Pilgern – Heil – Heilung -  - E-Book

Pilgern – Heil – Heilung E-Book

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Beschreibung

Die Beiträge des Bandes nähern sich dem komplexen Thema um Pilgern, Heil und Heilung aus unterschiedlichen Richtungen: Dabei geht es zunächst um die historischen Erfahrungen, von Wundergeschichten um den hl. Jacobus bis hin zu beispielhaften Pilgerspuren, welche die Suche nach Heil und Heilung verbinden. Hier wird die Verbindung von körperlicher Heilung und seelischem Heil konkret, ebenso wie liturgische Formen Heilssuche und Heilsvermittlung in einem festen religiösen Rahmen wiederfinden lassen. Auch die Gnadenmittel der Kirche werden vorgestellt, die "Heiligen Jahre" und die Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, die zu Heil und Heilung führen sollten. Die aktuellen Bezüge des Themas werden aus philosophischer Perspektive lebensnah betont, ebenso wie die therapeutische Wirkung des Pilgerns aus medizinischer Sicht beeindruckt. Die Vielfalt von Heilssuche und Heilserwerb im Spannungsfeld von Realität und Imagination erscheint zeitlos und erhält hier deutliche Konturen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven.

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Klaus Herbers / Peter Rückert (Hrsg.)

Pilgern – Heil – Heilung

Umschlagabbildung: Der Ritt des hl. Jacobus mit dem toten und dem lebenden Pilger (Parma, Bibliotheca Palatina, Ms. Misti B 24, fol. 1v)

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381101320

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0934-8611

ISBN 978-3-381-10131-3 (Print)

ISBN 978-3-381-10133-7 (ePub)

Inhalt

Pilgern – Heil – HeilungHeil oder Heilung? Wunder und Übernatürliches beim Pilgern1. Hinführung*2. Gemeinschaft, Liturgie – Aktivität und Wandel3. Befreiung zu neuem Leben4. Versprechen, Barmherzigkeit, Rettung5. Wunder und Wandel – Statt einer ZusammenfassungPilgern als LebenskunstAus dem Tal – Psychiatrie auf dem JakobswegJahreszyklus der AktivitätenDas Tal einer psychischen Krise1. Medizinische Dimension2. Psychologische Dimension3. Psychosoziale Dimension4. Somatische DimensionDer Jakobusweg als Therapie? Ausgewählte Ergebnisse zu gesundheitlichen Wirkfaktoren1. Gruppe bzw. soziale Faktoren2. Stress minimierende Faktoren3. Positive Selbstfürsorge4. Wandern5. Gewinn an WiderstandsressourcenStellenwert des Jakobusweges als therapeutischer WirkfaktorFazitHeil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie1. Auf dem Weg zum Pilgersegen: spätantike und frühmittelalterliche Zeugnisse der Pilgerliturgie2. Die Segnung von Pilgerinnen und Pilgern im Mittelalter2.1 Die „Benedictiones pro peregrino“ im Sakramentar von Gellone2.2 Die Pilgersegnung als pfarrliche Liturgie im Hoch- und Spätmittelalter3. Formen der Pilgerliturgie am Wallfahrtsziel4. Die Wallfahrt als nachtridentinisch geordnete Liturgie5. ResümeeHeilung durch Ablass? Heilige Jahre und Wege zum HimmelEinleitungDer Jubiläumsablass als Weg zum HeilDie ersten beiden Jubiläen, 1300 und 1350Das Jubiläum 1350Das Jubiläum und das SchismaDie Ablasskampagnen vor der ReformationDas Jubiläum 1500Epilog: Heilige Jahre außerhalb RomsHeilige Jahre in CanterburyHeilige Jahre in Santiago de CompostelaDas spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“1. Pilgern und Wallfahrt im Zusammenhang der religiösen Dynamik zwischen 1350 und 15202. Die Existenzweise des Pilgerns im Spannungsfeld von Bewegung zum Heil und Kommen der Gnade3. Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Zusammenhang einer allgemeinen Dynamisierung der „nahen Gnade“4. Wallfahrten, Ablässe und die nahe Gnade der Passion Christi5. Ausblick: Die Minimierung frommer Mobilität bis zur Stabilität der GnadenpräsenzHeilung und Genesung1. Zwischen Imagination und Wirklichkeit: Geistige (Pilger-)Reisen im Mittelalter2. Erwartungshorizonte (geistigen) Pilgerns3. Innere Wertigkeit und äußerer Wert: Stimmen zur Wirksamkeit geistigen PilgernsHeilung für Körper und Seele? Margarethe von Savoyen auf dem Weg nach Santiago de Compostela1. Einführung2. Zur Biographie der Margarethe von Savoyen3. Die Pilgerfahrten der Margarethe von Savoyen4. Die Pilgerreise nach Santiago de Compostela5. Heilung für Körper und Seele? Ausblick und FazitResúmenes / AbstractsRegister der Orts- und PersonennamenAbkürzungsverzeichnisAbbildungsnachweise

Pilgern – Heil – Heilung

Zur Einführung

Klaus Herbers und Peter Rückert

Stehen Benedikt und Jakobus mit dem Ort der Jahrestagung 2021, welche die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft vom 23. bis 26. September 2021 in Benediktbeuern unter dem Titel „Pilgern – Heil – Heilung“ abhielt, in einem engen Verhältnis? Ja und Nein. Bekannt und gerühmt sind die Hinweise der Benediktusregel, wie man an einem festen Ort Heil und Heilung erlangen kann. Der Ansatz der hier dokumentierten Tagung ging aber weniger von der ortsgebundenen Heilssuche aus, als vielmehr vom pilgernden Unterwegssein. Und dennoch inspirierte der Ort. Fast 1300 Jahre ist das Benediktinerkloster Benediktbeuern alt; um 739 unter Mitwirkung des hl. Bonifatius mit den Patrozinien Benedikt und Jakobus gegründet, um Missionierung und Urbarmachung des Loisachtals sicherzustellen. Benediktbeuern bietet eines der frühesten Jakobuspatrozinien in Deutschland überhaupt1.

Bischof Ulrich von Augsburg – Benediktbeuern liegt im Bistum Augsburg2 – richtete nach dem Ungarnsturm dann 955 ein Stift für Regularkanoniker ein, und erst 1031 kamen erneut Benediktiner aus Tegernsee ins Kloster. Es ist mithin ein Ort, der Geschichte atmet und der auch durch eine große Klosterbibliothek hervorsticht. Um 1250 sollen es etwa 250 Handschriften gewesen sein, darunter die bekannten „Carmina Burana“.

Nach einer Reformorientierung im 15. Jahrhundert gelangte das Kloster nach dem Dreißigjährigem Krieg wieder zu neuer Blüte: wirtschaftlich und kulturell. Zu erwähnen ist das Klostergymnasium, aber auch das commune studium, denn das Hochschulstudium der bayerischen Benediktinerkongregation war zeitweilig in Benediktbeuern untergebracht. Ab 1669 wurde die Klosteranlage erneuert, klingende Namen trugen zu der heute noch imposanten Barockanlage bei: Johann Baptist Zimmermann, Johann Michael Fischer, Hans Georg Asam und andere. Nach 1806 spielte Joseph von Fraunhofer eine Rolle, danach hatte das Kloster als Besitz des bayerischen Königreiches verschiedene Funktionen, bis die Salesianer Don Bosco 1930 die Anlage erwarben.

Das „Rad der Fortuna“ drehte sich mit diesem Tagungsort zugunsten unserer Ziele. Und dieses Rad kann man deshalb konkret ansprechen, weil Benediktbeuern mit den Beuerner Liedern, den „Carmina Burana“, verbunden ist, die besonders Carl Orff bekannt gemacht hat. Vielleicht wurde die Sammlung – wie der Dialekt der mittelhochdeutschen Teile verrät – teilweise in der Steiermark geschrieben, trotzdem verbindet sie sich eng mit Benediktbeuern.

Die heute in München aufbewahrte Handschrift aus dem 13. Jahrhundert3 bietet eigentlich das, was man vom Mittelalter gemeinhin nicht direkt erwartet: Spottgesänge, Liebes- und Trinklieder, ja auch geistliche Theaterstücke. Und Kirchenkritik gibt es zu Hauf: Ämterkauf und Geldgier von Kirche und Klerus werden angeprangert. Oder es wird das Liebeskonzil in Remiremont besungen. Hier bietet das Gedicht jeder „Frau Kardinal“ oder anderen Frauen ihren Auftritt. Weitere Gedichte zum presbyter cum sua matrona, dem Priester mit seiner Ehefrau, oder Visionen vom utopischen Schlaraffenland oder Vagantenlieder, die im aufkommenden Universitätsleben eine Rolle spielen sollten, eröffnen ein breites Panorama. Das „Rad der Fortuna“, das auch die Handschrift schmückt, verdeutlicht aber, wie schnell man unten oder oben sein kann (Abb. 1).

Was bietet das Bild mit dem Rad der Fortuna für den vorliegenden Sammelband „Pilgern – Heil – Heilung“? Ist es so, dass wir unten erdrückt liegen und das Schicksalsrad uns plötzlich nach oben katapultiert – oder auch umgekehrt? Wer dreht denn das Rad? Oder können wir doch selbst etwas dazu beitragen, um nach oben zu kommen? Der Pilgergesang aus dem Codex Calixtinus Dum pater familias4 vermittelt eine weitere Perspektive (Abb. 2): Hier steht zwischen den Strophen der Satz mit deutschen und lateinischen Worten: Herru Sanctiagu, got Sanctiagu, e ultreia, e suseia, deus aia nos5– „Herr Santiago, guter, großer (?) Santiago, und weiter, und aufwärts. Gott helfe uns“.

Abb. 1: Das Rad der Fortuna in der Handschrift der „Carmina Burana“, 13. Jahrhundert (Bayerische Staatsbibliothek München Clm 4660, fol. 1r)

Abb. 2: Codex Calixtinus, 12. Jahrhundert (Archiv der Kathedrale von Santiago de Compostela, fol. 222r)

Aus dieser Perspektive scheinen eher Jakobus und Gott zu helfen, um weiter und aufwärts zu kommen. Bedeutet „Pilgern – Heil – Heilung“, dass wir uns beim Pilgern fallenlassen können oder dass wir uns aufrichten oder aufgerichtet werden? Inwiefern bedarf es bei diesen Prozessen der eigenen Mitwirkung? Ein früher angedachter Titel der Jahrestagung in Benediktbeuern lautete: „Pilgern tut gut“ – aber warum? Wie geschieht das? Welche Gnadenmittel gibt es dazu?

Sowohl das Programm der Tagung als auch die Beiträge des Bandes sind verschiedene Näherungsversuche, die das Thema keinesfalls vollständig ausleuchten. Mehrere Aufsätze thematisieren die historischen Erfahrungen, von Wundergeschichten des Jakobsbuches (Klaus Herbers) bis hin zu neuen, bisher unbekannten Pilgerspuren der Margarethe von Savoyen (Peter Rückert). Diese beiden Untersuchungen bieten damit den Rahmen des Bandes.

Geht es in den zentralen Wundergeschichten des „Liber Sancti Jacobi“ nur darum, wie körperliche Heilung erreicht wird? Natürlich nicht, aber wie stellte man die Verbindung von körperlichem und seelischem Heil her, wie war beides aufeinander bezogen? Der Aufsatz von Klaus Herbers fragt damit zugleich danach, in welchen Vorstellungswelten mittelalterliche Pilger und die darüber schreibenden Autoren sich bewegten, welche Rolle der Pilger selbst einnahm, um etwas als Wunder, als Heil und Heilung wahrzunehmen.

Ob und inwieweit die Reisen der Margarethe von Savoyen von ähnlichen Vorstellungen bestimmt waren, können wir nur vermuten. Die neuen Spuren der Pilgerbewegung, die Peter Rückert aus dem Quellenkorpus zu dieser adeligen Frau erschließt6, zeigen jedenfalls, wie verbreitet die Sehnsucht nach Heil und Heilung war, wie sehr vielleicht auch gerade im späten Mittelalter die Kraftquelle Pilgern den Lebensrhythmus der Menschen in allen sozialen Gruppen bestimmte. Hier wird die Verbindung von körperlicher Heilung mit seelischem Heil konkret: in den weiten Reisen der Margarethe von Savoyen, die gezielt Heilbäder, Kuraufenthalte und Wallfahrtsziele verbanden.

Bis heute bleibt für viele, die sich auf den Weg machen, bestimmend, wie Pilgern gleichsam zur Therapie werden kann. Wilhelm Schmid stellt in seinem breiten philosophischen Umblick viele Ansatzpunkte zum Problemkreis vor, inwieweit Pilgern in seiner Vielfalt und in seinen Erscheinungsformen menschlichen Sehnsüchten entgegenkommt. Damit greift er aktuelle Fragen der Lebensführung auf, die nicht nur Christen bis heute umtreiben.

Therapie kann aber auch sehr konkret medizinisch bzw. psychologisch gefasst werden. Beate Brieseck überschreibt ihren Forschungsbericht mit den bezeichnenden Worten „Aus dem Tal“ und lässt uns an ihren spannenden Erfahrungen teilhaben, die sie mit Betroffenen des Marienhospitals Eickel gemacht hat. Der Pilgerweg nach Santiago wurde dabei zum gemeinsamen Erlebnis mit therapeutischer Wirkung. – „Psychiatrie auf dem Jakobsweg“ lautet entsprechend der programmatische Untertitel des Beitrags.

Nicht nur die Medizin ist gefragt, um zu erläutern, wie Heil und Heilung unterstützt werden können. Liturgische Formen bringen Heilssuche und Heilsvermittlung in einen festen religiösen Rahmen. Jürgen Bärsch stellt dies an speziellen „Liturgien der Wallfahrt“ vor. Dabei sind mittelalterliche Formen deutlich von nachtridentinischen Ordnungen zu unterscheiden, etwa beim Aufbruch zur Pilgerfahrt, dem „Pilgersegen“, oder bei der Pilgerliturgie am Wallfahrtsziel. „Heil“ und „Heilung“ werden so als theologische Kategorien in der Praxis der Pilgerliturgie fassbar.

2021/22 war in einmaliger Weise ein doppeltes Heiliges Jahr. Wie stand man früher und wie steht man heute zu den institutionellen Gnadenmitteln? In Santiago wird das Angebot bis heute genutzt. Müssen wir unser Verständnis vom Ablass, das immer noch sehr von den Diskussionen um die Reformation geprägt ist, vielleicht überprüfen? Christiane Laudage zeigt die Entwicklungswege und Variationen des Ablasses, der als Gnadenmittel in der katholischen Kirche verschiedene Ausprägungen erfahren hat und noch heute ausweist. Der daran anschließende Aufsatz von Berndt Hamm bettet diese verschiedenen Entwicklungen in die Frömmigkeitstheologie der Zeit vor der Reformation ein, indem er die räumliche Mobilität der spätmittelalterlichen Gesellschaft mit dem Konzept der „nahen Gnade“ in Verbindung bringt.

Muss man aber dazu in körperlicher Bewegung sein? Vielleicht geht es bis heute auch darum, gerade in Zeiten einer Pandemie, die wir noch immer nicht überwunden haben, das Heil nicht nur an einem ausgewiesenen Gnadenort, wie in Santiago, zu suchen? Die Möglichkeiten, um im Geiste zu pilgern, stellt Julia Burkhardt vor und bietet damit wichtige Einblicke in die Vielfalt von Heilssuche und Heilserwerb im Spannungsfeld von Realität und Imagination. Dabei unterstreicht sie die Heilswirksamkeit geistigen Pilgerns im Mittelalter, das sowohl spirituelle Heiligung wie auch seelisch-körperliche Genesung versprechen konnte.

Die Vorträge, die in Benediktbeuern gehalten wurden, sind damit bis auf zwei in diesem Band dokumentiert. Für die Drucklegung hinzu kam der Beitrag von Berndt Hamm, der bei der Tagung nicht vorgetragen werden konnte und hier in wünschenswerter Weise die zentrale Problematik um „Heil“ und „Heilung“ in die Frömmigkeitsgeschichte des späten Mittelalters einordnet. Die aktuellen Bezüge des Tagungsthemas wurden in Benediktbeuern durch eine angeregte Podiumsdiskussion vertieft, die Barbara Massion moderierte. Dieses Gespräch, Begrüßung und Einführung können mit weiteren Eindrücken von der Tagung auch weiterhin online abgerufen werden7.

Abschließend danken wir für die vielfältige Hilfe des Präsidiums der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft und der lokalen Institutionen bei der Vorbereitung der Tagung, die wir in instruktiver Kooperation mit der Katholischen Akademie München (Dr. Astrid Schilling) veranstaltet haben. Der Dank geht aber hier vor allem an die Vortragenden, die ihre Beiträge zügig zur Verfügung stellten, sowie an Linus Schreiber, der sie (einschließlich der Abstracts) noch redaktionell bearbeitete und auch das Register fertigte. Die Überarbeitung der spanischen „Resúmenes“ verdanken wir Dr. Manuel Santos Noya. Schließlich ist die bewährte Zusammenarbeit mit dem Narr Francke Attempto Verlag und besonders mit Stefan Selbmann dankend hervorzuheben, die eine gediegene Drucklegung dieses Bandes der Jakobus-Studien sicherstellte.

 

    Die Herausgeber

Heil oder Heilung?

Wunder und Übernatürliches beim Pilgern

Klaus Herbers

1.Hinführung**

Es soll ein kleiner Akt des Widerstandes gewesen sein, wenn man im nationalsozialistischen Deutschland auf den Gruß „Heil Hitler“ geantwortet haben soll: „Heil Du ihn“. Hört man genauer hin, so wird hier Heil und Heilung unterschieden. Aber sind die beiden Stichwörter unserer Tagung und auch meines Beitrages überhaupt eindeutige Gegensätze? Oder sind sie nicht eher Facetten einer gleichen Medaille? Wenn man den Faden mit dem deutschen Wortfeld weiter fortspinnt, könnte man sogar das Wort Heiligung hinzufügen. Sucht man im Lateinischen und den romanischen Sprachen, dann entspricht salus dem Heil. Da salus auch die Gesundheit bedeutet, rücken Heil und Heilung noch näher zusammen. Die Heilung an Leib und Seele führt zur Gesundheit und zum Heil.

Soweit so gut. Dass Pilger zu allen Zeiten einen Zustand von Heil, Glück, Ausgeglichenheit aber auch von körperlichem Wohlbefinden suchten, wiederherstellen oder neu entdecken wollten, scheint zunächst auf der Hand zu liegen. Aber was trieb und treibt sie in ihren Hoffnungen an, diesen Zustand wirklich zu erreichen? Warum finden oder fanden sie das beim Pilgern? Ist da zum Beispiel eine Kur, sind Exerzitien nicht zielgerichteter? Ist es das Laufen, ist es das Ziel?

Pilgermotive sind vielfältig, früher wie heute1. Die Teilnehmer der Tagung „Pilgern – Heil – Heilung“ in Benediktbeuern haben fast alle selbst ihre Erfahrungen mit dem Pilgern gemacht, vielleicht oder sicher wurden dabei auch Prozesse angestoßen, die ihrem Leben eine andere Richtung gaben.

Ich möchte in diesem Beitrag Pilgern vor allem als Prozess von leiblicher und zugleich seelischer Heilung verstehen. Mit dieser Doppelperspektive, die ich als Historiker stärker aus Beispielen der Vergangenheit entwickeln möchte, soll zugleich eine Brücke zu den beiden folgenden Beiträgen geschlagen werden, die dann Heilung und Therapie aus aktueller Perspektive in den Blick nehmen. Dabei will ich mit drei verschiedenen Schlaglichtern dem Thema ein wenig näherkommen.

2.Gemeinschaft, Liturgie – Aktivität und Wandel

Wie geschieht Heilung? Trotz vieler medizinischer Untersuchungen wissen wir vieles nicht, bleibt manches für uns unerklärlich, geschieht zuweilen Unerwartetes. Was löst Heilungsprozesse aus? Schon in der Bibel werden diejenigen Momente, die etwas Unvorhergesehenes, etwas nicht Erwartbares belegen, als Wunder qualifiziert. Theologisch ist das ein wenig komplizierter, denn man hat lange darüber gestritten, was denn ein Wunder sei. Aber angesichts der jesuanischen Wunder war eine Auseinandersetzung gefordert. Die Theologen wollten vor allen Dingen klären, ob ein Wunder sich gegen oder jenseits der Natur ereigne (und damit war auch eine Abgrenzung gegenüber der Magie verbunden). Ereignen sich Wunder contra oder praeter naturam fragte sich schon Augustinus. Nicht gegen die Natur war seine Antwort, sondern er verstand es als etwas, was außerhalb natürlicher Vorgänge stattfand. In seinem „Gottesstaat“ unterstreicht er, dass Wunder vor allem die Allmacht des trinitarischen Gottes und seine Gegenwart im Geschichtsverlauf dokumentieren1.

Vor knapp 20 Jahren haben Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel ein mutiges Buch zu Wunderheiligungen im Mittelalter vorgelegt, die sie im Untertitel als eine historisch-psychologische Annäherung bezeichnet haben. Bei den 454 Fällen, die sie untersuchen, erfassen sie Heilungsverläufe, Alter und Geschlecht und fragen immer wieder explizit, inwieweit Phänomene wie Telepathie, Prophetie, Psychokinese bei den verschiedenen Heilungsverläufen eine Rolle spielten2.

War dies auch beim Pilgern nach Compostela wichtig? Wenn wir die Dokumentation sichten, so fällt eines sehr auf: Jakobus hilft, aber heilt er auch? Der Pilgerführer des 12. Jahrhunderts kennzeichnet Kirche und Grab nach deren eingehender baulicher Charakterisierung folgendermaßen:

Die Kirche leuchtet seit der Zeit, in der sie begonnen wurde, bis zum heutigen Tag durch den Ruhm der Wunder des seligen Jakobus; denn Kranken wird darin Gesundheit geschenkt, Blinden das Augenlicht wiedergegeben, die Zunge der Stummen wird gelöst, Tauben öffnet sich das Ohr, Lahmen wird der rechte Gang zurückgegeben, vom Teufel Besessenen wird Befreiung zuteil, und, was bedeutender ist, die Gebete der Gläubigen werden erhört, Gelübde werden angenommen, die Fesseln der Sünde lösen sich, denen, die anklopfen, öffnet sich der Himmel, Trauernden wird Trost gespendet, und alle fremden Völker aus allen Gegenden der Erde strömen dort in Scharen zusammen und überbringen dem Herrn Geschenke des Lobes3.

Interessanterweise werden im ersten Teil der Sammlung4 in der Predigt Veneranda dies ganz ähnliche Formulierungen verwendet:

Die heilige Tugend des Apostels, die von der Jerusalemer Gegend übertragen wurde, erstrahlt im galicischen Vaterland durch göttliche Wunder. Bei seiner Basilika werden nämlich immer wieder vom Herrn durch ihn göttliche Wunder gewirkt. Kranke kommen und werden geheilt, Blinde sehend gemacht, Lahme aufgerichtet, Stummen wird die Sprache geschenkt, vom Teufel Besessene werden befreit, Traurige werden getröstet, was jedoch noch bedeutender ist: die Gebete der Gläubigen werden erhört, die schweren Lasten der Vergehen genommen und die Fesseln der Sünder gelöst5.

Es ist offensichtlich, dass die hier genannten Heilungen den biblischen Geschichten entsprechen: Blinde sehen, Lahme gehen usw. Das gehörte offensichtlich zum Werbeprogramm – so könnten diese Geschichten auch gelesen werden – eines Pilgerzentrums einfach dazu. Die Predigt Veneranda dies schließt aber kurz nach dieser relativ schematischen Auflistung eine längere Passage an, die ein bisschen tiefer blicken lässt:

Mit übermäßiger Freude bewundert man die Pilgerscharen, die beim ehrwürdigen Altar des hl. Jakobus Nachtwache halten: […]; sie stehen in Gruppen und halten brennende Kerzen in den Händen, so daß die ganze Kirche wie durch die Sonne an einem hellen Tag erstrahlt. Nur mit seinen Landsleuten vollzieht jeder die Nachtwache. Manche spielen Leier, Lyra, Pauke, Quer- und Blockflöte, Posaune, Harfe, Fiedel, britische oder gallische Rotta, andere spielen Psalterien; manche singen – von verschiedenen Musikinstrumenten begleitet – während der Nachtwache; manche bedauern ihre Sünden, lesen Psalmen oder geben den Blinden Almosen.

Man hört dort die verschiedensten Sprachen, verschiedene Stimmen in fremden Sprachen, […]. Die Vigil wird auf diese Art nachdrücklich gefeiert, manche kommen, manche gehen und opfern verschiedene Gaben. Wer traurig herkommt, zieht froh zurück. Dort werden die Feierlichkeiten ununterbrochen begangen, das Fest vorbereitet, die berühmten Riten Tag und Nacht vollzogen; Lob, Jubel, Freude und Preis beständig gesungen. Alle Tage und Nächte gleichen einem ununterbrochenen Fest in steter Freude zur Ehre des Herrn und des Apostels. Die Türen dieser Basilika bleiben Tag und Nacht unverriegelt, und die Dunkelheit kehrt doch niemals ein, weil sie durch das helle Licht der Kerzen und Fackeln wie am Mittag leuchtet. Dorthin begeben sich Arme, Reiche, Räuber, Reiter, Fußgänger, Fürsten, Blinde, Gelähmte, Wohlhabende, Adlige, Herren, Vornehme, Bischöfe, Äbte, manche barfuß, manche mittellos, andere zur Buße mit Ketten gefesselt.

Manche, wie die Griechen, tragen ein Kreuz in ihren Händen, andere geben ihre Habe den Armen, andere bringen Eisen oder Blei zum Bau der Kathedrale des Apostels mit, wieder andere tragen auf den Schultern Ketten oder Handfesseln, von denen sie durch den Apostel aus den Gefängnissen der Tyrannen befreit wurden; so üben sie große Buße und beklagen ihre Missetaten. Dies ist das erwählte Geschlecht, das heilige Volk Gottes […]6.

Wunder und Nachtwachen gehörten offensichtlich zusammen. Hier wird ein Szenario entworfen, das schon fast an die Apokalypse und das himmlische Jerusalem gemahnt. Die Türen der Basilika schließen nicht; in der Apokalypse (Apk 21,25) heißt es: Und ihre Tore werden tagsüber niemals geschlossen; Nacht wird es ja dort nicht geben. Aber noch einige weitere Aspekte der Nachtwachen sind bemerkenswert: Die Kirche erstrahlt wie am hellen Tag, man beklagt seine Sünden, Gaben werden geopfert, das Fest entsteht, denn die Riten werden Tag und Nacht vollzogen – die Nächte werden zu einem „ununterbrochenen Fest“; mit Kerzen wird die Dunkelheit vertrieben. Es lässt sich fragen, inwieweit hier nicht – wie in anderen Mirakelgeschichten auch7 – antike Formen der incubatio, des Tempelschlafes, aufgegriffen wurden8.

Die in der Predigt des Jakobsbuches geschilderten semi- oder paraliturgische Feiern bringen offensichtlich die Pilger gemeinschaftlich in einen Zustand, der für Übernatürliches empfänglich macht. Nachtwachen, Halbschlaf, Traum bieten die Voraussetzungen, um Übernatürliches wahrzunehmen. Dabei mischen sich diejenigen, die schon Wunderbares erfahren haben, mit ihrem Dank, und diejenigen die Heil erfahren möchten, mit ihren Bitten. Bitten und Danken gehören zusammen. Wie aber ist zu bitten, um zum Heil zu gelangen? Der Text fährt fort:

Man glaubt nämlich, daß derjenige, der würdig und reinen Herzens zum Gebet an den ehrbaren Altar des hl. Jakobus in Galicien geht und wahrhaftig Buße übt, vom Apostel die Lossprechung von seinen Sünden und vom Herrn Vergebung erhält.[…]9.

Es geht um Gebet, Buße und Reue, um zum wahren Heil zu gelangen, der Lossprechung der Sünden und göttlichen Vergebung, denn laut dem folgenden Bibelzitat habe der Herr selbst den Aposteln ja die Gewalt gegeben: Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben (Jo 20,23). Und dann wird dies noch einmal in den gemeinschaftlichen Kontext gestellt:

Wie glückselig sind jene, die bei Gott einen solchen Fürsprecher und Gnadenspender haben. Warum zögerst du, Freund des hl. Jakobus, nach diesem Ort aufzubrechen, wo sich nicht nur alle Völker und Sprachen treffen, sondern auch die Engelchöre zusammenkommen und die Sünden der Menschen vergeben werden? Niemand kann die Zahl der Wohltaten aufzählen, die der Apostel allen gewährt, die ihn wahren Herzens bitten […]10.

Jakobus wird Fürsprecher und Gnadenspender, intercessor und remissor, so der lateinische Text. Und den Pilgerscharen entsprechen die Chöre der Engel. Dann folgt erneut eine ganze Auflistung vielfältiger Wunder, die sich dort, aber auch anderswo ereignen. Unterstrichen wird, dass der Mensch sich wandelt.

In den 22 einzelnen Jakobswundern wird so etwas kaum beschrieben, aber eine Erzählung gibt es, die aufschlussreich sein könnte. Sie handelt von einem gelähmten Mann.

Von dem gelähmten Mann, dem der selige Apostel in seiner Basilika erschien und den er fürsorglich wieder gesund machte […]

Zu unserer Zeit litt ein berühmter Mann aus Burgund namens Guibert von seinem vierzehnten Lebensjahr an unter einer solchen Schwäche seiner Gliedmaßen, dass er keinen Schritt tun konnte. Man legte ihn auf zwei Pferde, und mit seiner Frau und seinen Dienern brach er zum hl. Jacobus auf. Dort war er im Spital des Apostels untergebracht, denn er wollte nirgendwo anders wohnen. Im Schlaf wurde er aufgefordert, er solle so lange in der Kirche des seligen Jacobus im Gebete verharren, bis dieser seine gelähmten Glieder gestreckt hätte. Als er nun in der Basilika des Apostels zwei Nächte lang gewacht hatte und auch in der dritten Nacht im Gebete verharrte, kam der selige Jacobus, faßte ihn an der Hand und richtete ihn auf. Der Mann fragte ihn, wer er sei. „Ich bin“, sagte er, „Jacobus, der Apostel Gottes.“ Danach war der Mann geheilt. Er wachte weitere dreizehn Nächte in der Kirche des Heiligen und verkündete allen laut, was geschehen sei […]11.

Hier wird sehr deutlich, wie Traum, Nachtwachen, Bittgebet und Dank ineinandergreifen.

Einige Aspekte scheinen mit Blick auf Heil, Heilung und Heiligung als Zwischenbilanz wichtig. Pilgerfahrten als Bitt- oder Dankpilgerfahren sind eng mit dem Aspekt der Buße verbunden. Zwei Aspekte seien hervorgehoben.

Pilgern führt gerade am Zielort zu Gemeinschaftsakten, zu paraliturgischen Formen, die Personen unterschiedlichster Herkunft in einer dennoch gemeinsamen Haltung zusammenbringen und damit ein Stück Himmel auf Erden aufscheinen lassen.

Theologisch bestimmte Autoren wie diejenigen des Liber Sancti Jacobi stellen die Heilung der Seele und die Vergebung der Sünden in den Vordergrund, die vom Pilger aber wiederum ein aktives Mittun verlangen und zu einem Neuanfang, einem Wandel, führen.

3.Befreiung zu neuem Leben

„[…] andere tragen auf den Schultern Ketten oder Handfesseln, von denen sie durch den Apostel aus den Gefängnissen der Tyrannen befreit wurden […]“, so hieß es im Zitat zu den Nachtwachen1. Eine Befreiung aus Gefangenschaft ist auch stets metaphorisch zu verstehen und bedeutet einen Schritt zum Heil. Dieser Aspekt wird auch zuweilen in der Sammlung der angeblich schönsten Wunder2 des Apostels Jakobus unterstrichen. Ich stelle das letzte Wunder dieser Sammlung kurz vor.

Von dem Mann, der dreizehn Mal verkauft wurde und ebenso oft durch den Apostel befreit wurde […]3

 

Im Jahre des Herrn 1100, so wird erzählt, kam ein Bürger von Barcelona auf einer Pilgerfahrt zu der Basilika des hl. Jacobus nach Galicien. Er erbat von dem Apostel lediglich, er möge ihn von jeder feindlichen Gefangenschaft befreien, in die er geraten könnte. Dann kehrte er nach Hause zurück. Auf einer Handelsfahrt nach Sizilien wurde er dann auf dem Meere von Sarazenen gefangen genommen. Und was geschah? Auf Märkten und Messen wurde er dreizehn Mal zum Verkauf angeboten und gekauft. Die Käufer aber konnten ihn nicht halten, denn jedesmal zerbrach der selige Jacobus seine Ketten und Fesseln, […] zum dreizehnten Mal schließlich in der Stadt Almería. Dort wurde er von einem Sarazenen mit doppelten Ketten an den Beinen gefesselt. Als er nun den seligen Jacobus mit lauter Stimme anflehte, erschien dieser und sprach: ‚Weil du damals in meiner Basilika nur um das Heil deines Leibes, nicht aber für das deiner Seele gebeten hast, bist du in all diese Fährnisse geraten. Gott aber hat Erbarmen mit dir, und er hat mich zu dir gesandt, um dich diesem Kerker zu entreißen.‘

 

Der Apostel brach die Ketten entzwei und entschwand alsbald aus seinen Augen. So machte er sich, von den Fesseln befreit, auf und durchquerte Städte und feste Plätze der Sarazenen, ein Stück der Kette als Zeugnis eines solchen Wunders in den Händen haltend, und wanderte vor den Augen der Sarazenen in den christlichen Teil des Landes. Wenn ihm ein Sarazene begegnete und versuchte, ihn gefangen zu nehmen, zeigte er ihm nur das Stück Kette, und alsbald floh sein Gegner vor ihm. […] Diesen Mann habe ich selbst wirklich zwischen Estella und Logroño getroffen, als er erneut zum Grabe des seligen Jacobus pilgerte. Er wanderte mit bloßen und wunden Füßen, die Kette in der Hand haltend, und hat mir dies alles erzählt. Dieses ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder in unseren Augen4.

Der Schluss der Geschichte zeigt, wie das Wunder selbst Wandlungen hervorrief, denn nach seinen Fährnissen in der muslimischen Welt pilgerte der ehemalige Kaufmann mit Ketten in der Hand, weil Jakobus als Gefangenenbefreier wirkte. Auch hier wird deutlich, dass Wunder offensichtlich Langzeitwirkungen hatten und zu Dankpilgerfahrten führten. Natürlich spielt diese Geschichte auf die zeitlich wichtige politisch-religiöse Situation der Iberischen Halbinsel an, die sogenannte Reconquista5 war in vollem Gange, bald sollte ein Ritterorden diese Aufgaben auch im Namen des hl. Jakobus übernehmen6. Aber Jakobus ist noch kein Maurentöter, sondern Gefangenenbefreier; später nahmen eigene Orden wie die Mercedarier im Mittelmeerraum diese Aufgaben wahr7. Liegt das eigentliche Wunder dann in der Wundergeschichte des Liber S. Jacobi darin, dass der Kaufmann wieder frei wurde und seinen Blick auf anderes als seine Geschäfte richtete? Die anschließende Moral, die der Geschichte noch angefügt wird, scheint dies zu unterstreichen:

Dieses Exempel betrifft alle diejenigen, die von Gott und den Heiligen eine Frau, irdisches Glück oder Lehen oder Geld oder den Tod ihrer Feinde oder ähnliche eitle Dinge erbitten, die nur zum Nutzen des Leibes dienen, nicht aber zum Heil der Seele. Wenn schon Dinge für leibliche Bedürfnisse erstrebenswert sind, dann gibt es viel Wichtigeres: Das Heil der Seele, rechte Tugenden, wie Glaube, Hoffnung, Liebe, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Gastlichkeit, Freigiebigkeit, Demut, Gehorsam, Friedfertigkeit, Beharrlichkeit und andere solche Werte, damit die Seele im himmlischen Reich gekrönt werde. Das möge der gewähren, dessen Herrschaft und Reich ohne Ende währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen8.

Glaube, Hoffnung und Liebe, die Kardinaltugenden stehen als Stichworte für das Heil der Seele. Leibliches Wohlergehen wird nicht gering geachtet oder verdammt, scheint aber allein ungenügend. Und noch etwas: Der Kaufmann erzählt von seinem Wandel, zwischen Estella und Logroño. Von Wundern erzählen: Ereignen sich vielleicht nur Wunder, Heilung, Wandel, wenn wir auch davon erzählen?

4.Versprechen, Barmherzigkeit, Rettung

Blicken wir auf die Jakobusmirakel insgesamt, dann unterscheiden sich diese Geschichten merklich von den Sammlungen anderer Pilgerzentren: Krankenheilungen am Ort werden nur generell, kaum als einzelne Geschichten verzeichnet. Jakobus bewirkt offensichtlich häufiger als andere Heilige Übernatürliches. Er bewahrt zwar vor Krankheit (9,12,21), sogar vor Unfruchtbarkeit (3) und besonders Tod (3,5,17), aber besonders häufig hilft Jakobus gegen verschiedene Gegner in der Schlacht, auf See oder in der Gefangenschaft1. Schließlich ist Jakobus aber Pilgerpatron – der Weg ist weit und gefährlich, deshalb dürfte das Besondere darin liegen, dass seine Wundererzählungen die Angst vor dem Weg nehmen sollen und schon den Weg zu einem Weg der Wunder werden lassen. Dies verdeutlicht gut das vierte Wunder der Sammlung von einer Pilgergruppe aus Lothringen, das hier kurz zusammengefasst sei:

30 Ritter aus Lothringen planten eine gemeinsame Pilgerfahrt nach Compostela, und außer einem von ihnen schworen sich alle gegenseitig die Treue. Als sie in die Gascogne kamen, wurde einer der Männer krank. Die Ritter, die den Treueschwur geleistet hatten, trugen ihn mit sich bis zum Cisa-Pass, wodurch ihre Reise 15 anstatt der üblichen fünf Tage dauerte. Dort verließen sie den Gefährten. Derjenige von ihnen jedoch, der keinen Eid geschworen hatte, blieb bei dem Kranken – eine Erzählung, die an das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter denken lässt. Gleichwohl, der kranke Ritter starb in dieser Nacht und wurde vom heiligen Jakobus ins Paradies geleitet. Weil ihn in der Einsamkeit die Angst überkam, erflehte der treue Ritter die Hilfe des heiligen Jakobus. Der Apostel erschien ihm daraufhin im Gewand eines Ritters und brachte beide, den Toten und den loyalen Ritter, im Verlauf der Nacht auf seinem Pferd nach Compostela, damit der Verstorbene dort begraben werden konnte. Nachdem der treue Ritter sein Gebet beendet hatte, trug der Apostel ihm auf, den anderen bis nach León entgegenzugehen und ihnen zu erklären, dass ihre Pilgerfahrt nichts wert sein, wenn sie keine Buße täten. Der Auftrag wurde ausgeführt, und die anderen Reisegefährten leisteten daraufhin eine ihnen vom Leoneser Bischof auferlegte Busse, bevor sie ihren Weg nach Compostela fortsetzten2.

Auch hier geht es um Unterweisungen, denn schon am Anfang heißt es in einem vorgeschalteten Satz: „In diesem Wunder des hl. Jacobus Zebedaeus, Apostel von Galicien, wird als wahr erwiesen, was die Heilige Schrift bezeugt: ‚Es ist besser, keinen Eid zu leisten, als den gegebenen zu brechen‘“ (Koh 5,4).

Und am Ende heißt es:

Durch dieses Wunder ist bewiesen, dass alles, was wir Gott geloben, freudig zu erfüllen ist, denn der, der ein würdiges Gelübde ablegt, erwirbt Wohlgefallen beim Herrn. Das gewähre Jesus Christus, unser Herr, der mit dem Vater und dem Heiligen Geiste lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen3.

Neben Eid, Gelübde, Treue, Fürsorge und Vertrauen thematisiert die Geschichte Weiteres: Die Abneigung gegen die Basken, die Mühen der Bergüberquerung, die Länge des Weges und die Buße der Gefährten, denn einfach weiter zu pilgern und so weitermachen wie bisher, erscheint nicht zielführend. Pilgern kann nicht nur mit den Füßen geschehen, sondern muss zugleich Herz, Seele und Verstand einschließen. Aber die Wundererzählung bietet auch eine Geschichte von Leben und Tod, von Hilfe am Weg. Und das Wunder erfährt derjenige, der sein Sinnen auf Gott und Jakobus gerichtet hat.

Die Geschichte ist vielfach weiter erzählt worden, fast alle Sammlungen nehmen sie seit dem 13. Jahrhundert in ihr Repertoire auf4. Beeindruckend ist vor allem die Darstellung in einer Handschrift aus Parma, die den Apostel mit dem toten und lebenden Pilger auf seinem nächtlichen Ritt zeigt (Abb. 1).

Abb. 1:

Der Ritt des hl. Jacobus mit dem toten und dem lebenden Pilger (Parma, Bibliotheca Palatina, Ms. Misti B 24, fol. 1v)

5.Wunder und Wandel – Statt einer Zusammenfassung

Was können wir aus den Bemerkungen des 12. Jahrhunderts ableiten und folgern? Wie werden Wunder heute gesehen? Katja Ebstein sang beim Eurovision Song-Contest 1970 Folgendes:

Wunder gibt es immer wieder

heute oder morgen

können sie geschehn.

Wunder gibt es immer wieder

wenn sie dir begegnen

mußt du sie auch sehn.1

Wunder geschehen – aber warum beim Pilgern? Die Frage nach Heil und Heilung, danach, warum Pilgern guttut, sollte noch einmal den Blick kurz auf die anfangs vorgestellte Predigt lenken, aus der ich eine kleine Passage weggelassen habe:

Viele nämlich pilgerten zu ihm als Arme, die später wohlhabend geworden sind, viele Hinfällige wurden gesund, viele Zerstrittene später einig, viele Ungerechte fromm, viele Wollüstige keusch, viele Weltmenschen wurden Mönche, viele Geizige freigebig, viele Wucherer verteilten später ihre Habe, viele Hochfahrende wurden leutselig, viele Lügner ehrlich, viele, die andere ausraubten, verteilten danach ihre Kleider an die Armen, viele Meineidige wurden ehrbar, viele, die falsches Zeugnis ablegten, bezeugten später die Wahrheit, viele unfruchtbare Frauen gebaren später Kinder, viele Bösewichter wurden mit Gottes Hilfe zu Gerechten. So wurde die Stadt Compostela durch die Fürsprache des hl. Jacobus zur geheiligten Stätte […].2

Sieht man sich diese Aufzählung an, dann scheinen die Wunder im Wandel zu liegen. Um zum Titel dieses Aufsatzes zurückzulenken: Heil und Heilung, Wunder und Wandlung gehören zusammen. Pilgern kann zum Wandel der Person führen, vor allem dann, wenn Pilgern auch etwas mit dem je eigenen Leben zu tun hat. Wie der Wandel ausfallen kann, haben die beiden Wundergeschichten vom aus der Gefangenschaft mehrfach befreiten Pilger und von den Eidesbrechern eindrücklich belegt. Die Vigilien in Compostela und andere Gemeinschaftsakte schufen aber zudem ein affektives Feld. Für den Autor des Liber Sancti Jacobi waren es die Nachtwachen – die halfen, Wunder Wirklichkeit werden zu lassen, Wachen, Träumen, Halbschlaf, Singen, Beten, aber auch zuvor das Gehen, die Gespräche und die Mühen. Barmherzigkeit, Eidestreue, Buße und Beichte und vieles andere kam hinzu. Immer aber bedurfte es der Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Wenn zudem die Quellen des Mittelalters immer wieder Heilung an Leib und Seele in den Vordergrund rücken und die Pilger auf das Seelenheil lenken möchten, dann bleibt doch beides stets in engem Zusammenhang.

Wunder gibt es immer wieder … Der Schlager ist unvollständig, denn schon die biblischen Wunder scheinen zu zeigen: Es gibt keinen Wundertäter, der einen Unbeteiligten heilt: Dein Glaube hat Dir geholfen, werden mehrfach die jesuanischen Wunder der Bibel kommentiert. Wunder bleiben zwei- oder mehrdeutig, denn Wahrnehmungen fallen auseinander. Insofern bedeuten Heil, Heilung, Wunder und Übernatürliches auch stets einen Verlust an Eindeutigkeit. Ähnlich dürfte es sich mit Wundern und Übernatürlichem am Pilgerweg verhalten. Lasse ich Zweideutigkeiten, Ambiguität an mich heran? Ob jemand Heil und Heilung, Wunder und Übernatürliches wahrnimmt, liegt auch und vor allem an jedem selbst, da dürfte Katja Ebstein recht haben. Wenn also Pilgern Heil und Heilung bringt, dann sind nicht nur Gott, Jakobus und Sakramente, sondern sind auch immer die Pilger selbst beteiligt.

Pilgern als Lebenskunst

Wie Menschen auf neue Weise Heimat finden

Wilhelm Schmid

Einmal machte ich mich selbst auf den Weg*. Ich fuhr mit dem Zug von Berlin nach München, mit der Regionalbahn weiter ins Land. An einer Haltestelle mitten in der Landschaft stieg ich aus, ein paar Kilometer vom Ziel entfernt. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, aber das musste wohl so sein. An einem einsamen Kiosk an der Bahnstation sagte der Mann, den ich nach dem Weg fragte, mitfühlend: „Sie müssen ja schwer was zu büßen haben!“ Ich erklärte ihm nicht, dass mich ein ganz anderer Grund hierher brachte: Dankbarkeit.

In einer schwierigen Lebenssituation hatte ich einst als Junge, 14- oder 15-jährig, stillschweigend versprochen, diese Pilgerreise zu unternehmen. Ich hatte immer mal wieder schlimme Ängste, immer in der Nacht, und da tat ich ein Gelübde und offenbar hat es geholfen. Meine damalige religiöse Haltung war eher wackelig, aber eine Opfergabe für Gott oder eine göttliche Macht kann sicher nicht schaden, dachte ich. Jahrzehnte später, so etwa mit 50, fiel mir ein, dass es an der Zeit wäre, das Versprechen endlich einzulösen. Klaglos wuchtete ich meinen Koffer hoch und trat den Weg an. Es waren Feldwege, die ich nicht kannte, die aber ungefähr in die gewünschte Richtung führen mussten.

Der Schweiß strömte aus allen Poren, aber das gehörte zum Programm. Denn ich war nun ein Pilger, jedenfalls hatte ich das so beschlossen. Und wie jeder Pilger (immer auch Pilgerin) erlebte ich nach dem mühseligen Weg das Glück der Ankunft: Eine Dusche für die Erfrischung, ein Bett für die geschundenen Glieder. Dann war ich reif für die „innere Einkehr“, das Innehalten, die Besinnung, die wohl so gründlich ausfällt, wie die vorherige Anstrengung groß war. Sie kam gerade zur rechten Zeit, um in einer neuerlich schwierigen Lebenssituation wieder Klarheit und Festigkeit zu gewinnen und neue Kräfte zu schöpfen.

Es war der abendliche Gottesdienst, als mir plötzlich mein Leben so klar vor Augen stand wie nie zuvor, mit allen Wegen, Um- und Abwegen, die ich gegangen war, und sogar mit der Richtung, in die ich gehen sollte. Ich habe es selbst erfahren, dass die Selbstbesinnung, die sich am Pilgerort einstellt, der Blick auf das ganze Leben, die Aufmerksamkeit auf vieles, das fast vergessen war, neue Kräfte freisetzt. Womöglich ist das ein Grund für die „Wundertätigkeit“, die vielfach bezeugt wird. Vielleicht fließen die Kräfte auch wirklich aus einer anderen Dimension zu, zu der ein Pilger in engere Beziehung tritt. Der Zauber des Ortes tut ein Übriges: Dass so viele Schicksale so vieler Menschen sich seit so langer Zeit an diesem Ort kreuzen, vermittelt einen starken Eindruck von der unerschöpflichen Fülle des Lebens. Froh und unbeschwert zog ich danach wieder in die Welt hinaus. Von Altötting aus.

Aus dem festen Vorsatz, zurückzukommen, ist nichts geworden. Aber es hat sich etwas Anderes entwickelt. Seit vielen Jahren zieht es mich immer wieder in ein kleines Städtchen in der Mark Brandenburg, genauer in der Prignitz, Bad Wilsnack, auf halber Strecke von Berlin nach Hamburg. Dort kann ich mich regenerieren und konzentrieren, gerade dann, wenn die Denkarbeit schwerfällt. Ich liebe die unvergleichlichen Landschaften, die sich unter dem endlosen Himmel erstrecken. In früherer Zeit war auch Wilsnack ein großes Pilgerziel. Diese Geschichte war gleichwohl schon Vergangenheit, als Theodor Fontane 1887 in seinen Wanderungen (Fünf Schlösser, Quitzöwel, 1. Kapitel) davon erzählte. Vor Ort erinnert ein Stein mit der Jahreszahl 1396 daran, dass damals die Kirche abgebrannt war, in Brand gesteckt von einem Ritter. Nur drei Hostien blieben verschont, und sie wiesen Blutspuren auf, ein Wunder. Als die Nachricht vom „Wunderblut“ die Runde machte, gab es in der religiös nervösen Zeit des Mittelalters kein Halten mehr, voller Hoffnung auf ein ewiges Seelenheil.

Im 21. Jahrhundert frönen viele, die von Neuem nach Wilsnack pilgern, einer anderen Religion, auch ich. Ihre Fortbewegungsmittel sind Auto und Zug. Ihr Tempel ist die Kristalltherme mit Solewasser aus tausend Metern Tiefe und eine große Saunalandschaft. Der Ort heißt nun Bad Wilsnack. Ist es angemessen, von einer Religion zu sprechen? Was die Hoffnungen angeht, auf jeden Fall, nur dass die Unsterblichkeit nun weltlich erreicht werden soll. Für die meisten ist der Aufenthalt in Therme und Sauna nicht mit einer körperlichen Tätigkeit wie Gehen verbunden, sondern mit Herumliegen. Was hat das mit Pilgern zu tun?

Das Gehen war immer eine wichtige Seite des Pilgerns, und die Gegend um Bad Wilsnack eignet sich eigentlich bestens dafür. Wie zu Fontanes Zeiten lassen sich Wanderungen durch die Mark Brandenburg unternehmen, noch dazu gratis mit digitalem Detox, mangels Internetverbindung. Wanderungen sind en vogue, viele Menschen finden den Sinn, den sie suchen, in der Sinnlichkeit des Gehens. Es ist kein Wunder, dass mit wachsender Beliebtheit der Jakobs-Pilgerwege überall in Europa das Gehen in fortgeschrittener Moderne eine Renaissance erlebte. Es ist die einfachste Art aufzubrechen, die intensivste Art, Landschaft zu erkunden, und eine gute Methode, auf andere Gedanken zu kommen. Alle Ebenen des Menschseins kommen dabei zur Geltung. Zahllose Muskeln wandeln gespeicherte Energie in Bewegung um und werden durch die Beanspruchung gestärkt. Die bewegten Muskeln sind in der Lage, Stresshormone abzubauen, ein Grund für die seelische Erfahrung der Beruhigung durch das Gehen. Innere Stimmen beginnen in den Gedanken zu sprechen und finden Gehör.

Mit dem Gehen wird der Homo viator wieder wach, der Mensch auf dem Weg, der er im Grunde seit seinen Anfängen war, seit seinem Abstieg von den Bäumen. Das Gehen steigert den „neuromuskulären Zugriff“, also die geistige Fähigkeit, auf den Körper einzuwirken, denn die scheinbar simple Aktion erfordert eine äußerst komplexe Koordination zahlreicher Komponenten des Gehirns und des Körpers. Das Denken kann sich zudem mit der kognitiven Sinngebung beschäftigen. Während des Gehens kann ich Projekte entwerfen, teils mit wildem Assoziieren, um überhaupt auf Ideen zu kommen, teils mit gezieltem Nachdenken, um mich auch im übertragenen Sinn „auf den Weg zu machen“. Jeder kleine Schritt findet fortan seinen Sinn in einem größeren Horizont, auch wenn Andere nicht sehen, „dass ich einen Weg eingeschlagen habe, auf dem ich ohne Ende und ohne Mühe immer weiter gehen werde“, wie Michel de Montaigne (Essais, III, 9) das zu einer Zeit formulierte, als der Pilgerstrom in Wilsnack gerade eben nach etwa 150 Jahren abgerissen war. Luther hatte zwischenzeitlich stattgefunden. Der neue protestantische Pfarrer hatte den Wunderglauben zum Aberglauben erklärt und die Bluthostien 1552 kurzerhand verbrannt.

In jüngerer Zeit verändert sich nun jedoch das Pilgern. Zwar ziehen weiterhin religiöse Orte zahllose Menschen an, im Westen etwa Santiago de Compostela in Spanien, das traditionelle Ziel der Jakobswege, im Mittleren Osten etwa Mekka, das alle Muslime in ihrem Leben aufsuchen sollen, im Osten etwa Kanyakumari an der Südspitze Indiens, wo die Asche Mahatma Gandhis im Meer verstreut wurde. Aber in nicht geringem Maß scheint sich das Pilgern ganz von religiösen Zielen abzulösen. Auch profane Orte werden vielleicht etwas unbedacht „Pilgerstätten“ genannt, nicht nur beliebte Thermen, sondern auch Kultureinrichtungen, Museen, Fußballstadien oder Orte wie Montreux am Genfer See, wo der Popstar Freddie Mercury mit seinen Aufenthalten zu Lebzeiten dazu beitrug, dass nach seinem Tod eine Pilgerstätte für Fans und Liebende jeder Couleur daraus wurde. Jedes Kunstwerk von Christo und Jeanne Claude wurde für Millionen von Menschen zu einem Ziel, in Presseberichten als „Pilgerstätte“ tituliert und für die Energie gerühmt, die dort in der Luft lag. Am Reichstag in Berlin und am Iseosee in Italien konnte ich das auch selbst erleben.

Aber das Pilgern löst sich auch von feststehenden Zielen ab. Das Unterwegssein selbst wird in digitaler Zeit zu einer neuen Form des Pilgerns. Digitale Techniken haben es möglich gemacht, global und ständig unterwegs sein zu können. Der entscheidende Dammbruch vollzog sich mit den global verfügbaren Medien, die das Leben und Arbeiten unterwegs ermöglichen und die Reiseorganisation erleichtern. In Weblogbüchern, so genannten Blogs, digitalen Tagebüchern, berichten viele von ihren Erfahrungen unterwegs, wie dies einst nur die wenigen, deren Reiseberichte gedruckt wurden, für ein interessiertes Publikum tun konnten. Den Erdball zu umrunden, ein paar Wochen oder Monate hier und dort zu bleiben: Das ist das Leben digitaler Nomaden. Aber ist es wirklich ein Pilgern?

Das Gehen erscheint dabei verzichtbar. Aber die Essenz des Pilgerns war in der Tat immer das Unterwegssein, wie und womit auch immer. Der Pilger ist von alters her einfach nur der, der von anderswo kommt, von der anderen Seite des Ackers (per agrum im Lateinischen, daher peregrinus), wobei mit Acker ursprünglich das eigene, als zivilisiert und kultiviert bewertete Land gemeint war. Das hatte erst einmal keine religiöse Bedeutung. Pilgern hieß, unterwegs zu sein, in der Fremde zu wandern und umherzuschweifen. Nicht immer war das gut beleumundet, auch Vagabunden und Zechpreller pilgerten.

Als Unterwegssein bringt das Pilgern zwangsläufig Erfahrungen mit sich, die der Pilgernde fern von zuhause mit der fremden Umgebung, aber auch mit sich selbst macht. Insofern kann er in der Fremde auf dem Weg zu sich selbst sein. Am Horizont nimmt er oder sie das eigene Leben wahr, wie es war, wie es ist, wie es künftig sein kann und sein soll. Nachdenklichkeit wird möglich, vor allem über die Lebensfragen: Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist mir wichtig, privat und beruflich? Was ist meine Rolle in diesem Leben? Welchen Weg bin ich bisher gegangen? Wohin will ich noch gehen? Nachdenklichkeit heißt, stets von Neuem solche Fragen zu stellen, um im Denken die Antworten zu finden, mit denen das Leben bewusst geführt werden kann. Das ist gemeint mit Lebenskunst.

Die Kunst im Begriff der Lebenskunst steht für die Bewusstheit, mit der das Leben geführt wird. Die alltäglichen Abläufe erlauben sie nicht immer. Aber das Unterwegssein mit seinen Herausforderungen abseits des Alltags bietet reichlich Gelegenheit dafür. Die Gedanken, denen bereitwillig Raum gegeben wird, finden nach anfänglichem Wirrwarr im Laufe der Zeit von selbst die Antworten, die weiterhelfen. In Gedanken kann ich mich auch wie von außen betrachten, wie das sonst nur ein Freund kann. Der Blick von außen ermöglicht Selfietechniken der anderen Art, die in diesem Fall nicht dazu dienen, sich strahlend vor dem schönsten Hintergrund darzustellen, sondern sich mit Selbstreflexion so zutreffend wie möglich wahrzunehmen und mit wohlwollender Selbstkritik gegebenenfalls zu korrigieren.

„Wege zu sich selbst“, Ta eis heauton, hießen die Selbstbetrachtungen des Stoikers Marc Aurel aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., die bis heute Menschen inspirieren, die sich innerlich mehr mit sich befassen wollen und sich zu diesem Zweck äußerlich auf den Weg machen. Viele derer, die den Jakobsweg begehen, tun dies nicht aus religiösen Motiven im engeren Sinne. Das anvisierte Ziel ist ein Mittel zum Zweck der Selbstaufmerksamkeit, um erstmals oder von Neuem zu einer Freundschaft mit sich selbst zu finden. Sich eingehender mit sich zu befassen, bringt die Chance auf mehr Verständnis für sich und mehr Einfühlung, mithin Selbstempathie mit sich. Auf dieser Basis kann die Empathie auch für Andere, das Verständnis für sie und die Fähigkeit zur Einfühlung in sie wachsen. Die Selbstfreundschaft steht für eine Pflege des Selbst, durch die das Leben leichter wird, da sie einem Menschen ermöglicht, besser mit sich umzugehen und damit umgänglicher auch für Andere zu werden.

Es sind diese spirituellen Wege, die in digitaler Zeit um den Globus herumführen. Eine immer neue Orientierung in den Fluten der Information und Kommunikation auf allen Kanälen ergibt sich aus den Fragen beim Unterwegssein: Will ich mich dafür offen- oder lieber davon fernhalten? Ganz oder teilweise, dauerhaft oder zeitweilig? Nicht alles betrifft mich, nicht alles muss ich beantworten, nicht mit allem mich befassen. Nicht alles muss ich meinerseits Medien anvertrauen, nichts davon kann ich jemals zurückholen. Oder ist es mir egal, was Andere damit anstellen können? Die Abweisung von Informationen und die Verweigerung von Kommunikation tun von Zeit zu Zeit not, und sei es nur aus dem Grund, mich nicht zu verlieren. Es bedarf dazu einer digitalen Souveränität, einer kompetenten Ignoranz, einer kalkulierten Abweisung und Verweigerung, mit der Überlegung: Wann, wo, gegenüber wem, aus welchen Gründen und mit welcher Befristung?

In Gedanken kann ich auch in digitaler Zeit nach dem Sinn fragen und Antworten finden, die mein Leben tragen können. Die Antworten sind keine letztgültigen Wahrheiten, sondern Versuche, sich einen Reim auf die Zusammenhänge des Lebens zu machen: Folgen die Dinge einer Regel oder dem Zufall, handelt es sich um Zusammenhänge in mir oder außerhalb, stecken Absichten dahinter, sind sie zielgerichtet, kausal, paradox, rätselhaft, tragisch oder auch komisch? Das ist von Bedeutung, da dort, wo etwas sinnvoll erscheint, Energie