Placebo - Dieter Drechsler - E-Book

Placebo E-Book

Dieter Drechsler

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Beschreibung

Die Kölner Journalisten Alexander und Laura können es kaum glauben, als sie einen Reportageauftrag für Haiti erhalten. Aber in Port-Au-Prince angekommen legt sich ihre anfängliche Begeisterung. Denn die Armut und Not der Bevölkerung übersteigt ihre schlimmsten Befürchtungen. Zudem bietet die karibische, vom Erdbeben gezeichnete Hauptstadt wegen ihrer nach wie vor zerstörten sozialen und wirtschaftlichen Infrastrukturen ein ideales Umfeld für betrügerischen Medikamentenhandel. Tief betroffen versuchen Alexander und Laura den skrupellosen Hintermännern auf die Spur zu kommen. Nichts ahnend, dass ihre couragierte Recherche zu tödlichen Verwicklungen führt. In dem Roman "Placebo", der sich wie ein Thriller liest, erzählt Dieter Drechsler von einer Haiti-Reportage, die sich zu einem Kriminalfall entwickelt. Besonders brisant sind die in dem Roman beschriebenen Szenen, die ihre Wurzeln in realen Ereignissen oder Aktivitäten global tätiger Pharmakonzerne haben.

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Seitenzahl: 652

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Dieter Drechsler

Placebo

Umschlaggestaltung: Tobias Drechsler

Copyright 2016 by

Dirk-Laker-Verlag

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Placebo

Der Aufstieg ist mühsam. Schon seit einer Stunde folgen sie dem teilweise mit Geröll bedeckten, steilen Fußweg, der sie in immer enger werdenden Serpentinen zum Tempel führt.

Ciel ist diesen Weg schon oft gegangen. Gelassen, mit einer unbestimmten Würde, schreitet sie der kleinen Gruppe voran.

Nur wenige Schritte hinter ihr Maidali aus Port-au-Prince, die trotz der ungewohnten Anstrengung nur mühsam ihre Nervosität verbergen kann.

Mit einigem Abstand zu den beiden Frauen stolpert, völlig unbekümmert, Nelio den Berg hoch. An einer kurzen, ausgefransten Leine zerrt er ein hoch beladenes Muli hinter sich her, das immer wieder mal unwillig schnaubend stehen bleibt, wenn es mit seinen Hufen keinen sicheren Tritt findet.

Einige Kehren tiefer folgt eine Gruppe bunt gekleideter Frauen, die geschickt ihre Gepäckbündel auf dem Kopf balancieren. Als letzte haben sich zwei asketisch wirkende Männer der Gruppe angeschlossen.

Immer höher windet sich der Weg um die geröllbedeckte Bergflanke herum und dann ist auch der glutheiße Passatwind zu spüren, der sich an den kahlen Hängen in Haitis Süden aufgeheizt hat. Bis vor einer halben Stunde haben ab und zu schüttere Bäume noch etwas Schatten gespendet, aber nun brennt die Sonne ungnädig auf die kleine Prozession hernieder.

Im Schatten eines bedrohlich wirkenden Felsüberhanges macht Ciel Halt und blickt zurück. Das Dorf Bong, das sie vor einigen Stunden verlassen haben, ist schon längst ihren Blicken entschwunden. Sie schaut in die erhitzten Gesichter ihrer Begleiter, die nach und nach aufschließen.

Aufatmend lassen sich die Pilger auf den kühlen Felsboden sinken und die Wasserflaschen kreisen. Ciel bleibt aber stehen und begibt sich bereits nach zehn Minuten wieder schweigend auf den Weg, damit sie noch vor der Dunkelheit ihr gemeinsames Ziel erreichen.

Die Berglandschaft wandelt sich. Kleine Steinhaufen markieren den schmalen Pfad, der sich kaum noch erkennbar durch ein Felsenlabyrinth schlängelt.

Als sie angekommen sind, weitet sich der Weg zu einer kleinen Hochfläche, auf deren gegenüberliegender Seite ein hoher, rußgeschwärzter Eingang einer Höhle gähnt, der von grob gemeißelten Säulen eingerahmt wird.

Ciel bleibt mitten auf dem kleinen Platz stehen. Sie ist froh, dass es einige Minuten dauert, bis ihn alle erreicht haben, denn sie benötigt die Zeit, um sich auf das, was sie erwartet, einzustimmen. Erst dann schreitet sie gefasst auf den Höhleneingang zu.

Sie spürt, wie mit jedem Meter die uralte Magie dieses Ortes zunimmt, und nur ein paar Schritte weiter, als hätte sie eine unsichtbare Grenze überschritten, fühlt sie sich von dieser unbekannten Macht durchflutet. Trotz der Wärme laufen ihr Schauer über den Rücken. Ihr ist dieser Kontakt nicht unangenehm, beinahe so, als würde sie einem guten Freund begegnen. Trotzdem scheut sie immer wieder vor der elementaren Energie dieser spirituellen Berührung ein wenig zurück.

Auf unerklärliche Weise kostet es sie Kraft, die sie jedoch in einer anderen Form zurückerhält. Sie weiß, dass sie ohne diese Erfahrung ihre Arbeit auf Haiti nicht so lange hätte durchstehen können und nennt dieses innere Erlebnis schlicht »Transformation.«

Ergriffen kniet sie nieder, bis sie sich von diesem emotionalen Ansturm erholt hat. Dann richtet sie sich auf und wendet sich den wartenden Pilgern zu.

»De ryen (willkommen)!«

Erst jetzt legen die Pilger, die sich der Magie des Ortes ebenso wenig entziehen können und sich nicht von der Stelle rührten, ihre Bündel ab.

Sogar der pragmatische Nelio, dem die Wallfahrten längst zur Routine geworden sind, wartete andächtig, ehe er die Gurte seines Mulis öffnet, das sich über die Erleichterung freut und ungeduldig trappelt.

Ciel ist eine Voodoo-Priesterin, eine Mambo, und lebt die meiste Zeit des Jahres in Port-au-Prince. Etwa alle sechs Monate begibt sie sich auf die beschwerliche Pilgerreise zu dieser Grotte, die dem heiligen Loa Ogoun Feray geweiht ist, der nach französisch-katholischer Tradition auch St. Jacques genannt wird.

Bis auf Nelio sind ihre Begleiter zufällig. Wie immer hatte sie ihn über ihr Vorhaben zeitig informiert, damit er mit seinem Muli die Ausrüstung hoch transportiert. Außerdem kümmert er sich jedes Mal darum, dass der Termin der Wallfahrt im Dorf und der Umgebung verbreitet wird. Von ihm weiß sie auch, dass sie mittlerweile die einzige Mambo ist, die noch den mühsamen, dreieinhalbstündigen Aufstieg auf sich nimmt.

Es ist spät geworden. Die Sonne versinkt bereits hinter den benachbarten Bergen und die Felsen des Labyrinthes werfen lange kühle Schatten.

Auf dem kleinen Platz vor dem Heiligtum hat Nelio Schilfmatten ausgebreitet und in deren Mitte Holzschalen mit gesüßtem Reis und Früchten gestellt, während Ciel, der Tradition gehorchend, in der Höhle ein kleines Feuer entfacht.

Nach und nach lassen sich die Pilger auf den Schilfmatten nieder und ergänzen das Mahl mit bescheidenen Maisfladen, kleinen Kuchen, eingelegten Bohnen oder etwas Gemüse, um dann ihr Abendessen, im Gegensatz zur haitischen Gepflogenheit, nahezu schweigend einzunehmen.

Als die untergehende Sonne die Bergspitzen noch einmal golden aufglühen lässt, erhebt sich Ciel mit ernstem Gesicht, als hätte sie auf dieses Zeichen gewartet. Mit gemessenen Schritten geht sie zur Höhle, die durch das flackernde Feuer wie ein rot zuckender Schlund erscheint. Die ohnehin leise geführten Gespräche auf der Schilfmatte verstummen. Bedeutungsvoll entnimmt Ciel der Glut ein Stück verkohltes Holz und beginnt mit ihm auf dem geglätteten Boden davor zu zeichnen. Während im unruhigen Schein der Flammen auf dem rauen Felsboden allmählich das Symbol des Ogoun Feray, das heilige Veve, entsteht, spricht sie dazu leise die uralten Gebete und Verse, die seit Generationen von Mambo zu Mambo weitergegeben wurden.

Während die Pilger aufmerksam beobachten, wie sich das heilige Veve allmählich vollendet, werden sie von Nelios gedämpften Trommelrhythmen seiner Congas eingestimmt. Erst nach dem letzten Kohlestrich stehen sie auf und überreichen Ciel die mitgebrachten Opfergaben. Es sind kleine Fläschchen mit Rum, Schalen mit Fleischgerichten oder Päckchen mit Tabak, die von Gebeten begleitet dem Feuer übergeben werden.

Es ist weit nach Mitternacht, ehe sich Ciel müde in ihrem Schlafsack einrollen kann. Der Schlaf aber will sich nicht einstellen, denn sie muss an die Frau aus dem Dorf denken, die plötzlich in tiefer Trance die Rolle des anwesenden Ogoun Feray übernahm. Wie so oft war die »Besessene« überraschend gut über die Lebenssituationen der Pilger informiert und konnte ihnen »göttliche« Ratschläge erteilen.

Nachdenklich schaut Ciel zu dem sternenübersäten, tiefblauen Nachthimmel auf. Trotz der beinahe spürbaren, unermesslichen Dimensionen fühlt sie sich geborgen. Es dauert nicht lange, bis sich ihre aufgewühlten Gedanken und Gefühle beruhigen und ihr den Schlaf gönnen.

Am nächsten Morgen sind sie die letzten, die den heiligen Platz verlassen. Während Nelio das Muli bepackt, berichtet er Ciel, dass sich zwei Frauen noch vor Sonnenaufgang auf den Heimweg begeben haben. Statt Antwort zu geben, macht sie nur eine besorgte Miene, denn der geröllübersäte Weg durch das Labyrinth ist in der Dunkelheit gefährlich, dennoch ist noch nie etwas Ernstes passiert.

Die morgendliche Kühle macht den Abstieg vergleichsweise angenehm und in weniger als einer Stunde haben sie die kargen Höhen hinter sich gelassen. Nun führt ein breiter Weg die Pilger durch sorgfältig kultivierte und zum Teil abgeerntete Terrassenfelder. Eine entspannte Heimkehrstimmung macht sich breit, die durch rhythmische Sprechgesänge einiger Frauen vertieft wird.

Trotz der allgemeinen Vergnügtheit bleibt es Ciel nicht verborgen, dass Maidali zwar in den Refrain einstimmt, aber ihre melancholischen Blicke immer wieder zu ihr hinüberwandern.

»Nicht jedem ist es gegönnt, Ogoun Feray so nahe zu kommen«, spricht sie Ciel bewusst unverfänglich an.

»Das ist es nicht!«, antwortet Maidali heftig. »Wovon sollen wir denn leben, wenn Marcial wirklich zurückkommt?«

Mit einer so scharfen Reaktion hat Ciel nicht gerechnet und kann nur wortlos nicken. Sie kennt diese typisch haitischen Zustände leider nur zu gut und erinnert sich an Maidalis Gebet an der Grotte, dass ihr Mann doch zur Familie zurückkommen möge.

Maidalis Mann hat, trotz der Zerstörungen durch das Erdbeben, in einer pharmazeutischen Fabrik Arbeit gefunden. Am Anfang kam er fast jeden Sonntag nachhause, aber in letzter Zeit geschah es immer unregelmäßiger und dann brachte er kaum noch Geld mit.

Wie alle Arbeiter ist er gezwungen im fabrikeigenen Camp zu leben und in dem angeschlossenen Supermarkt einzukaufen, der ihnen mit überhöhten Preisen das sauer verdiente Geld wieder aus den Taschen zieht. Wer dieses System zu umgehen versucht, findet sich auf der Straße wieder.

Stockend erzählt Maidali, dass sie bei Marcials letzten Besuch vor zwei Wochen, als er nur zwei Dollar mitbrachte, ihm enttäuscht Vorhaltungen gemacht hatte. Er hatte daraufhin die Hütte wütend verlassen, und sich seitdem nicht mehr blickenlassen.

Ciel atmet tief durch. Sie arbeitet nun schon seit fast fünfzehn Jahren als deutsche Ärztin auf Haiti und verlässt die Insel nur zu den Regenzeiten im Frühjahr und Herbst. In diesen eineinhalb Jahrzehnten hat sich die Situation der Haitianer immer weiter verschlechtert.

Trotzdem wird sie in vier Wochen wieder an ihrem Schreibtisch in Köln sitzen und sich die Finger wund wählen, um finanzielle Unterstützung für ihre Arbeit zu erbetteln. Ihre Überzeugung, das Richtige zu tun, bröckelt, denn in letzter Zeit hat sich das hässliche Gefühl, dass sie gegen Windmühlenflügel kämpft, dazu gesellt.

Maidali holt sie in die Realität zurück. »Warum schweigst du?«

»Eskize mwen (Entschuldigung), Maidali«, antwortet Ciel beschämt. »Auch ich muss mir über meine Zukunft Gedanken machen.«

***

Vorsichtig dreht Alexander den Zündschlüssel im Schloss und erschreckt sich beinahe, als der Motor seines gut fünfzehn Jahre alten Fiesta, trotz der vergangenen, feuchtkalten Nacht, problemlos anspringt. Zur Sicherheit lässt er ihn eine halbe Minute warmlaufen, ehe er sich aus der engen Parklücke quält.

Besorgt sieht er an der nächsten roten Ampel auf die Uhr, aber bis zu dem Termin mit seinem Redakteur hat er noch eine Stunde Zeit und entspannt sich. Normalerweise erhält er seine Reportagenaufträge einfach per Telefon oder SMS, seltener per E-Mail, aber dieses Mal will ihn der Chefredakteur unbedingt vorher sprechen.

»Guten Morgen Alexander!«, quakt der Lautsprecher an der Schranke zum Verlagsgelände.

»Guten Morgen Laura, ist unser Chef schon da?«, fragt er durch das runtergekurbelte Fenster.

Durch die spiegelnde Pförtnerhausscheibe kann er nur andeutungsweise erkennen, dass sie ihre tiefschwarze Mähne schüttelt.

»Der kommt frühestens in einer halben Stunde. Du darfst heute ausnahmsweise vorne parken und ich habe frischen Kaffee für dich.«

»Danke!«

Der Duft von dem gerade aufgebrühten Kaffee, gemischt mit kaltem Zigarettenrauch, schlägt ihm entgegen, als er die Tür zum Pförtnerhaus öffnet.

»Hei!«

Lauras Augen strahlen. »Da bist du ja schon.«

Sie zeigt auf die Kaffeemaschine.

»Bitte, bedien´ dich.«

Er schenkt sich eine Tasse ein und setzt sich auf einen abgeschabten Bürostuhl in der Nähe des Einganges. Während er vorsichtig den heißen Kaffee schlürft, beobachtete er über dem Tassenrand hinweg Laura, die einen Besucher abfertigt.

Sie haben gemeinsam Journalistik studiert. Während er sich mit zahllosen kleinen Beiträgen mehr schlecht als recht über Wasser hält, hat sie zumindest eine »feste Anstellung bei einem Verlag«, wie sie ihre berufliche Situation ironisch darstellt. Für Reportagen hat sie allerdings kaum noch Zeit.

Laura wendet sich ihm zu. Ihre schwarze Mähne umrahmt ihr Gesicht und unterstreicht ihr Lächeln.

»Wie geht’s dir?«

»Noch ganz OK. Der Chef will mich heute persönlich sehen.«

»Noch ganz OK? Vielleicht kommt ja der große Auftrag?«, frotzelt Laura, weil sie selbst nicht daran glaubt.

Alexander sieht sie prüfend an.

»Hast du was gehört?«

»Hier an der Schranke? Natürlich nicht«, spottet sie lachend. »Ich würde es dir einfach wünschen«, fügt sie ernst hinzu.

Sie werden durch die Ankunft des Chefredakteurs unterbrochen.

»Guten Morgen Herr Sievers!«, begrüßt ihn Laura durchs Mikrofon.

Sie öffnet die Schranke durch Knopfdruck und flüstert unbewusst.

»Er ist da. Ich drücke dir die Daumen. Sagst du mir Bescheid, wie es ausgegangen ist?«

»Mach' ich!«, ruft Alexander, der schon halb zur Tür raus ist. »Und vielen Dank für den Kaffee.«

Noch nicht mal eine Stunde später ist er zurück und lässt sich breit grinsend auf den freien Bürostuhl fallen. Laura platzt beinahe vor Neugier.

»Was gab es?«

»Ich habe einen richtigen Reportageauftrag«, hört er sich sagen und kann es selbst kaum glauben.

»Super«, freut sie sich mit ihm. »Worum geht es denn?«

»Du kennst doch diese Beiträge im Kölner Regionalteil, in denen wichtige oder innovative Firmen vorgestellt werden.«

»Ja!?«

»In diesem Rahmen soll ich den neuen Trend: »Alternative und natürliche Heilmittel«, recherchieren.« Er flüstert verschwörerisch: »Rein zufällig habe ich zur Orientierung einige Herstelleradressen mit auf den Weg bekommen.«

Laura sieht in melancholisch an.

»So etwas hätte ich auch gerne mal gemacht.«

***

»Und - gibt es was Neues?«

Jens Höfner, Leiter des Labors, zuckt zusammen, als ihn sein Kollege Tom anspricht.

»Eigentlich nicht«, antwortet er ausweichend, denn vor wenigen Minuten war die Betriebsratsitzung mit dem Fazit zu Ende gegangen, dass die Zukunftsaussichten der Cardea PharmaLab GmbH, und damit auch seine eigene, als fast fünfzigjähriger Pharmakologe, alles andere als rosig sind.

Er legt die Hand auf die Klinke zu seinem Büro, das an dem Labor angrenzt, um dort mit der neuen Situation erst mal selbst fertig zu werden.

»Und uneigentlich?«, bohrt Tom misstrauisch nach und kommt mit weiten Schritten auf Jens zu. Der wie immer zu weite Laborkittel umflattert ihn dabei. Zusammen mit dem hageren Gesicht, das von einer markanten Nase geprägt wird, muss Jens unwillkürlich an einen Geier denken.

»Du weißt es doch auch«, antwortet Jens und wendet sich Tom zu, »der Firma ging es schon mal besser.«

Tom nickt betroffen. »Mit Generica ist wohl kein Geschäft mehr zu machen.«

»Da sagst du was«. Jens winkt resigniert ab. »Gegen die Großen kommen wir einfach nicht an. Unsere Rezepturen sind absolut identisch und trotzdem verkauft sich deren teures Zeug wie geschnitten Brot.«

»Haste schon gelesen?«, Tom reicht ihm ein aufgeschlagenes Fachmagazin, »Einige Ärzte berichten neuerdings über starke Nebenwirkungen generischer Präparate.«

Jens wirft einen leicht verzweifelten Blick auf die Seite.

»Das ist die Härte!«, wettert er ärgerlich. »Nur, weil wir billiger sind, sind die Patienten fest davon überzeugt, dass das Präparat nicht so wirksam ist, und pflegen mit Hingabe irgendwelche Nocebo-Effekte.«

»Vielleicht wird das von den Multis sogar unterstützt?«, spekuliert Tom.

Jens winkt ab. »Das haben die gar nicht nötig, die Patienten machen das ganz alleine. Du kennst das doch: Wat nichs koss, dat iss nix.«

»Wir brauchen dringend was Neues«, seufzt Tom nachdenklich. »Ach übrigens!«, er zeigt auf einen Labortisch, der mit verschiedenen Messgeräten und Apparaturen ausgestattet ist, »deine Geschichte mit dem Extrakt aus Weidenruten funktioniert leider nicht.«

»Meine Geschichte?«

Jens geht mit einem fragenden Seitenblick zu dem Tisch und sieht sich stirnrunzelnd die Messprotokolle an.

»Was funktioniert denn nicht? Die Wirkstoffe sind doch alle da.«

»Das habe ich ja auch hingekriegt. Aber das dicke Ende kam dann doch noch.«

»Ja?«, fragt Jens ungeduldig.

»Deine Idee, die begleitenden Adjuvantien, also Hilfsstoffe zur Acetylsalicylsäure, also ASS, so wie sie in der natürlichen Weidenrinde vorkommen, auch zu extrahieren und alles in einem Präparat unterzubringen, war genial.« Tom wiegt anerkennend seinen hageren Kopf. »Leider gibt es ein Problem.«

Auf Jens´ Stirn bildet sich eine ärgerliche Falte. »Mein Gott Tom, machs doch nicht so spannend!«

»Die Mischung der einzelnen Komponenten ist sehr kritisch. In Verbindung mit einer Überdosierung von ASS kann und wird es eine lang anhaltende totale Schmerzunempfindlichkeit und letztlich sogar Lähmungen verursachen.«

Jens´ Gedanken überschlagen sich fast. Das ist im Kern eigentlich genau das, was sie erreichen wollten. Durch die natürlichen Adjuvantien, er nennt sie Türöffner, braucht man viel weniger ASS bei gleichem Resultat. Damit gibt es deutlich weniger der gefürchteten Nebenwirkungen, solange die Mischung nicht verändert wird.

»Gibt es schon Daten?«

»Wir haben Mäuse zum Test überdosiert gefüttert. - Ihr Nervensystem war anschließend paralysiert. Die hätten es nicht gemerkt, wenn wir sie halbiert hätten.«

»Verstehe. Ab welcher Dosierung wird es denn kritisch?«, fragt Jens besorgt.

»Hochgerechnet auf einen Menschen«, Tom macht eine abwägende Handbewegung, »so etwa ab fünfhundert Milligramm dürfte es spannend werden. Und genau diese Menge werfen einige Aspirinfreaks Tag für Tag ein, weil irgendjemand mal behauptet hat, ASS würde einem Herzinfarkt vorbeugen.«

»Gerüchte sind eine coole Verkaufstrategie und gleichzeitig wird die Rentenkasse entlastet«, bemerkt Jens sarkastisch. »Kriegen wir die Kuh vom Eis?«

Tom hebt hilflos die Schultern.

»Tut mir leid, zurzeit sehe ich nicht mal den Ansatz einer Lösung.«

***

Vanessa, ihr bürgerlicher Name kommt ihr richtig fremd vor, schaut nachdenklich aus dem Fenster des ICE, der sie geräuschlos mit Tempo dreihundert von Köln kommend durch den Westerwald nach Frankfurt transportiert. Ausgerechnet der Anblick der sauberen Ortschaften und herausgeputzten Häuser, die sich hinter den gepflegten Hecken ihrer Gärten verstecken, erinnert sie merkwürdigerweise an den allgegenwärtigen Müll Haitis. Irritiert wendet sich ab.

Eine Woche ist es nun her, seitdem sie wieder in Deutschland ist. Die Auswirkungen des Jetlags sind zwar fast völlig verschwunden, aber ohne den Wecker wäre sie heute Morgen immer noch nicht rechtzeitig wachgeworden.

»Vielleicht liegt es daran«, sinniert sie und blättert ihre Präsentation auf dem Notebook durch. Die Spenderliste für Haiti ist lang geworden. Ein »Who's who« der rheinischen Wirtschaft, die ihre Wirkung bei den Frankfurter Bankern sicher nicht verfehlen wird. Zufrieden ruft sie die nächste Seite auf, als eine automatische Durchsage die Ankunft ankündigt und der ICE leise rumpelnd in dem Frankfurter Bahnhof einrollt. Hastig klappt sie ihr Notebook zu und beeilt sich zum Ausgang zu kommen. Da sich auf dem Gang eine kurze Schlange gebildet hat, findet sie genug Zeit einen prüfenden Blick in den bodenlangen Spiegel der Garderobe zu werfen.

Sie hat sich für einen dezent eleganten Hosenanzug entschieden, der ihren Auftritt vor dem Vorstand der Genossenschaftsbanken seriös unterstreichen wird. Zur Betonung hat sie sich noch eine Brosche in Form eines Äskulapstabes, das Symbol des ärztlichen Standes, angesteckt.

Am frühen Nachmittag ist sie bereits wieder auf dem Rückweg nach Köln. Die anfänglichen Schwierigkeiten, ihr Notebook an das Hausnetz der Bank anzuschließen, hatte sie zwar gehörig nervös gemacht, doch mit der überschwänglichen Hilfe des Vorstandes, dem die Probleme vermutlich sehr vertraut waren, konnte sie doch noch nahezu pünktlich beginnen. Sie wurde aber das Gefühl nicht los, dass ihr Vortrag um Unterstützung durch die Bank, nicht mehr entscheidend gewesen war. Nur der ausdrückliche Wunsch der Werbeabteilung nach aussagekräftigen Fotos für die Kundenzeitschrift und dem Internetportal beunruhigt sie nachhaltig, weil sie damit keine Erfahrungen hat.

»Was soll’s«, sagt sie achselzuckend zu sich selbst, »das Geld wird für ein weiteres Jahr reichen und das mit den Fotos kriegen wir auch noch hin.«

Denn wie jedes Mal bei ihren Deutschlandaufenthalten hat sie sich die Finger wundgewählt, unzählige Telefonate geführt, ihr Projekt vorgestellt und um Förderung gebeten.

»Gebeten?«, sie lächelt ironisch über sich selbst. »Gebettelt!«

So problemlos die Fahrt nach Frankfurt und zurück war, die Heimfahrt mit dem väterlichen Kombi, den sie im Parkhaus unter dem Bahnhof abgestellt hatte, wuchs sich allerdings zu einer Irrfahrt durch chaotisch anmutende Baustellen aus. Der Kölner Verkehrsalltag hatte sie wieder einmal voll im Griff.

Durch zahllose Staus genervt, und nach einer Fahrtdauer, die sich der Zugreise anglich, manövriert sie den Wagen in die geräumige Einfahrt des elterlichen Hauses. Wie immer wird sie schon erwartet.

»Hallo Vanessa!«, begrüßt ihr Vater sie und wirft einen unauffälligen Blick, wie er meint, auf die kritischen Stellen der Karosserie.

»Hallo Papps, alles in Ordnung!«, lacht sie. »Komm mal mit nach Haiti. Spätestens nach einer Woche bist du froh, dass die Scheinwerfer nicht verschwunden sind oder der Wagen ohne Räder auf den Bremsscheiben steht.«

Schwungvoll steigt sie aus und überreicht ihm schmunzelnd die Schlüssel.

Der nächste Tag ist mit Verpflichtungen ausgefüllt. Einer ihrer Sponsoren erwartet sie, im Rahmen einer Gesundheitsmesse, in einer halben Stunde auf dem Stand. Und am Nachmittag soll sie ihr Projekt in einem Gemeindesaal im Kölner Norden vorstellen.

Nervös trommelt sie mit den Fingern auf das Lenkrad, denn es geht nicht, vermutlich wegen eines dünnen Regens, der aus einem grauverhangenen Himmel fällt, voran.

Vermutlich deshalb muss sie unwillkürlich an das sommerliche heiße Haiti denken. Ob ihre rechte Hand und Fahrer Kaholo, ein hünenhafter Haitianer, wirklich nur die Tagesrationen an Medikamenten herausgibt und darauf achtet, dass sie sofort in seinem Beisein geschluckt werden? Denn mitgegebene Tabletten landen direkt auf dem Wochenmarkt in Port-au-Prince, um die spärlichen Haushaltskassen aufzubessern.

Vanessa atmet tief durch und schiebt ihre trüben Gedanken beiseite, denn sie hat trotz des Staus ihren Parkplatz erreicht. Außerdem konnte sie sich bisher immer auf Kaholo verlassen, warum sollte es diesmal anders sein?

Obwohl das Gedränge und der Lärm in der Messehalle spontan ihren Fluchtinstinkt wecken, steht sie nach nervösem Suchen doch noch pünktlich vor dem Stand ihres Sponsors.

Kaum angekommen stürzt ein aufgeregter Marketingmanager mit hochrotem Kopf auf sie zu, um ihr hektisch ein Informationsblatt in die Hand zu drücken.

»Hier sind unsere Themenschwerpunkte. Die ersten Presseleute sind schon da.«

»Aha, und was soll ich denen sagen?«

»Das steht alles auf dem Blatt!«, antwortet er hastig. »Ich muss mich jetzt um die Hostessen kümmern«, und er verschwindet irgendwo im chaotischen Treiben.

Vanessa überfliegt das Script. Nach wenigen Zeilen wird ihr klar, dass sie entweder das falsche Blatt erhalten hat, oder der Manager nicht über ihr Fachgebiet informiert ist.

Nach einer kurzen Suche findet sie ihn, auf die Hostessen einredend, in einem Besprechungsraum.

»Ich bin jetzt hier beschäftigt!«, herrscht er Vanessa an, als sie sich bemerkbar macht.

»Ich brauche nur das korrekte Script«, entgegnet sie kühl. Fasziniert beobachtet sie, dass seine Gesichtsfarbe einen noch tieferen Rotton annimmt. Unwirsch reißt er ihr das Blatt aus der Hand.

»Was ist daran falsch?«, bellt er sie an.

»Ich bin keine Pharmakologin, sondern eine praktizierende Ärztin!«

»Oh Gott!«

Trotzdem steht sie zehn Minuten später auf einer kleinen Bühne und vermischt geschickt ihre eigene Präsentation mit dem neuen Marketingkonzept ihres Sponsors.

Erst nach der Vorstellung spürt sie, wie sehr sie das angestrengt hat und flüchtet, um den überschwänglichen Dankesworten des Marketingmanagers zu entkommen, in eine Cafeteria in der Nähe des Halleneinganges.

Während sie auf den bestellten Orangensaft wartet, erkennt sie einen leger gekleideten jungen Mann am Nachbartisch wieder, den sie vorher unter den Zuschauern gesehen hatte.

Lächelnd erwidert er ihren Blick.

»Hallo, das war eine sehr interessante Präsentation!«, lobt er sie mit verhaltener Stimme über die Tische hinweg.

»Danke!«, lächelt sie zurück und schaut bewusst in eine andere Richtung, aber es nutzt nichts.

»Mein Name ist Alexander Bach!«, tönt es herüber. Mit kritisch gekrauster Stirn sieht sie ihn ungnädig an und bereut es. Entweder hat er ihre deutliche Ablehnung übersehen oder schlichtweg ignoriert. Jedenfalls stellt er sich als Reporter vor und berichtet ihr kurz von seinem Auftrag.

»Kann ich Ihnen eine Frage stellen?«

Genervt nippt sie an dem mit zu vielen Eiswürfeln verdünnten Orangensaft, um Zeit zu gewinnen.

»Ja bitte!«

»Ist es wirklich so, dass in den Entwicklungsländern vermehrt natürliche Heilmittel eingesetzt werden?«

»Ja natürlich, für die Produkte der westlichen Pharmaindustrie fehlt schlichtweg das Geld«, antwortet sie nüchtern und hofft inständig, damit das Gespräch beendet zu haben.

Betroffen schweigt Alexander für einige Sekunden.

»Sind denn die natürlichen Heilmittel genauso wirksam?«

Vanessa zögert mit der Antwort, obwohl sie im Grunde mit dieser Frage rechnete, weil sie sich diese auch immer wieder stellt. Sie schaut Alexander an und ihr Blick fällt auf seinen Fotoapparat, den er lässig über der linken Schulter hängen hat. Der offene, unverbrauchte Gesichtsausdruck unter dem blonden Schopf gefällt ihr und sein Interesse an dem Thema ist ehrlich. Der Wunsch der Genossenschaftsbank nach werbewirksamen Fotos kommt ihr in den Sinn.

»Die Antwort finden Sie auf Haiti.«

Alexander sieht sie verblüfft an. »Äh, wie meinen Sie das?«

»Sie suchen nach einer Antwort über die Wirksamkeit von natürlichen Heilmitteln und ich benötige gute Fotos, um auch in Zukunft meine Arbeit in Haiti fortsetzen zu können.«

»Ist das ein Auftrag?«, fragt er unsicher und sieht sich um, als hätte sie womöglich jemand Anderen gemeint. »Darf ich an Ihren Tisch kommen?«

Sie nickt und schildert ihm anschließend ihre Situation.

»Bei mir sieht es nicht viel anders aus«, grient Alexander, »mein Auto ist fünfzehn Jahre alt und der Kredit für diesen Fotoapparat ist noch nicht abbezahlt.«

Vanessa kann nur mit Mühe ein Schmunzeln über die erzwungene Parallele unterdrücken und schaut auf die Uhr.

»Ich habe heute noch einen weiteren Termin. Ich melde mich. Kann ich Ihre Karte haben?«, fragt sie, bevor sie sich verabschiedet.

***

Wie so oft ist Jens als Erster im Labor, öffnet den Schaltschrank und drückt, ohne wirklich Hinsehen zu müssen, im Inneren einige Tasten. Während die elektrischen Rollladen hochfahren und der lang gestreckte Raum aus dem Dunkel auftaucht, sieht er sich wehmütig um.

Früher hatten hier acht Kollegen gearbeitet, die von sechs Praktikanten unterstützt wurden. Jetzt waren sie nur noch dritt.

Dafür klicken und summen nun überall Roboter, die unermüdlich Proben schütteln oder Messungen durchführen.

»Wie lang noch?«, fragt er sich und wendet sich abrupt ab.

In seinem Büro angekommen betrachtet er den Prospektstapel, den er gestern auf der Messe zusammengesammelt hatte.

»Macht das noch Sinn?«, fragt er sich seufzend und beginnt ihn trotzdem durchzuarbeiten.

Nach einer Stunde zieht er Bilanz.

Es gibt praktisch kaum ein Prospekt der modernen pharmazeutischen Industrie, den nicht das Wort »Natur«, »biologisch« oder »natürlich« ziert. Der Marketingtrend zu so genannten natürlichen Heilmitteln ist unübersehbar.

Mit nachdenklicher Miene macht er sich mit den sortierten Unterlagen auf den Weg zu seinem Chef.

Alfred Husse wirft nur einen flüchtigen Blick auf die Prospekte, die ihm Jens auf dem Besprechungstisch aufschichtet.

»Wir müssen ohnehin unsere Strategie ändern und komplett neu aufstellen«, bemerkt er trocken und schiebt sie unwillig zur Seite.

»OK«, Jens zeigt spöttisch auf den kleineren Stapel, »bei den hier vorgestellten synthetischen Medikamenten ist lediglich der Aufdruck »natürlich«.«

Alfred Husse nimmt einen der Prospekte auf und blättert ihn wenig interessiert durch. Lässig wirft er ihn auf den Tisch zurück. »Das wird uns auch nicht weiterhelfen.«

Er sieht Jens durch die altmodische Hornbrille an. Die durch die dicken Gläser vergrößerten Augen haben einen unübersehbar resignierten Ausdruck.

»Setzen wir uns doch.«

Er wartet bis Jens Platz genommen hatte, ehe er fortfährt.

»Warum machen wir nicht einen großen Schritt in diese Richtung und spezifizieren als Erster die Drogen der traditionellen chinesischen Medizin für den deutschen Markt?«

»Was? Dieses Chinazeug?«, Jens verschärft den Tonfall, »welche Maßstäbe sollen wir denn an Schlangenköpfe oder Tigerpimmel anlegen? Ich sehe schon die roten Aufkleber. – Extra lang! Beachten Sie den Frischestempel!«, frotzelt er aufgebracht.

Alfred Husse verzieht keine Miene und schweigt. Verunsichert wechselt Jens kurzerhand das Thema. »Unser neues Schmerzmittel ist fertig.«

Alfreds Augen signalisieren müdes Interesse. »Ja?«

»Wir können es jetzt zur klinischen Prüfung geben.«

»Das dauert ja wieder drei Ewigkeiten«, winkt sein Gegenüber ab.

»Alfred, ich kenne unsere Situation. Ein ehemaliger Studienkollege von mir könnte den Vorgang vielleicht drastisch beschleunigen.«

»Aha?«

Jens beugt sich ein wenig nach vorne.

»Die verwendeten Wirkstoffe sind alle bekannt und katalogisiert. Von dieser Seite sind keine Verzögerungen zu erwarten. Es geht also nur noch um die Terminierung der Prüfung.«

»Verstehe«, schmunzelt Alfred Husse verschmitzt. »Er bekommt die Proben einfach etwas früher als heute.«

Ein kehliges Lachen dröhnt durch das Büro.

Jens bleibt ernst.

»Das ist für ihn mit viel Aufwand verbunden. Er muss parallel zur verkürzten klinischen Prüfung das Protokoll für einen längeren Zeitraum erstellen.«

Ein unwilliger Schatten überzieht das Gesicht seines Gegenübers.

»Ich habe es mir schon gedacht, dass es teurer wird. – Frag ihn!«

»OK werd' ich sofort machen«, sagt Jens beschwichtigend. »Wie werden wir unser neues Medikament denn nennen?«

»Das überlasse ich dir«, meint Alfred Husse gönnerhaft.

»Eine kleine Abstimmung im Labor ergab: Cardea Salicin Natur.«

»Das hört sich sehr gut an! Ich werde es der Werbeabteilung vorschlagen.«

***

Wie erstarrt sieht Alexander Vanessa Weigert hinterher, als sie die Cafeteria verlässt. Monatelang erhielt er nur winzige Aufträge, die kaum die Kosten einspielen und er nächtelang Taxi fahren muss, um seine Miete bezahlen zu können, und nun zeichnet sich, zusätzlich zu einer richtigen Reportage, sogar die Chance für einen internationalen Einsatz ab.

»Komm wieder runter!«, ermahnt er sich selbst. »Noch haste keinen Auftrag!«

Trotzdem prüft er den Akkustand seines Handys, um keinen Anruf zu verpassen, ehe er sich wieder in das Messegetümmel stürzt.

Sein Presseausweis bewirkt kleine Wunder und öffnet Türen, die dem normalen Besucher in der Regel verschlossen bleiben. Aber er ist froh, dass während eines informellen Gespräches sein Handy klingelt und er eine Ausrede hat, um dem nicht enden wollenden Wortschwall eines Koffein gedopten Marketingleiters entkommen zu können.

Zwanzig Minuten später sitzt er dem Anrufer gegenüber. Der Gegensatz ist erfrischend. Das Gespräch verläuft ruhig, auch wenn die Diskrepanz zwischen den Wünschen der Firma und einer glaubwürdigen Reportage nicht einfach zu überbrücken ist. Nahezu widerstandslos folgt er der Einladung zu einem Abendessen, da sich sein Magen, auf Grund des überall reichlich angebotenen Kaffees, ohnehin schon sauer gemeldet hat.

Am nächsten Morgen, er hatte noch nicht mal die Augen geöffnet, und als hätte der Gedanke die ganze Nacht auf diesen Moment gelauert, stellt er als Erstes fest, dass Vanessa Weigert nicht angerufen hat.

Eine gewisse unbestimmte Enttäuschung ergreift ihn, aber sie wird schnell von der Arbeit an seiner Reportage verdrängt, denn die Auswertung des gesammelten Materials ist schwierig. Seine Erfahrungen mit der Pharmaindustrie beschränkten sich bisher auf Kopfschmerztabletten und sein letzter Arztbesuch liegt auch schon über fünf, oder sind es schon zehn? Jahre zurück. Immer wieder stolpert er über Fachbegriffe oder nebulöse Werbeaussagen und muss ein Online-Lexikon zurate ziehen. Trotz der werbetechnischen Tricks wird ihm nach und nach klar, dass viele Mittel gegen Krankheiten angeboten werden, die eigentlich gar keine sind.

Mit gequältem Blick nimmt er einen weiteren Prospekt vom Stapel, der in seiner Aufmachung an eine pharmazeutisch-medizinische Fachinformation erinnert, sich aber letztlich auch nur pseudowissenschaftlich an interessierte Endverbraucher wendet.

»Abführmittel auf Feigenbasis«, stellt er nach kurzer Lektüre fest und trägt das Ergebnis in einer Liste ein.

Gerade als er den nächsten Prospekt aufschlägt, knurrt sein Handy, das er unter einen Stapel Papiere begraben hat. Hektisch schiebt er ihn beiseite und starrt auf das Display: Vanessa Weigert.

Alexander spürt, wie sich sein Herzschlag beschleunigt. Dennoch benötigt er eine schier unendliche Sekunde, um die grüne Taste zu drücken.

»Alexander Bach«, kiekst er in das Mikrofon, weil seine Stimmbänder plötzlich belegt sind.

»Hallo Herr Bach«, meldet sich Vanessa mit munterer Stimme. »Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch, gestern in der Cafeteria?«

Alexander räuspert sich. »Oh ja, wie sollte ich das vergessen, ich habe auf Ihren Anruf gewartet.«

Vanessa überhört die versteckte Kritik.

»Ich habe ein gute und eine schlechte Nachricht. - Welche möchte Sie zuerst hören?«

Alexander traut seinen Ohren nicht. Für ihn wäre die mögliche Reportage auf Haiti ein wichtiger Karriereschritt, und sie kokettiert damit. Er versucht, die Nervosität in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Beide!«

»Gut, dann beginne ich mit der Guten. Unser Sponsor übernimmt Ihre anfallenden Reisekosten.«

»Unser Sponsor?« Hat sie »unser Sponsor« gesagt? Alexander kann es kaum fassen. »Das, das hört sich schon mal sehr viel versprechend an«, stottert er, »so schlecht kann die schlechte Nachricht gar nicht mehr sein.«

»OK. Der Abgabetermin ist der fünfzehnte Juli.«

»So schlimm hört sich das nicht an.«

Vanessa lacht.

»Zwischen der Regenzeit und dem Abgabetermin bleiben uns nur vier Wochen. - Bei rund fünfunddreißig Grad, im Schatten wohlgemerkt.«

»Fünfunddreißig Grad?«, fragt er ungläubig und hofft, sich diesmal verhört zu haben.

»Ja leider! Zum Glück ist die Luft im Sommer für haitische Verhältnisse relativ trocken. Wir fliegen Ende Mai, OK?«

Alexander kann es kaum fassen.

»Ende Mai, - meinerseits ja«, antwortet er zögerlich. An Vanessas Tempo muss er sich noch gewöhnen. »Ich weiß aber noch nicht, was mein Chefredakteur dazu sagt.«

»Klar«, antwortet Vanessa unbekümmert, als wäre auch diese Hürde schon längst genommen. »Das wär's erst mal. Ich warte auf Ihren Anruf.«

Alexander ist wie betäubt, nachdem sie aufgelegt hat. Es dauerte einige Sekunden, bis er einen klaren Gedanken fassen und sich innerlich auf das Gespräch mit seinem Redakteur vorbereiten kann.

Eine halbe Stunde später steht er vor der Schranke des Verlagsgeländes.

»Hallo Laura!«

»Hi, Alexander. Schon wieder hier?«, wundert sie sich.

»Große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus«, antwortet er geheimnisvoll, »lässt du mich rein?«

»Danke für die erschöpfende Information«, ärgert sich Laura gekränkt. »Parkplatz dreiundzwanzig, melde dich mal.«

Die Schranke hebt sich.

Auf dem Weg zum Chefredakteur spürt Alexander, wie er zunehmend nervöser wird und muss vor der Bürotür mehrmals tief durchatmen, aber das Chaos im Kopf bleibt.

Was wird ihn erwarten? Abgesehen von den üblichen redaktionellen Meinungsverschiedenheiten hat er bisher nichts wirklich Schlechtes über seinen Chef gehört. Im ungünstigsten Fall muss er eben die Reportageserie abgeben, wenn er auf die Haitireise besteht ...

Er gibt sich einen Ruck, klopft an und öffnet die Tür.

»Guten Tag, Herr Sievers!«

Alexander merkt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt, weil er mehr krächzt als spricht.

»Hallo Alexander!« Der leicht untersetzte Mann mittleren Alters steht ohne zu zögern auf und reichte ihm die Hand. »Bitte, setzen wir uns doch« und zeigt zu dem Besprechungstisch, auf dem eine Wasserflasche mit Gläsern steht.

Alexanders Nervosität ist nicht zu übersehen und der Chefredakteur wartet geduldig, bis sich Alexander mit leicht zitternden Fingern eingeschenkt und einen Schluck genommen hat.

»Nun erzähl mal. Was tut sich denn bei dir?«

Mit kurzen Worten umreißt Alexander seinen Auftrag und lässt auch die Wetterbedingungen nicht unerwähnt.

»Das hört sich ja sehr äußerst vielversprechend an. So etwas bekommt man nicht alle Tage angeboten«, meint der Chefredakteur jovial und denkt einige Sekunden lang schweigend nach. Dann geht er wortlos zu seinem Schreibtisch, um anschließend mit einigen Notizen zu zurückzukehren, die er Alexander auf den Tisch legt.

»Bitte«, er sieht Alexander erwartungsvoll an. »Erst letzte Woche haben wir bei der Redaktionskonferenz über eine Reportage, naja eher so eine Art Nachlese, auf Haiti nachgedacht. - Und jetzt kommst du und planst dorthin zu reisen«. Er schüttelt schmunzelnd den Kopf. »Bei solchen Zufällen kann man ins Grübeln kommen. Traust du dir das zu?«

Alexander hat mit allen möglichen Hindernissen gerechnet, aber dass er offene Türen einrennt, überhaupt nicht.

»Im Prinzip ja«, hört er sich sagen und ärgert sich über seine unentschlossene Antwort.

»Gut«, antwortet Herr Sievers mit verbindlichem Unterton, »dann kläre bitte, ob es mit deinem anderen Auftraggeber Probleme gibt, wenn du im Anschluss für uns dort tätig bist.«

Alexander nickt schweigend und kann das Gehörte kaum fassen.

»Du hast dich sicherlich schon mit der Situation in Haiti beschäftigt?«

Alexander nickt vorsorglich und ruft sein Wissen über Haiti ab. Obwohl es dort über dreihunderttausend Erdbebenopfer gegeben hat, taucht seit Längerem nichts mehr in den Nachrichten auf. Er bemerkt beschämt, dass er kaum mehr über diese Insel weiß und hofft inständig, dass sein Chef nicht nach Details fragt.

»Es ist nach wie vor ein Katastrophengebiet«, fährt der Chefredakteur fort, »und du wirst einen Assistenten benötigen. An wen denkst du denn?«

»Das muss ich mir noch genau überlegen«, antwortet Alexander ausweichend, weil ihm tausend andere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schießen. »Ich gebe rechtzeitig Bescheid«, fügt er hastig hinzu.

Es ist schon fast Mittag, als Alexander nach unzähligen Telefonaten und Gesprächen mit einem Stapel Unterlagen auf dem Parkplatz steht und das bisher Geschehene Revue passieren lässt.

Es ist wahr, er hat eine Auslandreportage!

Wie in Trance schließt er sein Auto auf. Gedankenverloren fällt dabei sein Blick auf das Pförtnerhäuschen mit den spiegelnden Scheiben und sein abwesender Gesichtsausdruck wandelt sich. Energisch öffnet er die klemmende Fonttür seines Fiestas, legt die Ordner ab, um anschließend mit festem Schritt zu dem Häuschen zu gehen.

»Hallo Laura!«

»Hi Alexander«, strahlt sie in an.

»Wie lange hast du noch?«, fragt er geradeheraus.

Sie sieht auf die Uhr über dem Schreibtisch.

»Nur noch ein paar Minuten. Meine Ablösung kommt gleich. - Wieso?«, fragt sie mit skeptisch gekrauster Stirn.

»Ich möchte mit dir etwas besprechen. Hast du danach Zeit?«

Laura signalisiert ihm Zustimmung und öffnet nebenbei per Knopfdruck einem Kollegen die Schranke. Mit kritischem Blick verfolgt sie dessen ungeschickte Ausfahrt.

Ohne Alexander anzusehen, fragt sie: »Ist was passiert?«

»Wie man's nimmt.«

Besorgt dreht sie sich um und sieht in sein schmunzelndes Gesicht.

»Duuu!«, droht sie ihm mit der Faust.

In diesem Augenblick tritt ihre Ablösung ein und meint verschmitzt: »Wie ich sehe, kennt ihr euch wohl schon länger?«

»Überhaupt nicht, dieser Herr da ist mir völlig fremd und ich erwarte von ihm, dass er sofort mit mir zusammen das Büro verlässt.«

***

Vanessa kann sich nicht entscheiden, ob sie sich ärgern oder lachen soll, als sie ihren Vater wieder in der Einfahrt stehen sieht und sie mit weiten, ausholenden Handbewegungen auf den Platz vor der Garage einweist.

»Ich bringe dir morgen zwei Kellen mit!«, ruft sie ihm anstatt einer Begrüßung beim Aussteigen zu.

»Zwei Kellen? Wozu?«, fragt er verständnislos.

»Damit du mir beim Einparken deutlichere Signale geben kannst.«

»Vanessa«, ermahnt sie ihr Vater, »ich will dir doch nur helfen.«

Du hast doch nur Angst um dein heilig’ Blechle, schießt es ihr durch den Kopf und beißt sich auf die Zunge.

»Danke Paps. Aber die Einfahrt ist wirklich breit genug.«

Sie zeigt auf das graue gemusterte Betonpflaster, das sogar einem Lastzug bequem Platz bieten würde und eilt ins Haus.

Ihre Mutter scheint sich nicht zu freuen.

»Kind, Tag für Tag bist du unterwegs. Du solltest mehr an dich denken.«

»Das tue ich doch! Ab jetzt wird es ruhiger.«

In den letzten Tagen war sie sehr erfolgreich gewesen. Das Spendenkonto hat sich gut gefüllt und wird nun für fast eineinhalb Jahre reichen. Zusätzlich hat sich ihr Hauptsponsor überraschend schnell mit der Tageszeitung, für die Alexander arbeitet, geeinigt, und ihre Arbeit auf Haiti wird mit einer Reportage gewürdigt werden.

Trotz der Erfolge hat sie kein gutes Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht. Es geht alles viel zu glatt.

Sie zuckt zusammen, als ihre Mutter sie mit leicht erhobener Stimme anspricht.

»Kind, du hörst mir ja gar nicht zu. Möchtest du nicht was essen? Wir haben auf dich gewartet!«

Der leicht vorwurfsvolle Ton ist nicht zu überhören.

»Ja, gerne«, schwindelt Vanessa, obwohl sie noch gar keinen Hunger hat. Ihre Mutter kocht abwechselungsreich und gut. Trotzdem geht sie mit in die Küche, um die Portionen auf ihrem Teller in realistischen Grenzen zu halten.

Nach dem Essen und einem anregenden Kaffee, bei dem wieder mal ihre Lebensplanung thematisiert wurde: »Du musst auch mal an später denken«, setzt sie sich an ihren Computer und ruft die E-Mails ab.

Die Liste ist in den letzten Tagen immer länger geworden. Einige Absender künden Spenden an und erwarten eine Bestätigung, andere möchten einfach nur ein paar Bilder oder Informationen. Obwohl sie sich die Antworten mit Textbausteinen vereinfacht hat, hat sie mit der Beantwortung und den persönlichen Anschreiben noch genug zu tun.

Eisern arbeitet sie E-Mail für E-Mail ab, bis sie eine aus Haiti öffnet.

»Aha, das Internet funktioniert dort auch wieder«, freut sie sich, denn bis zu ihrer Abreise musste sie dafür ihr Handy benutzen.

Kaholo hat ihr geschrieben. Das alleine ist schon eine Besonderheit, denn normalweiser meidet er den Kugelschreiber oder die Tastatur, wie der Teufel das Weihwasser.

Amüsiert liest Vanessa die typisch kreolischen Ausdrücke, die jedem Französischlehrer den Schweiß auf die Stirn treiben würden. Der Inhalt ist allerdings ernst genug. Kaholo berichtet über einen Besuch der Gesundheitspolizei, die ihm verboten hat Medikamente auszuteilen. Das dürften jetzt nur noch Ärzte.

Sie schaut auf die Uhr und greift zum Telefon.

»Olá! Kaholo, Ciel hier!«, meldet sie sich mit ihrem haitischen Namen. »Wie geht es dir? Ich habe deine E-Mail gelesen, was ist passiert?«

Kaholo berichtet ihr von dem Besuch und schwört, dass er keine Medikamente verschrieben oder mit ihnen gehandelt habe.

»Ich weiß doch, dass du nicht selbstständig therapierst«, beruhigt sie ihn, »das hast du sicherlich auch dieser Gesundheitspolizei gesagt?«

»Byentendu (selbstverständlich), es interessiert die einfach nicht!«, antwortet er empört und schickt ärgerlich einige kreolische Schimpfwörter hinterher. »Dabei geht es doch nur um die von dir verordneten Langzeitbehandlungen. Ciel, was soll ich machen? Ich kann die Leute doch nicht hängen lassen.«

Vanessa ist beeindruckt und schämt sich für ihre Zweifel an seiner Zuverlässigkeit, die sie zwischendurch für einen Moment gehabt hatte.

»Weißt du was? Gehe bitte mit den Patienten zu einer zuverlässigen Apotheke und gebe ihnen Geld für das, was sie benötigen. Sie sollen dort die Medikamente selber kaufen und sofort einnehmen.«

»Gute Idee, ich werde sofort losfahren. - Ciel wann kommst du zurück? Die Leute fragen nach dir.«

Vanessa schluckt betroffen.

»Ich habe hier noch sehr viel zu erledigen, damit ich überhaupt wieder zurückkommen kann. Es wird noch zwei Wochen dauern.«

»Oke, n ‘ap boule (bis dann).«

Nachdenklich legt Vanessa auf.

Gesundheitspolizei? Ihr ist es neu, dass es sie gibt und hat ernste Zweifel, dass es mit rechten Dingen zugeht. Aber Kaholo traut sie es zu, dass er zwischen selbst ernannten Polizisten und realen Beamten unterscheiden kann, obwohl es letztlich die gleichen Konsequenzen für ihn hat. Sie beschließt, bei der haitischen Botschaft in Berlin nachzufragen.

***

»Hast du im Lotto gewonnen oder einen Opferstock geplündert? Der Laden da oben ist doch sündhaft teuer«, gibt Laura stirnrunzelnd zu bedenken, als Alexander im Aufzug auf die Taste des zwölften Stocks drückt, neben der in fantasievollen Buchstaben der Name des Restaurants prangt.

»Große Ereignisse werfen ...«

»Nicht schon wieder«, stöhnt Laura auf, ihre Augen blitzen belustigt im Lampenlicht, »oder willst du mir etwa ein Heiratsantrag machen?« und setzt theatralisch eine erschrockene Miene auf, als befürchte sie das Schlimmste.

»Sag das nicht noch einmal!«, Alexander droht ihr schmunzelnd mit dem Zeigefinger, »sonst drücke ich sofort wieder Erdgeschoss.«

Der Aufzug hält mit einem sanften Ruck und die stählernen Türen geben ihnen den Blick in einen aufwändig gestylten Vorraum frei.

Der kritische, beinahe überhebliche Blick des auf sie wartenden Kellners spricht Bände.

»Sie möchten bei uns etwas essen?«, fragt er vorsichtig, um nicht arrogant zu wirken.

Laura sieht unsicher zu Alexander auf, der ihren Blick lächelnd erwidert.

»Schon möglich«, antwortet er bestimmt, »es wäre schön, wenn wir draußen sitzen könnten.«

Der Kellner führt sie zu einem windgeschützten, penibel gedeckten Tisch, der ihnen eine spektakuläre Aussicht über die Stadt ermöglicht. Die Geräusche des Verkehrs wehen nur noch gedämpft und wie von weit her zu dem Dachgarten empor, den sich das Restaurant vor dem Penthouse mit reichlich Buchsbäumen und Blumenkübeln eingerichtet hat.

Laura sieht sich begeistert um.

»Wow! - Warst du schon mal hier?«

»Ja, aber nur zum Fotografieren«, gibt er zu, vergisst aber seine Rolle als Gastgeber nicht. »Was hältst du von einem Caipirinha als Aperitif?«

»Chic«, Laura beugt sich zu ihm hinüber, dabei fällt ihre schwarze Mähne nach vorne und verdeckt zur Hälfte ihr Gesicht. »Ich bin aber total hungrig«, flüstert sie etwas verlegen.

»Dann wollen wir doch mal schauen, was es heute gibt«, lächelt Alexander, bestellt die beiden Drinks und bittet souverän um die Speisenkarte.

Laura sucht unsicher Alexanders Augen. »Nun mal ehrlich! Was ist los, dass du mich in diesen Nobelschuppen schleppst?«

Ein schelmisches Lächeln umspielt sein Gesicht.

»Erstens ist es mir danach, den heutigen Tag mit dir zu feiern, und zweitens möchte ich dich etwas fragen.«

Laura lehnt sich verunsichert mit verschränkten Armen in die weichen Polster zurück.

Alexander holt tief Luft. »Ich habe den Auftrag für eine Reportage auf Haiti erhalten« und macht eine rhetorische Pause. Da aber Laura keine erkennbare Reaktion zeigt und schweigt, fährt er leicht verunsichert fort. »Da mein Französisch bekanntermaßen hundsmiserabel ist, habe ich mich dazu entschlossen, dich als meine Assistentin mitzunehmen.«

»Das ist nicht wahr!«, entfährt es ihr.

Alexander genießt einen Augenblick lang ihre Fassungslosigkeit, um dann die Hand wie zu einem Schwur zu heben.

»So wahr wir hier sitzen. Ah - da kommt unser Caipirinha.«

Laura ergreift ihr Glas, als würde es ihr Halt geben und schaut Alexander mit einem zaghaften Lächeln an.

»Ich kann es noch nicht fassen«, flüstert sie ungläubig, »wie sicher ist es denn?«

»Ich habe es auch erst geglaubt, als ich den Auftrag in der Hand hielt«, tröstet sie Alexander. »Naja, und bei den Formalitäten wurde ich allen Ernstes gefragt, wen ich denn als Assistenten mitnehme«. Er nickt ihr aufmunternd zu, »Mir fiel diese Entscheidung nicht sehr schwer. Jetzt bist du dran.«

»Ich war noch nie auf Haiti«, wirft Laura schüchtern ein. »Was habe ich zu tun und wann geht es los?«

»Wenn ich mich richtig erinnere, warst du schon mal längere Zeit in der Dominikanischen Republik und damals in Paris hätten wir ohne dein perfektes Französisch nur die Hälfte gesehen.«

Sie werden von dem Kellner unterbrochen, der ihre Bestellung aufnimmt.

Während sie auf ihr Menü warten, berichtet Alexander ihr von dem Kontakt mit Vanessa Weigert, von dem Gespräch mit dem Chefredakteur und dem Auftrag.

»Du hast aber auch ein Glück«, bemerkt Laura ein wenig neidisch.

»Naja, wie man es nimmt. Etwas Entscheidendes vermisse ich trotzdem noch.«

»So?«, sie runzelt verständnislos die Stirn. »Was denn noch?«

»Deine Zusage.«

Laura hebt erleichtert ihr Glas. »Hallo Partner. - Wann geht es denn los?«

»So in knapp zwei Wochen.«

***

Jens war schon lange nicht mehr im Kölner Dom gewesen. Immer wieder gleitet sein Blick an den endlos hohen Säulen nach oben, zwischen denen die bunten Fenster einen starken Kontrast zu dem eher farblosen gotischen Mauerwerk bilden. Der dünne Stundenschlag der Domuhr schwebt durch das Kirchenschiff und erinnert ihn an die vereinbarte Zeit. Hastig wirft er zur Orientierung einen Blick in den sündhaft teuren Katalog, den er nebenan im Kiosk erstanden hat und lenkt seine Schritte zu dem Chorumgang.

Erst nachdem er den Altar erreicht hat, verringert sich die Lautstärke des vielsprachigen Stimmengewirrs der Touristen. Abgeschirmt durch das hohe gotische Chorgestühl kommt sogar eine andächtige Stille auf.

Unsicher sieht sich Jens um. Abgesehen von einem asiatischen Pärchen, das eingehend die Schrifttafeln an einer benachbarten Chorkapelle studiert, ist er trotz des Besucherrummels im Hauptschiff alleine.

Wieder muss er den Katalog zurate ziehen, um dann seinen Blick zu heben. Sein ehemaliger Studienkollege Michael Kästner hat als Treffpunkt die Mailänder Madonna vorgeschlagen, die unter einem vergoldeten Baldachin, auf einem Podest stehend, wie eine Königin verzeihend zu ihm hinunterlächelt.

»Ist sie nicht schön?«, flüsterte ein Besucher neben Jens.

Verblüfft fährt Jens herum und sieht in ein ihm unbekanntes Gesicht, das von einem angegrauten Dreitagebart eingerahmt wird.

»Ja, doch«, antwortet Jens ausweichend und wendet sich zum Gehen, um den Fremden los zu werden.

»Leider gibt es im Dom kein Altar des heiligen Damian. Ich hätte es angemessener gefunden, wenn wir Pharmazeuten uns unter seinem Schutz getroffen hätten.«

Jens bleibt überrascht stehen.

»Michael - du? Entschuldige bitte, - nach all den Jahren und hier im Halbdunkeln, - ich habe dich nicht wiedererkannt.«

Der Angesprochene blickt schmunzelnd zur Statue hoch.

»Sie hat sich seit siebenhundert Jahren kaum verändert.«

»Dafür hat sie eine hölzerne Seele.«

Michael macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Sag das nicht zu laut. Viele sind der Überzeugung, dass ein heiliges Bild oder eine Statue wie ein Tor in die andere, himmlische Dimension wirkt.«

»Oha!«, antwortet Jens übertrieben reumütig. »Ich stelle nachher eine Kerze auf und bete um Verzeihung.«

Michael lacht leise.

»Ich erinnere mich. Du warst noch nie besonders gläubig. Komm, suchen wir uns einen profaneren Platz, an dem wir Unheiliges besprechen können.«

Der Mai verwöhnt Köln wieder einmal mit Sonnenschein, und ihre Augen benötigen einige Sekunden, um sich an die Helligkeit vor dem Domportal zu gewöhnen. Nachdem sie sich durch unzählige geführte Touristengruppen geschoben haben, die hektisch fotografierend das gewaltige Domportal blockieren, haben sie nur noch wenig Hoffnung in der Cafeteria gegenüber einen freien Platz zu finden. Dennoch ergattern sie den einzigen freien Tisch, der ihnen sogar einen ungestörten Blick auf den Dom erlaubt.

»Ich habe die Unterlagen über dein neues Medikament durchgelesen. Viel Neues konnte ich darin nicht entdecken«, beginnt Michael das Gespräch.

»Das ist ja das Besondere. Alle Wirkstoffe sind seit Jahren bekannt und gut katalogisiert. Ähnliche Präparate gibt es zuhauf – aber die Mischung ist entscheidend.«

»OK«, Michael sieht Jens leise zweifelnd an. »Dann sollte die Zulassung keine Schwierigkeiten machen. An einer Verträglichkeitsprüfung in Deutschland führt aber kein Weg dran vorbei.«

Jens nimmt einen Schluck von seinem Cappuccino, um zu überlegen. Zweifel steigen in ihm auf. Kann er seinem Gegenüber wirklich vertrauen?

»Dauert das lange? Du kennst ja die Situation in unserer Branche.«

Michael wirft ihm einen viel sagenden Blick zu.

»Ich werde mein Bestes tun. Aber mit gut sechs bis sieben Monaten musst du schon rechnen.«

»So lange? Kann man das Verfahren eventuell beschleunigen?«

»Weißt du, wie viel Arbeit das ist?«, winkt Michael ärgerlich ab. »Das ist schon extrem kurz!«

Er atmet verzeihend tief durch und sieht Jens in die Augen. »Vielleicht hast du noch nie diese Prozedur erlebt. Je nach Medikament kann sie unter Umständen Jahre dauern. Allein schon deswegen testen wir in der Regel im Ausland, um Zeit zu gewinnen. Aber an der Kontrollgruppe in Deutschland kommen wir nicht drum herum und ich werde aus naheliegenden Gründen auch nicht daran rühren.«

Jens ist geschockt. Das hat er sich anders vorgestellt. Außerdem muss er an verschiedene Presseberichte über Medikamententests in Südafrika denken, und der Film, »Der ewige Gärtner«, ist ihm noch lebhaft in Erinnerung.

»Verstehe«, antwortet er kleinlaut, »morgen Vormittag bekommst du die Packungen.«

Beim Abschied klopft Michael ihm auf die Schulter. »Das wird schon klappen! Und wenn du etwas dazu beitragen willst, dann stelle im Dom ausnahmsweise mal zwei Kerzen auf. Eine für dich und bitte eine für mich. - Wir können es gebrauchen.«

Michael lässt einen irritierten Jens zurück.

***

Zufrieden schaut Alexander auf den Laufzettel, den er bei der Reportagebesprechung von seinem Chefreakteur erhalten hatte. In der vergangenen Woche hatte er, bis auf einen, die darin aufgelisteten pharmazeutischen Betriebe aufgesucht und trotz übereifriger Marketingchefs eine ausreichend neutrale Berichterstattung erarbeiten können.

Langsam nähert er sich dem Tor zur Cardea PharmaLab GmbH, der letzten Adresse, die er besuchen wird und sieht sich dabei neugierig um.

Die weitläufigen Wiesen hinter dem mannshohen Stahlgitterzaun haben wohl schon länger keinen Gärtner gesehen, denn das Gras wuchert kniehoch und die Natur ist erfolgreich dabei, die Fahrwege zurückzuerobern.

Da er der einzige Besucher zu sein scheint, hält er direkt vor der Schranke. Der Pförtner lässt sich etliche Sekunden Zeit, ehe er seinen Blick von einem kleinen Fernseher löst und dem Besucher schweigend einen mürrischen Blick gönnt.

»Guten Tag, ich möchte zu Herrn Jens Höfer!«, ruft ihm Alexander durch das geöffnete Beifahrerfenster zu.

Ohne erkennbare Mimik wendet sich der Pförtner ab, um sich wieder dem Nachmittagsprogramm zu widmen, während seine rechte Hand nach dem Schalter tastet, um die Schranke zu öffnen.

Alexander ist sich irgendwie sicher, dass er bei der Nennung eines x-beliebigen anderen Namen ebenfalls hineingelassen worden wäre.

Vorsichtig fährt er in das Gelände hinein, um nach etlichen Metern ein halb vom Gras überwuchertes, schiefes Hinweisschild zu entdecken, das ihn zu dem Besucherparkplatz weist.

Da dessen Markierungen ebenfalls unter Unkraut verschwunden sind, stellt er seinen Fiesta kurzerhand neben der elegant geschwungenen Treppe ab, die zu einer großzügig verglasten Eingangshalle führt.

»Sie sind sicher Herr Alexander Bach«, begrüßt ihn die Dame am Empfang und führt ihn, nach einem flüchtigen Blick auf seine Visitenkarte, in einen Besprechungsraum, der den hochglanzpolierten Palisander-Charme der siebziger Jahre ausströmt.

Leicht vergilbte, großformatige Bilder in Metallrahmen schmücken die Wände und belegen eine Firmengeschichte, die bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts zurückführt.

Während Alexander, um die Wartezeit zu überbrücken, sich das Älteste der Galerie ansieht, tritt ein sportlich wirkender Mann, mit einem weißen Kittel bekleidet, hinzu.

»Guten Tag Herr Bach!«, Jens zeigt lächelnd auf das Bild. »Diese ehrwürdigen Herren bewiesen richtigen Pioniergeist. Erstaunlich, mit welchem Mut sie die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft mehr oder weniger erfolgreich umsetzten.«

Nach dem obligatorischen Austausch der Visitenkarten informiert ihn Alexander über die Reportage.

»Eine Reportage über natürliche Heilmittel«, sinniert Jens und schaut Alexander direkt ins Gesicht. »Natürlich? - Na ja, natürlich ist eine Frage der Definition.«

Alexander ist wie elektrisiert. So eine Antwort hat er noch nie erhalten.

»Wie meinen Sie das?«

»Die Zeiten, in der Miraculix mit der goldenen Sichel Kräuter schnitt und verabreichte, sind, Odin sei Dank, schon lange vorbei.«

»Die Tendenz geht doch wieder in Richtung natürliche Heilmittel?«, fragt Alexander vorsichtig nach, denn die anderen Hersteller haben sich völlig anders präsentiert.

»Das stimmt. Für eine kleine Erkältung oder Bauchweh sind die Kräutermischungen aus dem SB-Regal und heiße Wickel auch in Ordnung.«

»Sie halten wohl nicht viel von natürlichen Medikamenten?«, fragt Alexander gespielt verunsichert, denn er vermutet dahinter Kalkül.

»Die bringen uns Pharmazeuten eines Tages noch an den Bettelstab«, seufzt Jens und schmunzelt über Alexanders überraschtes Gesicht. »Keine Sorge, das wäre zu einfach. Ganz im Gegenteil.«

Jens zeigt auf eine Sesselgruppe. »Bitte setzen wir uns. Möchten Sie einen Kaffee oder Wasser?«

»Wasser bitte.«

Nachdem er mit dem Gewünschten zurückkehrt, nimmt er den Faden wieder auf.

»Die Natur bietet uns unglaublich viele Wirkstoffkombinationen. Nehmen wir doch mal die Silberweide, die in ihrer Rinde Acetylsalizylsäure zur Abwehr von Fressfeinden einlagert.«

»Acetylsalizylsäure? Ist das nicht Aspirin oder ASS?«, fragt Alexander nach.

»Entschuldigung, sie haben Recht. Das sind die Handelsnamen.« Jens nimmt verlegen einen Schluck Wasser, ehe er fortfährt.

»Also unser Beispielbaum am Flussufer hat gerade einen Käferangriff abwehren müssen und zu seinem Schutz viel Acetylsalizylsäure produziert. Eine andere Weide am Wegrand kommt, weil sie seit Jahren unbehelligt ist, auf nicht einmal auf drei Prozent des üblichen Mittelwertes. Für eine gezielte Schmerzbehandlung sind derartige Wirkstoffschwankungen selbstverständlich nicht geeignet.«

Alexander macht sich einige Notizen, ehe er nachfragt.

»Wie macht denn das die pharmazeutische Industrie, wenn sie natürliche Heilmittel anbietet?«

»Meine Gesellschaft, wie auch viele andere, benutzen die komplexen Rezepturen der Natur und standardisieren sie.«

»Die Rezepturen der Pflanzen?«

»Ja. Zum Beispiel gegen Ihre Kopfschmerzen brauchen Sie, pur eingenommen, etwa zwei- bis fünfhundert Milligramm ASS, um sie hinreichend zu dämpfen. Packt man die ganze Wirkstoffpalette der Weide, die der Baum zusammen mit ASS herstellt, ebenfalls in die Tablette hinein, benötigen der Patient nur noch fünf oder sechs Milligramm ASS, um die gleiche Wirkung zu erzielen.«

»Nur fünf bis sechs Milligramm, also zwei bis drei Prozent, reichen dann?«

Jens nickt und macht eine umfassende Handbewegung.

»Die Nebenwirkungen von ASS sind natürlich auch entsprechend geringer. Mit anderen Worten, wenn Sie den Beipackzettel lesen, bekommen Sie keine neuen Kopfschmerzen.«

»Das verstehen Sie also unter natürlich«, grient Alexander amüsiert.

»Wir orientieren uns an der Natur, aber für eine gezielte, erfolgreiche Therapie sind präzise Wirkstoffgehalte wichtig.«

»Wie heißt denn Ihr Schmerzmittel?«

»Cardea Salicin Natur. Es befindet sich zurzeit in der klinischen Prüfung. – Es wird in wenigen Monaten auf den Markt kommen«, fügt er optimistisch hinzu.

***

Die muddelige Wärme verschlägt ihr fast den Atem, als sich die Kabinentür des Jets öffnet.

»Willkommen auf Haiti!«, schmunzelt die Stewardess ironisch, der Ciels Reaktion nicht verborgen geblieben ist.

Die Luft über dem Rollfeld flimmert. Schon nach wenigen Metern hat sie das Gefühl, barfuß über glühende Kohlen zu gehen und ist froh, als sie den Shuttlebus erreicht, obwohl er wohl schon seit Stunden in der Sonne steht.Itze

Dennoch wird die Geduld der Passagiere auf eine harte Probe gestellt, ehe sich der Busfahrer, dem das nassgeschwitzte T-Shirt auf der Haut klebt, endlich auf seinen schwarzen Kunstledersitz schiebt.

Die Fahrt gleicht einer Geländetour.

»Das sind noch die Folgen des Erdbebens«, erklärt Ciel mit ungewollt zittriger Stimme und zeigt zum Fenster hinaus. »Das Metallzelt da vorne, das ist das derzeitige Terminal.«

Die Abfertigung unter dem aufgeheizten Stahldach erweist sich als weitere Geduldsprobe, die nicht jeder der Wartenden besteht. Aufgebracht attackieren einige lautstark die Zollbeamten in ihrem klimatisierten Schalterhäuschen, als wären sie für die unerträgliche Hitze verantwortlich.

Ciel rollt genervt die Augen.

»Manche begreifen einfach nicht, dass es für sie jetzt noch länger dauern kann.«

Vor dem provisorischen Terminal werden sie von Kaholo erwartet.

»Die Abfertigung war ja heute ausgesprochen zügig«, stellt er mit einem breiten Grinsen fest, zeigt dabei ungeniert eine unübersehbare Zahnlücke. »Willkommen auf Haiti!«

Nach einer holprigen Fahrt über vom Erdbeben aufgerissenem Pflaster erreichen sie Ciels Haus, das, erhöht in einem Vorort von Port-au-Prince gelegen, einen Blick über die Stadt erlaubt.

»Hier hat das Erdbeben nicht so gewütet«, stellt Alexander im Vergleich zu den anderen Stadtvierteln fest, die sie durchfahren haben.

»Wir haben sehr sehr viel Glück gehabt«, antwortet Ciel ernst.

In diesem Augenblick öffnet sich die Haustür, die vermutlich vor vierzig Jahren beim Bau des Hauses zum letzten Mal einen Anstrich erhalten hatte. Eine rundliche Frau in einem bunten Kleid tritt heraus, stürmt zum Auto und reißt die Beifahrertür auf.

»Ciel, ma Ciel! Bienvenue!«

»Flore, ich freue mich, wieder zuhause zu sein. - Das sind meine Freunde Alexander und Laura aus Deutschland.«

Die Beiden werden in die nicht endende, stürmische Begrüßung eingeschlossen und Laura bemerkt, dass ihre französischen Sprachkenntnisse anscheinend nicht immer ausreichen.

Während sich Kaholo mit der Unterbringung des Gepäcks beschäftigt, führt Flore sie auf die zum Teil überdachte Terrasse, an der ein kleiner Garten angrenzt. Sie zeigt auf den gedeckten Tisch.

»Bitte setzt euch, ihr werdet sicher hungrig und müde sein« und schwebt aufgeregt in die Küche.

»Hübsch hast du es hier«, meint Laura und sieht sich um.

»Ich habe leider kaum Gelegenheit, das auszukosten. Entweder ist es einfach zu spät oder schon zu dunkel.«

***

Am nächsten Morgen benötigt keiner einen Wecker, denn ihre inneren Uhren ticken noch europäisch. Es ist noch dämmerig, als sie sich wieder auf der Terrasse treffen. Im Gegensatz zum gestrigen Abend ist die Temperatur angenehm, fast kühl.

Nach dem Frühstück überlegen sie gemeinsam den Tagesplan und Kaholo berichtet über die dringenden Fälle.

»In Saint Gerard sind viele krank, weil die Wasserleitung immer noch nicht repariert ist. Manche Babys sind schon ganz dünn.«

»Haben wir denn noch genug Heilerde?«, fragt Ciel mit einem Seufzer.

»Für eine Woche - vielleicht. Wir müssen bald neue holen.«

Mit Kaholo’s Hilfe stellt sie den Routenplan auf und wendet sich anschließend an Alexander und Laura.

»Kommt einfach mal mit und seht euch das an. Bitte keine Fotos ohne Zustimmung der Patienten oder deren Begleitern. Die Haitianer haben es satt, in ihrem Elend gezeigt zu werden«, fügt sie hinzu.

Alexander nickt erschrocken und hebt zustimmend die Hand.

»Versteht man hier mein europäisches Französisch?«, fragt Laura mit kurzem Blick auf Flore unsicher.

»Fast immer. Aber manchmal spricht man hier ein extremes Kreol. Um einfach mal unter sich zu sein. Oder um die Ausländer zu zanken«, fügt Ciel lachend hinzu.

Nach einer Stunde ist der Geländewagen gepackt und sie fahren los. Nach gut dreihundert Metern hält Kaholo überraschend an, kurbelt das Fenster runter und ruft einem, am Straßenrand wartenden, Händler etwas zu. Einen Augenblick später reicht er Alexander ein weißes T-Shirt nach hinten.

»Besser«, erklärt Kaholo lakonisch.

Alexander hat dieses »Besser« schon beim Packen kennen gelernt, als ihm Kaholo seinen Fotoapparat abnahm und auf sein Portmonee in der Gesäßtasche zeigte. Beide Teile verschwanden in einer abschließbaren Blechkiste im Innern des Autos. Eine weitere Erklärung erübrigte sich.

»Die seriösen Männer tragen hier ausschließlich weiße T-Shirts«, klärt Ciel den verblüfft dreinschauenden Alexander auf.

»Verstehe! Da werde ich mir wohl noch einige kaufen müssen«, lacht er erleichtert.

Nach zwanzigminütiger Fahrt, größtenteils im Schritttempo durch enge Gassen mit abgrundtiefen Schlaglöchern, bleibt Kaholo auf einem kleinen Platz unter einem kümmerlichen Baum stehen.

»Unsere erste Station. Hier bauen wir unseren Pavillon auf«, erklärt Ciel.

Alexander steigt aus und hält sich fassungslos die Nase zu.

»Wo sind wir hier?«, fragt er entsetzt.

»Im vierten Bezirk, Saint Gerard. Hier, an diesem Hang in den Hütten über uns, wohnen ungefähr fünfzehn- bis zwanzigtausend Haitianer. - Vor dem Erdbeben waren es sehr viel mehr«, fügt sie seufzend hinzu.

Noch während sie ausladen, quält sich schaukelnd ein ehemals weißer Tanklastzug ebenfalls die Gasse hoch, dem eine Schar Kinder und Frauen, mit ausgedienten Plastiktanks und anderen Behältern bewaffnet, folgen.

Nachdem ihn der wild gestikulierende Fahrer zentimeternah an ihrem Van vorbei gesteuert hat, hält er unweit an und entfernt die Kette von dem großen Ablasshahn, der hinten aus dem Tank herausragt.

Sofort stellt sich eine der Frauen abschirmend davor und übernimmt resolut die Verteilung des Wassers, während der Fahrer sich gelangweilt rauchend in den spärlichen Schatten setzt.

»Wie oft kommt der Tanklastzug?«, fragt Alexander.

»Einmal am Tag.«

Er sieht Ciel ungläubig an. »Einmal am Tag? Das ist dann ja nicht mal ein halber Liter für jeden der zwanzigtausend Menschen«, überschlägt Alexander.

»Weiter unten gibt es Gott sei Dank wieder funktionierende öffentliche Zapfstellen, die leider nur stundenweise Wasser haben.«

In der Zwischenzeit hat Kaholo mit der Aufstellung eines Tisches den Aufbau beendet. Zusätzlich schirmt ein Paravent das Innere vor neugierigen Blicken ab.

Ciel sieht mit ernstem Gesicht zu den ersten Patienten hinüber, die bereits die mobile Praxis umlagern. »So, ich werde gefragt. Bitte, bleibt für heute im Hintergrund.«

***

Nervös spielen seine Finger auf der abgenutzten Schreibtischplatte. Vor ihm liegt eine E-Mail vom Michael. Immer wieder, wie unter einem Zwang, liest er den Text.

»Verträglichkeitstest zeigt typische Salicylprobleme auf. Patienten klagen über Atemnot und Trägheit, einige über Magenschmerzen.«

Jens lehnt sich zurück und geht in Gedanken alle Möglichkeiten durch, wie man diese Nebenwirkungen beseitigen kann. Ihm ist bewusst, dass, falls man die Dosis des Hauptwirkstoffs verringert, das Mittel nicht wie gewünscht wirkt und der Erfolg ausbleibt. Reduziert er andere Bestandteile, geht der positive Effekt ebenfalls verloren.