Piratenschwestern - Petra Postert - E-Book

Piratenschwestern E-Book

Petra Postert

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Beschreibung

»Lass Haare wehn!« Das ist das Motto von Frankas fünfzehnjähriger Halbschwester Kim. Die ist eine echte Piratin: neugierig, mutig, Grenzen überschreitend und immer unterwegs zu fremden Orten. Franka ist jetzt schon begeistert von ihrer Schwester, obwohl diese erst vor Kurzem bei der Familie eingezogen ist. Sie will am liebsten gleich »losschwestern». Aber das ist nicht ganz so einfach, wie geplant, denn Kim ist schwer zu fassen: »Tür zu und weg. Piratinnen sind so! Und wenn keiner sie aufhält, schnappen sie ihre Tasche und dann kapern sie ein Boot. Segeln einfach davon. Lass Haare wehn! Und den Schlüssel von zu Hause werfen sie über Bord. Welle ins Gesicht. Klatsch. Wischen sich nur kurz über die Augen. Und dann weiter, zur nächsten Insel.« Trotz allem entsteht zwischen den beiden Schwestern eine enge Freundschaft. Aber dann merkt Franka, dass selbst bei mutigen Piratinnen nicht immer alles glattläuft. Ihre Schwester muss gegen so manche Sturmböe ankämpfen. Da kann es helfen, wenn Franka sich mit ins Abenteuer stürzt. Petra Postert erzählt wunderschön vom Abenteuer zweier Schwestern, aus der Kindheit herauszuwachsen.

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Seitenzahl: 206

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Über dieses Buch

Die zehnjährige Franka ist aufgeregt: In ein paar Tagen zieht ihre große Halbschwester Kim zu ihnen. Und die ist schon fünfzehn! Was, wenn sie eine zickige Tussi ist?, fürchtet Franka. Zum Glück ist Kim ganz anders: Sie ist geheimnisvoll, abenteuerlich und manchmal spurlos verschwunden – eine echte Piratin eben! Wie gerne würde Franka gleich »losschwestern«. Doch bis Kim wirklich in der neuen Familie ankommt, müssen die beiden Mädchen noch gegen so manche Sturmböe ankämpfen.

Die Autorin

Petra Postert, geboren 1970 in Stuttgart, studierte Journalistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Eichstätt und Ohio/USA. Danach arbeitete sie als Redakteurin und Autorin für den SWR-Hörfunk. Heute schreibt sie Kinderbücher und -geschichten fürs Radio. Petra Postert lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Düsseldorf.

Die Illustratorin

Felicitas Horstschäfer, 1983 in Ostwestfalen geboren, hat Design an der FH Münster studiert und arbeitet seit 2009 als freischaffende Illustratorin für verschiedene Verlage im In- und Ausland. Außerdem entwickelt sie mit großer Begeisterung Buchkonzepte. Ihr erstes begann sie als Sechsjährige mit einer viel zu großen Küchenschere und einem 600-Seiten-Notizblock, den sie in ein komplettes Puppenhaus inklusive Klovorleger und Blumenstrauß auf dem Tisch verwandelte. Felicitas Horstschäfer lebt und arbeitet in Berlin.

Petra Postert

PIRATENSCHWESTERN

Inhalt

Jetzt

Ewig her

Bis gestern

Heute

Und weiter jetzt

Impressum

JETZT

Schöne Grüße

Tür zu und weg. Piratinnen sind so! Und wenn keiner sie aufhält, schnappen sie ihre Tasche und dann kapern sie ein Boot. Segeln einfach davon. Lass Haare wehn! Und den Schlüssel von zu Hause werfen sie über Bord. Welle ins Gesicht. Klatsch. Wischen sich nur kurz über die Augen. Und dann weiter, zur nächsten Insel. Und wenn Kim dort angekommen ist, knallt sie sich erst mal in die Sonne am Strand – Sonnenbrille auf, Handy raus, Musik an – und schreibt stundenlang an ihre Freunde. An Mik als Erstes natürlich. Da kann er ihr gleich hinterher. Dabei kann der bestimmt gar nicht segeln. Mik ist ein Volldepp und kein Pirat.

Bei uns wird Kim sich erst nach Wochen melden, wenn überhaupt. Und nur wenn wir Glück haben, kriegen wir eine Postkarte von ihr mit Palmen vorne und schönen Grüßen hinten und einer Briefmarke mit Chamäleon oder Känguru darauf. Kim lässt uns erst mal zappeln, weil sie von uns genug hat. Besser gesagt, von mir, der kleinen Schwester, hat sie genug. Und eigentlich will sie nur mich nicht mehr sehen.

Ich sitze im Freibad auf einer Bank vor den Umkleiden und lasse meine Beine vor und zurückschwingen, vor und zurück, meine Füße schleifen über den Boden. Und jetzt? Vielleicht sollte ich noch eine Runde durchs Bad drehen? Das ist doch immer noch besser, als hier herumzusitzen. Ich stehe auf. Meinen Rucksack schiebe ich unter die Bank. Wer klaut schon Schulsachen?

Omi-Opi-Badetag

Ich halte meine Hand an die Stirn, weil die Sonne mich blendet, und lasse meinen Blick langsam übers glitzernde Wasser schweifen und über den Weg drum herum und die daran angrenzenden Büsche und die Bäume dahinter. Es bewegt sich fast nichts, nicht mal die Blätter an den Bäumen. Und es ist ganz still. Die alten Leute bewegen sich zwar, aber unglaublich langsam. Wie in Zeitlupe. Omis mit Betonbusen und geblümten Badeanzügen und Gummikappen. Und Opas mit Kugelbäuchen und flachen Hintern in Badehosen bis unter die Brust. Ich sehe nur alte Leute. Ist mittwochs Omi-Opi-Badetag? Die Leute sehen nicht aus, als hätten sie Spaß. Ich wische den Schweiß aus meinem Gesicht. Die Sonne sticht. Dabei ist noch früher Sommer und noch nicht mal Mittag. Kim ist nicht hier, nicht bei den Schwimmern.

Ich laufe in Richtung Nichtschwimmerbecken. Von Weitem sehe ich nur ein paar Frauen, sie stehen im kniehohen Wasser, die Hände in die Hüften gestemmt, und halten ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Ansonsten ist das Becken leer. Kurz gucke ich noch am Babybecken vorbei, werfe im Laufen einen Blick auf die Insel, die bei Tageslicht nicht mehr ist als ein gelber, kleiner Plastikhügel im Wasser mit einer lächerlichen Plastikpalme darauf.

Bei den Umkleiden ist Kim auch nicht. Ich drücke die Milchglastür zu den Toiletten auf und mache zwei Schritte hinein. »Kim?«, rufe ich halblaut. Nichts. Ich denke: ›Was, wenn Kim nicht mehr zu uns zurückkommt? Nie mehr? Was, wenn ich ihr nicht mehr sagen kann, dass es mir leidtut?‹

Ich hatte übrigens nie vor, in Kims Sachen zu schnüffeln. Es ist ganz von selbst passiert.

Und ich denke: ›Wenn Kim wegbleibt, wird alles wie früher bei uns. Und vielleicht kriege ich dann das rote Schränkchen im Bad und Papa braucht kein zweites an die Wand zu hängen. Und wir brechen die Tür zu Kims Zimmer auf und schieben ihren Kleiderschrank in mein Zimmer und meinen Schrank verschenken wir an arme Leute. Und Kims Zimmer wird wieder unser Arbeitszimmer. Unser Saustall.‹

Auf einmal bin ich wütend und könnte stampfen und fluchen und wutheulen, weil ich Kims Schränke doch überhaupt nicht haben will. Nur wenn sie mir die Schränke schenkt, will ich sie haben, verdammt! Und ich weiß es doch genau: Wenn Kim sich nicht mehr blicken lässt, wird nichts mehr so sein wie früher. Früher habe ich Kim nicht vermisst.

Plötzlich habe ich keine Lust mehr, weiter nach Kim zu suchen. Es bringt doch nichts. Wie hatte ich auch glauben können, dass sie hier im Freibad ist? Wenn das alles so einfach wäre, so einfach wie Fingerschnipsen zum Beispiel.

Ich trotte wieder zurück zu der Bank vor den Umkleiden, zu meiner Bank. Rutsche vor bis zur Kante, hefte meinen Blick auf meine türkisglänzenden Zehennägel, über die gerade eine Ameise krabbelt. Ich bin wirklich dämlich, unfassbar dämlich. Habe es gerade mal bis zum Freibad geschafft. Auf eine Bank vor den Duschen. Mehr nicht.

Schule geschwänzt, Mega-Slush getrunken, auf eine Verkehrsinsel gepinkelt, mit dem Bus durch die ganze Stadt gegondelt. Und Joscha kennengelernt. Das war’s. Und? Was weiß ich nun? Ich weiß, dass Kim nicht im Freibad ist. Bravo, Franka. Toll gemacht! Genau genommen bedeutet es nämlich null Komma nichts, dass ich das jetzt weiß, denn Kim könnte überall sonst sein. Überall ist unendlich. Und deshalb ist es sinnlos, weiter nach ihr zu suchen.

EWIG HER

Nachricht

Der Tag, an dem sie es mir sagten, ist lange her, fast ein ganzes Jahr. Ich war gerade in die Fünfte gekommen. Ich weiß noch genau, es war ein Sonntag, wir saßen beim Frühstück mit Ei und Schinken und allem und waren fast fertig mit essen. Da fingen sie plötzlich damit an. Sie meinten, dass es bestimmt lustig werde mit uns vieren.

»Mensch, Franka, das wird was geben!« Mama und Papa lachten gleich los.

Ich hatte erst keinen Schimmer, um was es ging, und kapierte nicht, weshalb sie so aufgedreht waren. Wenn Mama sprach, zwinkerte Papa mir zu. Und wenn Papa sprach, legte Mama den Kopf schief und nickte hektisch. Ich musste an die beiden Theaterleute denken, die vor Kurzem bei uns in der Schule gewesen waren. Die hatten genau so mit uns gesprochen, mit Akrobatik im Gesicht, als würde es nicht reichen, etwas ganz normal zu sagen. Als wären wir zu blöde, die Worte allein zu verstehen. Dabei war es doch jetzt ganz einfach. Kim würde zu uns ziehen. Nur das wollten Mama und Papa mir sagen.

Papa meinte, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, weil sich für mich fast nichts ändere.

»Was heißt, fast nichts?«, fiel Mama ihm gleich ins Wort, bevor ich überhaupt an auch nur die klitzekleinste Sorge denken konnte. »Gar nichts wird sich für Franka ändern. Absolut nichts!«

Und ich dachte: ›Ist doch nicht schlimm, wenn sich was ändert. So aufregend ist mein Leben im Moment nun auch wieder nicht.‹ Ich tunkte mein Croissant in die Aprikosenmarmelade, kaute, schluckte und überlegte, wie Kim wohl jetzt aussah. Ich dachte nie an sie, denn damals gehörte sie noch nicht zu uns. Ganz früher, als Kim noch in unserer Nähe gewohnt hatte, hatten wir manchmal was zusammen unternommen, aber dann nicht mehr. Jedenfalls hatte ich Kim eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich glaube übrigens, Papa auch nicht. Dabei ist sie seine Tochter.

»Du sagst ja gar nichts«, sagte Mama plötzlich zu mir.

Ich zuckte mit den Schultern. »Was soll ich denn sagen?«

Da rutschte Papa zu mir auf die Küchenbank und legte seinen Arm um mich, und ich konnte den Räucherschinken aus seinem Mund riechen, den er gerade gegessen hatte. Ich weiß es noch genau. Und die Sonne schien durchs offene Fenster warm auf unsere Bäuche. Ich lehnte mich an Papa, nippte an meinem Saft und dachte, dass Papa also bald zwischen zwei Mädchen sitzen würde, genau hier auf der Bank würde er zwischen zwei Mädchen sitzen. Zwischen Kim und mir. Und da fiel mir ein, dass ich mir doch eigentlich immer eine Schwester gewünscht hatte.

Schwester

Ich dachte es mir so: ›Eine Schwester ist immer da. Morgens, mittags, abends, nachts. An Weihnachten, Ostern, Silvester und wenn ich Geburtstag habe. Und auch wenn ich meine Zähne putze, ist sie da, und wenn ich Husten habe oder Fieber. Wenn ich jemanden zum Quatschen brauche oder gar niemand sehen will. Beim Waffelbacken und Nudelessen ist sie da. Und beim Fernsehen und beim Unter-die-Decke-Kuscheln. Sie ist da, wenn ich wütend bin und durch die Wohnung brülle. Wenn meine beste Freundin Flo mich besucht oder sonst jemand. Wenn mir langweilig ist. Wenn ich dauernd kichern muss. Wenn wir am Meer oder in den Bergen sind. Eine Schwester ist immer da, auch wenn sie mal weg ist. Eine Schwester ist immer da. So wie ich.‹

Tussis

Ich rief Flo an und erzählte ihr alles. Erst überschlug sie sich. »Hast du es gut!«, rief sie ins Telefon. »Eine Schwester ist cool! Überleg mal, was du mit der alles machen kannst. Wann kommt sie?«

»Bald, glaube ich«, sagte ich.

»Und wie alt ist sie?«

Auch das wusste ich nicht genau. Deshalb sagte ich »jugendlich«, denn das war Kim ja auf jeden Fall. Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung.

»Was ist?«, fragte ich.

Flo holte tief Luft, und als sie endlich weitersprach, klang sie nicht mehr so begeistert. »Na ja«, sagte sie gedehnt, »mit so einer kann es gut gehen. Muss es aber nicht.«

Als Flo das gesagt hatte, kribbelte es unheilvoll in meinem Nacken. Flo kannte sich aus mit Jugendlichen. Als ihr Bruder Chris sich in einen Jugendlichen verwandelte, lag Flo im Bett nebenan und schlief. Wäre es tagsüber passiert, hätte sie ihm wahrscheinlich dabei zusehen können. Aber so sah sie nur das Ergebnis am nächsten Morgen. Chris’ Füße waren um drei Schuhgrößen gewachsen, auf seiner Stirn blühten Pickel, die Stimme brach ihm dauernd weg und er stank. Laut gerülpst hatte Chris früher schon. Nur nicht so laut und auch nicht am Tisch. Flo hatte mir alles haarklein erzählt. Und sie hatte gesagt, dass wir froh sein konnten, dass wir Mädchen waren. Auch Mädchen verwandelten sich, aber nicht so schnell, nicht über Nacht.

»Wieso meinst du, es könnte nicht gut gehen mit ihr?«, fragte ich vorsichtig.

»Denk doch mal an die Treppen-Tussis!«

Das saß. An die Treppen-Tussis hatte ich noch gar nicht gedacht. Diese dummen Tussis, große Mädchen eigentlich nur, die immer die Stufen auf der Treppe blockieren, die auf Flos Heimweg von der Schule liegt. Sie haben groß geschminkte Augen und riesige Handtaschen und tragen knallenge Hosen. Und bei manchen quillt der Speck oben wieder heraus. Andere sind dünn wie Giraffenhälse. Die Tussis rauchen. Und werfen ihre Haare und hören Musik und sind laut. Das vor allem. Sie sind schrecklich laut. Bei mir an der Schule gibt’s zwar auch große Mädchen, aber die sind anders, nicht so aufgedonnert, nicht so übertrieben. An den Treppen-Tussis muss ich zum Glück nur montags vorbei, weil ich montags nach der Schule mit zu Flo gehe. Wir haben nachmittags noch Schwimmen und Flos Mutter bringt uns hin. Montags hoffe ich immer, dass es regnet. An Regentagen lassen die Tussis sich nämlich nicht blicken, weil ihre Billigballerinas dann mit Wasser vollliefen.

Bei Regen sind auch die Jungs nicht da. Nur wegen der Tussis kommen sie zur Treppe. »Aber auch nicht jeden Tag«, sagt Flo. Die Jungs tragen dunkle Sachen, dunkle, zu kurze Jacken und dunkle, zu lange Hosen. Auch ihre Stimmen sind dunkel, sie klingen gefährlich. Vor den Jungs habe ich Schiss. Sie tun einem zwar nichts, aber man denkt immer: ›Gleich tun sie einem was.‹

»Du darfst ihnen nie in die Augen schauen«, hat Flo mir eingeschärft. »Das ist wie mit fremden Hunden. Schau ihnen nie in die Augen, dann tun sie dir nichts.« Und so marschieren wir immer stramm durch die laute Meute, den Blick geradeaus. Das ist gar nicht so einfach, denn man kommt kaum durch mit Rucksack, Schwimmtasche und allem. Und die Stufen nehmen kein Ende. Ich muss mich jedes Mal zwingen, nicht zu rennen. Denn wenn man rennt, weiß auch Flo nicht, was passiert.

»Franka?«, hörte ich Flos Stimme durchs Telefon. »Bist du noch dran?«

»Mmmm.«

»Mach dir mal keine Sorgen«, sagte sie.

Ich beendete das Gespräch. Mir war auf einmal mulmig, und ich fing jetzt doch an, mir Sorgen zu machen. Später fragte ich Papa, wie alt Kim sei. Papa musste überlegen. Er schielte in Richtung Zimmerdecke, und seine Lippen bewegten sich lautlos, als habe er was Kompliziertes zu rechnen.

»Fünfzehn«, sagte er schließlich zögernd.

Es klang wie eine Frage.

Backfisch

Oma war gleich ziemlich aufgekratzt, als sie hörte, dass Kim zu uns zog. »Na, da kriegt ihr ja einen richtigen Backfisch!«, rief sie aufgeregt und schob ihren leeren Teller beiseite.

Wie jeden Sonntag waren wir zu Oma zum Essen gefahren. Und wie jeden Sonntag hatte sie auch diesmal wieder was Altmodisches gekocht. Schweinebraten mit Klößen und Rotkohl. Ich mag das.

Oma guckte erwartungsvoll von einem zum anderen. »Nun erzählt schon!«

»Da gibt’s nichts zu erzählen«, sagte Mama und fing an, die Teller übereinanderzustapeln.

»Wieso Backfisch?«, fragte ich.

»Weißt du«, begann Oma und streichelte mit ihren runden, weichen Fingern meine Hand. »Backfisch nannte man zu meiner Zeit ein junges Mädchen.« Sie guckte versonnen.

Mama und Papa standen auf und räumten den Tisch ab. Ich blieb bei Oma sitzen.

»Wieso Backfisch?«, fragte ich Oma noch mal.

Ich bekam keine Antwort. Oma war auch aufgestanden und kramte nun in einer Schublade ihrer Wohnzimmerschrankwand in alten Fotos. Endlich kam sie zu mir zurück und schob ein Foto feierlich über den Tisch. Schwarzweiß, Zackenrand. Ich sah eine junge Frau in einem steifen Kleid, die Arme in die Hüften gestemmt, das eine Bein merkwürdig schräg nach vorn gestellt. Bestimmt hatte sie neue Schuhe und wollte die jetzt zeigen. Völlig verrückt aber waren ihre Haare. Die hatte sie zu einem gigantischen Turm frisiert, der bestimmt einen halben Meter hoch war. Die Form erinnerte mich an die Blüte einer Hyazinthe. Ich hatte nicht gewusst, dass man mit Haaren so etwas machen konnte. Sicher dauerte es Stunden, und sicher steckte eine spezielle Konstruktion aus Holz oder Pappe darunter, sonst hätte es im Leben nicht gehalten.

»Das bin ich«, sagte Oma stolz. »Als Backfisch.«

›Warum nannte man Mädchen bloß so?‹, fragte ich mich. ›Weil sie dauernd fettigen Backfisch aßen? Oder weil die Haare ab einem gewissen Alter schnell fettig wurden? Fettig wie Backfisch. War das der Grund?‹

Ich kannte Backfische nur von der Fischbude auf dem Markt. Sie waren aber gar nicht in einem Ofen gebacken, sondern in einem Becken, das groß war wie eine Badewanne, frittiert. Und wie Fische sahen die Backfische auch nicht aus, eher wie gelbe, schweißtriefende Schuhsohlen, die so groß waren, dass sie auf keinen Pappteller passten. Ich fand, das Beste am Backfisch waren das Brötchen und die Zitronenecke.

Wieder beugte ich mich über das Foto. Da sah ich, dass in Omas Backfischhaaren eine große, breite Haarspange steckte. Da das Bild schwarz-weiß war, wusste ich nicht, welche Farbe sie hatte. Wäre sie gelb gewesen, hätte man sie für ein Stück Zitrone halten können. Aber nur vielleicht.

Ich wollte Oma ein drittes Mal fragen, was junge Mädchen mit Backfischen zu tun hatten. Aber dazu kam ich nicht mehr, weil wir nach Hause fuhren. Also fragte ich im Auto Mama und Papa. Sie wussten es beide nicht.

Saustall

Ich lag im Bett und sollte schlafen. Da fiel mir etwas ein, etwas, an das ich überhaupt noch nicht gedacht hatte, das aber sehr wichtig war. Wo wollten wir Kim und ihre Sachen eigentlich unterbringen? Sie besaß sicher so allerhand. Allein für meine Sachen hätte man schon einen halben Lastwagen gebraucht.

Kim ist aber viel älter als ich. Je älter man ist, desto mehr Sachen gehören zu einem. Man sieht es an Oma. Sie ist die Älteste von uns und besitzt am allermeisten. Ihr kleines Haus ist vom Keller bis unters Dach vollgestopft mit allen möglichen Dingen. Zum Beispiel hat sie Hunderte Blumenkästen, diverse Töpfe und Pfannen, Wolle in Plastiksäcken, Zeitschriften in Pappkartons, Porzellanpuppen, eine Geige, drei Blockflöten und eine elektrische Haartrockenhaube.

Mir wurde heiß. Plötzlich kam mir unsere Wohnung winzig vor. Wenn Kim bei uns einzog, schleppte sie ihr Zeug sicher kistenweise hier an. Wollten sie etwa, dass Kim bei mir einzog? War das ihr Plan? Aber das war unmöglich! Für einen zweiten Schrank war in meinem Zimmer definitiv kein Platz. Und für ein zweites Bett schon gleich dreimal nicht. Und mit einem Stockbett wollte ich erst gar nicht mehr anfangen. Aus dem Alter war ich raus. Am Ende mussten wir umziehen.

Ich stand auf, lief ins Wohnzimmer und fragte Mama und Papa, wo Kim schlafen solle.

»Kim kommt ins Arbeitszimmer«, sagte Mama.

Ich stutzte. Ins Arbeitszimmer? Das war doch wohl nicht ihr Ernst.

»Klar, ins Arbeitszimmer«, meinte auch Papa. »Oder soll sie etwa in die Abstellkammer? Dort hätte sie exakt … Moment.«

Er sprang auf, holte einen Zollstock, lief zur Kammer und kam mit einem Taschenrechner zurück.

»1,52 Quadratmeter. Exakt 1,52 Quadratmeter hätte Kim dann für sich.«

Papa hielt es für einen guten Witz und fing überdreht an zu lachen. Ich lachte nicht. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass Kim unser Arbeitszimmer bekommen sollte. Es war zwar richtig groß, aber auch der reinste Saustall! Unsere Gäste schliefen immer entweder im Wohnzimmer oder im Hotel. Hätten sie im Arbeitszimmer übernachtet, dann hätten sie um ihr Leben fürchten müssen. Es bestand nämlich die Gefahr, von Büchern, Aktenordnern oder von Kisten erschlagen zu werden. Schon zu lautes Schnarchen hätte die hohen Stapel zum Einsturz bringen können.

»Seid ihr wirklich sicher?«, fragte ich.

Jetzt lachte auch Mama. Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Ich lief ihr nach. Mama hatte die Hand schon auf die Klinke der Tür zum Arbeitszimmer gelegt, da drehte sie sich noch mal zu mir um und machte ein geheimnisvolles Gesicht. Dann öffnete sie die Tür und knipste das Licht an. Tataaa! Ich war platt. Das Zimmer war tipptopp! Ich machte ein paar Schritte hinein, drehte mich einmal um mich selbst und fasste es nicht. Alles war so hell und ordentlich. Das Bett war noch nicht bezogen, Decke und Kopfkissen lagen zusammengefaltet auf der Matratze. Das Zimmer war sogar größer als meins. Ich fragte Mama, wer hier ausgemistet hatte und wann. Und wer das Bild übers Bett gehängt hatte. Rote Tulpen. Na ja. Ich fragte sie, woher die leeren Regale kamen. Und vor allem der Schrank. Wie hatte solch ein Riesending es hier nach oben geschafft? Der Schrank war weiß und viel breiter als meiner und er stieß fast an die Decke. So einen Schrank klemmte man sich nicht mal eben unter den Arm und trug ihn die Treppe hinauf in den dritten Stock. Und das Aufbauen und dann das Putzen des Zimmers hatten doch bestimmt Radau gemacht. Letztes Wochenende hatte ich bei Flo übernachtet. Hatten sie da alles eingerichtet?

Mama grinste und sagte nur: »Die Heinzelmännchen waren hier.«

Ich öffnete den Schrank. Er roch ganz neu. Da waren sogar vier Schubladen innen drin. Schick. Wirklich sehr schick. Ich zog alle der Reihe nach auf und schloss sie wieder. Dann betrachtete ich mich in dem langen Spiegel, der an einer der Schrankinnenseiten hing. Mein Nachthemd war mir viel zu klein.

»Na?«, fragte Mama.

Ich schloss den Schrank und sagte: »Wie im Hotel.«

Als ich schließlich im Bett lag, fragte ich mich, warum sie mir nichts gesagt hatten, und vor allem, warum ich von alldem nichts mitbekommen hatte. Ich bekam doch sonst alles mit.

Noch ein Schrank

»Muss das jetzt sein?«, fragte Mama, als Papa die Bohrmaschine aus dem Keller holte. »Um diese Zeit?« Es war nach neun Uhr abends und ich schon im Schlafanzug.

»Sind doch nur zwei Löcher«, sagte Papa und legte los.

Mama brummte was vor sich hin und verließ das Bad. Ich blieb. Papa veranstaltete einen Höllenlärm, aber nur ganz kurz, und ich saß währenddessen auf dem Rand der Badewanne und hielt mir die Ohren zu. Dann drückte Papa Dübel in die beiden Bohrlöcher, drehte Schrauben hinein und hängte an die Schrauben einen kleinen, tomatenroten Metallschrank. Er war innen an der Rückseite komplett verspiegelt, und die Schrankböden waren aus Glas, und die Tür klackte, wenn man sie aufzog, und ich war auf einmal ein wenig neidisch, denn ich hätte auch gerne so ein Schränkchen bekommen. Ich sagte es Papa.

»Wofür brauchst du denn so was?«, fragte er und guckte mich amüsiert an. Leider fiel mir außer Haargummis und Haarspangen auf die Schnelle nichts ein.

Als ich später zum Zähneputzen im Bad war, sah ich mir das Schränkchen noch einmal genau an. Ich öffnete es. Klack. Drei Etagen. Ich fand heraus, dass man die Einlegeböden unterschiedlich hoch anbringen konnte. Dazu musste man nur die kleinen Plastiknippel, auf denen die Böden lagen, aus den Seitenwänden ziehen und in andere dafür vorgesehene Löcher stecken. Ich probierte es aus. Dieses Schränkchen war unglaublich praktisch. Ich überlegte, was Kim wohl dort hineinräumen würde. Gesichtscreme, Handcreme, Körperlotion fielen mir ein. Und Schminksachen. Das vor allem. Und sonst? Deo natürlich. Kim würde auf jeden Fall ein Deo dort hineinstellen. Irgendwann braucht es schließlich jeder, weil jeder irgendwann anfängt unter den Armen zu müffeln. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Ich schnupperte unter meinen. Da müffelte nichts, es roch nur nach mir. Aber ich wusste, irgendwann ging es los. Duschen jeden Tag und Deo, weil da plötzlich irre viele Haare wachsen, dicht und buschig wie Kaninchenfell. Besser, man rasiert es ab. Auch an den Beinen. Schön glatt. So macht es Mama. Deo braucht man zusätzlich, auch ohne Haare. Bei mir wuchsen aber erst ungefähr acht Haare auf jeder Seite und die waren kurz und eigentlich durchsichtig.

Kim aber würde auf jeden Fall diese rosafarbenen Minirasierer, wie Mama sie hatte, in ihr Schränkchen legen, und Rasierschaum natürlich auch. Und Nagellack. Mir fiel ein, dass ich in meinem Zimmer ein Fläschchen Nagellack hatte. Türkis. Ich holte es und stellte es auf die mittlere Etage. Es sah dort ziemlich verloren aus, obwohl es durch den Spiegel im Schränkchen doppelt erschien. Flo hatte mal erzählt, dass es Mädchen gibt, die Nagellack sammeln. Und wenn sie hundert Fläschchen zusammenhaben, veranstalten sie eine Nagellackparty. Ich stellte es mir vor. Zehn Mädchen in unserem winzigen, fensterlosen Bad. Neben- und übereinander, drängelnd, lachend, über ihre bunten Fingernägel pustend. Und Mama schickt mich zu ihnen, weil ich fragen soll, ob sie was zu knabbern möchten. Natürlich möchten sie. Immer her damit. Chips und Nüsse. Und sie fragen mich, welche Nagellackfarbe ich gerne hätte. »Rot mit weißen Tupfen«, sage ich und strecke ihnen meine Finger hin.

Ja, so stellte ich es mir vor. Ich nahm das Nagellackfläschchen wieder aus dem Schränkchen, schloss die Tür und verließ das Bad.

Chillen

Es war Montag und wir gingen nach der Schule zu Flo. Zum Glück regnete es und die Treppen-Tussis waren nicht da. Als wir bei Flo zu Hause ankamen, sahen wir gleich, dass Flos Bruder Chris wieder mal die Bude voll hatte. Chris und Kollegen. Im Flur lag ein Berg Schuhe, über den wir steigen mussten. Wahnsinnstreter. Flo hielt sich die Nase zu. Wir schlichen an Chris’ Tür vorbei. Die Jungs chillten sicher dahinter. Einmal hatte Flo mir erklärt, dass man beim Chillen auf keinen Fall aufrecht sitzen dürfe. Man sucht sich ein Bett oder eine Zimmerecke und dazu ein oder mehrere Kissen. In das Bett oder in die Ecke fläzt man sich dann. Musik hören und rülpsen sind beim Chillen erlaubt, zur Not auch kurz reden, aber auf keinen Fall quatschen.

Mir fielen jetzt auch die Rülpskonzerte ein, von denen Flo ein anderes Mal erzählt hatte. Eklige Rülpskonzerte, die Chris und Kollegen in Chris’ Zimmer veranstalteten – mit Brüllrülpsern zwischendrin. Flo sagte, dann höre es sich an, als wenn da aus so einem Hals noch viel mehr herauskäme als nur Geräusche. Ich durfte gar nicht weiterdenken.

Wir hatten gerade damit begonnen, Flos neue Stickerhefte durchzusehen, da bekam ich Durst.

»Bring mir auch was mit«, sagte Flo.