Pippa & Lotti - Saskia Karges - E-Book

Pippa & Lotti E-Book

Saskia Karges

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Beschreibung

Eigentlich hatte sich Pippa auf zwei Wochen Ferien bei ihrer Cousine Lotti und dem Meervolk gefreut. Sonnenbaden, nach Perlen tauchen und eine Schatzsuche im alten Wrack. Doch was als gemütlicher Aufenthalt unter Wasser beginnt, nimmt eine unerwartete Wendung: Irgendjemand entsorgt seinen Giftmüll im Meer! Als ihr eigener Großvater unter Verdacht gerät und eine Meerjungfrau stirbt, stürzen sich Pippa, Lotti und ihre Freunde in eine gefährliche Verbrecherjagd.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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„Hast du alles?“, fragte Frau Hansen ihre Tochter, während Philippa, genannt Pippa, in ihren Badeanzug schlüpfte.

„Ja Mama, viel brauche ich unter Wasser doch sowieso nicht.“

„Wer holt dich ab?“

„Lotti, zusammen mit Kügelchen. Deswegen ist sie bestimmt auch zu spät. Ich schwimme ihr einfach entgegen.“

„Sag ihr, und auch Laura und Michael, liebe Grüße. Stellt bitte nicht allzu viel Unsinn an, während wir weg sind.“

„Ich stelle nie irgendwelchen Unsinn an“, entgegnete Pippa grinsend, hängte sich ihre Tasche um und zog das Zopfgummi aus den blonden Locken. „Außer...“

„Außer bei Tante Helene“, ergänzte Frau Hansen und lachte. „Aber die denkt ja sowieso, wir spinnen alle ein bisschen.“

„Tante Helene denkt, dass alle, die ihre Sofakissen nicht mit dem Lineal ausrichten, spinnen“, sagte Herr Hansen, als er den Keller betrat. „Immerhin ist sie ganz begeistert, dass wir dich ins Schwimmcamp schicken.“ Herr Hansen malte bei dem Wort Schwimmcamp mit seinen Fingern große Anführungszeichen in die Luft und rollte dabei die Augen. „Ihrer Meinung nach ist das gut für die Disziplin und es bildet den Charakter. Sie wäre entsetzt, wenn sie wüsste, wo du stattdessen die Ferien verbringst.“

„Nicht nur wo, sondern mit wem! Tante Helene würde bestimmt rückwärts umfallen“, kicherte Pippa.

„So wie du letztes Mal.“ Herr Hansen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Das war nicht meine Schuld!“, verteidigte sich Pippa. „Es war Tante Helene, die wollte, dass wir in diesen blödsinnigen Freizeitpark fahren, in dem ich alle Achterbahnen ausprobieren sollte. Nur weil der Besitzer sie höchstpersönlich eingeladen und Tante Helene Schiss hat, selbst mitzufahren.“

„Ich erinnere mich, Freiherr von Adelfingen.“ Frau Hansen steckte eine Dose mit Leckereien in Pippas Tasche und zog die Kordel zu.

„Der Schmierlappen mit seinen Kotzkarussells. Und Tante Helene und ihre bekloppten Ansichten zur Erziehung einer jungen Dame.“ Bei den letzten Worten äffte Pippa Tante Helenes Stimme nach und machte eine abwertende Geste.

„Pippa!“, rief Herr Hansen mit gespielter Empörung, aber an seinem Grinsen konnte Pippa erkennen, dass ihr Vater es nicht ernst meinte. Den Ausdruck Schmierlappen hatte er im vergangenen Jahr schließlich selbst benutzt, um Adelfingen zu beschreiben.

„Na, da haben wir ja Gott sei Dank die richtige Entscheidung getroffen, wo Pippa die Ferien verbringt. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn wir Tante Helene und unsere Tochter gemeinsam für vier Tage ertragen müssten“, sagte Frau Hansen trocken. „Am Ende kommt sie mit noch mehr Vorurteilen nach Hause.“

„Nein, am Ende richtet sie die Sofakissen auch mit dem Lineal aus und meldet sich freiwillig für einen Anstandskurs an.“

Pippa lachte und umarmte ihre Eltern zum Abschied. Dann klappte sie die Falltür auf, die in den Boden eingelassen war, winkte noch einmal und stürzte sich kopfüber in das kühle Meerwasser.

Zwei Wochen! Ganze zwei Wochen durfte sie unter Wasser bei ihrer Cousine Lotti und den Meermenschen verbringen. Das würde ein Spaß werden. Lotti hatte nächste Woche Geburtstag und alle Mädchen aus ihrer Schulklasse würden da sein. Lottis Vater, Onkel Michael, bereitete jedes Mal die schönsten Überraschungen vor. Nach Perlen wollten sie tauchen. Ein Mitternachtspicknick im Algenwald war geplant. Und Tante Laura hatte einen Ausflug zum alten Wrack versprochen, ein Piratenschiff, das schon über hundert Jahre auf dem Meeresgrund lag.

Im Tunnel unter dem Haus bis ins Meer hinaus war es stockfinster. Pippa dachte an Tante Helene, Papas Patentante. Sie war eine strenge Frau ohne Fantasie und der Meinung, dass Märchen ausschließlich dazu da waren, um etwas zu lernen. Und von Meerjungfrauen hielt sie erst recht nichts. Das waren nur Hirngespinste und basta. Pippa hatte es längst aufgegeben, mit ihrer Tante über solche Dinge zu sprechen. Das Einzige, was Tante Helene interessierte, waren ihre seltsamen Handarbeitsprojekte. Außerdem mochte sie Ordnung und wohlerzogene Kinder, wie sie ständig betonte. Selbst ihr Dutt mit dem schwarzen Rüschenhaargummi sah immer gleich aus. Wie konnte man nur so werden? Pippa seufzte und schob die Gedanken an Tante Helene zur Seite. Vor ihr lagen sechs Wochen Sommerferien, und zwei davon durfte sie bei Lotti verbringen. Ein Riesengrund zur Freude. Kein Anlass für Trübseligkeit.

Langsam gewöhnten sich Pippas Augen an die Dunkelheit und sie begann, die Umrisse der Felsen wahrzunehmen, durch die der Tunnel vor ewigen Zeiten geschlagen worden war. Sie kannte den Weg zu Lotti in- und auswendig. Am Ende des Tunnels musste sie durch die rechte Felsspalte hindurch, danach in der Bucht an den Algenteppichen vorbei immer geradeaus ins offene Meer. Heute war die See ruhig und einzelne Sonnenstrahlen durchdrangen die Wasseroberfläche. Ein Schwarm winziger Fische schoss an ihr vorbei. Geschickt wich sie einer Qualle aus, die wie eine Portion blauer Wackelpudding im Wasser schwebte.

„Piiiippaaaa!“, ertönte Lottis Stimme gedämpft aus der Ferne. „Kügelchen, warte auf mich! Schwimm nicht so schnell! Kügelchen!“

Pippa konnte dem Delfin gerade noch ausweichen, als er sich mit lautem Geschnatter auf sie stürzen wollte.

„Kügelchen, halt!“

Kügelchen wackelte mit der Schwanzflosse, bremste aber doch rechtzeitig ab und stieß beinahe mit der Schnauze in einen Haufen Unrat, den die Brandung an dieser Stelle angeschwemmt hatte.

Die Mädchen umarmten sich freudig. „Liebe Grüße von meinen Eltern, wir sollen bloß keinen Unfug anstellen“, sagte Pippa und lachte.

„Würden wir doch nie tun, dafür haben wir meinen Bruder Felix“, meinte Lotti kichernd. „Apropos, lass uns nach Hause schwimmen, meine Mama macht Pfannkuchen mit Seegrassirup, aber wenn wir zu spät kommen, futtert Felix uns alles weg.“

„Mama hat mir für den Notfall auch noch Süßkram eingepackt.“

„Zeig her“, forderte Lotti. Pippa zog die Kordel ihrer Tasche auf und förderte die Dose zutage.

„Wow, Gummibärchen!“

„Die richtig guten vom Laden am Marktplatz! Nein, lass die Dose zu, die müssen wir an Land essen, sonst werden sie matschig.“

Enttäuscht gab Lotti die Dose zurück und Pippa ließ sie in die Tasche fallen.

„Schon wieder ein Stapel Autoreifen“, bemerkte Pippa und ließ Kügelchens Rückenflosse los. Sie schwamm näher an den Haufen aus schwarzem Gummi heran. „Wir sind vorhin schon mal an einem vorbeigekommen. Die waren neulich aber noch nicht da.“

„Papa sagt, es wird immer schlimmer. Irgendjemand schmeißt seit Kurzem ständig Müll ins Meer. Autoreifen, Metallteile, alles Mögliche. Und Mama sagt, im Krankenhaus müssen sie fast täglich Delfine oder Schildkröten von Angelschnüren oder alten Fischernetzen befreien. Es sind auch schon Tiere ertrunken, weil sie es nicht zum Atmen aus dem Wasser geschafft haben.“

Pippa nickte traurig. Ihr Vater hatte ihr das auch schon erzählt. In der Forschungsstation, in der er arbeitete, kämpften sie mit dem gleichen Problem. Mehrmals pro Woche brachte man ihnen Seehunde oder Wasservögel. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum die Menschen so sorglos mit dem Meer umgingen. Wussten sie denn nicht, wie schön es hier unter Wasser war? Aber wie konnte sie das den Menschen erklären? Als sie einmal ein Referat in der Schule über das Müllproblem gehalten hatte, war sie nur ausgelacht worden. Selbst ihre Freundinnen hatten sie scherzhaft einen Umweltapostel genannt. Danach hatte sie nichts mehr gesagt und mit niemandem mehr über das Meer gesprochen.

Kügelchen stupste sie mit der Schnauze an, als ob er sie trösten wollte. Pippa schüttelte sich kurz, dann hielt sie sich an seiner Flosse fest und rief: „Hey Lotti, wer zuerst zu Hause ist...!“ Kügelchen schoss davon, während Lotti erst einen Moment verdutzt schaute und sich dann beeilte, den beiden hinterher zu schwimmen. Sie lieferten sich ein wildes Kopf-an-Kopf-Rennen, bei dem Pippa sich mit aller Kraft an Kügelchen festhielt und versuchte, ihre Tasche nicht zu verlieren. Lachend streckten sie ihre Hände nach der Hauswand aus, und klatschten genau gleichzeitig daran ab.

„Ich will aber keine Pfannkuchen! Ich will Pommes! Mit Ketchup!“ Schon von draußen konnten sie Felix’ Protestgeschrei hören. Lotti zuckte mit den Schultern und Pippa musste sich das Grinsen verkneifen.

„Halt dir am besten die Ohren zu. Mittlerweile macht er das jeden Tag. Es ist richtig peinlich“, sagte Lotti und schob die Tür auf. „Mama, wir sind da!“

„Kommt rein! Felix, nein! Hör auf, deinen Teller...“

Mit einem lauten Scheppern landete der Teller mit dem Pfannkuchen direkt auf dem Boden vor Pippas Füßen.

„Felix, du gehst jetzt sofort in dein Zimmer! Jetzt habe ich aber genug. Hallo Pippa, entschuldige bitte das Chaos hier.“

„Aber ich will Pommes!“, schrie Felix.

„Und ich will, dass du jetzt - sofort - in dein Zimmer gehst.“ Tante Laura blickte ihren Sohn streng an, woraufhin Felix sich verkrümelte. Allerdings nicht ohne mit der Flosse dem Teller vorher noch einen Stoß zu versetzen.

„Was habt ihr heute vor?“, fragte Tante Laura, als Felix die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zugeknallt hatte. Sie füllte die Teller der Mädchen mit Pfannkuchen und übergoss sie großzügig mit Sirup. Sie hob Felix’ Teller auf, den Kügelchen in der Zwischenzeit sauber geleckt hatte. Vom Pfannkuchen hatte er nicht einen Krümel übriggelassen.

„Wir wollten am Algenwald nach Perlen suchen“, sagte Lotti.

„Ah, deine geheime Stelle! Wollt ihr ein bisschen Mangrovengelee mitnehmen, damit ihr bis zum Abendessen durchhaltet?“

Kurze Zeit später schwammen Pippa und Lotti mit Kügelchen und einem Korb voller Köstlichkeiten hinaus und ließen Felix’ Wutgeheul hinter sich.

„Manchmal möchte ich ihn wirklich an die Wand klatschen“, vertraute Lotti Pippa an, als sie durch Tante Lauras Korallengarten schwammen. „Ständig weint er. Alle fünf Minuten schreit er. Dauernd will er wissen, was ich mache. Und mein Salzkaramell hat er mir auch schon weggefuttert. Kleine Brüder können wirklich nerven.“

Pippa lachte. Sie hatte sich immer einen kleinen Bruder gewünscht, aber wenn sie sich Felix so ansah, war sie eigentlich ganz froh, dass sie keinen hatte. Viel lieber hätte sie eine Schwester wie Lotti.

„Ach, Pippa, bist du auch mal wieder da?“ Die alte Meerjungfrau hatte sich rosa Blüten in ihre langen grauen Locken gesteckt und führte eine Krabbe an einer Leine durch das Dorf. Immer wieder blieb die Krabbe stehen und wühlte den Meeresboden auf.

„Ja, Madame Elaine. Für zwei Wochen!“

„Wunderbar, du musst unbedingt einmal bei mir zu Hause vorbeikommen.“

„Mach ich“, versprach Pippa laut. Sie war sich nicht sicher, ob Madame Elaine noch gut hörte oder schon ein bisschen taub war.

„Au ja, ich komme mit“, flüsterte Lotti. Bei Madame Elaine war es immer spannend. Sie sammelte Schätze aus alten Wracks und brachte die wunderlichsten Gegenstände von ihren Reisen mit. Ihr Haus war vollgestopft wie eine Schatzhöhle. Und einmal hatte sie den Mädchen mit einem Satz alter Steine die Zukunft vorhergesagt und alles war genauso eingetroffen. Madame Elaine war einfach herrlich verrückt.

„Pippaaaa!“ Schnell wie ein Pfeil schoss eine Meerjungfrau mit langen blauen Haaren auf Pippa zu und umarmte sie stürmisch. „Wie geht’s dir? Wie lange bleibst du? Kommst du auch zu Lottis Geburtstag?“

„Amarine, ich hab’ dich auch vermisst“, meinte Pippa lachend und erwiderte die Umarmung. „Wir sind auf dem Weg zum Algenwald, Perlen suchen. Kommst du mit?“

„Wir haben auch Mangrovengelee“, raunte Lotti verschwörerisch.

„Oh nein! Ausgerechnet heute? Lotti, warum hast du mir nicht früher Bescheid gesagt? Sonst hätte ich meinen Eltern nicht versprochen, dass ich den Seeigelstall ausmiste!“ Sie zeigte ihre Hände, die völlig zerkratzt waren. „Und später habe ich auch noch einen Termin beim Friseur.“

„Wieder einmal Schönheit vor Spaß“, neckte Pippa, die Amarine insgeheim ein wenig beneidete. Mit ihren leuchtend blauen Augen und den Sommersprossen, die golden auf ihren gebräunten Wangen schimmerten, sah Amarine aus wie eine Prinzessin in einem Disneyfilm.

„Mein Vater hat mir kleine bunte Muschelschalen von der letzten Reise mitgebracht, die flechten sie mir in die Haare“, schwärmte Amarine und zwirbelte eine Strähne. „Sowas hat bei uns in der Schule noch niemand, ich will die Erste sein!“

„Ama, wenn du nicht so lieb und schlau wärst, würde ich denken, du bist einfach nur eine eitle Muräne. Und eine fürchterlich eingebildete noch dazu.“ Lotti pikte Amarine mit dem Zeigefinger in die Seite und Amarine quiekte auf.

„Wir heben dir genau ein Gummibärchen auf“, frotzelte Pippa. „Aber auch nur, wenn du später vorbeikommst und uns deine neue Frisur zeigst.“

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatten. An beinahe jedem Gartenzaun trafen sie auf Meeresbewohner, die Pippa und Lotti begrüßten. Jeder kannte die beiden, deren Großmutter die Meerjungfrau gewesen war, die einen Menschen geheiratet hatte. Als sie sich endlich am letzten Haus verabschiedet hatten, war mindestens eine Stunde vergangen.

Pippa hielt sich wieder an Kügelchens Flosse fest und ließ sich durch das Wasser ziehen. Sie war zwar eine ausgezeichnete Schwimmerin, aber ihre Beine konnten doch nicht mit Lottis Fischschwanz mithalten und bis zum Rand des Algenwaldes war es noch ein weiter Weg. Lotti flocht zwischendurch ihre langen braunen Haare zu zwei neuen Zöpfen. Sie riss im Vorbeischwimmen einen Faden von einer grünen Alge ab und wickelte ihn anstelle eines Haarbandes um das Ende. Pippa genoss es, ohne Anstrengung durch das Meer zu gleiten. Sie spürte abwechselnd warmes und kühleres Wasser, sah rote Seesterne und Anemonen, die den Grund wie bunte Blumen verzierten, und endlose Muschelbänke. Die Rochen, die auf der Suche nach Schnecken, Muscheln und Würmern mit ihren riesigen Flossen an ihnen vorbei durch das Wasser schwebten, erinnerten sie an übergroße Schmetterlinge. Schließlich war das Wasser um sie herum nur noch kalt und begann, erdig zu schmecken. Der Geschmack des Algenwaldes. Sie waren angekommen.

Für einen Moment hielten sie am Rande des Kliffs inne und blickten in die Tiefe. Unter ihnen lag dunkel der Algenwald. Das einfallende Sonnenlicht beleuchtete nur die oberen Blätter der Pflanzen, die sich in der Strömung wiegten und dadurch wechselnde Muster erzeugten. Für einen Augenblick wünschte sich Pippa, selbst eine Meerjungfrau zu sein. Unter Wasser war alles anders. Schöner. Leichter. Es gab keine Hausaufgaben, und niemand in Lottis Klasse kümmerte sich ernsthaft darum, wer die angesagtesten Klamotten trug. Es gab keine Autos oder Fabriken, die die Luft verpesteten. Und vor allem war es still, nur die Strömung rauschte in ihren Ohren. Sie liebte das Meer. Hier unten war sie einfach glücklich. Wenn ihr ihre Eltern doch nur erlauben würden, immer im Meer zu leben. Aber vor allem ihr Vater bestand darauf, dass sie jeden Morgen aufstand und zur Schule ging.

„Komm, wir müssen da runter!“ Kopfüber ließ sich Lotti in die Tiefe fallen. Pippa genoss noch einmal kurz die ins Wasser einfallenden Sonnenstrahlen, dann folgte sie ihrer Cousine. Kügelchen schwamm dagegen zum Atmen an die Oberfläche. Über ihnen sah Pippa die Schatten einer Gruppe von Delfinen vorbeiziehen. Bestimmt würde Kügelchen sich ihnen für eine Weile zum Spielen anschließen, so konnte sie mit Lotti in Ruhe nach Perlen suchen, ohne alle fünf Sekunden eine neugierige Delfinschnauze beiseiteschieben zu müssen.

„Siehst du den Felsen zwischen dem Riesentang? Da ist eine Muschelbank.“

„Wow, das sind ja Tausende“, entfuhr es Pippa, als sie den Gesteinsbrocken, der wie die Flosse eines Haifisches aus dem sandigen Boden ragte, erreicht hatten. Dicht gedrängt bedeckten die blauschwarzen Muscheln seine Oberfläche. Nur mithilfe klebriger Fäden hielten sie sich an ihm und untereinander fest, sodass ihnen die Brandung nichts anhaben konnte. Dazwischen wuselten kleine und große Fische, ab und zu streckte ein neugieriger Wurm seinen Kopf hervor.

„In vielen sind Perlen gewachsen, in manchen sogar mehrere“, sagte Lotti stolz. „Ich habe die Stelle nur gefunden, weil ich mit Kügelchen oft hierherkomme. In der Nähe lebt eine Delfinschule, das sind seine Freunde, mit denen spielt er so gern.“

„Ich wusste gar nicht, dass Miesmuscheln auch Perlen bilden können“, meinte Pippa, während sie sich die Muscheln näher besah. Sie hatten eine längliche Schale, die aus zwei fast gleichen Hälften bestand, so dass die Ober- und Unterseite kaum zu unterscheiden war. Im Inneren glänzte dunkles Perlmutt.

„Selten, aber sie können es. Und auf diesem Felsen sind es sogar richtig viele. Warum das gerade hier so ist, weiß ich nicht. Aber besser für uns! Ich habe es nicht einmal den Mädchen in meiner Klasse erzählt! Außer Amarine weiß sonst niemand davon. Das ist jetzt unser Geheimnis, versprochen?“ Lotti streckte Pippa den kleinen Finger entgegen, in den diese sich einhakte und dabei zur Bekräftigung nickte.

Solange keine Gefahr drohte, waren manche Muscheln sogar weit geöffnet. Pippa fand, dass sie kleinen Vogelküken ähnelten, die ihre Schnäbel aufsperrten. Lotti entdeckte einen glatten länglichen Stein, den sie vorsichtig in eine geöffnete Muschel steckte, so dass diese offen blieb, und zog mit einer Pinzette eine kleine graue Perle hervor. Sie verstaute die Perle in einem kleinen Beutel, dann reichte sie Pippa den Stein und die Pinzette. „Immer abwechselnd! Einmal du, einmal ich, ok? Ach ja, und bevor ich es vergesse...“ Lotti kramte in ihrer Tasche und förderte schließlich eine winzige Phiole hervor. „Das ist ein Serum aus Seefenchel. Das müssen wir auf die Muschel tropfen. Sonst stirbt sie, wenn wir die Perle entnehmen.“ Sie zog den Stöpsel aus dem Fläschchen und ließ einen Tropfen auf das weiche Muschelfleisch fallen.

Pippa nickte. Der erste Versuch ging schief, und sie klemmte sich beinahe die Finger ein, als die Muschel sich eiligst schloss. Aber schon beim zweiten Versuch erwischte sie eine graue Perle, deren Form an ein Herz erinnerte. Lotti klatschte begeistert in die Hände.

„Jeder zehn Stück, ok?“, fragte Lotti.

Pippa nickte. „Ja, schließlich haben wir auch noch die kleinen bunten Steine vom letzten Mal. Und die roten Korallenstückchen. Wir können ja in ein paar Tagen noch mal wiederkommen.“

Vorsichtig, um keine Muscheln zu beschädigen und die vielen Fische nicht unnötig zu erschrecken, suchten sie nach ausreichend großen Perlen und entfernten sie. Lotti entdeckte eine rosa Perle in Form eines Sterns, über die sie sich riesig freute. Am Ende fand auch Pippa einen besonderen Schatz: eine große weiße Perle, die perfekt rund war.

„Hunger“, seufzte sie, als sie die Perle zu den anderen in das kleine Säckchen steckte. „Lass uns an die Oberfläche schwimmen.“

Nicht weit vom Algenwald entfernt gab es eine kleine Insel mit einer Bucht und einem weißen Sandstrand, der für ein Picknick wie geschaffen war. Von Kügelchen war weit und breit nichts zu sehen. Er durchstreifte wahrscheinlich mit seinen Freunden immer noch die Weiten des Meeres, auf der Jagd nach Heringen und anderen Leckereien. Über ihnen kreisten die Möwen, die es mit Sicherheit auf das Essen abgesehen hatten. Pippa musste gut aufpassen, dass keiner dieser kreischenden Vögel etwas aus ihrem Picknickkorb stahl. Sie wusste ganz genau, sollte es auch nur einer Möwe gelingen, ein Stück zu stibitzen, würden mindestens tausend andere es ebenso probieren.

„Ist das schön hier.“ Pippa räkelte sich behaglich im Sand. „Ferien, die Sonne scheint, zwei Wochen nur das tun, was uns gefällt. Ein Paradies auf Erden“, sagte sie verzückt.

„Sag es nicht so laut“, mahnte Lotti. „Sonst passiert irgendwas Blödes und dann ist es vorbei mit dem Paradies.“

„Ach Quatsch. Meerjungfrauenaberglaube. Was soll denn schon passieren? Hier, am schönsten Strand der Welt?“, entgegnete Pippa und rollte sich hin und her.

„Nichts, außer dass du jetzt aussiehst wie ein paniertes Schnitzel.“ Lotti kicherte und warf eine Handvoll Sand nach Pippa.

Sie lagen noch eine Weile faul in der Sonne herum, und bald gesellte sich auch Kügelchen wieder zu ihnen. Ab und an blies er lautstark Luft aus seinem Atemloch. Aus dem Zusammenspiel von Sonnenlicht und dem Wasser, das dabei in die Luft spritzte, entstand ein Regenbogen, den Lotti jedes Mal mit einem verzückten Seufzer kommentierte. Dann war es Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.

Sie waren kaum wieder unter Wasser, da hielt Lotti plötzlich an und fasste Pippa am Arm.

„Was?“

„Pst! Hör doch mal!“

„Hä?“ Doch nun lauschte auch Pippa. Es klang, als ob jemand um Hilfe rief.

Kügelchen ließ vor Schreck den Picknickkorb fallen, als Lotti plötzlich wie ein Pfeil durchs Wasser schoss. Hastig folgte er ihr in die Richtung, aus der die Stimme kam, während Pippa den Kopf einzog und sich an seiner Rückenflosse festklammerte.

„Da drüben!“, schrie Lotti. „Dort, wo die Luftblasen aufsteigen!“ Die beiden Mädchen kämpften gegen die Strömung an und erreichten schließlich die Unglücksstelle. Knapp über dem Meeresgrund schwebte eine verletzte Robbe im Wasser. Sie hatte die Augen geschlossen und tiefe Schnitte am Rücken. Von einer Vorderflosse stiegen kleine Wölkchen aus rotem Blut auf. Der Anblick war grauenvoll, aber noch schlimmer war, dass sie sich in irgendetwas verfangen hatte und zu ersticken drohte.

„Schnell, wir müssen sie da rausholen! Sie stirbt sonst!“ Pippa ließ Kügelchens Flosse los und schwamm zur Robbe. Verzweifelt zerrte sie an dem Plastikding mit den Schnüren, das die Robbe am Boden festhielt, aber sie riss nur große Fetzen davon ab. Lotti versuchte mit aller Kraft, eine der Schnüre zu zerreißen. Aber sie war nicht stark genug, sondern schnitt sich bloß in die Hand.

„Au“, schrie sie. Mit Tränen in den Augen bemühte sie sich, die Robbe zu befreien, aber es gelang ihr einfach nicht. Endlich hatte Pippa die rettende Idee! Mit einem spitzen Stein hackte sie auf dem Plastik herum und schließlich gab es nach.

„Hilf mir, Kügelchen!“, rief Lotti, und gemeinsam brachten die beiden das verletzte Tier hinauf an die Oberfläche. Pippa paddelte hinterher. Oben angekommen, rang die Robbe hörbar nach Luft.

„Keine Sorge, wir bringen dich in die Klinik“, sagte Lotti, während Pippa der Robbe vorsichtig die Schnauze streichelte. „Es ist nicht weit, aber unter Wasser sind wir schneller. Hol’ einmal tief Luft, geht das?“ Die Robbe kniff vor Schmerzen die Augen zusammen und atmete tief ein. Daraufhin tauchte die Gruppe wieder ab. Pippa und Lotti stützten die Robbe jeweils an den Seiten, und Kügelchen schwamm unterhalb der Robbe, so dass sie nicht absinken konnte. Doch immer, wenn sie auch nur ein wenig schneller wurden, winselte die Robbe. So kamen sie nur langsam voran und es war schon fast dunkel, als sie die Klinik erreichten.

Die Mädchen waren erleichtert, dass sich zwei Pfleger sofort um die Robbe kümmerten. Gemeinsam wuchteten sie das schwache Tier auf eine Trage und brachten es in eines der Behandlungszimmer. Die Klinik hatte für Säugetiere wie die Robbe speziell ausgestattete Räume, weil diese ja hin und wieder Sauerstoff brauchten.

Lotti, Pippa und Kügelchen blieben auf dem Flur zurück. Schweigend sahen sie sich an. „Hoffentlich wird sie wieder gesund“, flüsterte Lotti schließlich. Pippa seufzte und auch Kügelchen gab ein trauriges Keckern von sich. Eine Krankenschwester reichte Pippa im Vorbeischwimmen Verbandsmaterial und etwas Desinfektionsmittel, dann verschwand auch sie hinter den Türen des Behandlungszimmers.

„Vielleicht sollten wir langsam nach Hause, Onkel Michael und Tante Laura machen sich bestimmt schon Sorgen, wo wir bleiben“, meinte Pippa, während sie die zähflüssige Desinfektionslösung auf Lottis Wunde tropfen ließ. Lotti kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf zur Seite.

„Stell dich nicht so an, das ist dein eigenes Blut.“ Pippa wickelte vorsichtig den Verband um Lottis Hand.

„ Ich kann halt mein eigenes Blut nicht sehen “, presste Lotti hervor und biss die Zähne zusammen.

„So, fertig, du kannst wieder gucken. Komm, lass uns jemandem Bescheid sagen, dass wir jetzt weg sind.“

Pippa und Lotti wollten gerade zur Rezeption schwimmen, als die Tür des Behandlungszimmers aufging und eine Ärztin mit knallroten Haaren herauskam. Unter dem langen weißen Kittel blitzte ihr Fischschwanz hervor.

Sie hatte einen ernsten Gesichtsausdruck, und ihr Tonfall ließ nicht Gutes erahnen. „Mädchen, könnt ihr mir sagen, wo ihr die Robbe gefunden habt? Denn sie hat vor kurzem ein Baby zur Welt gebracht, das dort noch irgendwo in der Nähe auf einer Sandbank liegen muss. Wir müssen uns beeilen, es zu finden, denn ohne seine Mutter wird es nicht lange überleben. Aber sie ist zu schwer verletzt, um sie schon entlassen zu können. Sie hatte sich in einem alten Fallschirm verfangen und hat sich beim Versuch, das Ding abzustreifen, die Schnitte zugezogen. Aber das war noch nicht alles. Beim Röntgen haben wir gesehen, dass sie in ihrem Magen eine Menge Plastikteilchen hat.“

„Wie ist das denn passiert?“, platzte es aus Lotti heraus.

„Tja, sie hat das wahrscheinlich über ihre Nahrung mit aufgenommen. Fische schlucken alles, was ihnen so vor die Nase kommt. Die Robbe konnte zwar den Fisch verdauen, aber nicht das Plastik, was sie zusammen mit dem Fisch gefressen hat. Wir müssen sie deshalb sofort operieren, denn sonst könnte sie an dem Müll in ihrem Magen sterben.“

„Wir machen uns am besten so schnell wie möglich auf die Suche nach ihrem Baby, damit sie sich keine Sorgen machen muss“, sagte Pippa.

„Kann ich meine Eltern anrufen? Sie können uns vielleicht beim Suchen helfen.“

„Ja, natürlich, das ist eine gute Idee. Frag bitte an der Rezeption nach dem Telefon“, antwortete die Ärztin und verschwand wieder in das Behandlungszimmer.

„Komm! Wir rufen meinen Vater an.“ Lotti fasste Pippa an der Hand und zog sie mit sich. Die Sekretärin hatte alles mitbekommen und hielt ihnen schon den Telefonhörer entgegen. Lotti schilderte ihrem Vater, was passiert war, und er versprach, umgehend einen Suchtrupp zusammenzutrommeln. Sie würden die Mädchen am Krankenhaus abholen und mit ihnen gemeinsam zurück zur Insel schwimmen, auf der sie am Nachmittag schon einmal waren. Die Insel war der einzige Ort, an dem die kleine Robbe sein konnte, sonst war in der Nähe weit und breit nur Wasser.