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Wie lernt ein Pinguin fliegen? Pippa Pinguin liebt Kekse und Schollenschubsen. Aber noch viel mehr liebt sie Schneeflocken und Papierflieger. Wenn sie doch auch nur so federleicht fliegen könnte! Dann könnte sie ihrem ängstlichen Freund Pepe die Welt zeigen, Gustavos Gewürzladen retten und ihre Omi auf dem Mond besuchen. Aber die Pinguine in der Kleinstadt Südpolia sind fest davon überzeugt, dass sie niemals fliegen werden. Wovor haben sie nur solche Angst?
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für Omi. (Ich wünschte, zum Mond gäbe es eine Postadresse.)
Prolog – Schollenschubsen und Schneeflocken
Kapitel 1 – Gewürze und Kartons
Kapitel 2 – Und nach der ganzen Welt kommt noch der Mond?
Kapitel 3 – Was das mit dem Mond auf sich hat – drei Jahre zuvor
Kapitel 4 – Ein sonderbarer Fund
Kapitel 5 – Das Bild mit dem Wal
Kapitel 6 – Anni, eine Künstlerin
Kapitel 7 – Pepes Welt
Kapitel 8 – Linas Welt
Kapitel 9 – Pepe und Lina
Kapitel 10 – Alte Geheimnisse
Kapitel 11 – Die Tenniswette
Kapitel 12 – Bill und Bernie
Kapitel 13 – Das Haus auf dem Gletscher
Kapitel 14 – Rauch über Südpolia
Kapitel 15 – Die Farbe Grün
Kapitel 16 – Eine Form von Mut
Kapitel 17 – Die Fremde aus dem Einsiedlerviertel
Kapitel 18 – Mama Pinguin, eine Malerin
Kapitel 19 – Drei fest entschlossene Pinguinküken
Kapitel 20 – Zwei Schwestern
Kapitel 21 – Fliegendes Papier
Kapitel 22 – Pippas erste Flugmaschine
Kapitel 23 – Wind, Meeresrauschen und Sonnenlicht
Kapitel 24 – Eine kleine Flugmaschine im Sturzflug
Kapitel 25 – Freundschaft
Kapitel 26 – Pepe und das Licht
Kapitel 27 – Der nächste Schritt
Kapitel 28 – Die fertige Flugmaschine
Kapitel 29 – Rote Farbe
Kapitel 30 – Die Antarktika 2
Kapitel 31 – Ein Ballon so bunt wie alle Pinguine
Kapitel 32 – Die alte Nähmaschine
Kapitel 33 – Ein heimlicher Beobachter
Kapitel 34 – Fliegen oder Fahren?
Kapitel 35 – Die aufgebrachte Carla
Kapitel 36 – Keine echten Pinguine
Kapitel 37 – Ein Dieb in dunkler Nacht
Kapitel 38 – Kommissar Alois Scholle
Kapitel 39 – Detektivin Lina Watschel
Kapitel 40 – Annis Alibi
Kapitel 41 – Carlas Beobachtungen
Kapitel 42 – Annis Geheimnis
Kapitel 43 – Noch eine Form von Mut
Kapitel 44 – Fred Fischers Motiv
Kapitel 45 – Hubert Nestbauers Motiv
Kapitel 46 – Der Heißluftballon
Kapitel 47 – Pepes Plan
Kapitel 48 – Annis flammende Rede
Kapitel 49 – Sechs Lockvögel und ein Dieb
Kapitel 50 – Rote Fußspuren im Schnee
Kapitel 51 – Ein neuer Tennisschläger
Kapitel 52 – Der Tenniswettkampf
Epilog – Wie sich Freiheit anfühlt
Liebe Vorlesenden,
dieses Vorwort richtet sich besonders an euch. In Rücksprache mit den Menschen, die diese Geschichte vor der Veröffentlichung gelesen haben, spreche ich für dieses Buch eine Altersempfehlung ab acht Jahren aus. Das liegt vor allem an der Länge der Geschichte und verschiedenen Themen, die aufgegriffen werden. Ich denke jedoch, dass jüngere Menschen die Geschichte trotzdem gern hören würden.
Ich freue mich riesig darüber, dass ihr euch entschieden habt, diese Geschichte gemeinsam mit einem Kind zu lesen, oder sie einem Kind vorzulesen.
Die Protagonistin in diesem Buch ist zehn Jahre alt. Als sie sieben Jahre alt gewesen ist, ist ein Familienmitglied gestorben, das ihr sehr nahestand. In zwei Kapiteln wird dieser Umstand explizit thematisiert. Allerdings wird nicht detailliert über die Umstände des Todes gesprochen, sondern mehr um den Umgang der Pinguine mit dem Tod.
Euch, liebe Vorlesenden, möchte ich darauf vorbereiten. Ich möchte nicht, dass ihr ahnungslos in bestimmte Szenen hineinstürzt. Daher liste ich hier die beiden eben angesprochenen Kapitel auf: „Kapitel 3 – Was das mit dem Mond auf sich hat – drei Jahre zuvor“ (S.27) und „Kapitel 23 – Wind, Meeresrauschen und Sonnenlicht“ (S.118).
Wenn ihr möchtet, könnt ihr diese Kapitel vorab allein lesen und euch überlegen, ob ihr vorher mit dem Kind darüber sprecht, kommentarlos weiter vorlest oder ganz anders verfahrt. Ich weiß, dass Kinder sehr gefühlvolle Wesen sind. Deshalb habe ich versucht, die Dialoge in diesen beiden Kapiteln möglichst einfühlsam zu formulieren.
Ich wünsche euch ein wunderbares Leseerlebnis und viel Freude daran, Pippa Pinguin bei ihrem Abenteuer zu begleiten!
Patrizia Wolf im Januar 2024
Alle Vögel können fliegen. Das heißt, fast alle Vögel können das, aber nicht die Pinguine. Sie lebten abgekapselt vom Rest der Welt in Südpolia, einer Kleinstadt in der Antarktis. Die Antarktis war eine Eiswüste, umgeben von einem großen Meer, in dem sich irgendwo eine Insel befand, auf der es kein Eis, sondern Feuer spuckende Berge und Staub gab. Deshalb nannten die Pinguine diese Insel Feuerland. Aber was hinter der Insel und dem großen Meer kam, wusste kein Pinguin. Das Einzige, was den Pinguinen bewies, dass es diese Welt hinter dem großen Meer tatsächlich gab, waren die Unmengen an Treibholz, Büchsen, Stoffen und anderem Kram, der Tag für Tag in der Antarktis an Land gespült wurde. „Das, was hinter dem großen Meer kommt, muss eine wahre Plunderwelt sein“, hatte einmal ein Pinguin gesagt und seitdem nannten alle Pinguine die Welt hinter dem großen Meer die Plunderwelt. Den Plunder machten sich die Pinguine allerdings zunutze. Sie richteten sich ihre Häuser, die nur aus Eis und Schnee erbaut worden waren, mit angespülten Möbelstücken ein und entwarfen hübsche Kleidung aus bunten Stoffen. Mit Büchern, die das Wasser nicht vollständig aufgeweicht hatte, lernten die Pinguine lesen und schreiben und die Familie Montes baute eine Papierfabrik, nachdem sie eine Anleitung zur Herstellung von Papier aus Seegras gefunden hatten. Bald druckte Familie Montes die offizielle Zeitung der Stadt Südpolia. Aus Holz bauten die Pinguine erst kleine Boote, die das Leben der Fischer erleichterten, dann wurden größere Schiffe gebaut, mit denen die Pinguine bis nach Feuerland segeln konnten. Von dort brachten sie das Feuer mit und konnten in ihren Häusern Licht machen und ihr Essen kochen. Aber über Feuerland hinaus war niemals ein Pinguin geschwommen. Doch seit jeher träumten einige Pinguine davon, sich einmal in die Lüfte zu erheben. So begab es sich vor ungefähr einhundert Jahren in der verschlafenen Stadt Südpolia, als ein kleines Pinguinmädchen eine wagemutige Idee hatte.
Es war ein ruhiger Morgen, an dem das goldene Sonnenlicht langsam über die Hausdächer Südpolias schlich. Das Eis der Hausfassaden begann zu glitzern. Die Luft roch nach Fisch und schmeckte nach Schnee. In der Ladengasse spielten einige Pinguinküken Schollenschubsen. Bei diesem Spiel teilen sich die Küken in zwei Gruppen auf und versuchen, runde Eisscheiben mit ihren Füßen über die spiegelglatte Straße in das Tor der gegnerischen Gruppe zu schubsen. Unter den Küken waren auch Lina Watschel und ihre Freundin Pippa Pinguin. „Spiel zu mir, Pippa!“, rief Lina. Pippa hatte glatte Kükenfedern und schwarze, neugierige Augen. Pippa liebte Kekse und Schollenschießen. Aber noch viel lieber bastelte sie Papierflieger und ließ diese durch die Luft gleiten. Ihr Papa, der Hutmacher war, hatte ihr einmal eine ganz besondere Mütze geschenkt: Eine braune Fliegermütze mit leuchtend rotem Flausch und einer Bommel. Oft sagte Papa Pinguin zu seiner Tochter, sie sei schnell und unbeschwert wie eine Windböe. Aber das war nicht der einzige Grund, warum die Fliegermütze so gut zu Pippa passte.
Lina war zwar jünger als Pippa, aber deutlich größer. Sie hatte nachtschwarze Federn, einen strahlend weißen Bauch und durchdringende Augen mit einem forschenden Blick. Egal, ob die Sonne schien oder ein Schneesturm tobte, Linas lila Zipfelmütze mit dem ozeanblauen Rand durfte auf ihrem Kopf nicht fehlen. Lina war selbstsicher und klug und Schollenschießen war ihre größte Leidenschaft.
„Pippa! So spiel doch die Scholle zu mir herüber!“, rief Lina erneut, diesmal viel ungeduldiger. Aber Pippa konnte jetzt nicht weiterspielen. Sie war beschäftigt. Sie stand mitten in der Ladengasse, den Schnabel nach oben gereckt, und starrte in den wolkenverhangenen Himmel, als etwas zartes, kleines auf ihrem orangenen Schnabel landete und sogleich zu einem Wassertropfen zerschmolz. „Es fängt an zu schneien!“, rief Pippa überglücklich und drehte sich im Kreis.
Frei sein, durch die Luft tanzen wie eine kleine Schneeflocke, das war es, wovon Pippa träumte. So gleiten wie ihre Papierflieger und mit hoher Geschwindigkeit die Luft durchschneiden. Pippa wollte fliegen. Und als ihr diese Schneeflocke auf den Schnabel fiel, wusste sie auf einmal ganz genau, wie sie fliegen würde. Pippa müsste etwas bauen.
Es schneite dicke Flocken, aber so etwas störte die Pinguine nicht – viele sahen Schneestürme in Südpolia sogar als das beste Wetter an und fühlten sich vom hellen Sonnenlicht und der Ruhe nach einem Schneesturm geblendet. Pippa hatte von ihrer Mama den Auftrag bekommen, Fisch und Gewürze einzukaufen. Sie zog die Haustür hinter sich zu, rückte die Fliegermütze zurecht und watschelte über die Straße zu Gustavos Gewürzladen.
Gustavo Planktonson war wie Lina Watschel ebenfalls ein Nachbar von Pippas Familie. Er verkaufte Gewürze. Einmal hatte er ein einsames Pinguinei gefunden, mit nach Hause genommen, aufgewärmt und ausgebrütet. Es war mehr als ein Wunder gewesen, dass das Ei allein in der Kälte nicht erfroren war. Aus dem Ei war Kalle geschlüpft. Kalle sah ganz anders aus als die Pinguinküken aus Südpolia: Er hatte silbergraue Federn und einen orange-gelben Fleck auf der Brust. Dass er anders aussah, tat für Pippa und Lina nichts zur Sache. Viel wichtiger fanden sie, dass er witzig war und sie gut aufmuntern konnte, wenn sie einmal schlechte Laune hatten. Außerdem konnte er hervorragend Tennis spielen. Es gab nur ein Küken in ganz Südpolia, das besser im Tennis war als Kalle Planktonson.
Pippa freute sich riesig darauf, ihren Kumpel Kalle zu sehen. Als sie jedoch vor dem Gewürzladen stand, verging ihre Freude schlagartig. „Zu ver-“, versuchte sie ein Pappschild zu entziffern, das Gustavo selbstgeschrieben und an die Eingangstür gehängt hatte. „Zu verkauvn.“ Was mochte das heißen? „Ach, zu verkaufen!“ Gustavo hatte sich bloß verschrieben. Nun verstand Pippa. Obwohl? Nein, das konnte nicht sein! Das musste ein Irrtum sein! Gustavo wollte seinen Laden verkaufen? Pippa musste der Sache auf den Grund gehen! Sie drückte die Tür auf und trat in den Verkaufsraum. Die Glocke über der Tür klingelte. Aber das klang nicht so warm und herzlich wie sonst. Eher schrill und kalt. Als Pippa sich im Laden umblickte, sah sie überall leere Regale, keine Gewürze. Das Licht war ausgeschaltet. Eiskristalle tänzelten durch die Luft. Pippa war von diesem Anblick so überrascht, dass sie fast eine Kiste auf dem Fußboden übersehen und sich daran den Fuß gestoßen hätte. Daraufhin erkannte sie, dass auf dem Boden ganz viele solcher Kisten standen. Wollte Gustavo wegziehen? Aber das durfte er nicht! Was wurde denn dann aus ihr, Lina und Kalle?
„Hallo?“ Pippa wurde von einer Stimme aus ihren Gedanken gerissen. Sie wandte sich zur Ladentheke um und erblickte Kalle, der sie soeben angesprochen haben musste. Sie antwortete: „Hallo, ich bin es, Pippa.“ Kalles Blick erhellte sich und er lief Pippa entgegen, um sie zu umarmen. „Pippa ist hier?“, rief Gustavo aus dem Lagerraum und kam in den Verkaufsraum gewatschelt. Freundlich lächelte er sie an. „Aber Pippa, warum schaust du so traurig? In deinem Gesicht stehen lauter Wolken!“ Pippa antwortete: „Was hast du mit dem Laden vor? Wollt ihr wegziehen? Habt ihr jemals bei mir oder Lina nachgefragt, ob ihr das überhaupt dürft?“ Empört stemmte Pippa die schmalen Flügel in die Seiten und schaute mit finsterem Blick zu Gustavo auf. Nun wanderten die Wolken aus Pippas Gesicht in das Gesicht des Verkäufers. Er ließ die Schultern hängen und Kalle blickte betrübt zu Boden. „Wir wollen nicht wegziehen, sondern in Südpolia bleiben“, erklärte Gustavo. „Aber dazu reicht unser Geld nicht mehr.“ „Warum denn? Du verkaufst doch Gewürze!“ Pippa verstand die Welt nicht mehr. „Richtig, ich verkaufe genau drei Gewürzsorten: Meersalz, getrocknetes Plankton und Seegras. Alle Pinguine in Südpolia haben meine Gewürze auf Vorrat, kaum jemand kommt noch zu mir. Ein Gewürzladen in der Antarktis ist ein schlechtes Geschäftsmodell – langsam verstehe ich, was die anderen damals mit diesen Worten meinten.“ „Aber Mama, Papa und ich, wir könnten den ganzen Laden leerkaufen! Linas Familie macht bestimmt auch mit. Die haben doch ein Ei! Wenn das Küken erst einmal da ist, braucht es viel zu essen!“ Gustavo lachte, aber trotzdem verschwanden die Wolken nicht aus seinem Gesicht. Er sagte: „Das ist lieb, aber wird nicht reichen“, und Kalle ergänzte: „Papa kann doch so schlecht schreiben. Deswegen kann er nicht jede Arbeit ausführen und muss lange nach etwas Neuem suchen.“
Pippa seufzte. Dann fiel ihr wieder ein, warum sie eigentlich in den Laden gekommen war. „Aber Seegras und Meersalz hast du noch?“ Gustavo antwortete: „Reichlich davon!“ Sofort hatte er eine Kiste mitten im Laden geöffnet und zwei Dosen herausgenommen. Damit watschelte er zum Verkaufstresen und tippte die Preise in die alte Kasse ein. Ein Glöckchen ertönte und die Schublade mit dem Geld sprang auf. Pippa reichte Gustavo die Münzen, die sie bezahlen musste. Dabei fiel ihr etwas auf.
„Die Gewürze werden doch von Handelsschiffen in den Hafen von Südpolia geliefert. Diese Handelsschiffe fahren nur in der Nähe der Antarktis.“ Gustavo nickte zustimmend und Pippa redete weiter: „Wenn es aber eine Möglichkeit gäbe, viel weiter zu reisen, dann könnten wir auch ganz neue Gewürze finden...“ „Was hast du vor, Pippa?“, warf Kalle ein und legte den Kopf schief. Da konnte Pippa ihre Idee, die sie beim Schollenschubsen gehabt und die sie seitdem nicht mehr in Ruhe gelassen hatte, nicht mehr an sich halten.
„Pinguine müssen fliegen können!“, platzte es aus ihr heraus. „Wie bitte?“ Gustavo fragte sich insgeheim, ob er irgendetwas verpasst hatte. „Na das ist doch eisklar! Gustavo, ich baue dir eine Flugmaschine und dann fliegst du hinaus in die Welt und findest ganz extropische...“ „...exotische“, verbesserte Kalle. „Genau, exotische Gewürze. Dann würden die Pinguine in Massen zu dir laufen, weil sie alle die neuen Gewürze probieren wollen! Dein Laden wäre gerettet!“ „Momentchen mal“, warf Gustavo nervös ein, „ich bin doch seekrank. Da steige ich erst recht nicht in so ein Flugdings. Wer weiß, was mir da passiert. Nix da! Pippa, du bist doch verrückt. Ein Planktonson gehört auf den Boden der Antarktis, nicht aufs offene Meer und erst recht nicht in die Lüfte.“
Kalle schüttelte den Kopf über die Worte seines Papas. „Nein, Pippa, das ist eine großartige Idee!“ Er fiel seiner Freundin um den Hals.
Gustavo schaute seinen Sohn nachdenklich an. Dann drehte er sich zu einem Regal um, welches an der Wand hinter dem Verkaufstresen angebracht war. Ganz einsam stand darauf ein dickes Buch. Gustavo streckte sich nach oben und wuchtete es vom Regal auf den Verkaufstresen. Er pustete über den Buchdeckel und sogleich schwirrten glitzernde Eiskristalle durch die Luft. „Ich lese doch nicht so gern“, erläuterte der Verkäufer. „Aber das ist mein liebstes Buch. Und eben auch mein einziges. Es wurde einmal angespült und weil ich das Wort Gewürze erkannt habe, musste ich es einfach mitnehmen und trocknen. In diesem Buch gibt es diesen einen Eintrag... Momentchen...“ Er blätterte wild die dünnen Seiten um und die beiden Pinguinküken reckten ihre Köpfe über den Verkaufstresen, um auch etwas sehen zu können.
„Hab es!“, jubelte Gustavo und begann sogleich vorzulesen. „Gewürze in der Farbe Grün. Während im Sü-den der Erd-ku-gel vor allem far-ben-fro-he Gewürze verwendet werden, können auf der Nordhalb-kugel grüne Kräu-ter wie Rosmarin, Basilikum, Petersilie und Thymian wunderbar ge-dei-hen. Getrocknet schmecken manche scharf, andere bitter oder süßlich. Eine völlig neue Welt der Gewürze.“ Gustavo hob den Blick. „Ich wollte niemals den Antarktischen Ozean durchsegeln, einen Gletscher erklimmen oder meine eigene Villa bauen. Aber einmal im Leben möchte ich erfahren, wie die Farbe Grün schmeckt!“
Pippa dachte nach. Sie kannten in der Antarktis verschiedene Farben. Schnee war weiß. Das Eis konnte verschiedene transparente Töne annehmen. Die Pinguine hatten ihre Stadt mit weiteren bunten Farben gefüllt. Aber das Pinguinmädchen hatte noch nie etwas von der Farbe Grün gehört. Nicht beim Spielen, beim Essen oder in der Natur. Und ganz sicher nicht in ihren Träumen. Was war Grün für eine sonderbare Farbe? War sie warm, wie ihre rot-braune Mütze, geheimnisvoll wie Mama Pinguins Augen, kühl wie die Hauswände in Südpolias Straßen, schmutzig wie das Wasser im Hafenbecken? Niemals hatte ein Pinguin über die Farbe Grün gesprochen. Wie schmeckte Grün? Wie Fisch, oder die Luft nach einem Schneefall? Wie Salz?
„Ich werde diese Flugmaschine bauen!“ Nun stand Pippas Entschluss fest. Kalle erwiderte: „Ich werde dir helfen!“ „Ihr seid verrückt“, Gustavo war ganz gerührt.
„Und dann“, ergänzte Pippa und machte plötzlich ganz große Augen, „fliege ich in die Plunderwelt und finde für dich dieses Rosmian, Thymilikum, Basilisilie und Petermarin.“
Von Fröhlichkeit erfüllt schnappte sich Pippa die Gewürze, verließ das Geschäft und schlug den Weg in Richtung Fischereihafen ein, um ihren Einkauf fortzusetzen. Sie folgte der schmalen Ringgasse, schlenderte weiter entlang der breiten Hafenstraße und bog dann in die Fischereistraße ein. Da es bereits Vormittag war, herrschte dort ein undurchdringbares Gewusel. Die kleine Pippa huschte zwischen den großen Pinguinen hindurch, um zum letzten Haus zu gelangen. Dort wohnte Fred Fischer. Wie immer saß Fred vor der Tür auf einem klapprigen Stuhl. Vor sich hatte er seinen alten Verkaufstisch aufgebaut, auf dem seine Ware in schäbigen Kisten auf Eiswürfeln präsentiert wurde. Mit der Absicht, dass der Fisch in der Mittagssonne nicht ungenießbar wurde, hatte Fred einen rot-weiß gestreiften Schirm aufgespannt.
Wäre Fred nicht einer der leidenschaftlichsten Fischer aus ganz Südpolia gewesen, der genau wusste, wo sich die besten Angelstellen befanden, würden wegen seiner mürrischen Art wahrscheinlich keine Pinguine mehr bei ihm einkaufen.
Trotzdem beschlich Pippa ein mulmiges Gefühl, als sie sich dem Tisch näherte. Sie mochte es eben nicht, wenn andere von Grund auf schlecht gelaunt waren. Zögerlich sprach sie den Fischer an. „Guten Morgen! Ich hätte gern drei Fische aus der Kiste da.“ Sie zeigte mit dem Flügel auf eine der beiden Kisten. Fred saß bis zu diesem Zeitpunkt stillschweigend da und hatte sein Gesicht – eigentlich seinen gesamten Körper – mit einer Zeitung verdeckt. Ganz langsam ließ er sie sinken und starrte Pippa aus finsteren Augen an. Pippa tat es ihm gleich und musterte den alten Fischer. Seine Federn waren starr von der Meeresluft und auf dem Kopf trug er seine blau-weiße Mütze. Wenigstens eine Gemeinsamkeit, machte sich Pippa Mut, die Mütze.
„Hm?“, riss Fred seine Kundin aus ihren Gedanken. „Den Fisch“, wiederholte Pippa und zeigte erneut vielsagend auf die Kiste. Träge faltete Fred die Zeitung zusammen, erhob sich, schnappte sich unter dem Tisch eine alte Zeitung und wickelte zwei Fische darin ein. Er hielt sie Pippa hin, doch diese legte verständnislos den Kopf schief. „Hm?“, brummelte Fred erneut. „Ich möchte bitte drei Fische“, erklärte Pippa verunsichert. „Ah“, antwortete Fred und wickelte einen weiteren Fisch in ein weiteres Stück Zeitung ein.
Nachdem Pippa bezahlt hatte, musste sie es Fred einfach erzählen. Sie war viel zu aufgeregt, seitdem sie Gustavo und Kalle in ihre Pläne eingeweiht hatte. „Ich möchte fliegen!“, verkündete sie. Fred, der sich wieder mit der aktuellen Zeitung hingesetzt hatte, war vollkommen schockiert. „Was willst du?“ „Na fliegen! Mit einer Flugmaschine! Dann können wir Pinguine die ganze Welt bereisen und neue Dinge finden. Farben zum Beispiel. Und Gewürze. Oder Fische...“ Bei diesen Worten grinste sie Fred an, als ob ihre Begeisterung doch spätestens jetzt ansteckend sein müsste. Aber Fred verstand es wahrscheinlich einfach nicht. „Neue Fische? Jetzt hör mir mal zu. Damals, bevor es den großen Handelshafen gab, da waren wir Fischer die Hauptversorger der Stadt. Aber irgendwann hat das den Pinguinen nicht mehr gereicht. Sie wollten immer höher, schneller, weiter! Seitdem es diesen riesigen Hafen da drüben gibt...“, der Fischer machte eine wegwischende Flügelbewegung in Richtung der großen Schiffe, Häuser und Kräne auf der anderen Seite des Hafens, „...seitdem haben wir doch alle nur noch Probleme! Höher, schneller, weiter. Genau! Und jetzt auch noch fliegen! Wo soll das denn einmal hinführen? Damals war uns Südpolia zu klein. Jetzt ist uns wohl das Antarktische Meer zu klein. Wenn wir dann die ganze Welt mit diesem Flugdings bereisen können, ja dann wird uns die bald auch zu klein. Was kommt danach? Der Mond?“
Der Mond und Pippa. Das war so eine Sache für sich. Sehnsüchtig schielte Pippa zum Himmel, doch da überdeckte das viel zu helle Licht der Mittagssonne alles. Der Mond zeigte sich erst wieder am Abend.
„Ja, vielleicht der Mond“, flüsterte Pippa geistesabwesend. „Nein, nein, nein, ohne mich!“, wetterte der Fischer, nahm seine Zeitung wieder auf und las, ohne noch ein Wort zu verlieren, weiter.
„Auf Wiedersehen!“, verabschiedete sich Pippa höflich. Und ganz leise, sodass es Fred bestimmt nicht mehr hören konnte, fügte sie hinzu: „Aber Pinguine werden fliegen.“ Dann watschelte sie nach Hause.
Es war ein wunderschöner Abend am Ende eines Winters, drei Jahre bevor Pippa die Idee hatte, eine Flugmaschine zu bauen. Auf einem Gletscher hatten zwei Pinguine ihr Zelt aufgeschlagen und saßen nun davor mit einer Büchse voll Seetangkekse im Schnee. Die Ältere der beiden zog ihre rote Jacke enger um sich und legte dann einen Flügel um die Jüngere der beiden. Die Jüngere war Pippa und die Ältere war ihre Omi. Beide hatten diesen Urlaub im Zelt auf dem Gletscher schon länger geplant gehabt. Es waren die einfachen Dinge, die den beiden wichtig waren: Seetangkekse und die Geschichten aus Omis langem Leben. Die Omi erzählte von ihrer Arbeit und von damals, als Mama Pinguin und deren Schwester – welche Pippa noch nie kennengelernt hatte – selbst noch kleine Küken gewesen waren.
Plötzlich hielt die Omi inne und Pippa schaute ihr Gesicht von der Seite an. Es glitzerte geheimnisvoll im Licht des Vollmondes, der gerade von einer Wolke freigegeben worden war. Die Omi fing an zu lächeln, dann schaute sie Pippa ebenfalls an. Sie atmete aus und sagte etwas ernster als sonst: „Pippa, es wird ein Tag kommen, da ist meine Zeit hier auf der Erde vorbei. Aber hab keine Angst, dass ich für immer weg sein werde. Von diesem Tag an werde ich auf dem Mond leben.“ Sie zeigte mit dem Flügel auf den silbrigen Vollmond, der so viel kühler am Himmel thronte, als die Sonne, die tagsüber alles für sich einzunehmen schien. Der Mond war bestimmt ein ruhigerer Ort als die Sonne. Pippa folgte dem Flügel ihrer Omi mit den Augen. Die Ältere sagte: „Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich von dort oben den besten Blick auf euch haben werde. Auf dich, deine Mama, deinen Papa und alle anderen Pinguine in Südpolia. Ich werde immer bei euch sein, auch wenn das für euch anfangs sehr schwer zu begreifen sein wird.“ „Aber ist das Leben auf dem Mond nicht einsam?“, fragte Pippa. „Bleib doch hier. Da hast du Freunde!“ Die Omi musste lachen. „Ich war noch nie dort, musst du wissen. Aber irgendwann zieht jeder Pinguin auf den Mond. Daher warten dort bestimmt ganz viele andere Pinguine auf mich.“
Einige Monate waren seit dem Ausflug vergangen. Es war ein sehr eigenartiger Tag und weil Pippa sich genauso eigenartig verhielt, hatte Lina beschlossen, mit Pippa mitten in der Ladengasse einen riesigen Schneemann zu bauen. Das war ein schönes Erlebnis voller Leichtigkeit für die beiden gewesen.
Aber die darauffolgenden Tage, Wochen und Monate waren für Pippa alles andere als leicht gewesen. Zwar war der Schneemann nach Südpolia gekommen, aber die Omi hatte Südpolia verlassen. Sie war auf den Mond gezogen. Für immer.
Mama Pinguin, Papa Pinguin, Pippa und ganz viele Freunde wanderten bald darauf zu einer versteckten Bucht am Wasser. Die Bucht befand sich nicht da, wo die großen Schiffe ankerten und das Leben ganz laut war, sondern dort, wo das Leben schwieg. Es war Nacht und der Vollmond glitzerte geheimnisvoll vom Himmel wie damals auf dem Gletscher.
Mama, Papa und Pippa Pinguin legten eine Dose behutsam ins Wasser, stupsten sie an und blickten ihr hinterher, wie sie sich immer weiter vom Ufer entfernte und dem Mondschein folgte. In der Dose befand sich Reiseproviant für die Omi: Seetangkekse und ein Fisch. Aber Pippa konnte sich nicht vorstellen, wie diese Gaben die Omi noch erreichen sollten. Sie hätte die Kekse lieber gemeinsam mit der Omi gegessen und am Hafen von Südpolia die Schiffe beobachtet.
Von diesem Tag an trug die Omi in Pippas Gedanken nicht mehr nur ihre rote Jacke, sondern auch einen Helm mit Glasfenster. Diesen brauchte sie nämlich für das Leben auf dem Mond.
„Ach, das wird doch schon wieder nichts!“
Kurz nachdem Pippa mit dem Einkauf nach Hause gekommen war, hatten sie Mittag gegessen. Anschließend war Pippa in die Werkstatt im Hinterhof gegangen, um mit den ersten Planzeichnungen für ihre Flugmaschine zu beginnen.