Pilgern zu Wasser und zu Lande -  - E-Book

Pilgern zu Wasser und zu Lande E-Book

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Beschreibung

Die grenzenlose Freiheit des Unterwegs-Seins war kein historischer Normalzustand. Die Infrastruktur der Land- und Wasserwege stellte die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pilger vor zahlreiche Herausforderungen. Der Band, der die Vorträge auf den Jahrestagungen der Deutschen Sankt-Jakobus-Gesellschaft 2019 und 2020 verschriftlicht, nimmt die mitteleuropäischen Brückenbauten als infrastrukturelle Großprojekte des Mittelalters im Kontext des Wallfahrtswesens sowie das Phänomen von Schiffspilgerfahrten mit ihren besonderen Bedingungen in den Blick und vergleicht Vor- und Nachteile von Land- und Wasserwegen. Dabei werden nicht allein die großen europäischen Fernwallfahrten thematisiert, denn einige der Beiträge widmen sich auch regionalen Pilgerzielen in Nord- und Mitteldeutschland, insbesondere Erfurt, Halberstadt und dem Birgittenkult mit verschiedenen regionalen Ablegern in Norddeutschland.

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Hartmut Kühne / Christian Popp (Hrsg.)

Pilgern zu Wasser und zu Lande

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus: Erste Ankunft Ursulas in Basel, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölnischer Meister von 1456; Rheinisches Bildarchiv (Wallraf-Richartz-Museum Köln Inv. Nr. WRM 719)

 

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783823395416

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0934-8611

ISBN 978-3-8233-9541-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0362-6 (ePub)

Inhalt

EinleitungI. Brücken und WegeSeelenheil und InfrastrukturI. Brückenbau als Herausforderung: Überblick – Technik – ExpertenII. Finanzierung von Brückenbau durch Ablässe: Wallfahrtsförderung oder Reaktion auf hydrologische Extremereignisse?III. Wallfahrt – Ablass – Hochwasser. Brückenbau in Koblenz, Prag und RapperswilIV. Fazit/PerspektivenWallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt1. Die geographische und territorialpolitische Lage2. Wallfahrtsorte in der Region3. Straßen und Brücken4. Exkurs: Martin Luther und die Wallfahrt zu Grimmenthal5. ZusammenfassungII. Schiffspilgerfahrten, Land-und Wasserwege im VergleichSchiffe als soziale Räume1. Pauschaltourismus im Mittelalter? Die Logistik von Schiffsreisen im Rahmen des spätmittelalterlichen Pilgerwesens2. Von Karavellen bis Koggen: die Fahrzeuge der Pilger in Nord und Süd3. Soziale Ordnungen an Bord spätmittelalterlicher Schiffe4. Körper und Seele im Einklang? Soziale Vorstellungen und physisches ErlebenSkandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und JerusalemI. Die Christianisierung SkandinaviensII. Omnes viae Romam ducunt – aber nur drei führen von Skandinavien aus ans ZielIII. Frühe ReisendeIV. PilgerheiligeV. Hochadlige ReisenVI. Pilgerwege und Pilgerstätten in der Literatur SkandinaviensVII. Wallfahrten in Recht und AlltagVIII. Organisation von WallfahrtenIX. Spuren der Wallfahrten 1X. Die Pilgerreisen: Das Beispiel Bjørn Ejnarsson Jorsalfari (ca. 1350–1413)XI. Spuren der Wallfahrten 2: Kirchliche Zeugnisse der WallfahrtXII. Spuren der Wallfahrten 3: Santiago de Compostela an der SchleiXIII. Wallfahrten als Grand Tour, Wallfahrten zum Heiligen Grabe und nach Santiago im 16. JahrhundertXIV. Die Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem im Spiegel skandinavischer QuellenDie heilige Ursula von Köln – Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? Bemerkungen anhand des Kleinen und des Großen Ursula-Zyklus aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in KölnDie hl. Ursula und ihre LegendeZu historischen Elementen in der Narration der Ersten PassioUrsulas Pilgerreise?SchlussDer günstigste Weg von Rom nach NorddeutschlandDie Romreise des Albert von StadeI. Alberts BiographieII. Der Grund für seine RomreiseIII. Wann ist Albert von Stade nach Rom gereist?IV. Alberts ReiserouteV. Der Reisebericht in literarischer StilisierungVI. Rezeption der Reiseberichte AlbertsWunder an der WerraDer Initiator der WallfahrtEin Zeugnis zur Gründung der Erfurter KartauseDie Verteilung der Opfergaben und ein früher Papstablass nach der Erfurter InschriftDer Gehülfe auf dem HülfensbergWallfahrtszeugnissePilgerzeichen vom HülfensbergWallfahrten auf der Weser und Werra zwischen Bremen und dem HülfensbergIII. RegionalesBirgittaverehrung in (Nord-)Deutschland1. Birgitta von Schweden als Pilgerin in Bild und Ikonographie2. Birgitta von Schweden als Pilgerziel in Norddeutschland3. FazitHalberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? Sachkultur und Quellenbefunde im DialogI. EinleitungII. Der materielle BefundIII. Zwischen-FazitVI. Halberstadt als Pilgerziel – die Befunde der SchriftquellenV. AusblickAnhangDer Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer AusstattungEinleitungKloster- und BaugeschichteDas StifterbuchDer Jakobusaltar als Familien- und Votivaltar des Patriziergeschlechts LangeDer Translationsbericht der JakobusreliquieMechtilds SeelgerätstiftungDie Auswirkungen der Reliquienschenkung auf die Ausstattung der KircheFazitDer Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als WallfahrtszielSt. Marien – Reliquien, bauliche Befunde und AusstattungSt. Severi – Reliquien, bauliche Befunde und AusstattungSt. Marien und St. Severi: ein architektonisches Austauschverhältnis im Zeichen der ReliquienFazit: Der Erfurter Domberg als Pilgerziel?ResúmenesAbbildungsverzeichnisMartin Bauch/Christian Forster: Seelenheil und Infrastruktur: Zum Zusammenhang von Brückenbau, Ablässen und Extremereignissen im SpätmittelalterJohannes Mötsch: Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler WallfahrtRuth Schilling: Schiffe als soziale Räume: Hierarchie- und Körpervorstellungen auf spätmittelalterlichen PilgerreisenCarsten Jahnke: Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und JerusalemKlaus Gereon Beuckers: Die heilige Ursula von Köln – Idealtypus einer Schiffswallfahrerin?Arend Mindermann: Die Romreise des Albert von StadeThomas T. Müller/Hartmut Kühne: Wunder an der Werra. Die Wallfahrtskapelle auf dem HülfensbergElizabeth Andersen/Mai-Britt Wiechmann: Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland. Von der Pilgerin zum PilgerzielRenate Samariter/Christian Popp/Hartmut Kühne: Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? Sachkultur und Quellenbefunde im DialogTim Erthel: Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer AusstattungRainer Müller/Martin Sladeczek: Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als WallfahrtszielRegister der Orts- und Personennamen

Einleitung

Hartmut Kühne und Christian Popp

In den beiden zurückliegenden Jahren, in denen die in diesem Band vereinigten Beiträge verfasst wurden, erlebten die westlichen Gesellschaften nach Jahrzehnten einer scheinbar grenzenlosen Beschleunigung des Reisens und der Kommunikation überhaupt, dass diese für unumkehrbar gehaltenen Entwicklungen reversibel sind: Durch die Corona-Pandemie kehrten innereuropäische Grenzen zurück und wurden sogar zeitweise wieder unpassierbar, der boomende Flugverkehr erlebt einen dramatischen Rückgang, statt in die Ferne zu reisen blieben viele Deutsche ganz zu Hause oder machten nur noch im eigenen Land Urlaub. Auch die Pilgerfahrt nach Santiago, die mit der Öffnung der Heiligen Pforte am 31. Dezember 2020 für das gegenwärtige Heilige Jahr einen neuen Impuls erhalten sollte, verlor zeitweise ihre Attraktivität. Diese Erfahrungen erinnern daran, dass die grenzenlose Freiheit des Unterwegs-Seins kein historischer Normalzustand ist. Zumindest bis zum Beginn der großen technischen Innovationen in der Verkehrsinfrastruktur im 19. Jahrhundert unterlagen die Möglichkeiten des Reisens und zum Besuch fremder Länder Schwierigkeiten, die sich aus den geographischen Gegebenheiten und der physischen Begrenztheit des Menschen ergaben. Mit solchen Schwierigkeiten, aber auch mit den Chancen, die sich für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pilgerfahrten aus der Verkehrsinfrastruktur ‚zu Wasser und zu Lande‘ ergaben, befassten sich die beiden Jahrestagungen der Deutschen Sankt-Jakobus-Gesellschaft, die 2019 in Erfurt und 2020 in Stade stattfanden. Die Veranstaltung in der Thüringer Landeshauptstadt an der Gera stand unter dem Thema „Pilgern: Wasser – Wege – Brücken“, während die Zusammenkunft im Elbe-Weser-Dreieck nahe der Unterelbe besonders den „Schiffspilgerfahrten“ gewidmet war. Man könnte die thematische Gemeinsamkeit beider Tagungen mit dem Motto: „Pilgern mit und gegen das Wasser“ umschreiben. Allerdings war diese thematische Verortung in einen weiteren Kontext eingebunden, denn zur ‚Architektur‘ der beiden Jahrestagungen und damit auch dieses Bandes gehörte, dass ihre Thematik in ein größeres Forschungs- und Ausstellungsvorhaben eingewoben war, das durch einen spektakulären archäologischen Fund in Stade angestoßen wurde.

Im Jahre 2013 wurde die Hudebrücke am alten Stader Hansehafen erneuert. Durch die nötige Trockenlegung des Hafenbeckens ergab sich die Möglichkeit, den dort angesammelten Schlick zu entfernen und mit ihm all jene Gegenstände archäologisch zu bergen, die in den vergangenen 800 Jahren dort zufällig hineingefallen waren, vor allem aber als Abfall entsorgt wurden – Häfen waren nämlich beliebte Mülldeponien in vormoderner Zeit. Eine Gruppe sehr engagierter Ehrenamtlicher, die AG Stadtarchäologie Stade, unterzog sich der Mühe, die gut 100 Kubikmeter Aushub aus dem Hafenbecken in einer dreijährigen Kampagne zu schlämmen. Unter den hunderttausenden Fundstücken fanden sich auch mehr als 200 mittelalterliche Pilgerzeichen. Es handelt sich um den mit Abstand größten Fundkomplex von Pilgerzeichen, der bisher in Deutschland geborgen wurde und dessen Auswertung einen einzigartigen Blick auf die Wallfahrtslandschaft Norddeutschlands bietet, d.h. jene Pilgerziele vor Augen stellt, die von den Bewohnern Stades im ausgehenden Mittelalter aufgesucht wurden.1 Dass gerade diese Objekte unter den vielen Funden vor Ort auf großes Interesse stießen, war nicht zuletzt jenem Engagement geschuldet, mit dem die Region Norddeutschland in der Deutschen Jakobusgesellschaft seit dem Beginn des Jahrtausends vergessene Orte und Wege wieder in das öffentliche Gespräch brachte. Jedenfalls führte die Vorstellung des Pilgerzeichenfundes durch einen sehr gut besuchten Vortrag im Schwedenspeicher Stade im Oktober 2015 zu der Idee, das bisher wissenschaftlich kaum erforschte Wallfahrtswesen in der Region zwischen Elbe und Weser in den Blick zu nehmen und dabei auch die Fernpilgerfahrten aus dieser Region heraus zu thematisieren. Die im Herbst 2015 angestoßenen Überlegungen mündeten schließlich in ein an den Museen Stade und Lüneburg organisatorisch angebundenes Forschungsprojekt, das seit Sommer 2018 von Hartmut Kühne wissenschaftlich bearbeitet und geleitet wurde. Da bereits nach knapp zwei Jahren auf der Grundlage der erwarteten Forschungsergebnisse eine Sonderausstellung konzipiert und der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte, war es notwendig, möglichst viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen, die bereit waren, ältere Forschungsarbeiten oder auch neue Recherchen in das Vorhaben mit einzubringen. Daher fand im April 2019 eine dreitägige Tagung in Lüneburg statt, auf der zahlreiche Aspekte der Wallfahrtsforschung aus norddeutscher Perspektive diskutiert wurden. Es war von vornherein klar, dass nicht alle in Lüneburg gehaltenen Referate Eingang in den geplanten Begleit- und Katalogband der Ausstellung finden würden.2 Einige der Referate tauchen dort nur in Form kurzer Überblickstexte oder als Katalogartikel auf, einige flossen als inhaltliche Impulse ein. Daher ergab sich die Chance, einige Referate für die beiden Jahrestagungen 2019 und 2020 gewissermaßen nachzunutzen und den Beitragenden so die Möglichkeit zu geben, ihre kürzeren Lüneburger Referate zu umfänglicheren Beiträgen auszubauen. Diese dichte inhaltliche Verklammerung der Lüneburger Tagung bzw. des Begleitbandes zur Doppelausstellung in Stade und Lüneburg mit den beiden Jahrestagungen betrifft freilich nicht alle in dem vorliegenden Band enthaltenen Beiträge, sondern besonders jene von ELIZABETH ANDERSEN und MAI-BRITT WIECHMANN, CARSTEN JAHNKE, AREND MINDERMANN, THOMAS MÜLLER, RENATE SAMARITER und CHRISTIAN POPP sowie JÖRG VOIGT verfassten Texte. Aber auch darüber hinaus hat das Ausstellungsthema besonders die Jahrestagung 2020 in Stade bestimmt. Die Jakobus-Gesellschaft wurde von der Stadt Stade besonders herzlich und zuvorkommend empfangen und durfte trotz der schwierigen Bedingungen der Pandemie im stimmungsvollen historischen Ratssaal tagen. Zugleich wurden allen an der Tagung Teilnehmenden Führungen durch die Doppelausstellung im Museum Lüneburg und im Schwedenspeicher am Stader Hansehafen angeboten. Das mit den Ausstellungen erschlossene thematische Feld spiegelt sich auch in weiteren Beiträgen dieses Tagungsbandes wider. Bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge wurde rasch deutlich, dass sich zwischen den in Erfurt und den in Stade vorgetragenen Überlegungen zahlreiche Schnittstellen ergaben, so dass die inhaltliche Struktur dieses Bandes nicht der Tagungshistorie, sondern einer sachlichen Ordnung folgt.

Im ersten Teil unseres Buches sind jene Beiträge versammelt, die sich mit dem Thema „Brücken und Wege“ befassen. Der Leipziger Mittelalterhistoriker MARTIN BAUCH und der Leipziger Kunsthistoriker CHRISTIAN FORSTER, die auf der Tagung mit zwei einzelnen Beiträgen aufwarteten, haben ihre Überlegungen zum mitteleuropäischen Brückenbau vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, insbesondere zu seiner Motivation und der Rolle von Pilgern zur Begründung solcher infrastrukturellen Großprojekte, in einer umfangreichen Untersuchung zusammengeschlossen. Der Meininger Historiker und Archivar JOHANNES MÖTSCH ergänzt dieses Bild durch einen Blick auf die um 1500 boomende Wallfahrt von Grimmenthal im südwestlichen Zipfel Thüringens, aus deren Einnahmen auch Brückenbauten finanziert wurden.

Der zweite Teil des Bandes thematisiert Schiffspilgerfahrten und vergleicht Vor- und Nachteile von Land- und Wasserwegen für mittelalterliche Pilger, denn die Schifffahrt bot zwar meist den schnellsten und manchmal, wie im Falle des Heiligen Landes, zeitweise auch den einzigen Transportweg für Reisende und damit auch für Pilger, verlangte aber sowohl dem Geldbeutel als auch der Anpassungsfähigkeit der Reisenden an die ungewohnten Lebensverhältnisse auf den Schiffen einiges ab. Die Historikerin RUTH SCHILLING vom Schifffahrtsmuseum Bremerhaven bietet zunächst einen Überblick über die Bedingungen, unter denen maritime Schiffspilgerfahrten im Mittelalter stattfanden, und fragt danach, wie die besonderen Bedingungen des zeitweiligen Lebens auf einem Schiffe sich auf das Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen auswirkten. Der in Kopenhagen lehrende Mediävist CASTEN JAHNKE bietet einen kurzen Überblick über skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem, die vor allem über den Seeweg führten, und ergänzt damit die älteren Monographien von LARS ANDERSSON3 und CHRISTIAN KRÖTZL4. Der Kieler Kunsthistoriker KLAUS GEREON BEUCKERS stellt anhand von zwei Kölner Bilderzyklen des 15. Jahrhunderts die heilige Ursula von Köln als ikonographischen Idealtypus einer Schiffspilgerin vor, die für ihre – legendäre – Romreise den Weg auf dem Rhein genutzt haben soll. Denselben Weg nutzte in der Mitte des 15. Jahrhunderts auch eine Lüneburger Gesandtschaft auf dem Rückweg aus der Ewigen Stadt, mit der sich der niedersächsische, freilich aktuell in Rom am Deutschen Historischen Institut arbeitende Archivar und Historiker JÖRG VOIGT befasst. Einem der bekanntesten mittelalterlichen Romreisenden aus Norddeutschland, dem Abt Albert von Stade, der in der Mitte des 13. Jahrhunderts seine Reiserfahrungen in einem detaillierten Reisebericht niederlegte, widmet sich der Stader Historiker AREND MINDERMANN in einem Beitrag, der zugleich eine neue Hypothese über die Gründe für den weit nach Frankreich ausgreifenden Hinweg präsentiert. Der Mühlhäuser Historiker und Museumsleiter THOMAS T. MÜLLER stellt schließlich mit dem Hülfensberg im Eichsfeld einen Wallfahrtsort vor, der auch aus den norddeutschen Hansestädten stark frequentiert wurde, wobei für diesen Besuch wohl auch der (Handels-)Verkehr zu Schiff auf Weser und Werra eine Rolle spielte.

Im dritten Teil wurden schließlich vier Beiträge mit einer regionalen Verortung an den beiden Veranstaltungsorten zusammengefasst. Aus einer Führung über den Erfurter Domberg im Rahmen der Jahrestagung 2019 durch den Kunsthistoriker und Bauforscher RAINER MÜLLER und den Historiker MARTIN SLADEZCEK (beide Erfurt) ging eine umfangreiche Untersuchung zur Kult-, Bau- und Ausstattungsgeschichte des Erfurter Domes und des benachbarten Severistiftes hervor. Im Zentrum ihres Beitrags steht die Frage nach der Präsenz von mittelalterlichen Pilgern an beiden Kirchen, von denen zwar in der Literatur häufig verallgemeinernd die Rede ist, die aber bisher kaum in Quellen fassbar sind. Der Erfurter Historiker TIM ERTHEL stellte auf der Jahrestagung die Überlieferung zu einer bedeutenden Jakobus-Reliquie am Ort ihrer einstigen Verehrung in der Kirche des Erfurter Dominikanerklosters vor; er modifiziert und erweitert zugleich das bisher über den Kult vor Ort Bekannte. Neben Erfurt nimmt der Band die Bischofsstadt Halberstadt in den Blick. Die Archäologin RENATE SAMARITER diskutiert mit den Herausgebern Deutung und Zuweisung mehrerer Zeichen, die als archäologische Funde sowie als Abgüsse in Glocken und Tauffünten von der südlichen Ostseeküste bis in den Harzraum überliefert sind. Einiges deutet darauf hin, diese Sachzeugnisse als Pilgerzeichen zu interpretieren und dem Halberstädter Dom und der benachbarten Liebfrauenkirche zuzuschreiben. Last, but not least beschäftigen sich die Germanistinnen ELIZABETH ANDERSEN und MAI-BRITT WIECHMANN mit der Pilgerin Birgitta von Schweden, die kurz nach ihrem Tod selbst zur Bepilgerten wurde. Der Beitrag untersucht sowohl die Rezeption der heiligen Birgitta als Wallfahrerin, besonders in den bildlichen Darstellungen, als auch die wichtigsten Birgitta-Pilgerziele im norddeutschen Raum.

Das auf der Stader Jahrestagung 2020 gehaltene Referat von Eva Heuer zur Heiliglandfahrt des Kurfürsten Friedrich des Weisen und des Johannes von Lobkowitz und Hassenstein von 1493 ist im vorliegenden Band deshalb nicht verschriftlicht, weil das Thema im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Jakobusgesellschaft 2023 vertieft und in einem größeren Kontext behandelt werden soll. Diese Beiträge sollen dann ebenfalls in den Jakobus-Studien erscheinen. Damit drücken die Herausgeber zugleich ihre Hoffnung aus, dass dieser Reihe, die sich als wichtigste Publikationsplattform für interdisziplinäre Forschungen zum Themenbereich Wallfahrt und Pilgern etabliert hat, noch zahlreiche Bände beschieden sein mögen und auch künftig derart fruchtbare Kooperationen zustande kommen mögen, wie es im Kontext der Stader Jahrestagung der Fall gewesen ist.

Allen Autorinnen und Autoren danken wir für ihre Bereitschaft, ihre Beiträge zu verschriftlichen und sie uns für diesen Band zur Verfügung zu stellen. Frau Anna Weissmüller ist herzlich für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Registers zu danken und Herrn Manuel Santos Noya, dem Mitglied unseres wissenschaftlichen Beirats, für die Übersetzung der Resúmenes in die spanische Sprache. Dem Narr-Verlag Tübingen danken wir für die gute Zusammenarbeit bei der Herstellung des Bandes und der Deutschen Sankt-Jakobus-Gesellschaft für die Unterstützung der Publikation durch die Übernahme des Druckkostenzuschusses.

 

Berlin/Göttingen im September 2021

I.Brücken und Wege

Seelenheil und Infrastruktur

Zum Zusammenhang von Brückenbau, Ablässen und Extremereignissen im Spätmittelalter

Martin Bauch und Christian Forster

Am 24. Juni 1434 erließ Bischof Johann von Merseburg einen Ablass, der die Almosensammlung für Brücken, Stege und Kanäle in der weitverzweigten Flussaue der Elster und der Pleiße westlich von Leipzig zum guten Werk erklärte. Wer für diese Infrastrukturmaßnahmen spendete und so Pilgern und allen anderen, die sich auf die Reise begaben, das Leben erleichterte sowie das bonum commune beförderte, konnte einen Ablass von einem Jahr und einer Karene gewinnen1. Die Arbeiten, die von der Stadt Leipzig koordiniert wurden, seien darüber hinaus aufgrund der jüngsten Überschwemmungen in der Aue der Weißen Elster notwendig geworden, die Schäden an Menschen, Tieren und Sachen verursacht habe2, wie der Leipziger Rat mitteilte. So habe die Stadt einen prächtigen und großen Komplex von Brücken und Gräben ins Werk gesetzt3, der eine gefahrlose Überquerung der Elsteraue ermöglichen solle.

Mutmaßlich beziehen sich die Aussagen dieser Ablassurkunde auf Wasserinfrastrukturen wie Brücken, Stege und Dämme, die das Überschwemmungsland der Elsteraue zwischen den Dörfern Lindenau und Plagwitz sowie der eigentlichen Stadt Leipzig, dem heutigen Innenstadtbereich innerhalb des Ringes, querten4. Sie waren aufgrund der Wegführung der via regia, die in Leipzig die via imperii kreuzte, von überregionaler Bedeutung5. Durchziehende Pilger gehörten selbstverständlich zu den Nutzern beider mittelalterlicher Fernstraßen, in Leipzig selbst hatten sie jedoch Anfang des 15. Jahrhunderts kein hinreichend attraktives Ziel6. Doch schon die Ablassurkunde selbst macht klar, dass auch der durch die junge Universität verursachte Reiseverkehr, mehr aber noch die Tätigkeit der zahlreichen Händler die Errichtung neuer Brückenbauten über Luppe, Elster und Pleiße rechtfertigte7. Warum es trotzdem zwingend war, im Ablass die Bedeutung der Wallfahrer überzubetonen, wird später noch erläutert werden.

Die als häufig (saepius) charakterisierten Hochwasserereignisse, die Menschenleben, Tiere und Sachwerte mit sich gerissen hatten, sollten hingegen nicht vorschnell als Topoi abgetan werden: Tatsächlich sind in Mitteldeutschland von Elbe, Saale, Mulde und Pleiße im Sommer 1432 große Hochwasser mit Zerstörungen von Wohnhäusern und Infrastruktur wie der Elbbrücken in Meißen und Dresden und der Mühlen und der Brücke in Grimma überliefert8. Auch Spree und Neiße waren im selben Zeitraum betroffen und richteten Zerstörungen in Bautzen und Görlitz an9; ebenso verwüstete ein Extremhochwasser im Juli 1432 Böhmen10. Im Sommer 1433 folgten erneut sehr zerstörerische Hochwasser in Sachsen und Thüringen bis hin zur Altmark11. Und noch am Tag der Ablassvergabe, am 24. Juni 1434, wurde Meißen erneut von einem Elbhochwasser heimgesucht, wie wenig später auch Grimma durch eine Muldenflut und Görlitz durch eine Überschwemmung der Neiße12. Auch wenn die Weiße Elster, Pleiße und Luppe in den chronikalischen Berichten nie explizit genannt wurden, so ist es doch nur plausibel (und in der Ablassurkunde klar benannt), dass auch in der Flussaue westlich von Leipzig die drei Hochwassersommer in Folge ihre zerstörerischen Spuren hinterlassen hatten.

Unklar ist, in welchem Maß bereits zuvor Brückenbauten bestanden, die von den Fluten hätten zerstört werden können. Die großflächige Verteilung der Wasserströme in der Elsteraue westlich der Stadtmauern sorgte im Normalfall dafür, dass Luppe, Elster und Pleiße für Reisende leicht zu durchqueren waren; Belege für hölzerne und steinerne Brücken vor dem 15. Jahrhundert fehlen. Nicht zuletzt könnten die andauernden und wiederkehrenden Hochwasserlagen in den frühen 1430er Jahren überhaupt erst den Gedanken haben reifen lassen, dass an dieser Stelle der Via Regia komplexe Infrastrukturen wie Brücken und (erhöhte) Wegführungen notwendig sein könnten. Zur Finanzierung dieser bis 1434 konzipierten und begonnenen Auenquerung wurde mit einem Brückenbauablass ein sehr spezifisches Instrument gewählt, das der Merseburger Bischof auf Bitten des Leipziger Stadtrats zur Verfügung stellte. Leider erlaubt die Überlieferung keinen Einblick, ob das Brückenbauprojekt realisiert wurde, und wenn ja, wann es als fertiggestellt gelten konnte. Zudem haben wir keinen Einblick in seine technische Ausgestaltung in Holz oder Stein, auch wenn es in der Urkunde als beachtlich (magnum et sumtuosum aedificium) charakterisiert wird.

An dem relativ breit erläuterten Beispiel des Brückenbauablasses von 1434 für Leipzig zeigt sich eine bemerkenswerte Gemengelage von Infrastrukturmaßnahmen (Brückenbau), Anstrengungen zur Steigerung des Seelenheils (Ablässe und Wallfahrt) sowie natürlichen Extremereignissen (Hochwasser), die Infrastrukturmaßnahmen – und möglicherweise auch die göttliche Gnade – umso nötiger erscheinen ließen. Aus diesem Tableau lassen sich folgende Untersuchungsschritte des Beitrags ableiten: In einem ersten Schritt ist die keineswegs banale Frage zu erörtern, wie verbreitet Brücken aus Holz und Stein im späten Mittelalter im Reich nördlich der Alpen waren, welche technischen Herausforderungen ihre Erbauer bewältigen mussten und auf welche Experten sie zurückgreifen konnten. Dann soll auf die Rolle der Ablässe bei Errichtung und Instandhaltung von Brücken eingegangen werden; mit Fokus auf der Förderung von Pilgern und Wallfahrten als theologisch legitimen Motive für die Ablassvergabe. In einem dritten Abschnitt ist die Gegenprobe zu versuchen: Waren gar nicht die vorgeblich geförderten Wallfahrten entscheidend für diesen Infrastrukturaufbau, sondern setzten vielmehr natürliche Extremereignisse den Takt für die Ausweitung und qualitative Weiterentwicklung von Brückenbauten? An drei Fallbeispielen aus dem 14. Jahrhundert – der Prager Karlsbrücke, der Balduinbrücke in Koblenz und der Rapperswiler Holzbrücke über den Zürichsee – lassen sich alle diese Fragen abschließend noch einmal konkret untersuchen.

I.Brückenbau als Herausforderung: Überblick – Technik – Experten

I.1.Zwei Karten zur Streuung von Brückenbauwerken im hohen Mittelalter

Die beiliegende Karte (Abb. 1) zeigt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die im 11. und 12. Jahrhundert im südlichen und westlichen Mitteleuropa bestehenden Brücken aus Stein, aus Holz und solche, bei denen das Baumaterial nicht überliefert ist, sowie die damals noch nutzbaren Brücken der römischen Antike1. Um eine steinerne Brücke zu realisieren, war der technische und finanzielle Aufwand ungleich größer als für eine Konstruktion, die ganz aus Holz bestand, daher ist die Unterscheidung nach Werkstoffen, die in der Übersichtsliteratur nicht immer getroffen wird, wichtig. Bei den Brücken dieser Epoche, deren Baumaterial nicht überliefert ist und die in der Karte als eigene Kategorie geführt werden, dürfte es sich mehrheitlich um solche aus Holz handeln; zweifellos wären darüber hinaus Holzbrücken in größerer Zahl nachzutragen. Werden in den schriftlichen Quellen Angaben zum Material gemacht, sind diese nicht immer verlässlich und unmissverständlich. Wenn der Fortschreiber der Admonter Annalen zum Jahre 1144 von der Erfurter Krämerbrücke als pons lapideus spricht, so deshalb, weil er das Bauwerk nicht aus eigener Anschauung kannte. Die wiederholte Zerstörung der Krämerbrücke durch Brand im 12. Jahrhundert macht deutlich, dass es sich um eine Holzkonstruktion gehandelt haben muss. Schließlich wurde 1265 der Entschluss, das hölzerne Bauwerk in Stein neu zu errichten, schriftlich festgehalten2. Dank der guten Quellenlage ist die Materialchronologie der Erfurter Krämerbrücke seit langem bekannt. Andernorts ist die Überlieferungslage deutlich schlechter. Ein schriftlich bezeugter pons lapideus kann auch eine Steinpfeilerbrücke bezeichnen, deren Fahrbahn über einem Sprengwerk aus Holz errichtet war. So ist mangels bildlicher oder sachlicher Überlieferung nicht zu entscheiden, ob die als steinern apostrophierte Brücke über die Saale in Halle, die die Bürger der Stadt vor 1172 zu bauen übereinkamen, von Anfang an auch steinerne Bögen besaß, denn solche werden erst 1503 erwähnt3. Das Kartensymbol steht also unter Vorbehalt.

Abb. 1: Brücken im südlichen Mitteleuropa bis 1200

Römerbrücken

 1 Besançon

 2 Verdun

 3 Metz

 4 Maastricht

 5 Trier

 6 Konz

 7 (Saarbrücken-) St. Arnual

 8 Mainz

 

Steinbogenbrücken

 9 Dole

 10 Verdun

 11 Dinant

 12 Lüttich

 13 Münster

 14 Hildesheim

 15 Bingen

 16 Würzburg

 17 Regensburg

 18 Dresden

 19 Prag

 

Steinpfeilerbrücken

 20 Huy

 21 Visé

 22 Hammelburg

 23 Erfurt

 24 Halle (Saale)

 

Holzjochbrücken

 25 Pont-St-Vincent

 26 Limburg (Lahn)

 27 (Essen-)Werden

 28 Vacha

 29 Torgau

 30 Bamberg

 31 Ochsenfurt (1133)

 32 Freiburg (Breisgau)

 33 Rheinfelden (1198)

 34 Zürich

 35 Konstanz

 36 Donauwörth

 37 Eichstätt

 38 Innsbruck

 39 München

 40 Passau

 41 Salzburg

 42 Wels

 

Brücken aus unbekanntem Material

 43 Saint-Mihiel

 44 Pont-à-Mousson

 45 Bouxières-aux-Dames

 46 Heidelberg

 47 Aschaffenburg

 48 Breitungen (Werra)

 49 Merseburg

 50 Dessau

 51 Augsburg (nach 978)

 52 Bruck an der Mur (860)

 

Abb. 2: Karte mittelalterlicher Brücken in Deutschland und am Hochrhein bis 1350 (in Klammern entweder Jahr der Ersterwähnung oder genaue Bauzeiten, geschätzte Datierung oder dendrochronologische Datierung)

Auch wenn keine Verkehrswege eingezeichnet sind, lässt sich der Karte entnehmen, dass es in der Epoche bis 1200 die städtischen Zentren von Produktion und Handel an Maas und Mosel sowie einige Bischofssitze (Münster, Würzburg, Regensburg, Hildesheim, Merseburg) bzw. Städte unter geistlicher Herrschaft (Bingen, Halle) waren, die sich steinerne Brücken leisteten. Steinbogenbrücken über Maas, Mosel und Doubs entstanden nicht weit von Orten, an denen noch Römerbrücken existierten. Daneben hatten sich auch antike Wasserleitungen erhalten wie etwa das Aquädukt, das Gorze mit Metz verband und zwischen Ars-sur-Moselle und Jouy-aux-Arches die Mosel überquerte. Inwiefern die über und unter Wasser erhaltenen Zeugnisse römischer Ingenieurskunst noch Einfluss auf Pfeilergründung, Mauertechnik, Mörtelrezeptur, Pfeilerform und Bogenführung der hochmittelalterlichen Brücken ausüben konnten, ist nur in Anfängen untersucht. Was die Bogenform betrifft, ist allerdings festzuhalten, dass mindestens die Römerbrücken in Maastricht, Mainz, Konz, Trier und Wasserbillig als Brücken ohne Steinbögen, stattdessen mit einem hölzernen Oberbau konzipiert waren. Doch im 12. Jahrhundert gab es bereits Fachleute, die ihr technisches Wissen nicht mehr allein an Monumenten in ihrer persönlichen Umgebung geschult hatten und weit herumgekommen waren. Wo genügend Geld zur Verfügung stand, ließen sich Sachverständige aus ganz Europa für eine zu errichtende Brücke anwerben. Von durch die Lande streifenden Bautrupps, die auf Brücken spezialisiert waren4, kann jedoch keine Rede sein. Es gab sie ebensowenig wie wandernde Bauhütten, die von einer Kirchenbaustelle zur nächsten zogen.

Steinbogen (lila)

 1 Bamberg, Obere Brücke (1370)

 2 Bingen, sog. Drususbrücke (989)

 3 Creuzburg, Werrabrücke (1223)

 4 Donauwörth, Donaubrücke (1229)

 5 Dresden, Elbebrücke (um 1173–1222)

 6 Eichstätt, Spitalsbrücke (13. Jh.)

 7 Erfurt, Krämerbrücke (nach 1265–1325)

 8 Esslingen, Innere Brücke (1270) und Äußere oder Pliensaubrücke (1286–1294)

 9 Hann. Münden, Alte Werrabrücke (vor 1280[d])

 10 Hildesheim, Dammtorbrücke (1159)

 11 Koblenz, Balduinbrücke über die Mosel (vor 1343–nach 1363)

 12 Kreuznach, Alte Nahebrücke (1332)

 13 (Weischlitz-)Kürbitz, Elsterbrücke (1298)

 14 Limburg, Alte Lahnbrücke (ab 1315)

 15 Marburg, Lahnbrücke (vor 1250)

 16 Mergentheim, Wolfgangbrücke über die Tauber (ab 1340)

 17 Münster, Steinbrückenmühle (1137)

 18 Nebra, Unstrutbrücke (1207)

 19 Plauen, Alte Elsterbrücke (1244)

 20 Quedlinburg (vor 1229)

 21 Regensburg, Steinerne Brücke (1135–1147)

 22 Rothenburg ob der Tauber, Tauberbrücke (ab um 1330)

 23 Trier, Römerbrücke eingewölbt (Mitte 14. Jh.)

 24 Vacha, Werrabrücke (1342/43)

 25 Verden, Allerbrücke (1220)

 26 Wetzlar, Alte Lahnbrücke (1250–1280)

 27 Würzburg, Alte Mainbrücke (vor 1133)

 

Steinpfeilerbrücken (lila im schwarzen Kreis)

 28 Basel, Mittlere Rheinbrücke (1225)

 29 Frankfurt am Main, Alte Brücke (1222/1276)

 30 Halle an der Saale, Hohe Brücke (1172/1200)

 31 Hammelburg, Saalebrücke (1121)

 32 Heidelberg, Alte Brücke (1284/1308/1340)

 33 Kassel, Alte Fuldabrücke (ab 1346)

 34 Meißen, Elbebrücke (1291)

 35 (Hamm-)Nienbrügge, Lippebrücke (vor 1225)

 36 Ochsenfurt, Alte Mainbrücke (13. Jh.)

 37 Vilbel, Niddabrücke (1338)

 

Holzbrücken (braun)

 38 Bautzen, Heilige-Geist-Brücke über die Spree (vor 1350)

 39 Berlin, Lange Brücke (13. Jh.) mit Rathaus für Berlin-Cölln (1342)

 40 Bernburg, Saalebrücke (1239)

 41 Bodenwerder, Brücke über Weserarm (1289)

 42 Brandenburg an der Havel (13. Jh.)

 43 Braunschweig, Lange Brücke über die Oker (1200)

 44 Breisach, Rheinbrücke (1263)

 45 Bremen, Große Weserbrücke (1244)

 46 Diessenhofen, Hochrheinbrücke (1292)

 47 Frankfurt an der Oder, Oderbrücke (1348)

 48 Görlitz, Neißebrücke (1298)

 49 Grimma, Muldebrücke (1292)

 50 Hamburg, Zollenbrücke (1246)

 51 Hameln, Weserbrücke (1314)

 52 Höxter, Weserbrücke (1249)

 53 Kitzingen, Alte Mainbrücke (1300)

 54 Kösen, Saalebrücke (1298)

 55 Konstanz, Seerheinbrücke (um 1200)

 56 Laufenburg, Rheinbrücke (1207)

 57 Leisnig, Muldebrücke bei der Niedermühle (1330)

 58 Lübeck, Holstenbrücke (1216)

 59 Magdeburg, Brücke über die Stromelbe (1275)

 60 Meiningen, Obere und Untere Brücke (vor 1306)

 61 Minden, Weserbrücke (1258)

 62 Mühldorf am Inn, Innbrücke (1257)

 63 München, Isarbrücke (nach 1158/vor 1180)

 64 Neuburg an der Donau, Donaubrücke (1214)

 65 Neustadt am Rübenberge, Leinebrücke (1269)

 66 Nidda, Niddabrücke (1342)

 67 Nürnberg, Barfüßerbrücke (13. Jh.)

 68 Passau, Innbrücke (1143), Donaubrücke (1278)

 69 Plaue, Havelbrücke (1244)

 70 Rheinfelden, Rheinbrücke (1198)

 71 (Frankfurt-)Rödelheim, Niddabrücke (1343)

 72 Säckingen, Rheinbrücke (1272)

 73 Schaffhausen, Rheinbrücke (1259)

 74 Schwäbisch Hall, Kocherbrücke (1228)

 75 (Berlin-)Spandau, Havelbrücke

 76 Stein am Rhein, Rheinbrücke (1267)

 77 Torgau, Elbbrücke (1070)

 78 (Essen-)Werden, Ruhrbrücke (1065)

 

Brücken unbekannten Baumaterials (grau)

 79 Aschaffenburg, Mainbrücke (um 1000)

 80 Augsburg, Lechbrücke (nach 978)

 81 Breitungen, Klosterbrücke (1137)

 82 Dessau, Muldebrücke (1180)

 83 Diez, Lahnbrücke (vor 1360)

 84 Laufen, Salzachbrücke (1316)

 85 Merseburg, Neumarkt- und Venenienbrücke (1188)

 86 Nörten-Hardenberg, Leinebrücke (1055)

 87 Pegau, Brücke über die Weiße Elster (1210)

 88 Siegen, Brücke über die Sieg (1343)

 

Die zweite Karte (Abb. 2) zeigt die bis 1350 vorhandenen Brücken auf dem Gebiet des heutigen Deutschland und in einem Teil der Schweiz5. In den 150 Jahren von 1200 bis 1350 stieg die Zahl der neu errichteten Brückenbauten merklich an. Beim Blick auf die Karte fällt allerdings auf, dass die großen Städte am Mittel- und Niederrhein nicht als Brückenstandorte eingezeichnet sind, während Übergänge über den Hochrhein in kurzer Distanz aufeinanderfolgten. Diese Bauwerke waren aus Holz. An den nordalpinen Alpenflüssen gab es während des Hochmittelalters keine großen Steinbrücken6. Der Grund dürften die starken Frühjahrs- und Sommerhochwasser gewesen sein, deren Zerstörungen an Holzbrücken leichter zu beheben waren. Wahrscheinlich aus diesem Grund stand die unter Bischof Heinrich von Thun (amt. 1216–1238) in Basel errichtete Rheinbrücke auf der Großbasler Seite, wo die größere Strömung herrschte, auf sieben Stelzen aus Eichenpfählen, während sie nur auf der Kleinbasler Seite auf Steinpfeilern ruhte (Abb. 3)7. In Höxter wurden 1513 das hölzerne Tragwerk und die Fahrbahn kurzfristig abgenommen, bevor sich das Eis der zugefrorenen Weser löste8.

Abb. 3: Basel, Alte Rheinbrücke, Längsschnitt vor der Niederlegung 1903

In Mainz, Koblenz, Köln und Düsseldorf konnte der Rhein bis weit in die Neuzeit nur per Fähre überquert werden9. Erzbischof Rainald von Dassel (amt. 1159–1167) wollte den Rhein zwischen Köln und Deutz mit einem steinernen Bauwerk überbrücken, doch sein Tod vereitelte diesen Plan, so der Annalist des Klosters Egmond10. Eine Rheinbrücke in Köln, die um ein Vielfaches größer dimensioniert gewesen wäre als die steinerne Brücke, die Rainald als Dompropst hatte in Hildesheim erbauen lassen11, hätte den Erzbischof für alle Zeiten als kühnen, generösen und beharrlichen Stadtherrn aus der Reihe der kirchlichen Reichsfürsten herausgehoben. Ob dieses Bauwerk dann die noch verbliebenen Pfeiler der spätantiken Brücke Kaiser Konstantins einbezogen hätte, muss offen bleiben12.

Unterhalb von Breisach wurde zwischen Straßburg und Kehl 1388 für lange Zeit die letzte Brücke über den Rhein geschlagen13. Sie war ein hölzernes Bauwerk, das auf Pfählen, Pfeilern, teilweise auch behelfsmäßig auf Schiffen und Booten stand und in Höhe, Länge und Material immer wieder verändert wurde. 1566 riss sie ein Hochwasser weg. Auf einem Plan von 1720 (Abb. 4) sind die Wöhrde und Flussarme zu sehen, die mit dem Laufe der Zeit einem natürlichen Wandel unterworfen waren, dem die Brücke angepasst werden musste. An dieser Stelle überwand eine Flussquerung eine Strecke von über einem Kilometer.

Abb. 4: Der Rhein zwischen Straßburg und Kehl 1720, Plan de Strasbourg

Außer einer starken Strömung waren es die zu erwartenden hohen Kosten, die Stadt- und Landesherren am Mittel- und Niederrhein davon abhielten, den breit dahinfließenden Strom überbrücken zu wollen. Ein ähnliches Bild wie am Rhein zeigt sich an der Elbe. Unterhalb von Dresden bekam die Stadt Meißen Ende des 13. Jahrhunderts eine Steinpfeilerbrücke14. Eine Holzbrücke in Torgau wird 1292 erwähnt; die Torgauer Steinbrücke, die Kurfürst Friedrich der Weise 1490 bauen wollte, blieb ein Torso: Bis 1499 wurden vier Pfeiler gesetzt, aber aus Kostengründen vollendete man die Brücke aus Holz15. Weiter elbabwärts, im Herzogtum Sachsen-Wittenberg, in Anhalt und im Erzstift Magdeburg, kreuzten während des ganzen 14. Jahrhunderts Fähren16.

Holzbrücken über die Oder bestanden im 12.–14. Jahrhundert nur an deren Oberlauf: in Oppeln (Opole, 1240), Brieg (Brzeg, 1317), Breslau (Wrocław, 1149), Steinau (Ścinawa, 1348) und Frankfurt (nach 1253). Die von Karl IV. 1370 begonnene Oderbrücke in Fürstenberg ist wohl nie vollendet worden. An anderen Stellen ist der Fluss zu breit für Brückenbauten. In Stettin (Szczecin) brachte die Oder so viele Inseln hervor, dass man vom frühen 14. Jahrhundert an das andere Ufer in Altdamm (Dąbie) über verschiedene Dämme und Holzbrücken erreichen konnte17.

An der Donau gab es bis zur unteren Zeitgrenze 1350 nur wenig einzuzeichnen. In Wien und in Bratislava herrschte ausschließlich Fährverkehr. In Wien verband die 1364 erstmals erwähnte Schlagbrücke die Altstadt mit dem Unteren Werd, auf dem später die Leopoldstadt entstand, über den sogenannten Donaukanal hinweg, doch über den Donauhauptarm entstand erst 1439 eine Holzbrücke18.

I.2.Die Kosten

Wiewohl eine Brücke gegenüber Furten und Fähren den Vorteil hat, dass sie eine Flussquerung auch bei großem Wasserandrang und bei Eisgang ermöglicht, und obwohl eine steinerne Brücke wiederum größere Verkehrslasten als eine Holzbrücke bewältigt, so ist eine Brücke mit steinernen Bögen doch in der Anschaffung und im Unterhalt sehr kostspielig.

Dabei lassen sich die Baukosten der frühen Steinbrücken im Reich mangels Quellenbelegen nur schwer beziffern. Vereinzelt liegen Rechnungsbücher aus dem Spätmittelalter vor, die von den Brückenämtern geführt wurden, so in Dresden, wo die Ausgaben für die kontinuierlich anfallenden Reparaturen der Elbebrücke ab 1388 verzeichnet sind1. Zu den Kosten für die Strompfeiler der Würzburger Mainbrücke, die nach dem Hochwasser von 1342 nur notdürftig instandgesetzt worden waren, lassen sich Brückenbaurechnungen ab 1473 konsultieren2. Im Rechnungsjahr 1475/76, in dem der erste Pfeiler hochgezogen wurde, waren umgerechnet 1061 Gulden an Ausgaben zu verzeichnen, 1477/78 waren es 1001 Gulden für die Errichtung des zweiten Pfeilers. Die Summen sagen nicht viel aus, wenn sie nicht in Relation zu anderen Zahlen gesehen werden. Die Reparatur von Pfeiler 22 der Dresdner Brücke 1502/03 verursachte Kosten in Höhe von 36 Schock Groschen3. Damals wurde ein Kastendamm angelegt, um eine Auskolkung an der Längsseite des Pfeilers, die das Hochwasser von 1501 erzeugt hatte, zu verfüllen und zu verschließen (Abb. 5).

Abb. 5: Dresden, steinerne Elbbrücke, Pfeiler 22 mit Spuren der Reparatur von 1502/03

Der erhebliche Unterschied zwischen Instandsetzung und Neubau lässt sich auch am Beispiel der Basler Rheinbrücke verdeutlichen, die teils aus hölzernen, teils aus steinernen Jochen bestand. ERICH MASCHKE hält fest: Als in Basel im Juli 1424 drei Pfeiler fortgespült worden waren und die neue Brücke sich auch als zu schwach erwies, wurden 1424/25 für Materialkosten und Lohn eines Zimmermanns 47 Pfund ausgegeben4. Dem stehen die beträchtlich höheren Ausgaben von 2300 Pfund für den 1457 neu errichteten sechsten Pfeiler in Stein, das sogenannte Bärenfelserjoch, gegenüber5. In diesen Mehrkosten spiegelt sich der große Aufwand wider, den es bedeutete, zur Vorbereitung des Baugrunds eines jeden Steinpfeilers einen Fangedamm anzulegen. Zu den Material- und Transportkosten für die 378 Pfähle und genauso viele Bretter sowie für 700 Wagenladungen Lehm, die nach den Zerstörungen von 1754 für die Baugrube eines einzigen Pfeilers in Schaffhausen angeschafft werden mussten6, kamen die Löhne für die Arbeiter hinzu, die über mehrere Monate hinweg das Wasser aus dem Fangedamm schöpften.

Hohe Kosten und ungünstige naturräumliche Gegebenheiten verhinderten den Brückenbau im Einzugsbereich nicht weniger bedeutender Städte und zwangen zur Flussquerung mittels Furten und Fähren. Die Beispiele in Köln, Fürstenberg und Torgau zeigen, dass man Brückenbaupläne durchaus fasste, aber irgendwann ihre Undurchführbarkeit erkannte (und sei es aufgrund mangelnder Finanzmittel) und aufgab. Umso berühmter sind die Bauten, deren Fertigstellung gelang und deren Ausführung in Stein ihnen Haltbarkeit verlieh, eine Haltbarkeit, die sich allerdings nur auf das Bauwerk als Topos beziehen lässt, nicht aber auf die Gesamtheit seiner Bausubstanz. Diese war durch die Jahrhunderte verschiedenen klimatischen und physischen Angriffen ausgesetzt: Fahrbahnbelag, Brüstungen, Pfeilerköpfe mussten immer wieder erneuert werden. Eisbrocken und abgetriebene Holzstämme prallten gegen die Pfeilerköpfe. Nach Überflutungen mussten Pfeiler und Gewölbe erneuert werden. Brückentürme und andere Aufbauten wurden aus unterschiedlichen Gründen abgerissen. Baualterspläne, die die fortwährenden Veränderungen am Ist-Zustand einer Brücke anschaulich machen, existieren kaum7.

I.3.Die großen Steinbogenbrücken des 12. Jahrhunderts im Reich und in Böhmen

Im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen und östlich des Rheins entstanden im Laufe des 12. Jahrhunderts nur drei große Steinbogenbrücken. Sie befanden sich in Würzburg (um 1120–1133), Regensburg (1135–1146) und Dresden (4. Viertel des 12. Jahrhunderts bis 1222). Unmittelbar vor der Dresdner Elbebrücke entstand in Prag die sogenannte Judithbrücke über die Moldau (1167–1172). Die Erbauungsdaten liegen so nahe beieinander, dass sich die Vermutung aufdrängt, in Würzburg und Regensburg sowie in Prag und Dresden könne jeweils der gleiche Architekt zum Einsatz gekommen sein. Zumindest dürfte die Anregung zum Brückenbau in Prag aus Regensburg gekommen sein, wie noch zu zeigen sein wird, während Dresden unmittelbar auf Prag reagierte. Daher könnten die vier bedeutendsten technischen Denkmäler Mitteleuropas aus der Epoche der Romanik nicht nur in einer chronologischen Reihe, sondern auch in einer kausalen Abfolge stehen. Die herausragende architekturgeschichtliche Bedeutung der vier großen romanischen Steinbogenbrücken im Reich und in Böhmen weckte unter Historikern früh den Wunsch, die Identität ihrer Architekten aufzudecken. Doch die in einigen Schriftquellen namentlich überlieferten Personen, die mit den Bauwerken in Verbindung gebracht werden, waren keine Praktiker, sondern Finanzverwalter.

1. Würzburg (Abb. 6). Dieser Schluss mag für den Laien Enzelinus, zu dessen Gunsten Bischof Embricho von Würzburg 1133 eine Urkunde ausstellte, nicht auf Anhieb verständlich sein, hält der Bischof doch fest, dass jener Enzelin „uns eine Brücke gemacht“ (pontem nobis fecit) und außerdem den Weg zum Dom hergestellt habe (viam ad Monasterium fecerat), also die Straße, die in Verlängerung der rechtsmainischen Brückenrampe bis vor die Westfassade der Würzburger Kathedrale führt1. Derart erfahren, wurde ihm die Erneuerung des Domes übertragen. Damit er aber diese Aufgabe leichter ausführen könne (libentius huius operis curam gereret), so heißt es zum Anlass der Urkundenausstellung, verlieh der Bischof der Kapelle, die Enzelin in der Vorstadt errichten ließ (contruxerat), die Pfarrrechte. Darüber hinaus gewährte er dem Enzelin die Bitte, dass der Priester der neu eingerichteten Pfarrei aus dessen Familie stammen müsse. Trotz der Verwendung des Verbs construere, das die Herstellung einer architektonischen Struktur auszudrücken scheint, war Enzelin der Stifter jener Kapelle. Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass ein Handwerker über das Kapital und den Grundbesitz verfügte, um eine Kirche zu stiften, die der Bischof mit einem Privileg wie diesem bedachte. Die Aufgabe, die Enzelin am Dom zu erfüllen hatte, war denn auch die Verwaltung und Leitung der Erneuerungsmaßnahmen (cura et magisterium operis); in der Kombination sind die Ausdrücke unmissverständlich2. Ein solches Aufsichtsamt hatte er, der vermutlich dem städtischen Patriziat angehörte, bereits beim Bau der Mainbrücke ausgeübt. Der Architekt, der die zahlreichen konstruktiven und gestalterischen Probleme löste, bleibt hingegen unbekannt.

Abb. 6: Würzburg, Mainbrücke, Plan und Ansicht im Zustand um 1926

2. Regensburg (Abb. 7). Da um das Jahr 1146 auf der Baustelle der Augustinerstiftskirche St. Mang in der Regensburger Brückenkopfsiedlung Stadtamhof kurzzeitig Werkleute aus Como, sogenannte Comasken oder Comacini, tätig waren, wurde die Vermutung geäußert, dass die Steinerne Brücke ebenfalls von einem solchen Bautrupp errichtet worden sein könnte3. Die Comasken, die lange für jede italienische Stilregung in der romanischen Bauskulptur nördlicher Regionen verantwortlich gemacht wurden, sind ein Mythos der Kunstgeschichte. Obwohl nur auf einer einzigen, der Regensburger, Schriftquelle beruhend, wurde die Vorstellung weithin akzeptiert, dass Handwerkerverbünde vom Comer See im 12. Jahrhundert die Träger von Stiltransfer und von technischem Wissen gewesen sein sollen. Plausibel schien diese Idee, weil mit ihr mehrere Fakten assoziierbar sind. Zum einen ist die Migrationsfreude mittelalterlicher Steinmetz-Individuen bekannt und anhand von Baurechnungen gut zu belegen. Zum anderen werden Comacini genannte Bauleute in langobardischen Rechtstexten des 7. Jahrhunderts genannt, während im 16. Jahrhundert mehrere Dynastien von Steinmetzen aus der Comer Region für die Habsburger arbeiteten. Aus diesen Eckdaten wurde unter Einbeziehung der Regensburger Erwähnung aus der Mitte des 12. Jahrhunderts eine jahrhundertelange Tradition konstruiert. Tatsächlich waren die Comasken um 1146 – dem Jahr der Fertigstellung der Steinernen Brücke – in der Hoffnung angereist, beim Bau der wohl vor 1138 begonnenen Stadtamhofer Stiftskirche mithelfen zu können4. Sie gaben vor, auf Empfehlung des Schatzmeisters am Mailänder Domkapitel nach Regensburg gekommen zu sein, der mit dem Stifter von St. Mang befreundet war. Zunächst wurden sie abgewiesen, dann als Steinbrecher eingesetzt und ausdrücklich nicht beim Aufrichten von Mauern zugelassen, schließlich an eine Äbtissin, vermutlich diejenige von Stift Niedermünster, überwiesen. Außer bei dem Baumeister, der mit ihnen nach St. Mang gekommen war, muss es sich bei den Arbeitern nicht einmal um ausgebildete Steinmetze gehandelt haben. Steinmetze wiederum waren im Brückenbau zwar für die Stabilität der Pfeiler und der Bögen verantwortlich, vielleicht experimentierten sie auch mit Rezepturen für besonders haltbaren Mörtel, entscheidend ist bei Brücken aber die Frage, welcher Personenkreis mit wasserbautechnischen Kenntnissen aufwarten konnte. Nebenbei ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass die für die Regensburger Brücke vereint verantwortlichen Bauträger – der königliche Burggraf, der Bischof, die Bürger5 – in Oberitalien nach einem Architekten oder Ingenieur suchen ließen, schließlich war der Austausch mit den bayerischen und lombardischen Regionen südlich des Alpenhauptkamms auch in vielen anderen Bereichen äußerst lebendig.

Abb. 7: Regensburg, Steinerne Brücke, Nachstich nach Matthäus Merian 1644

3. Prag. Auch für die Prager Judithbrücke könnte ein Baumeister aus Oberitalien engagiert worden sein, vermutet die Forschung6. Allerdings sind noch keine technischen oder gestalterischen Elemente benannt worden, für die eine Brücke südlich der Alpen als Vorbild gedient haben könnte. Von der Vorgängeranlage der Karlsbrücke ist im Bereich der Rampen sowohl am Altstädter Ufer als auch an der Kleinseite genug Bausubstanz erhalten, um ein Bild zu vermitteln7. So verbirgt das barocke Konventsgebäude der Kreuzherren mit dem Roten Stern, die ab 1253 das Geld für den baulichen Unterhalt der Brücke verwalteten, den Stumpf des Brückenturms der Altstadtseite (Abb. 8). Dieser wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts über dem ersten Freipfeiler errichtet, der auf einer schmalen Sandinsel steht. Der Pfeiler und der erste Bogen, der die Insel mit dem Altstädter Ufer verbindet, sind nahezu vollständig erhalten. Auf der Kleinseite bildet der bauzeitliche Brückenturm heute die südliche Flanke des Zugangstors zur Karlsbrücke. Zudem wurden Teile der nördlichen Rampe und ein Bogen in den Kellern einiger Häuser der Straße U Lužického semináře entdeckt. Der Rest eines Pfeilers steht noch im Bett des Čertovka-Baches. Dank dieser Relikte und eines Grundrisses von 1784 (Abb. 9), auf dem die bei Niedrigwasser beobachteten Standorte von zwölf Strompfeilern kartiert sind, lässt sich die Trasse der Judithbrücke rekonstruieren8. Das Bauwerk besaß einst 20 Pfeiler, 21 Bögen und zwei Rampen, mit denen eine Strecke von über 500 m bewältigt wurde.

Abb. 8: Prag, Konventsgebäude der Kreuzherren mit dem Roten Stern, vom Altstädter Brückenturm aus gesehen

Abb. 9: Karl SALZER, Perspectivische Darstellung desjenigen Theils der Prager Brücke, welcher den 28. Februari Anno 1784 von dem großen Eyßstoss … beschädigt worden ist …, Kupferstich 1784

Vinzenz von Prag, Kaplan des Prager Bischofs Daniel, rühmt im Chronicon Boemorum Judith von Thüringen, die Gemahlin des Přemyslidenherzogs Vladislav II. (als König Vladislav I.), für ihre Klugheit und ihren Fleiß und führt unter ihren Stiftungen das Kloster in Teplitz (Teplice) und die Prager Brücke an. Was nämlich keiner der Fürsten, keiner der Herzöge, keiner der Könige bis auf Eure Zeit anzufangen und auszudenken vermocht, wird durch Euch, unsere ruhmreiche Herrin, innerhalb des Zeitraums von drei Jahren vollendet9. Als Vinzenz dies schrieb – und er spricht seine Herrin direkt an – muss das Königspaar noch im Amt gewesen sein, d.h. die Brücke wurde noch vor 1172 vollendet, und das fügt sich zu der Jahreszahl, die dem Hofchronisten Kaiser Karls IV., Přibík Pulkava, im ausgehenden 14. Jahrhundert für den Baubeginn überliefert wurde: 116710. Pulkava berichtet außerdem, Judith habe die steinerne Brücke auf eigene Kosten errichten lassen, womit die Namensgebung begründet sei. Woher aber soll Pulkava diese über Vinzenz von Prag hinausgehende Informationen bezogen haben? Das Geld für die Brücke stammte doch wohl aus Italien, denn einerseits hatte Vladislav von Kaiser Friedrich einen Anteil an der Mailänder Beute von 1158 bekommen, andererseits trieb der Kaplan Vinzenz in zahlreichen norditalienischen Kommunen Kompensations- und Ehrengelder für seinen Bischof ein, von denen ein Teil in den Brückenbau geflossen sein mochte11. Die Namenspatronin Judith darf als Verwalterin der Finanzen gelten12. Sie handelte als consors regni (Mitregentin), die ihren Beitrag zur Neugestaltung des Siedlungskonglomerats, das heute Prag heißt, leistete.

Die Angabe von drei Jahren Bauzeit gilt als panegyrische Übertreibung, daher setzt die Prager Forschung die Bauzeit der Brücke mit der gesamten Zeitspanne gleich, in der Vladislav und Judith als König und Königin regierten: 1158–117213. Denn es sei im Grunde Vladislav gewesen, der die steinerne Brücke zu bauen befohlen habe, und zwar als unmittelbare Reaktion auf seine Krönung zum König durch Barbarossa im Januar 1158. Die Königskrönung Vladislavs fand in Regensburg statt. Mehr noch, es war Vladislav, der auf einem Regensburger Hoftag zwei Jahre zuvor, 1156, den Fürstenspruch verlesen hatte, der zum Privilegium minus, zur Ausgliederung der Markgrafschaft Österreich aus dem Herzogtum Bayern, führen sollte. Und nun wurde er selbst im Vorort der bayerischen Herzöge, deren Machtbeschneidung er mitbetrieben hatte, zum König erhoben. Es würde einleuchten, wenn er unter dem Eindruck des steinernen Wunderwerks dieser Stadt nun den Bau einer steinernen Brücke in seiner eigenen Hauptstadt in Angriff nehmen wollte, offenkundig ein Projekt, das den neuen Status des böhmischen Fürsten angemessen zu repräsentieren geeignet war. Nach dem triumphalen Ausgang des Mailand-Feldzugs im Sommer 1158 hätte Vladislav allen Grund gehabt, sich selbst ein Denkmal zu widmen14. In diesem Sinne ist das große Relief an der brückenseitigen Fassade des Kleinseitner Brückenturms auch immer verstanden worden (Abb. 10). Nimben und Heiligenattribute fehlen, daher scheidet ein religiöses Thema aus. Ohne Zweifel diente das Relief der Inszenierung von Herrschaft, nur sind leider keine Insignien oder Inschriften beigefügt, mit deren Hilfe sich die Identität des Thronenden lüften ließe. Die immer wieder, zuletzt von MARTIN WIHODA, kolportierte Lesart ANEŽKA MERHAUTOVÁS von 1971 besagt, dass der kniende Vladislav aus den Händen Barbarossas die böhmische Königskrone empfange15. Der Grund für diese Deutung liegt darin, dass Vladislav mit dem sogenannten Krönungsdenar eine derartige Darstellung hat prägen lassen, die man hier zeitnah in die Monumentalität beinahe lebensgroßer Figuren übersetzt sehen will16. Eine solche Interpretation gibt das Relief aber nicht her, weil das Objekt, das im Zentrum der Figurengruppe steht, mit Sicherheit keine Krone war. Wäre es eine Krone gewesen, hätte sie der Prätendent mit eigenen Händen entgegennehmen und sich selbst aufsetzen müssen. Abgesehen von der Münze, bei der tatsächlich Vladislav nach der Krone greift, zeigen Darstellungen einer Krönung den Empfänger der Krone inaktiv (Abb. 11). Entsprechend schildern die Chronisten die Krönung Vladislavs durch den Kaiser in Regensburg17. Barbarossa hat seinen tschechischen Gefolgsmann ein zweites Mal am Folgetag der Kapitulation Mailands im September 1158 eigenhändig gekrönt und ihm die Krone überlassen:

Der Herr Kaiser aber saß, mit der kaiserlichen Krone geschmückt, auf dem Throne mitten in seinem Zelte … und beschenkte und zierte vor so vielen deutschen und italienischen Fürsten Herrn Wladizlaus, den König der Böhmen, nach so vielen Mühen und herrlichen Siegen mit einer sehr großen, herrlich gearbeiteten Krone18.

Abb. 10: Figurenrelief am Brückenturm auf der Prager Kleinseite

Abb. 11: Freiburg im Breisgau, Münster, Nikolauskapelle, Relief einer Pilgerkrönung

Gegen eine Krönungsdarstellung auf dem Relief spricht vor allem die Handhaltung der Figuren. Die Initiative geht von dem Knienden aus, der ein Objekt darbietet, während der Thronende die rechte Hand zur Tassel seines Mantels führt und mit der Linken den Gestus des Hörens oder Entgegennehmens ausführt und nichts herüberreicht. Das Objekt dürfte demnach ein kleines Modell der Judithbrücke gewesen sein, wie es in Stifterdarstellungen geläufig ist. Bei dem Knienden dürfte es sich daher entweder um einen unbekannten Mitfinanzier der Brücke oder um den Architekten der Brücke handeln – so antiquiert diese Deutung auch klingen mag19.

4. Dresden. Die Entstehungszeit der Dresdner Elbbrücke (Abb. 12) ist nicht überliefert; erstmals erwähnt wird sie in einer Ablassurkunde, die undatiert ist und dem Meißner Bischof Heinrich (amt. 1230–1240) zugeschrieben wird. Der Bischof nennt sie reparaturbedürftig, da sie nach einer Überschwemmung stark beschädigt wurde20. 1287 wird die Brücke als Werk aus Stein charakterisiert21.

Abb. 12: Dresden, Elbbrücke, Zustand um 1500

Der Archäologe REINHARD SPEHR hat wahrscheinlich gemacht, dass Dresden im 12. Jahrhundert als königliche Planstadt angelegt wurde und die Brücke als primärer, ja konzeptioneller Bestandteil dieser Anlage zu betrachten ist. Holz- und Keramikfunde erlaubten es, die ältesten Bauwerke in dieser Stadt, darunter die Stadtmauer und ein unterkellertes Haus an der stadtseitigen Brückenrampe, ebenso wie einen archäologisch untersuchten Brückenpfeiler in das 4. Viertel des 12. Jahrhunderts zu datieren22. Damals war das Reichsgut des Gaus Nisan, zu dem Dresden gehörte, noch nicht an den Markgrafen von Meißen verpfändet (um 1198–1221), weshalb als Bauherr der Brücke in erster Linie Friedrich I. Barbarossa in Frage kommt (1155–1190). Das Reichsgut wurde von seinem Burggrafen aus dem Geschlecht von Dohna verwaltet, dessen Beteiligung am Bau der Brücke in einer neuzeitlichen Beschreibung glaubhaft gemacht wird23. Der Baubeginn rückt damit in unmittelbare Nähe zu der Entmachtung des böhmischen Königs Vladislav im Jahre 1173, die Friedrich I. auf einem Hoftag nicht weit von Dresden betrieb24. Daher entsteht der Eindruck, als sei die Aberkennung von Vladislavs Königswürde gewissermaßen mit der Entthronung seiner Prager Brücke als längster Steinbogenbrücke Mitteleuropas einhergegangen, die sie bis dahin mit deutlichem Abstand war (21 Bogen, 514 m Länge). In Dresden entstand nun ein Bauwerk mit 24 Bogen und einer Länge von 560 m (Breite: 8,50 m)25.

Der Bau der Elbbrücke zog sich wahrscheinlich über Jahrzehnte hin, deshalb dürfte früher oder später auch der Markgraf an dem Werk beteiligt gewesen sein. Als Jahr der Vollendung wird 1222 überliefert, ohne dass man wüsste, worauf sich diese Angabe stützt26. 1319 erließ der Meißener Bischof einen Ablass für die Dresdner Kreuzkirche, der der Instandhaltung der Elbbrücke zugutekommen sollte27. Der Name eines Architekten kommt erst im 17. Jahrhundert auf, als eine volkstümliche Figur zum „Signor Matthaeus Fotius“ veredelt wird28. Dessen Selbstporträt glaubt man in dem sogenannten Brückenmännchen zu erkennen, der wohl ins 16. Jahrhundert gehörenden unterlebensgroßen Relieffigur eines hockenden Mannes. Sollte „Fotius“ von dem Amtstitel eines Vogtes abgeleitet sein29, könnte die Überlieferung den Namen eines mit Reparaturen an der Brücke beauftragten Verwaltungsbeamten bewahrt haben.

So ist festzuhalten, dass die Architekten der vier größten mitteleuropäischen Steinbogenbrücken des 12. Jahrhunderts namenlos bleiben. Erst aus dem 14. Jahrhundert ist der Name eines Brückenbaumeisters überliefert, weil der Bauherr mit ihm renommieren wollte.

I.4.Ingenieure und Architekten

Der Prager Bischof Johann IV. von Dražic hatte 1333 einen Meister Wilhelm aus Avignon in seine Residenzstadt Raudnitz (Roudnice nad Labem) bestellt, um eine Brücke über die Elbe schlagen zu lassen. Im ganzen böhmischen Königreich und in den Nachbarprovinzen soll er vergeblich nach einem geeigneten Meister gesucht haben. Nachdem Wilhelm, der in solchen Dingen erfahren war, mit drei Gehilfen binnen eines Jahres zwei Brückenpfeiler gesetzt und mit einem Gewölbe verbunden hatte, sollen einheimische Werkleute (artifices gentis nostrae) das Prinzip verstanden und die Brücke weitergebaut haben1. Hier wird die Methode angedeutet, mit der technisches Know-how weitergegeben wurde: mündliche Instruktion und Mitarbeit am Vorbild. Nach sieben Jahren Bauzeit soll die Raudnitzer Brücke 1340 vollendet gewesen sein. Jüngst konnten an den Lagerflächen der Bogenkeilsteine, die vom Flussgrund geborgen wurden, dreistrahlige Kanäle für Mörtelverguss festgestellt werden, die in dieser Art auch am Papstpalast in Avignon nachgewiesen werden konnten, d.h. die überlieferte Herkunft der Werkleute aus dem Süden Frankreichs konnte mit bauforscherischen Mitteln bestätigt werden2. Da es die standardisierten Steinformate waren, die messerdünnen Fugen zwischen den Quadern und die besagten Mörtelkanäle, die die Raudnitzer vor den anderen Brücken des 14. Jahrhunderts in Böhmen auszeichnen, liegt es nahe, dass Meister Wilhelm den Beruf eines Steinmetzen ausübte. Der Bischof, der noch als 70-Jähriger für zwölf Jahre nach Avignon gegangen war, um gegen seine Suspendierung zu kämpfen, und sich schließlich erfolgreich gegen den Vorwurf der Inschutznahme von Ketzern verteidigen konnte, inszenierte nach seiner Rückkehr nach Böhmen seine Bauherrschaft. Die Beschäftigung eines französischen Baumeisters – eines Fachmanns, der für den Papst im fernen Avignon gearbeitet hatte, wo die berühmteste aller Steinbogenbrücken stand – gehörte zu seiner Repräsentationsstrategie. Erfolgreich sorgte der Bischof dafür, dass diese Tatsache auch in die Chroniken einging. Die Widerstandskraft ‚seiner‘ Brücke gegen die Flut von 1342 lieferte den willkommenen Aufhänger.

Noch einmal zurück zur Judithbrücke. Es ist gut möglich, dass der leitende Baumeister in Italien rekrutiert wurde, benötigt wurde aber auch ein Ingenieur für Wasserbau. Der Prager Bischof Daniel, der Vladislav auf dem Mailandfeldzug begleitet hatte und zu den engsten Vertrauten des Kaisers gehörte, sprach Italienisch3 und könnte Vladislav geeignete Kandidaten vorgestellt haben. Vladislav selbst kannte nicht nur die Steinbrücken in Regensburg und Würzburg aus eigener Anschauung; in Italien könnte er die römischen Bauwerke gesehen haben, die den Übergang über den Oglio (Palazzo sul’Oglio), den Serio (Seriate), den Lambro (Monza) und den Seveso (Mailand) ermöglichten. Unter den böhmischen Truppen gab es Pioniere, die die vom Feind zerstörten Brücken über die Adda bei Cassano und bei Vaprio (Pons Aureoli) in großer Eile reparieren konnten4. Die Brücke bei Vaprio stürzte allerdings zweimal ein und beförderte 160 Mann zu Tode.

Während des Krieges hatten die Mailänder Gräben um ihre spätantiken Stadtmauern ziehen lassen. Organisiert hatte dies ein gewisser Guintelmus. Gegen das kaiserliche Heer zogen die Mailänder in Streitwagen, die von demselben Guintelmus konstruiert worden waren. Schon 1156, beim Krieg gegen Pavia, hatte er Katapulte gebaut und eine Brücke über den Ticino geschlagen, über welche die Truppen der Mailänder gegen Pavia anrannten5. 1160 wurde auf der Gegenseite, beim Kaiser, ein Mann vorstellig, der anbot, gegen die mailandtreue Stadt Crema einen Belagerungsturm zu errichten6. Der Turm, der von Vinzenz von Prag ausführlich beschrieben wird, verfügte über eine Zugbrücke, die auf die Stadtmauer herabgesenkt werden konnte. Als Referenz hatte der Fremde darauf verwiesen, im Königreich Jerusalem etliche Belagerungsmaschinen gebaut zu haben.

Ingenieurstechnik war im Krieg allgegenwärtig. Selbst um das Prunkzelt aufzubauen, unter welchem Vladislavs Krönung im Feld vollzogen wurde, hatte es „Maschinen und Instrumente“ bedurft; das Zelt war ein Geschenk des englischen Königs Heinrich II. an Friedrich I. Barbarossa7.

Als Ingenieure traten keine Maurer oder Steinmetze auf, sondern Schreiner und Zimmerleute. Bis zum Beginn der Renaissance waren es fast ausschließlich ihresgleichen, die Belagerungsmaschinen, Pontonbrücken, wassergetriebene Räder sowie Kräne zum Heben von Baumaterial herstellten. Nur ausnahmsweise erwiesen sich Baumeister gleichermaßen kunstfertig in Stein und Holz wie Wilhelm von Sens, der Architekt der Kathedrale von Canterbury (†1180), der selbst Kräne zum Be- und Entladen von Schiffen und zum Heben von Baumaterial konstruierte8. Doch fanden Innovationen, die Ingenieure im Zivilbauwesen hervorbrachten, anders als ihre militärisch nutzbaren Vorrichtungen nur selten Niederschlag in den Quellen. Von Master Thomas of Houghton, Ingenieur des englischen Königs Edward I. (1272–1307), ist überliefert, dass er Erfinder einer Maschine war, mit der man Pfähle in den Boden rammen konnte9. Ein solches Gerät, auf ein Floß montiert, wurde auch benötigt, wenn zur Konstruktion eines Brückenpfeilers ein Kofferdamm in der Flusssohle verankert werden sollte. Spätere Reparaturen am Fundament eines Pfeilers erforderten solche Spundwände erneut10. Das Prinzip beschrieb bereits Vitruv11. Ein Koffer- oder Fangedamm besteht aus einer doppelten Reihe eng nebeneinander gesetzter Pfähle, die, unten angespitzt und mit einer eisernen Bewehrung versehen, senkrecht in den Flussgrund getrieben wurden. Die parallelen Spundwände mussten einerseits gegen den Wasserdruck und andererseits gegen den Erddruck verstärkt werden, dem sie ausgesetzt waren, nachdem der Zwischenraum zwischen den beiden Reihen mit gestampfter und mit Ton vermischter Erde aufgefüllt wurde. Nun konnte das Wasser aus dem Bereich innerhalb der Pfahlwände herausgeschöpft werden. In der so erzeugten Baugrube wurde der Pfeiler fundamentiert und anschließend aufgemauert12. Einfluss auf die Anwendbarkeit dieser Methode hatten die Beschaffenheit des Flussbetts und die Gewässertiefe. So wurde bezweifelt, dass es mit der mittelalterlichen Rammtechnik überhaupt möglich gewesen sei, Pfähle für einen Kofferdamm bis auf den soliden Untergrund zu treiben, der in der Elbe bei Raudnitz in einer Tiefe von 6–7 m unter der Flusssohle liege13. Würden aber die Pfähle lediglich in Kies und Sand stecken, würde das Wasser unentwegt in einer solchen Geschwindigkeit nachströmen, dass es nicht gelänge, es abzuschöpfen. Aus diesem Grund wurde der Gitterrost mit angearbeiteter Schalung, der unter einem Pfeiler der Raudnitzer Brücke lag, nicht als Fundamentplatte, sondern als Rest eines Senkkastens gedeutet. Auch diese Erfindung findet sich schon bei Vitruv am Beispiel von Hafenmolen erläutert14. Ein Kasten, eigentlich eine aus Pfählen und Querstreben gezimmerte Verschalung des geplanten Pfeilers, wurde an die richtige Position gezogen und im Untergrund durch Rammen verankert. Bei Vitruv hat der Kasten keinen Boden. Wie der Baugrund eingeebnet und gereinigt werden soll, führt Vitruv nicht näher aus. Bruchsteine und ein spezieller Mörtel, der unter Wasser aushärten kann, werden in den Kasten eingefüllt, und auf dem so geschaffenen Sockel wird der Pfeiler aufgemauert. Entscheidend ist hier der hydraulische, d.h. unter Wasser abbindende Zement, dem Puzzolanerde beigemengt war. Für Orte, an denen kein entsprechender Zuschlagstoff greifbar war (und Raudnitz gehörte sicherlich dazu), verwies Vitruv auf die Technik des Kastenfangedamms.

Den Würzburger Brückenbaurechnungen lässt sich entnehmen, dass die zur Erneuerung der Strompfeiler ab 1476 angelegten Wasserstuben tatsächlich nur unter großen Schwierigkeiten trocken zu halten waren, insbesondere während des Sommerhochwassers 1480, als der Bau sogar eingestellt werden musste15. Während der Sommermonate 1488 schöpften bis zu 180 Mann gleichzeitig und ohne Pause Wasser aus der Grube. Nichtsdestotrotz musste man an der Methode der Kastenspundung festhalten und versuchte, wo es ging, die mit eisernen Schuhen bewehrten Pfähle in den felsigen Untergrund hineinzutreiben. Sicher kam es den Brückenbauern entgegen, wenn ein Sommer so heiß und niederschlagsarm war, dass die Flüsse austrockneten. Für das Jahr 1135, in dem mit dem Bau der Regensburger Steinernen Brücke begonnen wurde, ist ein solcher Sommer überliefert16.

Bei den meisten Brücken des 12.–14. Jahrhunderts wurde darauf verzichtet, in der Baugrube selbst weitere Pfahlreihen zu setzen, um die Brückenpfeiler zu fundieren. Diese Technik wurde bei der Koblenzer Moselbrücke Erzbischof Balduins von Luxemburg (amt. 1307–1354) nachgewiesen, als 1946–1949 die Fundamente von vier der 13 Pfeiler ertüchtigt werden mussten17. Die in mehreren Reihen im Abstand von 60–100 cm aufgestellten Pfähle stecken die Grundrissfläche jedes Pfeilers einschließlich seiner spitz zulaufenden Schmalseiten ab (Abb. 13). Im Unterschied zu den Pfahlrosten, die den Pfeilergrund der älteren Römerbrücke in Trier sicherten, liegen auf den Pfahlreihen in Koblenz keine Schwellbalken auf; statt dessen sind die Pfahlköpfe mit Sandsteinplatten abgedeckt, auf denen das Pfeilermauerwerk auflagert.

Abb. 13: Koblenz, Balduinbrücke über die Mosel, Pfahlgründung von Pfeiler L

In Würzburg waren schon die alten Pfeiler auf der Flusssohle gegründet und ebenso wurde bei der Erneuerung verfahren, die 1476 einsetzte18. Auch in Regensburg, Esslingen, Basel, Raudnitz und Dresden besaßen die Brückenpfeiler Flachgründung. In Regensburg besteht die Fundamentplatte lediglich aus einem Rahmen mit Querstreben aus Eichenbalken, der auf dem eingeebneten Kies des Flussbetts ruht19. In ähnlicher Weise, auf einem Balkenrost mit Steinschutt, sind die Pfeiler der Pliensaubrücke in Esslingen aufgemauert; nach Vollendung der Brücke 1294 wurde der Hauptarm des Neckars unter ihr hindurch geleitet20.

In Raudnitz an der Elbe legte man auf das Kiesbett des Grundes einen besonders stabil verblatteten Balkenrost mit angearbeiteter Schalung, die die untersten Steinlagen des Pfeilers aufnahm21. In Dresden saßen die Pfeiler der ersten Brücke ohne Fundament unmittelbar „auf dem blanken Kies“ der Elbe auf; sie waren von der untersten Schicht an in Schalenmauerwerk mit einem Kranz sauber zugerichteter Sandsteinquader und einem Kern aus Gussmauerwerk konzipiert; die Quader verbanden mit Blei fixierte Eisenklammern22. In Basel waren die Steinpfeiler auf dem felsigen Untergrund aufgemauert, wobei die Außenschale aus großformatigen Kalksteinquadern bestand, die miteinander durch Eisenklammern verbunden waren23. Unter dem erhaltenen Pfeiler der Judithbrücke auf der Altstädter Seite wurde um die vorletzte Jahrhundertwende angeblich eine Pfahlrostgründung gesichtet, doch konnte an einer anderen Stelle bisher nur ein Schwellenbalken bestätigt werden24.

Mit dem Aufkommen von Steinbrücken erschlossen sich Steinmetzmeister ein neues Betätigungsfeld, in dem die Aufgaben der bis dahin federführenden Zimmerleute auf Hilfskonstruktionen – Kofferdämme und Lehrgerüste für die Bögen – beschränkt blieben. Während der auf den Werkstoff Holz spezialisierte Berufsstand auch weiterhin und bis weit in die Neuzeit Flüsse mit ausschließlich gezimmerten Konstruktionen überspannte, teilten sich beim Steinbrückenbau Vertreter beider Gewerke die Verantwortung – falls der Auftraggeber es genauso hielt wie Karl von Anjou im ausgehenden 13. Jahrhundert: