blick und musterte das mit Farbe beschmierte Gesicht des vermeintlichen Jesus, den sie in ihren Armen hielt. Sollte dieses Gesicht je Güte, Mitgefühl oder Verstehen zum Ausdruck gebracht haben, so war davon nichts mehr zu sehen. Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen, zumindest glaubte sie das. Sie selbst war ja auch nicht gerade eine Maria. Anmut, Trauer, Wehmut, Weisheit, Unschuld … All das ging ihr gründlich ab. Doch einige der Schaulustigen wollten genau das in ihr sehen.

Die gaffende, fotografierende Menge teilte sich plötzlich und bildete ein Spalier, durch das zwei Typen in Polizeiuniform auf sie zueilten, gefolgt von Sanitätern, einem Notarzt oder was auch immer.

»Warten Sie«, hielt der Vordere der Polizisten den Arzt und die Sanitäter zurück. »Sie könnte bewaffnet sein!«

Bewaffnet? Dass sie nicht lachte!

Als klar war, dass sie nur den Leichnam hielt, durfte der Arzt zu ihr. Am liebsten hätte sie geschrien: Verschwindet! Ich brauche euch nicht. Ihr seid längst zu spät! Doch sie blieb stumm. Stumm wie der dichte Schnee, der aus dem Himmel fiel und alles wie ein Leichentuch zudeckte. Stumm wie der Tote auf ihrem Schoß.

Zitat

Der Teufel mischt die Karten, und wir spielen.

(Emmas Tagebuch)

2

Morgens zu einer halbwegs vernünftigen Zeit aus dem Bett zu kommen, war der schwierigste Teil des Tages, der zweitschwierigste – nach einer ersten Tasse Kaffee –, heiß zu duschen und sich danach zu rasieren, ohne sich dabei mit der Klinge die Kehle durchzuschneiden. Es kam auf die Vorbereitung für die Rasur an. Die richtige Haltung des Pinsels und des Messers. Manchmal bereitete Magnus Böhm schon das Aufschäumen des Rasierschaums große Mühe. Als Rechtshänder kümmerte er sich immer zuerst um die linke Wange. Das Rasiermesser war scharf wie ein Skalpell. Nach dem ersten Durchgang wusch er das Gesicht mit heißem Wasser, trug erneut Schaum auf und wiederholte den Vorgang an Wangen, Oberlippe, Kinn und Hals. Es war immer das gleiche Ritual. Zuerst in Richtung des Haarwuchses, dann gegen den Strich. Zum Schluss wusch er das Gesicht mit kaltem Wasser und trocknete es ab. Das schloss die Poren und bereitete die Haut für das Aftershave vor. So hatte sein Vater es ihn gelehrt. Danach reinigte er das Rasiergerät. Messer, Pinsel und Schale. In drei, vier Tagen würde die ganze Prozedur von vorne beginnen.

Stünde an diesem Morgen nicht der Termin für die Routineuntersuchung beim Arzt an, hätte er sich nicht rasiert. Herzprobleme. Angina pectoris. Die üblichen Tests. Das Abhören des Brustraums, das Fühlen des Pulses, das Messen des Blutdrucks und die Blutabnahme. Dazu ein Ruhe- und ein Belastungs-Elektrokardiogramm. Wie sehr er das Fahrradergometer und das Laufband verabscheute. Obwohl er nicht zugenommen hatte, machte er keine gute Figur darauf, wirkte wie ein alter, torkelnder Bär, den man vorzeitig aus dem Winterschlaf geholt hatte. In den letzten Wochen hatte er sich allerdings mehr bewegt, hatte seine alte Karre stehen lassen und war zu Fuß zum Einkaufen gegangen. Auch, um die Zeit totzuschlagen, um mal wieder etwas anderes als die eigenen vier Wände zu sehen. Entfernte er sich zu weit von seiner Wohnung, nutzte er den öffentlichen Nahverkehr für den Heimweg. Die Chancen standen daher gut, dass er dieses Mal auf dem Laufband nicht wie ein Walross schnaufen würde.

Der Arzt würde ihm die üblichen Fragen stellen, allen voran die zu möglichen Risikofaktoren. Böhm hatte das Rauchen nach dem körperlichen Zusammenbruch vor einem Jahr aufgegeben, und ja, er ernährte sich inzwischen bewusster. Hier und da verirrte sich ein Apfel oder ein Salat in seinen Einkaufskorb. An seinem täglichen Glas Rotwein und dem Scotch hielt er jedoch fest. Die brauchte er. Genauso wie seine Bücher. Wie sollte er sonst nachts in den Schlaf finden?

Nach einem kargen Frühstück – eine Scheibe Toast mit Butter und Magerkäse, dazu einen weiteren Kaffee – streifte er den Mantel über, den er schon in seiner Funktion als Polizeihauptkommissar getragen hatte, ein praktisches beiges Allwetterding, das laut seiner 75-jährigen Nachbarin längst auf den Müll gehörte.

Böhm setzte die schwarze Baseballkappe auf, die er sich nach der Entlassung aus der Klinik zugelegt hatte, betrachtete sich im Flurspiegel und schüttelte den Kopf. Auch wenn er mit dem grauen Haar, den Ringen unter den Augen und den tiefen Falten um den Mund nicht mehr ganz taufrisch aussah, so war der Mantel noch voll okay. Außerdem würde er ihn in den nächsten vier Wochen gar nicht benötigen. Sobald er vom Routinecheck heimkam, würde er den großen schwarzen Koffer vom Schrank holen und seine Hawaiihemden einpacken. Er konnte es kaum erwarten, den angekündigten Minusgraden des Berliner Winters zu entfliehen und Eis und Schnee gegen angenehmes Sommerfeeling einzutauschen. Die kleinen geschützten Buchten Fuerteventuras erwarteten ihn. Natürlich würde er nicht Surfen oder Wasserskifahren. Das war nicht sein Stil. Aber still und ruhig am Strand liegen und aufs Meer hinausschauen, mit einem wohlschmeckenden Cocktail und einem guten Buch in der Hand. Das war schon eher nach seinem Geschmack. Hm, irgendwie klang das doch nach einem gemütlichen Walross. Er zuckte mit den Schultern.

Sein Blick fiel auf die Ablage der Garderobe, wo das Weihnachtsgeschenk der alten Ilse Knoob lag, in blaues Papier mit vielen Kringeln und goldenen Sternchen gewickelt, drum herum ein rotes Geschenkband mit Schleife. Es war noch nicht mal Weihnachten, trotzdem hatte sie ihm das Päckchen mit den Worten Falls ich Heiligabend nicht mehr erlebe! in die Hand gedrückt. Da Weihnachten keinerlei Bedeutung für Böhm hatte, entfernte er Band und Papier und hielt einen Abreißkalender in der Hand. Skorpion stand drauf. Und Jahreskalender. Was sollte er denn damit anfangen?

Dann erinnerte er sich, wie die Knoob ihn vor etlichen Wochen am Briefkasten mit einer Geburtstagskarte in der Hand erwischt und ihm gratuliert hatte.

»Na, das erklärt vieles! Sie sind also Sternzeichen Skorpion!«

Er hatte keinen Schimmer, was sie damit gemeint haben könnte, aber jetzt hielt er dieses seltsame Blattwerk mit Sprüchen in der Hand.

Horoskop für jeden Tag.

Was für ein Quark!

Trotzdem schlug er den Kalender auf und stieß auf ein kurzes Abschlusshoroskop zum alten Jahr.

Eine Begebenheit aus Ihrer Vergangenheit bringt Sie wieder in Kontakt mit einer großen Organisation. Rasche Resultate sind gefragt. Sie könnten Ihr Alter spüren. Die gute Nachricht: Ein jüngerer Mensch überrascht Sie.

Er runzelte die Stirn. Was sollte denn das?

Also noch mehr Blödsinn ging nun wirklich nicht!

Aber als er in seinen alten Skoda stieg und den Motor startete, beschäftigte ihn der dämliche Kalendertext noch immer.

Nonsens!

Alles, was er jetzt tun musste, war, das Gespräch mit Dr. Sommerfeld und das dämliche Laufband hinter sich zu bringen. Und dann ging es auf nach Fuerteventura!

3

Als hätte Annetta Niedlich eine Wette darauf abgeschlossen, verwandelte sich der Graupelschauer in Schnee. Sie hatte Unter den Linden in Rekordzeit erreicht, trotzdem fühlte es sich an, als wäre sie viel zu spät dran. Noch eine Viertelstunde zuvor hatte sie im Fitnesscenter mit ihrem Schlingentraining gekämpft, die Füße in elastischen von der Decke herabhängenden roten Bändern, den Rücken kerzengerade, den Nacken lang und die Unterarme auf dem Boden wie beim Planking. Eine Übung, die vor allem ihrem Bauch galt, der durch den Verzehr diverser Schokoriegel in den letzten Monaten mehr Speck angesetzt hatte, als ihr lieb war.

Annetta stellte den Wagen am Rande des Pariser Platzes ab. Der rasselnde Motor spuckte noch einmal nach, bevor er Ruhe gab. Schon von ihrer Parkposition aus sah sie die neugierige Menschenmenge durch die Frontscheibe. Sie öffnete die Fahrertür und der eisige Wind schlug ihr wie der Kälteschwall aus einer Tiefkühltruhe entgegen. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, sich umzuziehen. In Hallenturnschuhen, Damenleggings und Top griff sie auf die schmale Rückbank ihres betagten Gefährts und zog den roten Parka hervor, den ihr Bruder vor Wochen im Wagen hatte liegen lassen. Jetzt war sie dankbar für Eriks künstlerische Zerstreutheit. Ohne den Parka hätte sie sich den Hintern und Gott weiß was abgefroren.

Wie sie Erik kannte, hatte er sich in London längst eine neue Jacke organisiert. Ihr älterer Bruder war eine Art Allroundkünstler, besonders, was das Überleben anging. Erik besaß keine eigene Wohnung, kam stets bei guten Freunden unter. Drei Jahre zuvor war er mit gerade mal 500 Euro in der Tasche ein halbes Jahr lang von der Ost- zur Westküste der USA gereist und zurückgekehrt, als hätte er einen unbekannten reichen Onkel beerbt. Mit Kellnern und kleineren Schauspielrollen habe er sich über Wasser gehalten. Dann war Erik letztes Jahr nach London gezogen, natürlich wieder zu guten Freunden. Vor zwei Monaten hatte er ein Stipendium an der Royal Central School of Speech and Drama bekommen. Annetta hatte die School sofort gegoogelt, um sicherzugehen, dass ihr Bruder keinem Betrug aufsaß, und als ihr klar wurde, dass an der School Hollywoodgrößen wie Laurence Olivier, Der Marathon-Mann, oder Judi Dench, M in James Bond, studiert hatten, war ihr das erste Mal gedämmert, dass am künstlerischen Talent ihres Bruders vielleicht doch mehr dran war.

Annetta zog den Reißverschluss des Parkas bis zum Hals hoch, steckte ihren Polizeiausweis ein und straffte die elastischen Schnüre am Kragen und um die Oberschenkel so eng, dass kaum Wind in die viel zu große Jacke fuhr. Die Kälte kroch allerdings in ihre Sportschuhe und die dünnen, wie eine zweite Haut anliegenden Leggings. Aber Annetta würde das aushalten. Sie war frisch gebackene Kriminalkommissarin und mächtig stolz darauf.

Sie näherte sich der Menschenmenge. Die uniformierten Kollegen hatten die Schaulustigen bereits ein Stück weit vom Tatort zurückgedrängt. Mit gezücktem Ausweis zwängte sie sich zwischen den Schaulustigen und den Kriminalreportern hindurch. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was sie erwartete, hätte aber glatt kotzen können, als sie am Absperrband ausgerechnet auf Toni Vörg, ihren ehemaligen Ausbildungskollegen, stieß.

Vörg – spitzes Kinn, Hakennase, kurz geschorenes platinblondes Haar – war einer dieser Idioten, die glaubten, die Welt gehöre ihnen und keinem sonst. Dabei verplemperte er jede Menge Zeit auf alkoholträchtigen Partys, weshalb er seine theoretische Prüfung zum Kommissar vermasselt hatte, während Annetta als eine der Besten bestanden und im Anschluss eine Stelle bei der Kripo angetreten war. Ein Dorn im Auge des missgünstigen Vörg. Auf der Abschlussparty hatte er Annetta als langweilige Streberin runtergemacht und ihren Nachnamen verunglimpft. Sie hätte den Vorfall als Mobbing melden können, hätte dann aber als Petze dagestanden. Auch jetzt begegnete Vörg ihr mit dieser dreisten Überheblichkeit, obwohl er in seiner Uniform aussah, als hätte er die letzte Nacht unter irgendeiner Brücke gepennt. Er gebärdete sich, als bewachte er die Goldreserven von Fort Knox und hätte das Sagen. Und natürlich hob er für Annetta nicht einmal das Absperrband an, damit sie bequemer darunter hindurchschlüpfen konnte. Stattdessen grinste er sie überheblich an.

»Bist spät dran, Streberin. Mach dich auf was gefasst!«

Sollte diese bescheuerte Ansage sie etwa einschüchtern?

Auf die Schnelle fiel ihr keine passende Antwort ein, also sagte ihr Blick Fick dich ins Knie! Ansonsten biss sie die Zähne zusammen und ignorierte ihn, um sich davon abzuhalten, ihm in aller Öffentlichkeit in die Eier zu treten. Zügig hielt sie auf das Tatortschutzzelt zu, Vörgs herablassendes Grinsen im Rücken. Polizisten, die ihren Job ernst nahmen, gehörten für ihn nun mal zu einer niederen Lebensform. Damit konnte Annetta aber gut leben, denn eines Tages würde er schon sehen, wohin ihn diese Denkart führte. Andererseits traute sie ihm nicht zu, solcherart Zusammenhänge zu kapieren.

Die wetterbeständige Abdeckung des Tatortzelts schützte vor der Neugier der gaffenden Menge und bewahrte die Integrität des Tatorts. Sonne, Regen, Wind und Schnee konnten Beweismitteln ganz schön zusetzen. Das Zelt erinnerte sie mehr an ein von Polizisten umzingeltes Basislager irgendwelcher Aktivisten als an den Ort eines Verbrechens.

Annetta stellte sich bei einer pummeligen Polizistin vor, die sie zu einem überdachten Bereich vor dem Zelt führte, wo die Technikerausrüstung bereitstand. Dort schlüpfte Annetta in einen weißen Papieroverall und Plastikschuhe. Mit dem Parka darunter sah sie nun aus wie ein schlotternder Fesselballon.

Die Polizistin begleitete Annetta zum Zelt und öffnete ihr den Zugang. Drinnen war es immerhin windstill. Tragbare LED-Scheinwerfer leuchteten auch den letzten Winkel aus. Zwei Gestalten in Schutzanzügen mit Kapuzen und Masken kauerten am Boden und untersuchten einen nackten Leichnam. Vom Hals bis zu den Füßen überzog den Körper eine Schicht, eine Mischung aus Blut und Bronze. Es wirkte, als arbeiteten sie an einer archäologischen Ausgrabung. Eine dritte Gestalt in Schutzkleidung beobachtete die Prozedur. Alle kehrten Annetta den Rücken zu.

Der Leichnam hing in einer grotesken Haltung auf einer Plastikbank, Arme und Beine so angewinkelt, als hätte das Opfer halb liegend, halb sitzend darauf Platz nehmen wollen. Vermutlich hatte schon die Totenstarre eingesetzt. Oder der Körper war durch die Scheißkälte steif gefroren.

Annetta rückte ihre Brille – Modell sportlich lässig – zurecht und räusperte sich. Die stehende Person wandte sich zu ihr um, während die anderen weiterarbeiteten und Plastiktüten über die Arme und Füße des Toten stülpten, um mögliches Beweismaterial unter den Nägeln oder auf den Hautflächen zu sichern.

»Ah, Kommissarin Niedlich. Auch schon da.«

Annetta spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Weniger, weil der Mann, der da vor ihr stand, der Dr. Ralf Lewandowski war, sondern weil sein Blick ihr verriet, dass er sich aus seinen Vorlesungen an sie erinnerte.

Lewandowski war einer der besten Spuren-Kommissare Deutschlands. Eine Legende des Präsidiums. Annetta bewunderte sein Können. Abgesehen von den Polizisten draußen vor dem Zelt musste er der erste Ermittler vor Ort gewesen sein. Er hatte dafür gesorgt, dass die Zugangswege und spurenrelevanten Areale um den Leichnam herum gesichert und untersucht worden waren. Ein Tatort wurde immer im Uhrzeigersinn abgesucht und die Leiche von den Haarspitzen bis zu den Fußnägeln überprüft, bevor sie für die Gerichtsmedizin freigegeben wurde. Aber Lewandowski war nicht nur der analytisch denkende Typ. Neben seiner Berufserfahrung besaß er eine Wahrnehmungsfähigkeit, die an übernatürlichen Instinkt grenzte. Nie ließ er sich von einer scheinbar sicheren Spurenlage hinters Licht führen. Das hatte er unter anderem in einem Fall bewiesen, in dem vermeintliche Fußabdrücke als Schlüssel zur Lösung beigetragen hatten. Der Verbrecher hatte sich seine Socken über die Hände gestreift, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

»Ich bin direkt vom Training hergekommen«, erklärte Annetta. Sie ärgerte sich, dass ihre Antwort wie eine Entschuldigung klang. Fast fühlte sie sich wie bei der mündlichen Abschlussprüfung.

Lewandowskis klare blaue Augen musterten sie.

»Dann haben Sie die im Internet kursierenden Videos noch gar nicht gesehen?«, stellte er fest.

Videos? Da hielt man sich an seinem freien Tag mal für ein paar Minuten von den sozialen Medien fern und schon stand man da wie der Trottel vom Dienst.

»Sorry, nein. Ich bin nach dem Aufstehen sofort ins Gym gefahren.« Schon wieder eine Entschuldigung.

Lewandowski schaute sie an, als wäre er noch nie einem Menschen begegnet, der auch mal ohne das Internet auskam.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Der Forensiker gab einen undefinierbaren Seufzer von sich und wandte sich dem Tatort zu. »Was immer passiert, wenn man uns ruft. Das hier ist allerdings nur die Hälfte vom Lied.« Er griff nach seinem Smartphone, berührte ein paar Buttons und zeigte ihr das Display.

Annetta hielt den Atem an. Sie hatte schon so einiges während ihrer Ausbildung gesehen, aber das toppte alles. Was sich auf dem Bildschirm abspielte, wirkte ebenso ästhetisch wie krank. Eine in Bronze getauchte Frau mit schneeweißem Haar hielt einen Mann in ihren Armen, beide nackt, beide farb- und blutbesudelt, beide leichenblass geschminkt. Ein Bild wie aus einem Gothic-Video, unwirklich wie ein Drogentrip.

»Das Spektakel wurde heute früh von einer Touristengruppe gemeldet, die den Sonnenaufgang über der Quadriga fotografieren wollte«, fuhr Lewandowski fort. »Wie sich herausstellte, war allerdings nur der Mann wirklich tot.«

»Und wo ist die Frau?«, fragte Annetta. Sie hatte keinen Krankenwagen gesehen.

»In der Charité. Stark unterkühlt.« Er deutete auf den männlichen Leichnam. »Wir sind hier fast fertig. Kriminaldirektor Monsen hat sich das Ganze vorhin höchstpersönlich angesehen. Sie haben ihn nur knapp verpasst.«

Kurt Monsen? Der Kriminaldirektor begab sich so gut wie nie an einen Tatort. Sie war heilfroh, dem bulligen, herrischen Mann nicht begegnet zu sein. Toni Vörg hatte natürlich auch ihm einen Spitznamen verpasst. Von ihren Jungkollegen, deren Blödheit der Vörgs in nichts nachstand, wurde der Direktor Charles Monsen genannt. Was für ein Brüller!

»Monsen lässt Ihnen ausrichten, dass Magnus Böhm den Fall übernehmen wird. Sie werden Böhm bei der Aufklärung assistieren.«

Annetta runzelte die Stirn. »Verzeihen Sie, aber ist Magnus Böhm nicht wegen eines Herzleidens aus dem Dienst geschieden?«

Lewandowski nickte. »Monsen hat ihn aus Gründen reaktiviert. Aber das wird Böhm Ihnen noch selbst erklären. Ich schicke Ihnen seine Handynummer.«

Annetta schaute auf Lewandowskis Nachricht auf ihrem Smartphone und speicherte die Nummer ab, was mit ihren von der Kälte steif gewordenen Fingern ziemlich schwerfällig vonstattenging.

Der Spuren-Kommissar beobachtete sie, betrachtete ihre Frostnase und erlaubte sich ein Lächeln.

»Warten Sie noch mit dem Anruf. Böhm ist ohnehin bei seinem ärztlichen Vierteljahres-Check. Das gibt Ihnen Gelegenheit, nach Hause zu fahren und sich etwas Wärmeres anzuziehen.«

*

20 Minuten später, der Hauptberufsverkehr war inzwischen vorbei und das Schneegestöber hatte noch einmal ordentlich zugelegt, erreichte Annetta ihr Wohnhaus. Geschwind eilte sie die Treppe zum vierten Stockwerk hinauf. Vor der Wohnungstür schüttelte sie den Schnee von Eriks Parka. Zweimal fiel ihr beim Versuch, die Tür aufzuschließen, der Schlüssel aus der klammen Hand.

Annetta hatte das Apartment vor einigen Monaten von einer Kollegin übernommen, die sich der Liebe wegen nach Frankfurt hatte versetzen lassen. Die Zweizimmerwohnung bot alles, was Annetta brauchte. Einen Raum zum Schlafen mit Bett und Schrank, und ein geräumiges Wohnzimmer zum Entspannen, in dem sich in der einen Hälfte eine kleine Couch, ein alter Holztisch mit schwarzer Granitplatte und ein Fernseher befanden, und in der anderen Hälfte eine Hantelbank samt Hantelset, zwei Profi-Fitnessmatten und eine Ruderbank. Annetta fand nicht immer Zeit, ins Gym zu gehen, war sich aber dessen bewusst, dass eine gute körperliche Verfassung in ihrem Job überlebenswichtig sein konnte. Außerdem wohnte in einem gesunden Körper ein gesunder Geist.

Auch die Aussicht der Wohnung war okay. Nach vorne der Blick auf eine passable Altbaufassade mit grauen Klinkersteinen, nach hinten ein alter Kastanienbaum mit einem kleinen Spielplatz, auf dem sich eine Handvoll Kinder austobte. Damit kam Annetta gut zurecht. Ebenso mit dem zurückgezogen lebenden Rentnerehepaar auf der gleichen Etage, aus dessen Wohnung hin und wieder als Geräuschkulisse Vivaldi, die Rolling Stones, die Pet Shop Boys oder der Staubsauger dröhnten.

Annettas Kollegin und Vormieterin hatte ihr geraten, das Türschloss austauschen zu lassen, falls ihr Ex irgendwann mal auf die Idee kam, in der Wohnung vorbeizuschauen. Der hatte nämlich noch einen Schlüssel, und man wusste ja nie. Bislang war Annetta nicht dazu gekommen, sich um das Schlüsselproblem zu kümmern, doch sollte es besagtem Ex trotz des neuen Klingelschilds einfallen, ungefragt ihre vier Wände zu betreten, dann gnade ihm Gott.

Sie ließ die Sporttasche auf den Flurboden fallen und hängte den Parka über einen der Plastikbügel, die sie nebst dem meisten Mobiliar von ihrer Kollegin übernommen hatte. Auf dem Weg ins Bad stopfte sie einen Schokoladen-Donut vom Vortag in sich hinein, schnappte sich frische Klamotten und ging unter die Dusche.

Unter dem heißen Wasserstrahl schien ihr Gehirn langsam aufzutauen, und ihr wurde bewusst, was eine Zusammenarbeit mit Kriminalhauptkommissar Magnus Böhm bedeuten mochte. Böhm war zwar seit über einem Jahr in Pension, doch es hing ihm noch immer ein wenig schmeichelhafter Ruf an. Wo Lewandowski berühmt war, war Böhm berüchtigt.

Soweit Annetta wusste, hatte nie jemand aus freien Stücken mit ihm zusammengearbeitet. Der Hauptkommissar war ein mürrischer Eigenbrötler und hielt nicht viel von Regeln. Ganz zu schweigen von Teamarbeit. Es hieß, selbst Monsen sehe ihn am liebsten von hinten. Außerdem trinke Böhm ganz gerne mal einen über den Durst. Nun ja, das hatte sich mit seinem Herzproblem vermutlich erledigt. Von diesen weniger vorteilhaften Wesenszügen abgesehen war Böhm als alter Fuchs bekannt, mit einer Aufklärungsquote, die ordentlich über dem Durchschnitt lag. Annetta bezweifelte allerdings, dass dies der Hauptgrund für Böhms Wiedereinsetzung war. Es gab andere Ermittler, die sich der Sache hätten annehmen können. Männer und Frauen, die als zivile Kriminalbeamte etwas auf dem Kasten hatten und keine Mühen scheuten, der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. In aller Bescheidenheit dachte Annetta dabei auch an sich.

Während sie sich unter der Dusche den Kopf nach dem Slogan Schönes Haar ist dir gegeben einschäumte, kam sie zu dem Schluss, dass es mit dem Fall selbst zu tun haben musste, dass es irgendeine Verbindung zwischen Böhm und dem Verbrechen gab. Wie auch immer die aussehen mochte.

Als Annetta eine Viertelstunde später ihr Handy aus der Sporttasche zog, zeigte das Display zwei verpasste Anrufe und eine Sprachnachricht an.

Alle von Magnus Böhm.

Mist!

Sie machte sich auf einen harschen Ton auf der Mailbox gefasst.

»Böhm hier. Falls es Ihnen heute noch beliebt, ans Telefon zu gehen, kommen Sie nach Moabit. Ich bin auf dem Weg in die Gerichtsmedizin.«

Falls es Ihnen heute noch beliebt … Was war denn das für ein verschrobener Anschiss?

Nichtsdestotrotz legte Annetta zwei Gänge zu.

4

Geräuschvoll schlug Böhm die Fahrertür zu. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass er, anstatt mit seinen Reisekoffern auf dem Weg zum Flughafen zu sein, in dünnen Lederschuhen durch zentimeterhohen Schnee Richtung Gerichtsmedizin stapfte. Wie verblödet musste man sein, sich für einen Fall in den Polizeidienst zurückbeordern zu lassen, der einen seit Jahren nichts mehr anging?

Vor sich hin murrend bahnte er sich den Weg durch die nervige weiße Pracht. Eis und Schnee brauchte kein Mensch! Hätte die Schlechtwetterfront nicht noch ein paar Tage warten können?

Er schlug den Mantelkragen hoch und zog die Baseballkappe tiefer ins Gesicht. Noch ein paar Meter, dann würde er den kleinen Tierpark mit seinen Hecken, Stauden und Bäumen erreichen, eine Anlage entlang der Turmstraße, die relativ windgeschützt lag. Klar, er hätte auch direkt auf dem Parkplatz des Instituts halten können, doch die Parkscheinprozedur wollte er sich dann doch lieber ersparen. Außerdem taten ihm die paar Meter Fußweg gut. Sein Gesundheitszustand hatte sich zwar nicht verschlechtert, doch seine Kondition war nach wie vor nicht gerade der Hit, wie Dr. Antonius Sommerfeld ihm schon beim letzten Termin erklärt hatte.

An der Fußgängerampel zum kleinen Tierpark blieb er stehen und wartete darauf, dass es Grün wurde.

Dr. Sommerfeld … Böhm musste bei dem Namen immer an die späten Siebziger und die BRAVO-Hefte seiner älteren Schwester denken. Dabei erinnerte Sommerfeld mit seinen traurigen Augen, der Pudelfrisur und den markanten Eckzähnen eher an einen des Lebens überdrüssigen Hippie-Vampir als an einen Teenager-Berater in Sexualfragen. Vor einem Vierteljahr hatte Böhm im Warteraum durch die Unterhaltung zweier älterer Herren mitbekommen, dass es für Sommerfelds Schwermut einen triftigen Grund gab. Vor sieben Jahren war dessen Tochter Melanie während einer Alaska-Reise spurlos verschwunden, samt Boyfriend. Sogar das FBI hatte nach den beiden jungen Leuten gesucht, die nie in dem Motel nahe der kanadischen Grenze eingetroffen waren, in dem Melanie eine Übernachtung gebucht hatte. Nur Melanies Handy war ein paar Tage später von einem kleinen Jungen aus der Mülltonne eines Campingplatzes gefischt worden. Aber auch das und die Bilder der Videoüberwachung hatten nichts zur Klärung des Falls beitragen können. Böhm wünschte, er wäre nie Zeuge der geflüsterten Unterhaltung geworden, denn nun würde er Sommerfelds Traurigkeit nie wieder unbefangen begegnen können. Und so war es natürlich auch bei der Besprechung der heutigen Untersuchungsergebnisse gewesen.

»Wie ich Ihnen schon sagte, Magnus, wohldosierter Sport wäre neben der medikamentösen Behandlung ein ausgezeichnetes Mittel, um Ihren Herzmuskel zu stärken und die Durchblutung zu fördern.«

»Ich bin noch auf der Suche nach einem geeigneten Sport. Ich gehe viel zu Fuß.« Fauler konnte eine Ausrede kaum sein.

»Hm, Gehen können Sie schon mal gut in Ihren Alltag integrieren. Was ist mit Radfahren und Schwimmen?«

»Bringt das denn was?«

Sommerfeld hatte den Kopf schief gelegt, als spräche er zu einem störrischen Kind. »Moderater Sport versorgt Ihren Körper mit mehr Sauerstoff, senkt den Blutdruck, wirkt entzündungshemmend …«

»Hm …«

»… es würde das Fortschreiten Ihrer Herzkrankheit verlangsamen. Sie schleppen 15 Kilo zu viel mit sich herum. Muss ich Sie an den Butterberg erinnern?«

Nein, natürlich nicht. 60 Stück von dem Zeug waren ein beeindruckender Anblick und nicht so einfach aus dem Gedächtnis zu tilgen.

»Wie moderat darf mein Training denn sein? Ich will’s nicht gleich übertreiben.«

»Na ja, kommen Sie ruhig ins Schwitzen. Solange Sie sich dabei problemlos mit einem Trainingspartner unterhalten können, ist alles im grünen Bereich.«

Trainingspartner? Böhm hatte es schon mit seinen Arbeitskollegen kaum ausgehalten. Aber das wusste Sommerfeld ja nicht. »Dann werde ich mich mal nach einem geeigneten Fitnesscenter umschauen …«

Bei diesen Worten war ein seltenes Lächeln über Sommerfelds Gesicht gehuscht. Eine Sekunde darauf hatte Böhm ein halbes Dutzend Fitness-Broschüren in der Hand gehalten. Mit Slogans wie Hier wirst du fit für den Sommer! oder Wir haben einen tollen Ausblick oder Für alle, die sich nicht entscheiden wollen! Eines der Fitnessstudios lag unweit der Gerichtsmedizin, zu der er gerade unterwegs war. Eine wütende Autohupe schreckte ihn aus den Gedanken. Stand er tatsächlich in nassen Lederschuhen mitten auf der Straße, obwohl die Fußgängerampel längst wieder auf Rot gesprungen war? Wurde er etwa senil? Entschuldigend tippte er an seine Baseballkappe und hüpfte los wie ein tattriges Känguru, dem die Sonne zu lange aufs Hirn geschienen hatte.

Beim Weitergehen schaute er sich die Gegend etwas genauer an. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Früher war Moabit richtig gefährlich gewesen, inzwischen jedoch waren weite Bereiche saniert worden. Jüngere Leute mit gutem Einkommen zogen her, verdrängten die alten Bewohner, die hier einmal günstig hatten leben können. Ähnliches beobachtete Böhm auch in Pankow, wo er vor Ewigkeiten in eine Altbauwohnung gezogen war.

Auf halber Strecke durch den Park warf er sich eine Nitro-Kapsel ein. Die Kälte machte seinem Herzen zu schaffen und er hatte keine Lust, in Gegenwart von Patricia einen Schwächeanfall zu erleiden. Auch wenn er sich vor ihr gerne unkaputtbar gab, so hatte der Stress von über 30 Jahren Polizeiarbeit seine Gesundheit ruiniert. Er seufzte, wobei seinem Mund eine große Atemwolke in die Frostkälte entwich. Wie hatte er Fuerteventura nur so schnell aus dem Blick verlieren können? Aber Monsen hatte geradezu verzweifelt geklungen.

Böhm hatte nach dem Routinecheck gerade in der Umkleidekabine gestanden, mit einem Bein in der Hose, als sein Handy klingelte.

»Hallo Magnus. Wie läuft’s bei Ihnen? Ich hoffe, Sie haben sich gut erholt.«

Gut erholt? Das hing davon ab, ob Monsens Frage auf Böhms Kopf oder Herz zielte, denn nach seinem letzten Kriminalfall hatte er auch ein Weilchen in der ambulanten Psychiatrie zugebracht, nachdem er neun Wochen lang Tag und Nacht in einem Fall von Kindsmord ermittelt hatte. In einem heruntergekommenen Einfamilienhaus am Rande der Stadt hatte er den Zuhälter und Mörder schließlich gestellt. Und der Scheißkerl hatte glatt die Stirn besessen, ihn an seinem perversen Kinderpornounternehmen beteiligen zu wollen, wenn Böhm ihn laufen ließ. Daraufhin hatte Böhm kurz seine Contenance verloren und dem Typen, der ihm nach der Absage mit einem Kampfmesser quer übers linke Ohr gefahren war, mit einem kräftigen Tritt das Knie zertrümmert und in die Weichteile getreten. Das Schwein hatte geschrien wie am Spieß. Am liebsten hätte Böhm ihm den Schwanz aus dem Schritt gerissen, immerhin würde der Typ nie wieder richtig gehen können. Als dann das gerufene Einsatzteam eintraf, hatte er einen beschissenen Herzanfall erlitten, den heftigsten, seit er mit diesem Ungemach zu tun hatte. Er war umgekippt, und so hatte er sein wohl gehütetes Handicap nicht mehr länger unter den Teppich kehren können. Monsen hatte alle Formalitäten für Böhms vorzeitigen Ruhestand eingeleitet. Und nun fragte sein Ex-Chef, ob er sich gut erholt hatte, als wäre er lediglich von einem längeren Strandurlaub zurückgekehrt?

»Solange ich an keinem Triathlon teilnehme, geht es mir gut«, hatte Böhm vorsichtig entgegnet. »Aber deswegen rufen Sie wohl kaum an.«

Monsen redete zum Glück nicht um den heißen Brei herum. »Wie es aussieht, ist Pietà wieder aktiv.«

Böhms angeschlagenes Herz setzte schmerzhaft zwei Schläge aus, und die Umkleidekabine fing an, sich wie ein Karussell voll übler Erinnerungen um ihn herum zu drehen. Geschundene Leiber, Schweiß, Blut, Wunden, so tief, dass man Schlangen darin hätte verstecken können …

»Hat Commissario Rossi Sie aus Rom angerufen?«, fragte er, nachdem der erste Schock überwunden war. Im Rahmen eines Polizeiaustauschs hatte er Pietà gemeinsam mit Rossi durch das nächtliche Rom gejagt, wo der Killer seine Menschenskulpturen auf den Plätzen vor dem Pantheon, der Spanischen Treppe und dem Trevi-Brunnen präsentiert hatte. Die Polizei auf den Fersen war der Mörder schließlich geflüchtet und in Frankreich untergetaucht. 14 Jahre war das nun her.

»Nein. Rossi ist in Pension. Aber wie es aussieht, ist der Täter in Berlin. Einige Touristen durften seine Kunstfertigkeit heute früh bewundern.«

Böhm hatte seinen Ohren kaum getraut. Das Ganze klang einfach zu absurd. Nach all den Jahren sollte Pietà wieder aktiv sein? Und das ausgerechnet hier?

»Vielleicht handelt es sich um einen Nachahmungstäter.«

»Das ist durchaus drin«, bestätigte Monsen. »Um sicherzugehen, brauche ich aber …«

Böhm war heiß und kalt geworden. »Nein. Ich bin raus. Kommissarin Graf ist für diesen Fall wie geschaffen.«

»Das mag sein, Magnus, aber Graf und ihr Team bearbeiten die U8-Morde.«

Böhm hatte davon in der Zeitung gelesen. Irgendein Irrer schubste Obdachlose und Junkies auf die Gleise. »Was ist mit Bajetzky?«

»Clan-Kriminalität. Ich könnte Ihre Unterstützung wirklich brauchen. Sie kennen den Fall!«

Obwohl der alte Jagdtrieb in ihm erwachte, zögerte Böhm. Diese Arbeit war hart, verdammt hart, und sie war wie ein Fluch, wie eine alte Sucht, die einen selbst nach Jahren der Abstinenz nicht losließ. Und Böhm wusste nur zu genau, welche Auswirkungen diese Sucht auf seine Seele und seinen Körper haben würde. Auch Monsen wusste dies, trotzdem hatte er ihn nicht von der Angel gelassen.

Böhm hatte schließlich ein paar Dinge klargestellt. »In welcher Funktion?« Falls tatsächlich Pietà wieder am Werk war, kam eine rein beratende Position für ihn nicht infrage. Ganz oder gar nicht, wenn er sich um den Fall kümmern sollte.

Monsen hatte eine Minute lang keinen Ton herausgebracht. »Sie wollen die Leitung des Falls?«

»Wenn ich nicht ganz vorne mit dabei bin, verzichte ich.«

Wieder verging eine scheinbar endlose Minute, ehe der Kriminaldirektor sagte: »Ich werde mich um die Formalitäten kümmern.«

»Vollständige Wiedereinsetzung«, hatte Böhm beharrt und geglaubt, Monsens Zähneknirschen durch die Leitung zu hören, denn das bedeutete auch Dienstausweis und Pistole.

»Also gut. Ich werde alles in die Wege leiten. Aber Sie ermitteln nicht allein.«

Jetzt war es an Böhm gewesen, mit den Zähnen zu knirschen. Monsen wusste ganz genau, dass er keine Anfänger und Assistenten bei der Ermittlungsarbeit tolerierte. Wenn ihm niemand reinquatschte und er nicht alles zigmal erklären musste, arbeitete er dreimal so effizient. Außerdem schonte das seine Nerven, und nur so blieb er im kriminalistischen Flow. Ebenso wenig brauchte er einen karrieregeilen Aufpasser als Schatten, der den Direktor über jeden seiner Ermittlungsschritte auf dem Laufenden hielt. Doch Monsen ließ sich nicht erweichen und hatte schon einen Partner für Böhm im Sinn.

Partner, hallte es in Böhms Schädel nach. Er blickte zum Himmel auf, aus dem endloser Schnee fiel. Ein einziges dichtes Grau in Grau. Von Sonne keine Spur.

Er bog in einen Seitenweg, der zur Turmstraße führte. Im Schneegestöber tauchte ein älteres Ehepaar auf, das bei dem Wetter vermutlich lieber zu Hause geblieben wäre, hätte es seine beiden wohlgenährten, im Schnee versinkenden Dackel nicht Gassi führen müssen. Überholt wurde das Paar von einem Jogger in bunter 70er-Jahre-Jacke, für den weder der Schnee noch die Hunde ein Hindernis darstellten. Die meisten Leute benutzten den Park nur als Abkürzung. Eine Horde Jugendlicher drückte sich mit ihren Handys um eine Bank herum, nahe einem hohen Busch, der wie ein Hügel aus Zuckerwatte wirkte. Sosehr sich Teile von Moabit auch zum Vorteil verändert hatten, der Park blieb ein Problem. Vor allem zu später Stunde wurde er zu einem Treffpunkt von Drogendealern. Diebstahl und Körperverletzung waren keine Seltenheit. Von der Polizei wurde der Park zwar nicht mehr als kriminalitätsbelastet eingestuft, doch für die Anwohner sah die Realität anders aus. Nach Einbruch der Dunkelheit machten sie lieber einen großen Bogen um ihn.

Auf der anderen Seite der Turmstraße, zwischen kahlen, schneebedeckten Baumkronen, lugte die rote Steinfassade des ursprünglichen Moabiter Krankenhauses hervor. Obwohl das alte Backsteinhaus keinen einzigen runden Turm besaß, hatte es Böhm immer an das alte Hauptquartier von Scotland Yard erinnert. Im 19. Jahrhundert war das Krankenhaus als Seuchenstation geplant gewesen, hatte sich dann aber zu einem der wichtigsten Krankenhäuser Berlins entwickelt. Nachdem es nach der Jahrtausendwende vorübergehend geschlossen worden war, beherbergte es nun einen Teil der Rechtsmedizin der Charité, eine Rehaklinik, ein Altenheim und ein Behandlungszentrum für Folteropfer. Soweit Böhm es mitbekommen hatte, stammten die Folteropfer aus über 60 Nationen.

Vorsichtig, um nicht auszurutschen, überquerte Böhm wie auf rohen Eiern den Straßenasphalt und hielt auf den Eingang des Leichenschauhauses mit dem pathologischen Institut zu.

5

Ein altvertrautes, unangenehmes Aroma empfing Böhm, als er die Flure der Rechtsmedizin betrat, der Geruch des Todes, dem kein Putzmittel beikam. Rund um die Uhr wurden Leichen seziert, deren Todesumstände unklar waren. Bei seinem letzten Besuch vor dem Ruhestand hatte Böhm die Toten mit ihren Pappkarten an den Füßen im Hauptkühlraum gezählt. In Viererreihen in Metallregalen übereinandergestapelt, waren es mehr als 50 gewesen. Statistisch gesehen wurde in Berlin alle drei Tage ein Mensch abgemurkst und landete dann hier. Böhm hatte sich nie an den Anblick und Geruch von Leichen gewöhnt, aber das wusste natürlich niemand. Für seine Kollegen war er der kühle, unerschütterliche Eigenbrötler, den nichts und niemand aus der Ruhe brachte. Nicht einmal Direktor Monsen.

Als er durch die Schwingtür in den Obduktionssaal trat, nahm der Geruch trotz der künstlichen Kälte zu.

»Nur der Tod stinkt wie der Tod«, hatte Patricia Celan einmal zu einem ihrer Assistenten gemeint, als dieser sich in das nächstgelegene Obduktionsbecken übergeben hatte, während sie einen vollen Magen in den Händen hielt. Böhm würde diesen Vorfall niemals vergessen. Einzig Patricias Gegenwart und sein Stolz hatten ihm die Kraft verliehen, nicht selbst zu kotzen.

Patricia stand halb mit dem Rücken zur Tür neben einer Leichenbahre, auf der ein mit grünem Tuch abgedeckter Körper lag, während ihr jetziger Assistent unter vollem Körpereinsatz vor sich hin summend einen der Obduktionstische schrubbte.

Böhm ließ seinen Blick durch die Halle schweifen. Nichts hatte sich verändert. Die gleichen weißen Kachelwände und LED-Lampen, die gleichen kalten Stahl- und Marmortische. Fünf an der Zahl. Auf jedem ein Tablett. Auf diesen lagen Messer, Scheren, Zangen und Pipetten säuberlich aufgereiht. Die Toten störten sich nicht mehr an dem brutal aussehenden Operationsbesteck.

Die Gerichtsmedizin verfügte über einen Computertomografen, der in bestimmten Fällen einen Blick ins Innere der Leichen ermöglichte. In einigen Jahren, so hatte Patricia erklärt, würden CT-Aufnahmen viele Obduktionen unnötig machen.

»Da brat mir doch mal einer einen Storch«, meinte die Rechtsmedizinerin, als sie Böhm auf sich zukommen sah. Sie nahm den Helm mit dem Spritzschutz ab, und Böhm konnte ihre kühlen, strahlenden Augen unter dem dunklen, kurzen Haar sehen. Patricia war Anfang 40, eine passionierte Motorradfahrerin und äußerst attraktiv. Wenn Böhm es sich so überlegte, hätte sie von ihrer undurchdringlichen Ausstrahlung her glatt eine Psychopathin sein können. »Hätte nicht gedacht, dich jemals hier wiederzusehen.«

Er spürte, wie sich innere Hitze seiner bemächtigte. Nicht aus körperlichem Verlangen, sondern aus Feigheit und Scham. Nachdem er und Patricia sich in den letzten Jahren seines Polizeijobs freundschaftlich nähergekommen waren, hatte die Gerichtsmedizinerin ihm das Du angeboten und ihn ein paar Monate später zum Essen eingeladen. Als Böhm dann im Restaurant klar geworden war, dass das gemeinsame Essen auf ein Date hinauslief, hatte er darauf reagiert, wie nur er darauf hätte reagieren können, nämlich saudämlich. Ungelenk hatte er Patricia einen Korb gegeben, davon gelabert, für eine Beziehung nicht der richtige Mann zu sein. Und sie hatte ihm an dem noblen Restauranttisch mit der Hummer-Zange in der Hand gegenübergesessen, als hätte sie ihn auseinandernehmen wollen wie ein Schalentier.

Böhm unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht war das damals einfach nur schlechtes Timing gewesen. Letztendlich hatte die Herrin der Toten seinen Korb mit Fassung getragen. Die Zusammenarbeit hatte nicht darunter gelitten, aber mit den intensiven Gesprächen über Leben und Tod und den Scherzen war es von da an vorbei gewesen. Er vermisste ihren Galgenhumor. Und er bereute sein damaliges Verhalten. Was für ein unglaublicher Trottel er doch gewesen war! Es gab nicht viele Menschen, mit denen er sich gut verstand und mit denen er über seine Arbeit reden konnte. Abgesehen davon, dass er für diese außergewöhnliche Frau aufrichtige Gefühle empfand. In vielerlei Hinsicht war Patricia mit ihm seelenverwandt. Er jagte Mörder, sie obduzierte deren Opfer. Sie waren ein tolles Team gewesen.

Die Hitze in seinem Körper nahm noch einen Tick zu. Wahrscheinlich glühte sein Kopf gerade wie der eines Teenagers, den man mit einem schmutzigen Magazin in der Hand beim Onanieren erwischt hatte. Irgendwie gelang es ihm trotzdem, eine halbwegs vernünftige Antwort zustande zu bringen. Er wagte es jedoch nicht, ihren Namen in den Mund zu nehmen, aus Furcht, seine Stimme könnte bei der Artikulation brechen.

»Hallo. Bin selbst überrascht, hier zu sein. Hat Monsen mit dir gesprochen?«

»Hat er.« Sie nickte ungerührt, als wäre nie etwas Dramatisches zwischen ihnen vorgefallen. »Ich hab mir das Opfer gleich vorgenommen, nachdem es eingeliefert wurde. Freddie …«, sie deutete auf den jungen Mann mit dem roten Haar, der die letzten Blut- und Gewebereste von der Marmorplatte spülte und Böhm fröhlich zuwinkte, »hat ihn gerade zugemacht und zu den Kühlschüben gebracht. Du kannst ihn dir gleich ansehen. Die Proben sind bereits unterwegs zum Labor.«

Böhm grüßte den jungen Mann mit einem knappen Hallo und folgte Patricia zu den Kühlfächern. In mittlerer Höhe öffnete sie eine der Türen und zog eine Stahlbahre heraus. Die spielerische Kraft, die sie dabei an den Tag legte, beeindruckte ihn.

»Ich habe das Video auf VidTube gesehen«, fuhr sie fort. »Schrecklich! Wie geht es dem Mädchen?«

»Monsen sagt, sie ist bewusstlos. Ich bin hier, um nach Parallelen zu einem älteren Fall zu schauen.«

»Ein Serienmord?«

Er nickte, noch immer von ihrem Charisma eingeschüchtert. »Was kannst du mir über den Toten sagen?«

Sie öffnete den Leichensack. »Nun ja, er war das, was man ein Prachtexemplar von einem Mann nennt. Nicht mehr der Jüngste, aber sportlich. Gesunde Lebensweise. Sein Körper befand sich in einem Topzustand. Deshalb dürfte er bei der Folter ziemlich lange durchgehalten haben.«

Böhm musterte den Körper, der abgesehen davon, dass er geschunden und obduziert worden war, tatsächlich der eines Athleten hätte sein können. Reste von Bronzefarbe hoben die Muskulatur hervor.

Patricia folgte seinem Blick. »Sein Sterben war grausam. Er wurde ausgepeitscht. Und wer immer ihm danach diese Kreuzigungsverletzungen zugefügt hat, hat sich damit Zeit gelassen.«

Böhm schaute sich die Wunden an Händen und Füßen genauer an. Sollte tatsächlich Pietà hinter diesem Mord stecken, dann waren große, rostige Nägel durch die Handflächen und die Fußwurzeln getrieben worden. Die Schmerzen, die das Opfer dabei erlitt, waren ungeheuerlich. Aus dem Gedächtnis heraus verglich er die Verletzungen mit denen der römischen Fälle. Damals hatten sich die Wunden nur oberflächlich geähnelt. Genauere Untersuchungen hatten ergeben, dass die Verletzungsmuster unterschiedlich waren. In einigen Fällen hatte die Ausführung geradezu dilettantisch gewirkt, so als hätte dem Täter das richtige Werkzeug, die Fertigkeit, die Kraft oder die Courage gefehlt. Dann wiederum hatte es den Anschein gehabt, als hätte der Mörder nur einen einzigen kräftigen Hammerschlag benötigt, um den Nagel durch den Knochen zu treiben und die Gliedmaßen zu positionieren. Die unterschiedlichen Muster waren für Böhm noch immer der verwirrendste Aspekt der Mordserie.

»Er wurde außerdem an ein grobes Holz mit Querbalken gefesselt«, fuhr Patricia fort. »Vielleicht ein Kreuz oder eine Holz-Palette. Er ist nackt gefoltert worden. Ich habe Holzsplitter in seinem blutverkrusteten Rücken, seinen Armen und seinem Gesäß gefunden.«

»Ist er an der Summe all dieser Verletzungen gestorben?«

»Ich würde sagen, sein Kreislauf hat am Ende versagt und er ist erstickt. Ohne die Laborergebnisse kann ich allerdings nur Vermutungen anstellen. Mal schauen, was die Blutuntersuchung und sein Adrenalinspiegel sagen.«

»Sein Adrenalinspiegel?« Dunkel erinnerte er sich da an etwas.

Patricia zuckte mit den Achseln. »Die Konzentration dürfte hundert bis tausend Mal höher sein als bei alltäglichen Stresssituationen. Vielleicht hat man ihm Drogen verabreicht, damit er die Quälerei länger ertrug. Sieht das nach deinem Serienkiller aus?«

Böhm nickte. »Die Fälle sind zwar viele Jahre her, aber es gibt jede Menge Übereinstimmungen.«

Er erinnerte sich, dass die männlichen Opfer Pietàs allesamt ziemlich üble, selbstherrliche Arschlöcher gewesen waren. Die Chancen standen also gut, dass der durchtrainierte Tote auf der Bahre ein Doppelleben geführt hatte, von dem niemand in seinem Umfeld auch nur den geringsten Schimmer hatte. Hoffentlich wurde seine Identität bald geklärt.

Patricia runzelte die Stirn, als ginge sie in Gedanken sämtliche Obduktionen durch, an denen sie je beteiligt gewesen war. »Von diesen Morden habe ich nie gehört.«

»Sie ereigneten sich in Rom. Vor deiner Zeit.«

»Ah ja«, meinte sie, als gäbe es gar keine Zeit vor ihrer Zeit. »Da fällt mir ein, wenn du hier fertig bist, hätte ich noch etwas für dich.«

Da Böhm hier nichts mehr tun konnte und ihm gewiss nicht der Sinn danach stand, mit dem Toten Händchen zu halten, erklärte er die Inaugenscheinnahme für beendet. Patricia schob die Bahre so beiläufig in die Box zurück, als handelte es sich um ein Gemüsefach beim Großhandel. Dann führte sie ihn zügig zu ihrem Büro.

Auf dem vorderen Schreibtisch lag die hochwertige Spiegelreflexkamera, mit der sie ihre Obduktionen von den Assistenten dokumentieren ließ, aber sie griff nicht nach dem Apparat, sondern nahm am Computer Platz, dessen Bildschirmschoner eine lustige Unterwasserwelt wie die aus dem Kinderfilm Findet Nemo zeigte. Als Patricia die Tastatur gerade berührte, vernahm Böhm hinter sich ein Räuspern.

»Kriminalhauptkommissar Magnus Böhm?«

Eine weibliche Stimme, fest und klar, aber auch einen Hauch aufgeregt und leicht belegt. Er wandte den Kopf und wähnte sich sogleich im falschen Film. In der Tür stand eine junge Frau mit Hornbrille und geröteter Stupsnase, deren krauses Haar durch zwei Zöpfe mühsam gebändigt wurde. Ihr Körper versank in einem knallroten Anorak, aus dessen linker Tasche eine gelbe Wollmütze hervorquoll. Selbst umgekrempelt reichten die Ärmel über die Hände. Was zum Henker hatte dieses kaum der Schule entwachsene Wesen an einem Ort wie diesem verloren?

Die junge Frau blickte ihn aus großen Augen an.

»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Kriminalkommissarin Annetta Niedlich. Ich soll Sie bei der Ermittlungsarbeit unterstützen.«

6

Emma Zabek fühlte sich wie ein alter, löchriger Kahn, der tief im Fluss versunken lag. Bleierne Müdigkeit steckte in jeder ihrer Körperzellen und peinigte sie bis aufs Mark. Selbst die Kraft, die Augenlider anzuheben, fehlte ihr, und so lag sie still da wie ein Leichnam, dem nichts anderes übrig blieb, als in sein verrottendes Inneres zu schauen, auf Erinnerungen aus den letzten Monaten, Wochen und Tagen, auf die Erinnerungen eines Lebens, auf das sie gut und gerne hätte verzichten können.

Emma erinnerte sich an die eisige Kälte, an das Blut an ihren Händen, an den Schnee, der in unzähligen dichten Flocken aus dem Himmel auf sie und Patrick fiel, daran, wie die Leute sie begafften, bevor man sie mit Martinshorn und Blaulicht fortbrachte. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit seither vergangen war. Ein paar Stunden? Tage?

Mit dem Erwachen ihres Bewusstseins tauchte auch die Stimme wieder auf. Die Stimme ihres Entführers, den sie nie zu Gesicht bekommen und der sie in einem Labyrinth finsterer Kellerlöcher gefangen gehalten hatte. Kellerlöcher, von denen ein jedes einen Namen trug. Die Kammer der Andacht und der Besinnung. Die Kammer der Leere. Die Kammer des Lichts. Die Finsterkammer. Emma hatte geglaubt, dass die Geräuschkammer die schlimmste von allen wäre, bis sie die Schmerzenskammer betreten hatte.

Die Stimme hatte sie nicht schlafen lassen, bis zur Erschöpfung wachgehalten und gezwungen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Durch den Schlafentzug hatte Emma zunehmend die Kontrolle über sich verloren. Ihre Augen und ihr Gehirn schienen zu brennen und ihre Bewegungen waren immer konfuser geworden. Schließlich hatten die Kopfschmerzen und das Frieren und Zittern eingesetzt, das Auf und Ab ihrer Stimmungen, und sie war herumgetorkelt wie eine Besoffene. Doch sosehr sie auch um Schlaf gebettelt hatte, die Stimme hatte ihre Erschöpfung ausgekostet, wobei es ihr völlig egal gewesen war, dass Emma zunehmend schwach und nutzlos wurde. Irgendwann hatte Emma jedweden Sinn für die Zeit verloren, jedweden Sinn für das Gute und das Böse. Sie hatte nicht einmal mehr mitbekommen, wann Patrick zu atmen aufgehört hatte. Irgendwann war er einfach tot gewesen.

Plötzlich hörte Emma ein Rascheln, als hätte sich jemand leise neben ihr bewegt.

»Sie kommt zu sich«, sagte eine Frau wie aus großer Ferne.

Jemand berührte ihr Handgelenk und fühlte den Puls. Die Frau? Aber sie war doch so weit weg.

»Hallo. Können Sie mich hören?«

Emma hob die schweren Lider – und zuckte vor Schmerzen zusammen. Tageslicht fiel wie ein Schwarm stechender Nadeln über ihre Augen her. Alles, was sie in dem Sekundenbruchteil hatte ausmachen können, war eine von Lichtblitzen zerrissene Gestalt.

»Hallo«, wiederholte die Frauenstimme mit professioneller Freundlichkeit. »Ich bin Doktor Danuta Jablonski und das ist Schwester Helena. Sie sind in der Charité.«

Emma hörte die Worte, und obwohl es so klang, als wollte man ihr helfen, wünschte sie sich an einen anderen Ort. In einen stillen Wald, auf einen hohen Berg oder an eine ruhige, heiße Quelle auf Island. Ja, der Gedanke gefiel ihr, auch wenn sie all diese Orte nur aus dem Fernseher kannte.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte die Ärztin.

Emma entschied, die Augenlider wieder zu schließen und zu schweigen.

»Können Sie uns Ihren Namen nennen?«

Wenn Sie jetzt ihren Namen nannte, war es mit der Ruhe und dem Frieden vorbei.

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind hier in Sicherheit«, erklärte Dr. Jablonski.

Es klang immer sonderbar, wenn Menschen von Sicherheit sprachen, die noch nie in wirklicher Unsicherheit gelebt hatten. Diese Ärztin war bestimmt noch nie verschleppt worden, hatte sich noch nie in einem finsteren Kellerloch Foltergeräusche anhören müssen.

»Erinnern Sie sich, was passiert ist?«

Emma rührte sich nicht, lag da wie gelähmt. Da die Ärztin jedoch nicht so bald nachgeben würde, schüttelte sie langsam den Kopf. Unter keinen Umständen würde sie über die Stimme reden.

»Wie heißen Sie?«

Dieses Mal war es die Krankenschwester, die fragte. Ihre Stimme hatte etwas Blechernes. Sie stellte sich Schwester Helena als eine Frau mit einem hageren, unfreundlichen Gesicht vor.

»Gut«, meinte die Ärztin nach einer Weile, in der Emma ganz still blieb. »Klären wir das später. Ruhen Sie sich erst einmal aus.«

Emma tat, als fiele sie erneut in tiefen Schlaf, aber dieses Vortäuschen hatte auch seinen Preis. Ein Teil ihres Bewusstseins kehrte zurück in die abscheuliche Finsternis der Geräuschkammer. Und dieses Mal war es anders.

Patricks Stöhnen hatte sich dem schrecklichen Chor hinzugesellt.

7

Böhm starrte noch immer verdutzt auf seine neue Assistentin. Alles an ihr irritierte ihn. Der Parka, in dem sie versank wie ein Äffchen in einem roten Aufblaskostüm, die altmodische Brille mit den leicht getönten Gläsern sowie die rechts und links wie Sprungfedern von ihrem Kopf abstehenden Zöpfe. So jung, wie sie aussah, konnte sie kaum durch das Auswahlverfahren der Polizeiakademie gekommen sein. Entweder hatte Kurt Monsen komplett den Verstand verloren oder aber er wollte ihn auf den Arm nehmen. Nachdem Böhm einen Moment lang still dagestanden und ungläubig geglotzt hatte, brachte er es immerhin fertig, Patricia Celan als Gerichtsmedizinerin vorzustellen, woraufhin Niedlich mit wippenden Zöpfen an den Computer herantrat, die unförmige Brille zurechtrückte, als stellte sie ein Zoom ein, und eine Frage nach der anderen abfeuerte.

Gibt es schon einen Tatverdächtigen? Wurde bei der Leiche etwas entdeckt? Wie lange dauern die Laboranalysen?

Ein amüsiertes, fast schon schadenfrohes Zucken huschte über Patricias Mundwinkel. Die Medizinerin wusste nur zu gut, was in Böhm vorging. Also ignorierte sie ihn und nahm sich eine Extraportion Zeit, um Niedlich in aller Ausführlichkeit zu berichten, was sie gerade erst Böhm zu dem Fall erklärt hatte, sprach von den Kreuzigungsverletzungen, dem groben Holzbalken, an den der Tote genagelt worden war, und dem Kreislaufversagen, das zum Tod geführt haben musste.

Böhm hielt es damit für erwiesen, dass Patricia tatsächlich eine sadistische Ader hatte, denn das alles war ziemlich starker Tobak für seine unerfahrene Kollegin. Wenigstens verschaffte Patricias Wiederholung ihm die Zeit, die Situation halbwegs zu verdauen, denn es stellte sich die Frage, was er nun mit seiner von Monsen aufgebrummten Assistentin anfangen sollte. Auf berufliche Erfahrung konnte er bei ihr ja nicht bauen. Und an körperliche Konfrontationen im Einsatz mochte er mit diesem Fliegengewicht an seiner Seite gar nicht erst denken.

Nachdem Patricia ihren Horrorvortrag beendet hatte, meinte Niedlich etwas bleich: »Das nenn ich aber mal krass.«

Krass? Böhm fielen da ganz andere Begriffe ein. Unmenschlich. Brutal. Bestialisch. Grausam. Aber ganz sicher nicht ein bescheuertes Wort wie krass.