Pike - Er wird sich rächen - T. M. Frazier - E-Book

Pike - Er wird sich rächen E-Book

T. M. Frazier

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Beschreibung

Sie war Teil seines ausgeklügelten Racheplans. Doch sein Herz hatte andere Pläne ...

Aufgewachsen in Logan's Beach lernte Pike früh das harte Gesetz der Straße. Als Auftragskiller führt er ein Leben ohne Gefühle, ohne Liebe und allein. Bis er Mickey trifft. Obwohl Pike weiß, dass er bei seinem aktuellen Auftrag alles verlieren könnte und absolut keine Irritation gebrauchen kann, fühlt er sich wie magisch hingezogen zu der unschuldigen und schutzlosen jungen Frau. Sie ist die perfekte Ablenkung von seiner Wut und alles, was er gerade braucht. Doch dann findet er heraus, dass Mickey stärker mit seinem eigenen Leben verbunden ist, als er dachte - und dass sie das perfekte Mittel für die Rache an seinem schlimmsten Feind sein könnte, nach der er sich sein ganzes Leben lang sehnt. Er will Mickey benutzen und ausliefern. Doch Pike hat nicht mit den tiefen Gefühlen gerechnet, die plötzlich zwischen ihm und seinem Plan stehen. Gefühle, die alles zerstören könnten, wofür er so hart gekämpft hat ...

"Pike wird euch verschlingen, euer Herz wird brechen, eure Gefühle werden euch umbringen. Dieses Buch hat alles, was ich an Dark Romance liebe!" REBEL READS

Band 1 des PIKE-Duets von USA-TODAY-Bestseller-Autorin T. M. Frazier

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Seitenzahl: 331

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Motto

Prolog

1

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Die Autorin

Die Romane von T. M. Frazier bei LYX

Impressum

T. M. FRAZIER

Pike

ER WIRD SICH RÄCHEN

Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner

Zu diesem Buch

Aufgewachsen in Logan’s Beach lernte Pike früh das harte Gesetz der Straße. Als Auftragskiller führt er ein Leben ohne Gefühle, ohne Liebe und allein. Bis er Mickey trifft. Obwohl Pike weiß, dass er bei seinem aktuellen Auftrag alles verlieren könnte und absolut keine Irritation gebrauchen kann, fühlt er sich wie magisch hingezogen zu der unschuldigen und schutzlosen jungen Frau. Sie ist die perfekte Ablenkung von seiner Wut und alles, was er gerade braucht. Doch dann findet er heraus, dass Mickey stärker mit seinem eigenen Leben verbunden ist, als er dachte – und dass sie die perfekte Waffe für die Rache an seinem schlimmsten Feind sein könnte, nach der er sich sein ganzes Leben lang sehnt. Er will Mickey benutzen und ausliefern. Doch Pike hat nicht mit den tiefen Gefühlen gerechnet, die plötzlich zwischen ihm und seinem Plan stehen. Gefühle, die alles zerstören könnten, wofür er so hart gekämpft hat …

Für die beiden Menschen, die meine ganze Welt sind.

Meine Sonne und mein Mond.

Mein Immer und Ewig.

L & C

»Aus der tiefsten Sehnsucht entsteht oft der tödlichste Hass.«

SOKRATES

Prolog

Pike

Liebe ist eine Seuche, die die Massen mit der Lüge von einem Glücklich bis ans Lebensende infiziert.

Sie ist die ultimative Religion, und ihre Jünger sind die, die daran glauben, dass sie ihre verdammten Seelen rettet und ihnen eine Art tieferen Sinn gibt. Daran, dass Liebe das Leben lebenswert macht.

Blödsinn.

Liebe ist ein verdammter Kult. Eine Stampede hoffnungsvoller Idioten, die alle losrennen, um von derselben Klippe zu springen, die schon Millionen vor ihnen das Leben gekostet hat. Durch den Nebel sind sie unfähig, ihr Schicksal zu erkennen, das, was die Liebe unten am Grund wirklich für sie bereithält.

Nichts als ein grausames, chaotisches Blutbad.

Also springen sie.

Und am Ende gibt Liebe ihnen weder einen Lebenszweck noch Hoffnung oder einen Sinn in diesem Leben.

Es endet mit der Landung auf dem verdammten Haufen.

Noch eine Kerbe für die Liebe im Kolben ihrer Knarre.

Das einzig wahre Ende für die Seuche ist der Tod oder etwas, das sich sehr danach anfühlt, wenn sich die Infektion bis in Herz und Seele ausbreitet und einen Mann von innen heraus zerquetscht.

Liebe ist chaotisch, blutig und ignorant.

Hass wird geboren in der Abwesenheit falscher Versprechungen der Liebe. Eine menschliche Evolution.

Hass ist leicht. Rein in seiner Schlichtheit.

Er enttäuscht nicht, und er führt nicht in die Irre.

Keine falschen Versprechungen, kein Nebel, der verbirgt, was am Grund der Klippe wartet.

Hass ist ein Produkt dessen, woher ich komme, und eine Richtung, in die ich gehe.

Logan’s Beach.

Eine Stadt, die zu gleichen Teilen aus Sand und Sadisten besteht.

Strand und Blut.

Salzwasser und Sünden.

Kanäle und Chaos.

Die überwucherten, leeren Felder bieten den perfekten Boden, in dem die Saat des Hasses gesät wird, gedeiht und eine Armee seelenloser Männer erschafft. Das Blut in ihren Adern ist ersetzt durch das fließende Grün der Gier. Ihre Hände bestehen aus Waffen, und ihr Herz ist ein Stein. Stell dich ihnen in den Weg, und du wirst niedergemacht.

Das einzige Gesetz in dieser Stadt ist Macht. Und wie weit man zu gehen bereit ist, um diese Macht zu erlangen, kann verblüffend und zugleich erschreckend sein. Respekt verdient man sich durch blutige Akte der Gewalt und die Art von Brutalität, die außerhalb dieser Stadt nur in Albträumen existiert.

Meine Macht liegt in meiner Wahrheit. Ich habe keine falsche Vorstellung davon, wer ich bin oder wozu ich fähig bin. Ich habe keine Angst vor Vergeltung, vor Rache oder vor dem verdammten Sensenmann persönlich.

Ich gehe das Leben an, die Waffe nicht hinter meinem Rücken versteckt, sondern in den Händen und vor deiner Nase, denn meine Saat wurde nicht bei der Geburt gesät, sondern durch die Umstände.

Ich bin kein Opfer. Ich bin schlicht das Ergebnis. Ein Produkt von Logan’s Beach.

Ein Ausgestoßener. Ein Gesetzloser. Verdammt auf Blut aus.

Ich bin vorbereitet auf alles und jeden.

Nur nicht auf sie.

Mein Leben nach Mickey ist eine scharfe Granate, die in die Luft geworfen wurde, als wäre sie ein Kinderspielzeug.

Und während ich abgelenkt bin, weil ich zu verhindern versuche, dass alles, wofür ich gearbeitet habe, explodiert, schafft sie es irgendwie, ihre kleinen Mädchenfinger an allen meinen Schutzwällen vorbei in meine verdammte schwarze Seele zu strecken …

Und den verdammten Stift zu ziehen.

1

Mickey

Vor vier Jahren

Mama und Papa strahlen immer vor Stolz, wenn sie jemandem erzählen, dass ich ein fotografisches Gedächtnis habe, obwohl mir diese Fähigkeit im Vergleich zu denen meiner drei jüngeren Schwestern die unspektakulärste zu sein scheint. Mallory ist dreizehn und schon im olympischen Schwimmteam der Junioren. Maya ist sechzehn und hat vor Kurzem ihre vorzeitige Zulassung für Stanford bekommen. Und Mindy ist siebzehn, malt spektakuläre Landschaften in Wasserfarben und bekommt nächsten Monat ihre erste Soloausstellung in einer Galerie in Miami.

Und dann bin da noch ich. Mickey, neunzehn Jahre alt, fotografisches Gedächtnis, hoher IQ, nicht sozialtauglich.

Hm, ich wirke wohl eher blass im Vergleich. Vielleicht, weil ich zugesehen habe, wie hart sie gearbeitet haben, um ihre Ziele zu erreichen, während meine Leistungen lediglich das Ergebnis von etwas sind, womit ich geboren wurde. Ich musste nie versuchen, klug zu sein oder mich an Dinge zu erinnern.

Ich bin es einfach, und ich kann es einfach.

Ich höre noch Papas Stimme im Kopf, beim Abendessen letzten Monat mit meiner Tante und meinem Onkel. »Bob, habe ich dir je erzählt, dass Mickey ein fotografisches Gedächtnis hat? Es ist erstaunlich. Sie kann sich an jedes Detail erinnern, bei allem, was sie sieht. So etwas habe ich noch nie gesehen. Bob, gib mir doch mal deinen Führerschein. Sie merkt sich die Nummern in zwei Sekunden.«

Ich kichere in mich hinein, als ich an Bobs verblüfftes Gesicht denke, als ich genau das tat: ein kurzer Blick auf seinen Führerschein, zurückgeben, und dann nicht nur seine Führerscheinnummer aufsagen, sondern auch noch sein Geburtsdatum, das Datum der Verlängerung seines Führerscheins und die Tatsache, dass er Organspender ist. Und als Zugabe habe ich noch aufgezählt, dass er auf dem Foto einen Ketchup-Fleck am Kragen hat.

Mein Gedächtnis war immer meine Superkraft. Es hat mich nie im Stich gelassen.

Mein Lächeln verschwindet.

Bis heute.

Heute ist Dads Prahlerei eine Lüge.

Denn heute ist etwas passiert, und zum ersten Mal in meinem Leben kann ich mich nicht erinnern, was es war.

Die Erinnerung ist da, aber sie liegt in meinem Gedächtnis wie ein zerrissenes Foto, das im Wind davonweht. Immer wenn ich das Gefühl habe, dass ich sie zu fassen bekomme, ist sie wieder weg. Es ist, als würde man aus dem Augenwinkel eine Bewegung in der Ecke sehen, und wenn man sich umdreht, erkennt man, dass da gar nichts ist.

Es ist, als würde ich Gespenstern nachjagen.

Das Lachen meiner Schwestern bringt mich zurück in die Gegenwart. Ich schüttele das unbehagliche Gefühl ab und setze ein breites Lächeln auf.

Egal, was passiert ist, es kann nicht so wichtig gewesen sein. Denn sonst würde ich mich ganz sicher daran erinnern. Denn das bin schließlich ich. Die Tochter, die sich an alles erinnert.

Egal, was mit meinem Gedächtnis los ist, es wird warten müssen, denn ich lasse nicht zu, dass mir irgendetwas zu schaffen macht, ganz besonders nicht hier, an meinem Ort der Glückseligkeit.

Meine Familie und ich machen jeden Sommer Ferien hier in Logan’s Beach. Wir haben eine Ferienwohnung gleich am Strand. Meine schönsten Erinnerungen sind Dinge, die in dieser Stadt passiert sind. Hier ist mein erster Zahn ausgefallen. Hier hatte ich meinen ersten Beinahe-Kuss am Pier, bei dem ich aber im letzten Moment ausgewichen bin, nachdem ich in Hudson Yontz’ Zahnspange irgendetwas Widerliches stecken sah. Aber die Erinnerung lässt mich immer noch lächeln. Mom hat mir im Pool der Ferienwohnung Schwimmen beigebracht. Meine Schwestern und ich haben hier sogar einen Angelwettbewerb gewonnen. Wir nannten unser Team die Snook Sisters, und in dem Jahr machten die Snook Sisters den ersten Platz. Man hätte glauben können, wir hätten in der Lotterie gewonnen und nicht einen Geschenkgutschein über fünfundvierzig Dollar bei Master Bait & Tackle.

Die Wärme der Sonne wird schwächer, und die unbarmherzige Hitze schwindet von meinem Nacken und lässt Kühle zurück, als die Brise über meine nasse Haut weht.

Ich blicke hinauf in den Himmel und sehe die Sonne hinter dem Horizont verschwinden.

Schon Sonnenuntergang? Wo ist die Zeit geblieben? Haben wir die Ferienwohnung nicht erst vor ein paar Minuten verlassen, um Kajak fahren zu gehen?

So war es, daran erinnere ich mich noch. Wir haben den Van vollgepackt und die Kajaks aufs Dach geschnallt. Hatten angehalten, um mehr Sonnencreme zu kaufen.

Stimmt doch? Oder war das letztes Jahr?

Hat es geregnet? Ich glaube, ich erinnere mich an Regen.

Es ist alles verschwommen.

Ich meine, die Zeit hier im Sommer vergeht immer wie im Flug. Es ist nicht ungewöhnlich, dass mir das Zeitgefühl abhandenkommt.

Aber nicht deine Erinnerung.

Alles gut. Alles wird gut. Ich weigere mich, diesen Dialog mit meiner inneren Stimme noch mal zu führen. Schließlich bleibt nicht ewig Zeit. Es ist unser letzter Sommer hier als Familie, und ich will jede Minute davon genießen.

Das Schild mit Willkommen in Logan’s Beach darauf schimmert grün im schwindenden Licht, als ich hinkomme. In den Sommerwochen ist immer entweder ein großer Penis mit schwarzer Farbe draufgesprayt oder ein Farbfleck, um besagten Penis zu überdecken.

Heute ist es ein Farbfleck.

Ich grinse vor mich hin, während ich langsam an dem Schild vorbeigehe. Mir tun die Füße weh vom Laufen. Ich höre, wie sich Mallory hinter mir über ihre Füße beschwert, ganz Dramaqueen, und verdrehe die Augen.

Mom versichert ihr, dass wir fast da sind, und ich antworte mit einem sarkastischen »Sind wir bald da?«.

Außer Papa lacht niemand.

Ich höre weiter zu, als Papa einen schlechten Klopf-Klopf-Witz erzählt, bei dem meine Schwestern und Mama einstimmig aufstöhnen. Papa ist so merkwürdig wie ich. Wir haben nicht nur den gleichen hohen IQ, sondern auch denselben miesen Sinn für Humor. Ich bin die Einzige, die über seine Witze lacht, und sein berühmtes Zwinkern ist meine Belohnung dafür.

Mindy schimpft, weil ich ihn auch noch ermutige, und sie stöhnt noch lauter, als er einen weiteren Witz erzählt.

Irgendwie macht es hier noch mehr Spaß, meine Schwestern zu ärgern.

Sogar dass ich mir das Badezimmer mit meinen drei Schwestern teilen muss, ist hier annehmbarer als zu Hause, und dabei hat das zu Hause zwei Waschbecken, während das in der Ferienwohnung nur eins hat.

Während wir weitergehen, hinterlasse ich eine schmale, schlangenähnliche Wasserspur auf dem Gehweg. Meine Klamotten sind in der Hitze der Sonne von nass zu feucht geworden. Meine Jeansshorts reiben über die Innenseiten meiner Beine und rubbeln mir mit jedem Schritt die Haut wund. Mein unordentliches Haar ist ein zerfledderter Schwamm, und wenn der mal nass ist, tropft er wie ein undichter Siphon, so lange, bis ich ein Handtuch und einen Fön finde, denn Lufttrocknen ist keine Option.

Maya bemerkt meine Wasserspur und witzelt, dass ich bei einem dieser Werbespots für ShamWow mitmachen könnte. Also, nicht als der Verkäufer, der die ganze Zeit hinausposaunt, wie toll dieses Putztuch ist und wie viel Wasser es aufnehmen kann, sondern als das Tuch selbst.

»Als hätte ich das noch nie gehört«, brumme ich vor mich hin. Habe ich schon. Mehrere hundert Male. Immer von Maya.

Mama sagt ihr, dass sie nett sein soll, und ich grinse und strecke die Zunge heraus wie ein Kind, obwohl ich doch inzwischen eine erwachsene Frau bin. Ich frage mich, wann ich mich tatsächlich wie eine Frau fühlen werde. Mein Körper hat die Botschaft, dass die Weiblichkeit in mir inzwischen ihren Höhepunkt erreicht haben sollte, offensichtlich noch nicht erhalten. Beweisstück A: meine Hühnerbeine, und Beweisstück B: mein Mangel an anmutigen … Alles.

Papa sagt, wir sollen alle mal stehenbleiben und die salzige Luft genießen.

Wir sind zwar beide intelligent und haben denselben albernen Sinn für Humor, aber in diesem Punkt sind wir verschieden. Papa ist auf eine Weise sentimental, die schon fast wunderlich ist. Für Gefühle kann er die Logik auch mal beiseiteschieben.

Während ich zusehe, wie er die Augen schließt und tief Luft holt, wird mir klar, dass ich ihn beneide. Dass er das Beste von beiden Welten haben kann, während ich es gerade mal schaffe, in den Grenzen nur dieser einen zu leben.

Normalerweise würde ich nur die Augen verdrehen oder so tun, als würde ich mitmachen, aber dies ist mein letzter Sommer hier, bevor ich zurück ans College gehe und mein neues Forschungsprojekt beginne. Und wer weiß, vielleicht ist es mein letzter Sommer überhaupt hier, und ich habe mir geschworen, dass ich jede einzelne Minute davon genießen werde. Also tue ich, was Papa sagt, und bleibe stehen, schaue zum Wasser und schließe die Augen. Das Salz ist so deutlich in der Luft, dass ich es im Mund schmecken kann, noch bevor ich einatme.

Ich versuche, tief Luft zu holen, aber ich kann nicht. Meine Lungen sind schon voll, aber nicht mit Luft. Ich muss husten, dieses eklige nasse Husten, bei dem man fühlt, dass man irgendwelches Zeug in der Lunge hat. Und die Luft könnte ebenso gut auch ein Salzleckstein sein, denn das, was ich da aushuste, schmeckt, als hätte ich mich den ganzen Tag an so einem Ding zu schaffen gemacht.

Mama kommt zu mir und fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich nicke, wische mir mit dem Handrücken über den Mund und schenke ihr ein Lächeln, mit dem ich beteuere, dass es mir gut geht. Sie erinnert mich daran, dass ich mir gegen Ende des Sommers immer eine Erkältung einfange. Sie hat recht. Das passiert immer.

So viel zu meinem Versuch, ein Freigeist zu sein.

Ich grinse in mich hinein. Mallory wird während der gesamten Heimfahrt ihren Mundschutz aufhaben, um sich nicht mit meiner Erkältung anzustecken. Sie wird mir ihre üblichen Seitenblicke mit hochgezogener Augenbraue zuwerfen, wann immer ich niese, als hätte ich die Zombieseuche. Ich nehme mir vor, als Zugabe noch ein paar zusätzliche falsche Nieser und Huster einzuwerfen.

Wir gehen weiter. Meine Füße tun so weh, dass ich inzwischen humpele. Ich tue mein Bestes, um es zu verbergen, damit Mama sich keine Sorgen macht. Ich will mich auch nicht beschweren, denn Beschwerden hat sie heute schon genug gehört. Außerdem hat sie ja gesagt, dass wir fast da sind, also werde ich meine Füße bald ausruhen können.

Im Licht der Morgendämmerung wirkt das Weiß und Gelb näher kommender Scheinwerfer so groß wie undeutliche Sonnenportale. Ich bleibe einen kurzen Moment stehen und schirme meine Augen ab, bevor wir alle weitergehen. Das Auto fährt vorbei und hupt laut, worauf Maya zusammenzuckt und Mallory flucht, während der Wagen die Straße entlang verschwindet.

Ein paar Meilen weiter wird der Weg schmal und rissig, ohne eingezeichnete Fahrspuren. Keine Lichter mehr, keine Bars, keine Menschen.

Mindy jammert Papa was vor, und er beteuert ihr wieder, dass wir fast da sind, aber so langsam denke ich, dass es da gar nicht gibt.

Neben uns hält ein höhergelegter schwarzer Truck mit extragroßen Reifen. Ich recke den Hals, als das Fenster aufgeht. Ein Mann schaut heraus, aber er ist so weit oben, dass ich sein Gesicht nicht erkennen kann.

»Miss, brauchen Sie jemanden, der sie mitnimmt?«, fragt er. Er klingt besorgt.

Meine Lippen springen auf, als ich lächele. Ein Tropfen Blut läuft mir übers Kinn, und ich wische ihn mit meinem nassen Shirt weg. Das Salz brennt, aber ich lächele weiter. Ich bin einfach so froh, dass ich bei meiner Familie bin. Dass ich hier bin. Ich muss glücklich sein.

Ich kann nicht nicht lächeln.

Aber wieso blute ich?

Meine drei Schwestern betteln meine Eltern, zu erlauben, dass wir zu diesem Fremden in den Truck steigen, aber ich weiß, dass sie das nie erlauben werden. Also lehne ich höflich ab, so sehr ich das Angebot zu schätzen weiß.

»Danke Ihnen vielmals, aber nein danke.«

Meine Schwestern kichern, und obwohl ich den Mann nicht sehen kann, wird mir klar, dass er wohl recht gut aussehen muss, weil meine Schwestern so albern kichern.

Ich drehe schnell den Kopf zu ihnen. »Shhh, seid nicht so unhöflich«, sage ich durch zusammengebissene Zähne und drehe mich wieder zu dem Fremden um. »Tut mir leid wegen denen.«

»Denen«, wiederholt er, als verstünde er nicht, wieso junge Frauen in seiner Gegenwart kichern sollten. Vielleicht würde ich ja auch kichern, aber sein Gesicht ist noch verschwommener als vorhin, als er anhielt. Genau gesagt ist jetzt alles verschwommener.

Wir müssen weitergehen, damit wir da ankommen.

Aber wo ist da?

Wo bin ich?

»Noch mal danke für das Angebot«, sage ich zu dem Mann. »Aber wie Sie sehen, hat Ihr Truck keinen Rücksitz, und selbst wenn wir Ihr freundliches Angebot annehmen, würden doch nicht alle sechs von uns hineinpassen.«

»Alle sechs von euch«, wiederholt er. Es ist keine Feststellung und keine Frage. Langsam denke ich, ihm fehlt das nötige Hirnschmalz, um eine so einfache Aussage zu verarbeiten.

Oder, um bis sechs zu zählen.

Mir tun die Füße weh, und ich trete von einem Fuß auf den anderen. Ich will den Fremden unbedingt weiterschicken, und es fällt mir immer schwerer, mich aufrecht zu halten. »Sie denken aber nicht, dass ich meine Familie hierlasse und allein mit Ihnen fahre, oder?« Ich drehe mich zu Papa um und sehe ihn schulterzuckend an. Er lächelt stolz, zweifellos, weil ihm klar ist, dass seine ständigen Predigten von Gefahr durch Fremde bei mir angekommen sind.

»Miss, wo ist Ihre Familie?«, fragt er vorsichtig.

Ich runzele die Stirn. Ich meine, ich sehe nur verschwommen, aber der Typ muss ja regelrecht blind sein.

»Genau hinter mir!« Ich wedele mit den Armen Richtung Straßenrand, wo meine Familie steht, und alle winken zurück, als wären sie das bewegte Gemälde einer Bilderbuchfamilie.

Er öffnet die Fahrertür und springt herunter auf den Gehweg. Ich registriere kräftige Arme und ein weißes Shirt. Tattoos. Sein Haar ist dunkelblond und erinnert mich an meine Katze Penny. Er hat eine Narbe am Kinn und leuchtende Augen, die immer wieder hin und her wandern. Kein Wunder, dass meine Schwestern kichern. Er bietet eindeutig Anlass zu kichern. Ich schätze, er ist nur wenig älter als ich, obwohl seine tiefe Stimme weit reifer klingt.

Er schlägt die Tür zu.

Ich weiß nicht, ob es an der plötzlichen Bewegung oder dem langen Marsch liegt, dass ich wanke.

Der junge Mann blickt über meine Schulter in die Dunkelheit, schaut dann wieder mich an und dann dasselbe noch mal. Seine Züge ähneln inzwischen einer Nahaufnahme von einer Fliege, die ich mal betrachtet habe. Groß und sinnwidrig. Viel zu viele Augen.

Er kratzt sich verwirrt am Kopf.

Ich knurre frustriert und drehe mich um, um ihm meine Familie zu zeigen, aber die Bewegung misslingt mir. Alles dreht sich. Meine Familie. Der Truck. Der Fremde. Der Mond über mir. Immer schneller, wie ein außer Kontrolle geratenes Karussell.

Im Fallen erhasche ich noch einen letzten Blick auf meine Familie.

Die letzten Worte, die ich höre, bevor ich auf den Boden pralle, sind tief und entstellt.

»Da ist niemand hinter Ihnen.«

Pike

Die Nacht beginnt wie fast jede Nacht: mit zwei Mädchen in meinem Bett. Ich langweile mich schnell, und es fällt mir schwer, mich immer nur auf eine zu konzentrieren. Mein Freund Nine nennt es Sexsucht.

Er hat nicht ganz unrecht.

Außerdem bin ich ein zweiundzwanzigjähriger Mann mit riesigem sexuellem Appetit.

Ist eben so.

Als die Mädchen weg sind, dusche ich schnell und mache mich auf den Weg zu dem, was ich am besten kann. Stoff vertickern. Ich liefere eine astronomische Menge an Ecstasy und Koks an einen Haufen reicher Bälger, die auf der gutbürgerlichen Seite des Fahrdamms in Logan’s Beach eine Party schmeißen.

Sobald ich wieder zurück auf meiner Seite der Stadt bin, seufze ich erleichtert auf. Je mehr Distanz ich zwischen mich und diese privilegierten reichen Schnösel bringen kann, die so entschlossen danach streben, ihre Eltern zu enttäuschen, umso besser. Diese Trottel haben so wenig Probleme im Leben, dass sie sich selbst welche machen müssen, während der Rest der Welt, der auf dieser Seite des Fahrdamms lebt, im Land von Sand und Ruin, eine Hölle auf Erden im wörtlichen Sinn durchwandert.

Hölle oder nicht, ich liebe diese Stadt. In meinen Adern fließen Salzwasser und Sand.

Logan’s Beach ist der Ort, an dem ich sein will. Im Moment lebe ich mit Nine in Coral Pines, aber ich habe ein Auge auf einen heruntergekommenen kleinen Antiquitätenladen auf der Main Street geworfen, mit einem Apartment im Obergeschoss. Ich hoffe, dass ich ihn zu meinem ganz eigenen heruntergekommenen kleinen Pfandhaus machen kann, sobald ich es geschafft habe, genug Geld zusammenzukratzen.

Der Bass hämmert immer noch in meinen Ohren. Ich zwinge mich zum Gähnen und ziehe an meinem Ohrläppchen, um den Druck aus den Ohren zu bekommen. Was ist eigentlich aus echter Musik geworden? Johnny Cash. Bush. Sam Hunt. Diese Rave-Musik, die die hören, ist schlimmer als die meisten Arten von Folter, aber ich schätze, da kommen dann die Drogen ins Spiel. Man muss high sein, um zu dem Mist zu tanzen. Ich bin im selben Alter wie die meisten dieser Kids, aber mein Hass auf ihre Musik und die Tatsache, dass ich nicht so privilegiert bin, geben mir das Gefühl, viel älter zu sein. Süße Erleichterung kommt in Form von Johnny Cash. Ich mache das Radio lauter. »Schon viel besser«, sage ich zu mir selbst und klopfe mit dem Finger am Lenkrad mit, als die erste Strophe von Cocaine Blues an meine Ohren dringt.

Ich fahre an dem Schild Willkommen in Logan’s Beach vorbei und sehe eine Gestalt im Schatten. Ist nicht ungewöhnlich, um diese Nachtzeit einen Bären, ein Wildschwein, einen Hirsch oder einen Alligator hier zu sehen. Schon eher ungewöhnlich ist, dass ein Mädchen barfuß neben der Straße entlanghumpelt. Es sieht aus wie eines dieser Mädchen aus einem Horrorfilm und schleppt sich langsam die Straße entlang. Ihr langes nasses Haar hängt ihr ins Gesicht.

Meine Neugier gewinnt die Oberhand. Langsam halte ich den Truck neben ihr an und bin total überrascht, als sie näher kommt. Sie gibt irgendeinen Blödsinn von sich über Leute, die direkt hinter ihr seien, obwohl doch niemand da ist außer verdammte Grillen und anderes Kleingetier. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich. Dünn, ganz Ellbogen und Knie. In ihren großen grauen Augen steht eine Wildheit, die mich an eine durchgeknallte Puppe erinnert. Sie schaut ständig hinter sich und sieht offensichtlich etwas, das ich nicht sehe. Sie hält sich nur schwankend auf den Beinen.

Ich steige aus und fange sie auf, als sie umkippt.

Jetzt sitzt sie auf meinem Beifahrersitz und tropft das ganze Leder voll mit Schlamm und Wasser. »Yo … Mädchen«, sage ich und tätschle ihre Wangen in dem Versuch, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. »Hey, Kleine. Wach schon auf.«

Ihr nasses, strähniges Haar hat die Farbe von dunklem Whiskey, ist lang und kräuselt sich ein wenig. Zwischen ihren sonst perfekten Schneidezähnen ist eine kleine Lücke, und an der linken Wange schräg über blassen und rissigen Lippen hat sie ein Grübchen. Über dem Auge hat sie eine Schnittwunde und Kratzer an Händen und Füßen.

Sie blinzelt ein paarmal, bevor sie endlich die Augen öffnet, schaut sich im Truck um und begegnet dann meinem Blick. »Oh, hey«, sagt sie mit rauer Stimme, und dann lächelt sie breit, als hätte sie nicht vorhin noch Unsinn von sich gegeben, dass sie von Leuten umgeben sei, bevor sie in meinen Armen das Bewusstsein verlor.

»Hattest du einen Käfigkampf mit einem Huhn oder so? Weil, du siehst so aus, als hättest du genau so was hinter dir – und verloren.«

Sie setzt sich auf und schüttelt den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.« Dann blickt sie auf ihre Sachen. »Was ist passiert?« Sie berührt den Schnitt über ihrem Auge und atmet zischend ein.

»Ich weiß nicht genau. Ich habe dich so gefunden.«

Sie denkt einen Moment lang nach. »Schwimmen. Ich muss zu weit rausgeschwommen sein. Mama warnt mich immer, dass ich nicht weiter als bis zu den Felsen schwimmen soll, aber ich höre nie auf sie. Ich glaube, es hat geregnet. Wir waren Kajak fahren?« Sie presst die Augen zu, kaut an ihrer Unterlippe und müht sich, sich zu erinnern. »Alles ist so … ich kann mich nicht erinnern.«

Typischer Touristenfehler. Unzählige von denen sind ertrunken, weil sie glaubten, sie könnten weiter hinausschwimmen als die Felsen gehen, vorbei an dem Schild, auf dem ganz deutlich steht: NICHT ÜBER DEN FELSEN HINAUS SCHWIMMEN. Ich seufze. Kein Wunder, dass sie dachte, sie sei bei ihrer Familie. Sie ist fast ertrunken und hat wahrscheinlich eine Menge Wasser geschluckt. »Krankenhaus oder nach Hause?«, frage ich. Ich bin ein übler Typ, aber selbst üble Typen lassen junge, unschuldig aussehende, fast ertrunkene Ratten nicht in der Nacht am Straßenrand liegen.

»Nach Hause«, antwortet sie und lehnt den Kopf an die Kopfstütze.

Ich umrunde den Truck, steige wieder ein und fahre los. Ich werfe ihr einen Blick zu: Ihre Augen sind zu. Ihre Lider sind purpurrot, und ich kann nicht sagen, ob das Schatten sind, Dreck oder Blutergüsse. »Und wo ist das, Schätzchen?«

Sie öffnet die Augen, setzt sich auf und verzieht das Gesicht. »Wir leben in Ocala, aber die Sommer verbringen wir immer hier am Strand. Eins-Zwölf-Vier-Vier Sycamore Drive. Das ist die Adresse der Ferienwohnung.«

Wenigstens weiß sie ihre Adresse noch. Das ist ja schon mal was. »Sicher, dass du nicht ins Krankenhaus willst?«

Sie holt tief Luft und setzt ein Lächeln auf. »Ich bin sicher. Ich muss mich nur saubermachen. Meine Eltern werden total sauer sein. Wahrscheinlich suchen sie schon nach mir.«

Ich nicke. »Ich kann dich schnell nach Hause bringen. Ich weiß, wo der Sycamore Drive ist. Die Straße ist nicht weit weg von da, wo ich gerade herkomme.« Während ich fahre, spüre ich, wie ihr starrer Blick auf meine Wange mir ein Loch ins Gesicht brennt.

Schließlich sagt sie: »Danke. Fürs Mitnehmen, meine ich.« Ihre blassen, eingefallenen Wangen bekommen etwas Farbe, als sie rot wird. Sie kaut an ihrer Unterlippe, atmet dann zischend ein und hebt die Finger an den Schnitt in ihrer Wange, den sie vergessen hatte.

Ich habe in meinen zweiundzwanzig Lebensjahren nicht viel getan, was ein Danke verdient, und ich habe auch in letzter Zeit todsicher nichts getan, um eins zu verdienen. Es fühlt sich falsch an, dass sie mir dankt, und noch falscher, dass ich keine Ahnung habe, wie ich auf schlichte Dankbarkeit reagieren soll.

Der Rest der Fahrt verläuft schweigend. Die einzigen Geräusche bleiben gelegentlich vorbeifahrende Autos und das Echo quakender Frösche aus den nahe gelegenen Naturschutzgebieten.

Ich biege in eine Einfahrt aus Muschelbruch, gesäumt von einem Zaun aus krummem Orangenholz und Pflanzenbeeten, in denen diese hohen dünnen Palmen stehen, die im leichten Wind schwanken, als befänden sie sich in einem Wirbelsturm. Schon lustig, dass diese Mistdinger das Einzige sind, was die meisten Wirbelstürme überlebt, wenn alles andere um sie herum in Schutt und Asche fällt, weil sie sich biegen wie Gummibänder und immer wieder zurückschnellen.

»Hier ist es«, sagt sie ausatmend, und ihr Gesicht hellt sich auf.

Das Haus selbst, ein Duplex, ist sonnengelb und steht auf hohen Stützpfeilern mit zwei Parkplätzen darunter, getrennt von einer ungestrichenen Betonmauer. Rote Fensterläden umrahmen die beiden Fenster. Unter jedem Fenster hängt eine große, rostige Metallsonne mit der Hausnummer darauf. An der Seite steht ein kleines Nebengebäude in denselben Farben. Ein Haus von Hunderten gleicher in einer Reihe am Strand. Ich nehme an, dass die Holztreppen links und rechts wie bei den anderen auf eine Veranda an der Strandseite des Hauses führen, wo sich auch die Haustür befindet, denn so sind diese Dinger alle konstruiert, und so stehen sie zu Hunderten am Strand. Wer weiß, ich hätte schon mal hier sein können, aus geschäftlichen Gründen, oder weil Spring Break die Zeit ist, in der wilde Mädchen mit Vaterkomplex auftauchen, die nichts mehr lieben, als sich mit den Einheimischen einzulassen.

Die Art Mädchen, denen es nichts ausmacht, dass sie nicht die Einzige in meinem Bett sind.

Das Mädchen öffnet die Tür, springt heraus und stolpert in der Einfahrt.

»Shit«, fluche ich, springe auch raus und renne um den Wagen, um sie aufrecht zu halten. »Vielleicht wäre ein Krankenhaus doch die bessere Idee gewesen.«

»Nein. Alles in Ordnung. Wenn ich hier bin, geht es mir immer gut«, sagt sie, und ihre Augen funkeln, als sie das kleine Strandhaus ansieht, als wäre es eine Villa, über und über mit Diamanten bedeckt. Wieder sieht sie etwas, das ich nicht sehe.

»Welche Seite?«, frage ich.

»Rechts«, antwortet sie.

Ich lege einen Arm um ihre Taille und lege mir ihren Arm um die Schulter, um mit ihr zur Treppe zu gehen.

»Weißt du, seit ich acht war, habe ich jeden Sommer hier verbracht«, fängt sie an. Sie dreht den Kopf, als ihr der leere Parkplatz auffällt. »Der Van. Er ist nicht hier. Vielleicht sind sie noch gar nicht zurück. Wahrscheinlich suchen sie noch nach mir. Ich werde mir bestimmt ganz schön was von Papa anhören müssen.«

Ihr Blick wird glasig und ähnelt wieder dem Blick, den sie hatte, als ich sie gefunden habe.

Ich greife sie fester um die Taille, als ich merke, dass sie schwankt. »Alles okay?«

»Ich … ich weiß nicht.« Weit aufgerissene Augen starren mich verwirrt an. »Ich weiß nicht, was hier passiert.« Sie stolpert rückwärts, und ich ziehe sie an mich und drücke sie an meine Brust. »Der Regen. Die Geräusche. Das Glas. Wo sind sie alle hin?«

Ich habe in meinem Leben ja schon ein paar irre Weiber getroffen, aber die hier könnte sogar noch verrückter sein als die Bitch, die mir die Reifen aufgeschlitzt hat, oder die, die mein Apartment in Brand stecken wollte. »Weißt du«, sage ich. »Du erinnerst mich an meine Englischlehrerin in der sechsten Klasse.« Ich lege das Kinn auf ihren nassen Kopf, während sie das Gesicht in mein Shirt vergräbt und Trost bei einem Fremden sucht. Ausgerechnet bei mir. »Denn bei der habe ich auch immer kein Wort verstanden.«

Was in aller Welt soll ich mit ihr anfangen? Sie ist nicht auf die Art verrückt, die zu Nacktsein und fragwürdigen Entscheidungen führt, um ihren Vater zu ärgern, sondern eher auf die Art, die in Zwangsjacken endet und einer Biografie über das Aufwachsen in der Klapsmühle. Ich habe sie nach Hause gebracht. Lasse ich sie jetzt einfach da? Sie ist nicht mein Problem. Aber als sie die Arme um meine Taille legt, als würde sie sich im Sturm an einen Baum klammern, fühle ich mich verpflichtet. Dieses Bedürfnis, sie zu schützen vor was auch immer in ihrem Kopf vorgeht und sie dazu bringt, sich zitternd an mich zu drücken.

»Ich weiß nicht, was ich hier machen soll«, sage ich mit einem Lachen. Ich habe absolut keine Ahnung davon, wie man jemanden tröstet.

»Ich auch nicht«, seufzt sie. »Du bist eine gute Ablenkung.« Sie löst sich so weit von mir, dass sie zu mir aufblicken kann. »Ablenkungen sind nett.«

Ablenkung? Nun, das kann ich.

Ich lege die Hand um ihren Nacken, winde die Finger in ihr Haar und drücke meine Lippen auf ihre.

Sie macht ein Geräusch in meinem Mund, und zuerst halte ich es für ein Stöhnen, also mache ich weiter und schiebe meine Zunge zwischen ihre Lippen.

Sie stemmt sich gegen meinen Brustkorb. Nein. Es war kein Stöhnen.

Ich lasse sie los und trete einen Schritt zurück.

»Was machst du da?«, ruft sie schwer atmend. Ihre Augen sehen klarer aus. Total wütend, aber klarer. »Außer den Moment zu ruinieren.« Hinter dem Zorn und der Verwirrung ist noch etwas anderes. Hitze. Sehnsucht.

Mein Schwanz in der Jeans wird hart. Gut. Freut mich, dass ich nicht der Einzige bin, der es merkt.

Sie setzt sich auf die unterste Stufe. Ich lehne mich ans Geländer, zünde mir eine Zigarette an und zucke mit den Schultern. »Ich wusste nicht, was ich sonst tun soll. Du warst dabei, ein wenig aus dem Gleis zu geraten. Ich musste dich wieder auf Spur bringen, bevor du abstürzt. Ich bin nicht gut im Trösten. Habe ich noch nie gemacht. Und du sagtest, dass du eine Ablenkung willst.«

Ich könnte dich noch mehr ablenken.

Offensichtlich ist das Mädchen nicht ganz bei Verstand, und irgendwie ist das ansteckend, denn ich will sie doch auf keinen Fall noch mal küssen. Ich habe mein Leben lang nie ein Mädchen küssen wollen. Sex? Ja. Küssen? Niemals. Ist nicht mein Stil. Frauen traut man nicht, und man küsst sie nicht. Und diese Überzeugung würde ich auf der Bank anlegen.

Wenn ich an Banken glauben würde.

Was ich nicht tue.

Sie legt den Kopf schief und blinzelt. »Du wusstest nicht, was du tun sollst, also hast du mich geküsst?« Als könnte sie nicht fassen, dass ich von allen Dingen, die ich in dem Moment hätte tun können, ausgerechnet das getan habe.

Damit sind wir schon zwei, Kleine.

»Mach nicht mehr daraus, als es ist. Du siehst aus, als hättest du schon genug um die Ohren. Du bist ein sexy Mädchen. Und ich bin … na ja, ich eben. Ich habe dich geküsst. Kein großes Ding«, meine ich lässig und nehme einen tiefen Zug.

Sie legt die Fingerspitzen an die Lippen, und ich weiß, diesmal tut sie es nicht, um ihre Verletzung zu befühlen, sondern um sich daran zu erinnern, wie sich meine Lippen auf ihren anfühlten. Sie macht mehr daraus, als es ist.

Ich greife auf mein übliches Mistkerl-Ich zurück. »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde mich dir nicht aufzwingen. Verrückt, emotional und zu dünn ist nicht so mein Typ. Ich bevorzuge verrückt und willig, mit fragwürdigen Stellungen und fragwürdigen Typen zu experimentieren. Wie mir.«

Die meisten Mädchen würden mir jetzt eine ähnlich ausfällige Antwort an den Kopf werfen oder mich zumindest Arschloch schimpfen. Aber die Kleine hier starrt mich nur an, als wäre ich ein Geschöpf, das sie noch nie gesehen hat und das sie einzuordnen versucht. Sie schlingt sich die Arme um den Oberkörper, als könnten ihre dürren Ärmchen sie vor Leuten wie mir schützen. »Wie heißt du?«

Ich will gerade antworten, aber da wird meine Stimme übertönt vom Knallen von Schüssen. Mehrere Kugeln schlagen in die Einfahrt ein und wirbeln Bruchstücke von Muscheln auf, die mich ins Gesicht treffen und das Haar des Mädchens in weißen Staub hüllen. »Shit!« Ich packe ihre Hand und ziehe sie mit mir um das Haus herum zur Strandseite. Dort schiebe ich sie hinter eine dicke Palme, und gleichzeitig schlägt eine weitere Kugel in den Stamm ein, direkt über ihrem Kopf, und zum Muschelstaub rieselt ihr jetzt auch noch Rinde ins Haar.

»Was … was ist hier los?«, fragt sie. Sie klingt mehr als panisch, und ihre kleine Hand in meiner zittert.

Ich lasse ihre Hand los, greife nach meiner Waffe und prüfe das Magazin. »Die Dinger nennt man Kugeln. Aber vom Wer habe ich keine Scheißahnung.« Langsam spähe ich um den Baum herum. Mehrere bewaffnete Männer in Schwarz, die sich von links und rechts der Einfahrt Zeichen geben und langsam näher kommen. Noch eine Kugel streift die Rinde. Ich ziehe mich zurück und kauere mich mit dem Rücken an den Baum.

»Wieso hast du eine Waffe?«, flüstert sie und drückt sich die Hände auf den Mund, während sie die Waffe in meinen Händen beäugt.

»Echt jetzt?«, flüstere ich zurück. »Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«

»Wir wollen das Mädchen. Schick sie her, und wir sind wieder weg«, ruft eine Männerstimme in der Nähe.

»Mich?«, flüstert sie und deutet auf sich selbst. »Was könnten die von mir wollen?«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Willst du mir erzählen, dass hier ein Team bewaffneter Kerle steht, die deinetwegen hier sind, und du hast keine verdammte Ahnung, wieso?«, zische ich. Sie ist wirklich total irre.

Sie schüttelt den Kopf, und eine Träne läuft über ihre Wange. Plötzlich erstarrt sie am ganzen Körper. Ihre Augen werden groß, und mir ist klar, dass sie sich an etwas erinnert. Und dem Anblick nach zu urteilen ist dieses Etwas absolut nichts Gutes.

Ich knurre und riskiere einen weiteren Blick aus der Sicherheit des Baums. Ihre Gesichter sind im Schatten, aber ich kann ihre Positionen ausmachen. Ich zähle sechs Typen. Ich habe sechs Kugeln. »Ich war schon in schlimmeren Situationen«, erkläre ich und sehe dabei zu, wie sie immer näher kommen. Ich warte darauf, dass der Typ an der Treppe seinen Fuß auf den Sand setzt. Den werde ich als Ersten ausschalten. »Wir kommen hier raus …«

»Ich bin hier«, ruft sie da laut.

Ich fahre herum und sehe sie mit erhobenen Händen gut sichtbar für die Kerle dastehen. »Ich komme mit! Nicht schießen!«

Sie ergibt sich?

»Was zum Teufel machst du da?«, frage ich zähneknirschend. Das Mädchen ist heute schon einmal fast gestorben. Ist sie so entschlossen, das mit dem Sterben richtig durchzuziehen? Ich kenne sie nicht einmal, aber ich bin stinksauer, weil sie so schnell aufgibt.

Sie schaut mich mit traurigen Augen an und geht einen Schritt auf die Männer zu – einen Schritt von mir weg. »Ich kann dich nicht für mich sterben lassen. Du kennst mich doch nicht einmal.«

Ich höre, wie die Stiefel der Kerle Sand aufwirbeln, als sie heraneilen. Eine Träne läuft über ihre Wange. »Danke fürs Mitnehmen.«

Die Männer umringen sie, packen sie an den Schultern und drängen sie über den Sand zur Einfahrt. Sie versucht nicht einmal, sich zu wehren. Wer macht so was ohne jede Gegenwehr?

»Das ist Bullshit«, brumme ich vor mich hin.

Es spielt keine verdammte Rolle, ob ich sie kenne oder nicht. Wenn jemand auf dich schießt, dann kämpfst du, verdammt noch mal. Kann ja sein, dass das nicht die Natur des Menschen ist, aber es ist meine Natur.

Mit der Waffe im Anschlag trete ich hinter dem Baum hervor. Ein einziger Schritt, um der Gruppe zu folgen – und da kracht mir von hinten etwas Hartes an den Kopf.

Ich sacke unter dem Baum in den Sand wie eine nutzlose Kokosnuss.

2

Pike

Heute

Folter.

Laut Definition ist Folter das Zufügen unerträglicher Schmerzen, als Strafe, Rache, oder als Mittel, um ein Geständnis oder Informationen zu erhalten – oder aus reiner Grausamkeit.

Bisher war mein Leben nichts als Folter, ausgeteilt wie eingesteckt.

Natürlich ist es mir lieber, wenn ich der bin, der austeilt, aber im Moment habe ich es mit einer neuen Art von Folter zu tun, bei der es darum geht, meine Lieferung zu bergen. Eine Lieferung, die sich gegenwärtig in der Form von flüssigem Shit befindet. Und unglücklicherweise ist flüssiger Shit kein Codewort für etwas anderes.

»Wieso machst du das selbst? Hast du keine Leute für so was?«, fragt Nine.

Wir stehen vor einem großen Klärtruck, der hinter meinem Pfandhaus parkt. Die Straßenbeleuchtung ist schon an und summt, genau wie die Nachtinsekten, und erst vor ein paar Minuten ist die Sonne untergegangen. Leider ist der Geruch von Gras nach dem Nachmittagsregen nicht kräftig genug, um einen ganzen Truck mit menschlichen Fäkalien zu überlagern.

Ich mache meine Kippe aus, stecke die Arme in den kackbraunen Overall und ziehe ihn über meinen Klamotten zu. Nine tut dasselbe.

»Weil ich einen Mordsdeal habe. Von meiner Seite eine riesige Investition, und da lasse ich keinen anderen ran. Ich muss dabei sein.« Ich sehe meinen Freund an. »Du andererseits musst überhaupt nicht hier sein. Genau genommen habe ich dir gesagt, dass du nicht hier sein sollst. Was hast du eigentlich Poe erzählt, was du hier machst?«