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Jochen Frech

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Beschreibung

Strahlende Anführerin oder Marionette einer globalen Elite? Die Kanzlerkandidatin verspricht eine großartige Zukunft und den Wahlsieg – doch dann tauchen Ungereimtheiten in ihrer Geschichte auf. Zeitgleich sterben mehrere Menschen unter mysteriösen Umständen. Alles nur Zufall oder Teil eines Plans, um das Netz aus Betrug und Lügen zu schützen? Als ein junger deutscher Historiker in der Nähe von Warschau tot aufgefunden wird, glaubt seine Schwester Carla nicht an den kolportierten Selbstmord. Sie fängt an, Fragen zu stellen – und gerät damit selbst ins Visier der Verschwörung. - Packender Politthriller aus der Feder von Jochen Frech - Gelingt es Carla, den Mord an ihrem Bruder zu beweisen und die Lügen aufzudecken? - Ein spannender Krimi rund um einen Wahlkampf voll dunkler Geheimnisse Rasanter deutscher Thriller aus der Feder eines Insiders Jochen Frech war Teil eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Polizei. Er stand mit Anti-Terror-Spezialisten des britischen Special Air Service und dem israelischen Geheimdienst Mossad in Kontakt. Seine langjährige Erfahrung lässt er in Kriminalromane und Thriller voll nervenzerreißender Spannung einfließen, aus denen die Expertise spricht. Dieser aufregende Politthriller rund um dubiose Tagebucheinträge und mysteriöse Todesfälle schlägt einen Bogen zwischen düsterer Vergangenheit und aktuellem Tagesgeschehen. Was in Deutschland und Polen während des Zweiten Weltkriegs beginnt, findet seinen Weg bis in den Wahlkampf der Kanzlerkandidatin. Wird Carla dem Betrug und den Lügen auf die Schliche kommen, bevor es zu spät ist?

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Seitenzahl: 447

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JOCHEN FRECH

PLA|GI|AT

JOCHEN FRECH

Pla|gi|at

THRILLER

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen, Firmen und Institutionen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse erdacht und anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt, bzw. sollen nicht deren tatsächliche Handlungen und/oder Eigenschaften widerspiegeln.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2023

Copyright © 2023 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Hanne Reinhardt

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Gotham, Open Sans

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Motivs von FinePic®

Autorenillustration: © Claudia Meitert/carolineseidler.com

Printed by Finidr, Czech Republic

ISBN: 978-3-7109-0156-0

eISBN: 978-3-7109-5146-6

Für Hanne

Den Aufbau von Macht ermöglichen meist diejenigen,die nachher ihre Opfer werden.

HENRIETTE HANKE (1785–1862)

Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe;seid daher klug wie die Schlangen und ohne Falschwie die Tauben.

EVANGELIUM NACH MATTHÄUS 10,16

Das Gute ist stärker als das Böse.

Liebe ist stärker als Hass.

Licht ist stärker als Dunkelheit.

Das Leben ist stärker als der Tod.

DESMOND TUTU (1931–2021),

Meine afrikanischen Gebete

INHALT

PROLOG: POLEN 1944

ERSTER TEIL: OMEN

Yosemite National Park

Kulmhotel

Mazowiecki Park

Sacramento International Airport

Hamburg / Gütersloh

Transatlantikflug KL612

Museum für Moderne Kunst

Flughafen »Franz Josef Strauß«

Gerichtsmedizinisches Institut

München / Haimhausen

Klinikum Gütersloh

Wilanów

Hotel Savoy

ZWEITER TEIL: UNSCHÄRFEN

Krakowskie Przedmiescie

U-Bahn-Haltestelle Trocka

Restaurant Ceprownia

Komisariat Policji Metra Warszawskiego

Tiffi Old Town Hotel

Wilanów

Eurocity 248 | Warszawa-Berlin-Express

Warschau

Museum der Geschichte der polnischen Juden

Prenzlauer Allee

Spektrum Tower

Wilanów

Steigenberger Icon Frankfurter Hof

Prenzlauer Allee

Hotel Ambasador Centrum

München / Haimhausen

DRITTER TEIL: WAHRE LÜGEN

Gerichtsmedizinisches Institut

Warschau / Wrocław / Nürnberg

München

Tel Aviv / Wilanów

Starnberg

Hotel Hyatt Regency

München / Haimhausen

Watzmannmassiv

Salzburg

VIERTER TEIL: UNTERSTÜTZUNG

München / Haimhausen

Baden-Airpark

Tel Aviv

Berlin / Zürich

Isfiya

Dortmund / St. Gallen

Isfiya

FÜNFTER TEIL: JAGD

Wadi Nisna

Levantisches Meer

Libysches Meer

Anopolis-Plateau

Piräus

Israelische Botschaft

Polydrosos–Region

Insel Borkum

SECHSTER TEIL: DER DUNKLE TURM

Jerez

Torre de Piniés

Hospital Universitario

EPILOG

NACHWORT

DANK

DER AUTOR

PROLOG

POLEN 1944

Das Mädchen drückte seine Nase an die feuchten Bretter im hinteren Teil der Scheune. Das fahle Licht eines abnehmenden Mondes verwandelte den Aussiedlerhof in ein gespenstisches Schattentheater. In den Ställen und Gebäuden war es dunkel. Bald würde der Junge aus dem Wohnhaus des Anwesens zu seinem Vater huschen, der sich jeden Abend, nachdem er den Dreck von den Stiefeln geklopft hatte, eine Pfeife gönnte. Sie mochte Szymon, auch wenn er schon elf und ein Junge war. Jeden Morgen brachte er ihr und den anderen Brot, Wasser und Gemüse in ihr Versteck. Dann erzählten sie einander, und meistens schenkte sie ihm eine der Zeichnungen, die sie tags zuvor angefertigt hatte. Das lustige Schweinchen mit den viel zu kurzen Beinen, das wieder einmal auf den Misthaufen geklettert war, oder Nogat, der Hund, wie er sich der winterlichen Sonne entgegenstreckte. Szymon sagte immer, dass ihre Zeichnungen wie Fotografien aussähen und dass sie eines Tages bestimmt berühmt werden würde.

Manchmal verspürte sie den Wunsch, ihn einfach in den Arm zu nehmen, oder sie stellte sich vor, dass sie Geschwister wären. An diesem Abend standen Szymon und sein Vater nur eine Armlänge von ihr entfernt, getrennt durch die Bretterwand der Scheune. Sie mochte den süßlichen Geruch der Pfeife nach Beeren und Wald. Das Flüstern der beiden beruhigte sie und brachte die Gespenster, die ihr Angst einjagten, zum Schweigen. Bald würde auch sie ihren Vater wiedersehen, mit ihm reden und lachen und gemeinsam das ungesäuerte Brot backen. Obwohl Szymon sie nicht sehen konnte, lächelte er verstohlen in ihre Richtung. Er wusste, dass sie irgendwo im Schatten kauerte und den Gesprächen lauschte.

»Es ist kalt«, hörte sie den Vater sagen, während er über die blonde Mähne des Jungen strich. »Und du hast keine Mütze auf. Geh zurück ins Haus und verriegel die Fenster.«

»Die Wölfe heulen nicht mehr«, sagte Szymon. »Seit zwei Nächten schon.«

Der Vater zog nachdenklich an seiner Pfeife. »Vielleicht sind sie weitergezogen.«

»Werden sie auf den Hof kommen? In die Ställe?«

Der Vater schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ihr Instinkt sagt ihnen, dass wir ihnen überlegen sind.«

»Aber sie sind bestimmt hungrig. Du hast selbst gesagt, dieser Winter ist härter als alle anderen zuvor.«

Der Vater klopfte die Pfeife aus und verstaute sie umständlich in der Jackentasche. »Wir brauchen uns weder vor den Wölfen noch vor den Deutschen zu fürchten.«

Szymon tastete nach den Händen des Vaters. »Wann wird der Krieg zu Ende sein?«

»In meinem Tagebuch ist er das bereits.« Der Vater lächelte und legte seinen Arm um die Schultern des Jungen. »In den Städten feiern sie schon den Sieg der roten Armee. Es ist bald vorbei, mein Junge. Und du weißt, dass es uns auf dem Hof an nichts fehhh…«

Die Worte des Vaters gingen plötzlich in ein heiseres Ächzen über. Die großen Hände lösten sich aus dem Griff des Jungen und glitten an die Brust. Während der Mann von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt auf die Knie sank, konnte das Mädchen das warme Blut riechen, das sich, wie das Wasser eines Springbrunnens, über den Jungen ergoss. Szymon brüllte jetzt wie ein Tier, das in ein Fangeisen geraten war. Der Schock ließ ihr das Herz bis zum Hals schlagen. Gleichzeitig spürte sie voller Scham, wie sie alles unter sich gehen lassen musste.

Als wenig später drei Männer aus dem Stall traten, in dem die letzte Kuh und eine Handvoll Hühner ihr Dasein fristeten, wusste sie, dass der Schrecken erst begonnen hatte. Von Panik ergriffen, rückte sie ein Stück von den Brettern ab und sah zu ihrem Entsetzen, wie einer der Männer Szymon ein langes Messer in die Brust stieß, das am Lauf eines Gewehrs befestigt war. Wider Erwarten gab der Junge keinen Laut von sich. Nicht das leiseste Stöhnen. Stattdessen kroch er mit schmerzverzerrtem Gesicht zu seinem Vater und küsste ihn auf die blutverschmierten Lippen. Dann fiel er auf die Seite, und alles war still. Für den Augenblick sah es so aus, als wären die beiden friedlich nebeneinander eingeschlafen.

Das Mädchen wich einen Schritt zurück, ihre Lippen bebten, und sie war kurz davor loszubrüllen, als die vertraute Hand der Mutter aus der Dunkelheit hervorstieß, sich fest auf ihren Mund legte und den Schrei in ihrer Brust erstickte. Für einen Moment wurde sie von dem Wunsch übermannt, nie wieder zu atmen. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, vernahm sie die harschen Stimmen der Männer, unterbrochen von den ängstlichen Schreien der Bauersfrau und ihrer beiden Töchter. Die Männer waren Deutsche, das hörte sie genau. Ihr Vater hatte ihr, als der Krieg begonnen hatte, ein paar Sätze beigebracht, falls einer der Soldaten sie ansprechen würde. Sie hatte diese Sprache von Beginn an gehasst und nicht verstanden, warum sie plötzlich keine Jüdin mehr sein durfte und die Familie den Sabbat im Keller feiern musste. Dieselben Stimmen hatten den Vater in dieser schlimmen Nacht mit Stöcken aus der Wohnung geprügelt, weil er angeblich die falschen Bücher verkauft und Lügen über die Deutschen verbreitet hatte.

Genau diese Stimmen drangen jetzt gefährlich nahe an ihr Versteck. Sie spürte die Hand ihrer Mutter an ihrem Bein, die sie aufforderte, zu ihr und den beiden Lehrern aus dem Dorf unter das Stroh zu kriechen. Aber sie fürchtete, dort wieder einen dieser Anfälle zu bekommen, bei denen ihr die Luft wegblieb. Im Schein einer Petroleumlampe stießen die Männer die Mädchen und die Bauersfrau in die Scheune. Der Wortführer befahl den beiden anderen, ihnen die Kleider vom Leib zu reißen und Heu in den Mund zu stopfen. Als die Männer mit heruntergelassenen Hosen begannen, sich wie Tiere auf den entblößten Leibern zu bewegen, kroch sie unter die stacheligen Getreidereste, vergrub sich im Schoß der Mutter und hielt sich die Ohren zu, so fest sie nur konnte. Aber die Diaphonien des Todes drangen ihr bis ins Mark.

Die Männer blieben bis zum Abend des folgenden Tages. Ihre Mutter erzählte ihr später, dass sie in der Nacht viel getrunken und über ihre Fluchtpläne nach Süddeutschland gesprochen hatten. Ihren Worten zufolge hatten sie unerlaubt ihre Truppe verlassen, nachdem sie von Soldaten der roten Armee eingekesselt worden waren. Den Tag verbrachten die Männer damit, sich im Haus und auf dem Hof umzusehen und ihre Rucksäcke mit Vorräten zu füllen. Um die Mittagszeit gingen zwei von ihnen in den Stall, jagten umständlich die Hühner und schlugen ihnen die Köpfe ab. Später drang der Geruch von gebratenem Fleisch in ihr Versteck. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken an eine Mahlzeit. Mit Einbruch der Dunkelheit machte sich eine spürbare Unruhe unter den Männern breit, und der Wortführer verfiel wieder in seinen rauen Befehlston.

Das Mädchen spürte, wie ihr die Angst von Neuem die Kehle zuschnürte, als die beiden Lehrer anfingen zu spekulieren, was als Nächstes geschehen würde.

»Sie werden den Hof in Brand setzen«, flüsterte der ältere.

»Dann bleibt uns nur, diesen Teufeln in die Arme zu rennen oder bei lebendigem Leib zu verbrennen«, gab der andere zurück.

»Still jetzt!« Die Mutter fiel ihnen schroff ins Wort und stimmte leise ein jiddisches Lied an. Oj wi fejn wet es sejn … oi joi joi joi.

Das Mädchen schloss die Augen zu der vertrauten Melodie und sah ihren Vater, wie er singend durch die Küche tanzte und dabei das Geschirr abtrocknete. Die Töne und Erinnerungen legten sich wie ein tröstendes Tuch über ihre Angst.

Endlich verstummten die Stimmen der Plünderer, und das Knirschen ihrer Stiefel verhallte im angrenzenden Wald. Niemand im Versteck wagte zu sprechen. Bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckten alle zusammen und fürchteten, die Männer würden zurückkehren. Aber nichts geschah. Nur die Wölfe in den Wäldern stimmten ihren traurigen Gesang an. Sie dachte an Szymon und seine letzten Worte, wie er gestorben war. Wie die Flamme einer Kerze, die von einem Windstoß ereilt wurde. Erschrocken richtete sie sich auf und versuchte, die Bilder zu verdrängen. Sie würde alles in ihrem Tagebuch festhalten und die Gesichter der Männer zeichnen und, wenn der Krieg vorbei war, mit ihrem Vater zur Polizei gehen. Diese Scheusale mussten bestraft werden.

Am nächsten Morgen schlich ihre Mutter aus dem Versteck und brachte Wasser, einen Becher Milch und etwas Brot. Die Männer hatten die Kuh und ein paar Vorräte zurückgelassen. Nachdem sie wieder bei Kräften waren, nötigte die Mutter die beiden Lehrer nach draußen, um die Leichen beiseitezuschaffen. Widerwillig bahrten sie die Toten in einem leeren Kellerraum auf, wo die Wildtiere den Geruch der Verwesung nicht wittern konnten.

Gegen Nachmittag weckte ihre Mutter sie mit einem langen Kuss auf die Stirn aus einem unruhigen Schlaf und deutete auf die Bretterwand zum Hof. Als sie einen Blick durch einen der Schlitze wagte, entdeckte sie das Schweinchen, wie es grunzend auf dem Kompost wühlte. Vor Freude stiegen ihr Tränen in die Augen.

»Es hat sich in dem alten Hühnerstall versteckt«, sagte die Mutter und kam flüsternd näher. »Und unsere beiden Gelehrten streiten gerade über die Auslegung der Thora … Du weißt schon.«

»Sie wollen es schlachten?«

»Vielleicht ist es die einzige Möglichkeit, den Winter zu überleben«, sagte die Mutter. »Und den Krieg.«

»Und dann gehen wir nach Hause?«

»Sobald die Wege und Flüsse frei sind von Eis und Schnee.«

»Und Papa?«

Die Mutter wandte ihren Blick zur Seite. »Eines Tages wird er vor unserer Tür stehen … und dann feiern wir ein großes Fest.«

Sie klammerte sich fest an die Mutter und schluckte eine Träne. »Vater mag aber keine großen Feste.«

»Dann eben ein kleines«, sagte die Mutter und zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht.

ERSTER TEIL

OMEN

Yosemite National Park

KALIFORNIEN | USA

Unter ihr fiel der Fels beinahe tausend Meter senkrecht in die Tiefe. Die Haut an ihren abgeschürften Fingerkuppen brannte wie Feuer. Ihre Unterschenkel zitterten. Bald hatte sie es geschafft! Carla griff in das Chalk-Bag an ihrem Klettergurt und tauchte die verschwitzten Hände nacheinander in das verbliebene Magnesiumpulver, um an den letzten Griffen nicht abzurutschen. Am frühen Morgen hatte sie sich allein und ohne technische Hilfsmittel in die schwierige Route gewagt. Free-Solo! Ohne jedwede mediale Aufmerksamkeit oder Sponsoren, die ihr außergewöhnliches Vorhaben sicher ohne Mühe auf den Plan gerufen und ihren Namen auf die Titelseiten der Gazetten gebracht hätte. Doch das war nie ihre Motivation dafür gewesen, sich an den schwierigsten Kletterrouten zu versuchen. Anfänglich hatte sie im engsten Freundeskreis noch über ihre wahren Beweggründe gesprochen. Aber niemand, mit Ausnahme ihres Bruders, hatte sie auch nur annähernd verstanden. Die Reaktionen schwankten zwischen völliger Ablehnung (Wie kann man nur so leichtfertig sein Leben riskieren?) und verständnisloser Begeisterung (Du bist echt die krasseste Frau, die ich kenne!).

Aber daran dachte sie in diesem Augenblick nicht. Auch nicht an die permanente Gefahr, in der sie sich befand. Ein einziger Fehlgriff, ein Abrutschen, das Ausbrechen eines Griffes oder Trittes, ein unvorhergesehener Muskelkrampf, ja sogar ein Hustenanfall konnten das Ende bedeuten. Sie dachte nur daran, was als Nächstes zu tun war. Linker Arm … rechtes Bein … rechte Hand. Die nächste Bewegung musste die richtige sein. Zentimeter für Zentimeter. Carla atmete tief durch, schloss die Lider, um die Schwierigkeiten des letzten Abschnitts vor ihrem inneren Auge zu visualisieren. Viermal war sie die Route mit Freunden geklettert. Gesichert, und immer mit dem Ziel, es eines Tages allein zu schaffen. Ohne Seil und doppelten Boden.

Sie befand sich jetzt unterhalb des Ausstiegs der Kletterroute The Nose am El Capitan, einem der markantesten Felsvorsprünge der Welt. Mitten im Yosemite-Nationalpark. Seine glatten, imposanten Granitwände machten die ausgesetzte Wand zu einem wahren Mekka für Extremkletterer. Nach der Erstbesteigung von Warren Harding, Wayne Merry und George Whitmore, die siebenundvierzig Tage gedauert hatte – das war 1958 gewesen –, fielen Horden von Wagemutigen über die Wände des Wahrzeichens des Nationalparks her. Seither hatten zahlreiche Nachahmer dem Berg unzählige Bohrhaken verpasst, um ihn halbwegs sicher bezwingen zu können. Viele Kletterenthusiasten lehnten diese Art des technischen Bigwall-Kletterns kategorisch ab. Ihre Ethik, eine Felswand möglichst frei und mit minimalster technischer Kletterei zu bezwingen, setzte sich erst viel später durch. Beinahe zwanzig Jahre vergingen, bis die Westwand des El Capitan zum ersten Mal frei begangen wurde, und weitere fünfzehn, bis die amerikanische Bergsteigerin Lynn Hill eine der schwersten Routen an diesem beeindruckenden Monolithen ohne technische Hilfsmittel kletterte.

Genau diese Route hatte Carla sich vor Jahren in den Kopf gesetzt.

Und bald, nein, gleich hatte sie es geschafft. Jetzt nur bei der Sache bleiben. Eins sein mit den winzigen Felsvorsprüngen, Rissen und Kanten. Einhundert Prozent Carla. Das letzte behutsame Aufrichten aus dem linken Bein, den Druck ihres gesamten Körpers vertikal auf der Reibungsfläche ihres Kletterschuhs. Die Finger ihrer rechten Hand näherten sich einer kleinen Ponderosa-Kiefer, direkt am Ausstieg auf das Hochplateau, den Gipfel des El Capitan. Dann passierte es: Die Reibungssohle ihres rechten Kletterschuhs rutschte nach unten weg. Ein winziges Stück Moos oder ein Schweißtropfen vielleicht. Ihr Körper katapultierte sich unkontrolliert um die Längsachse nach hinten und zog sie förmlich aus der Wand. Carlas linkes Bein hielt zitternd dagegen. Nur ein Fingerendgelenk ihrer linken Hand steckte noch in einem winzigen Loch, an dem jetzt beinahe ihr ganzes Gewicht hing. Carla versuchte verzweifelt in die Ausgangsstellung zurückzudrehen, aber der schräg überhängende Fels und die Schwerkraft machten diese Korrektur unmöglich. Lange würde sie diesen Griff nicht halten können. Geistesgegenwärtig drehte sie auf die andere Seite und hing jetzt mit dem Rücken zur Wand in der Luft. Die Finger ihrer rechten Hand suchten verzweifelt nach Halt. Endlich ertastete sie einen winzigen Vorsprung, der vier Fingern Auflage bot. Carla näherte sich langsam mit ihrer linken Ferse der Wand und verstärkte bedächtig den Druck, bis der Zug an ihrem Finger endlich nachließ. Dann wagte sie die Drehung zurück an die Wand. Es war Glück, oder Instinkt, vielleicht auch beides zusammen, dass ihre linke Hand in dieser Dynamik einen senkrechten Riss zu fassen bekam. Breit genug, die Finger bis zum Grundgelenk darin zu verklemmen. Das genügte, auch für die rechte Hand. Im Wechsel. Stets eine Hand über der anderen in den Riss verkeilt. Carla atmete tief durch, während ihr Leben an ihren blutenden Händen hing.

Nur noch eine Körperlänge.

Dann war sie oben. Zitternd erreichte sie den Ausstieg. Überwältigt von Glücksgefühlen ballte sie die Fäuste und brüllte sich die ganze Anspannung aus der Seele.

Sie hatte es geschafft! Einmal mehr war sie über sich hinausgewachsen. Obwohl sie kein besonders religiöser Mensch war, fühlte sie sich in diesen Momenten dem Universum näher als sonst. Ein unbeschreibliches Ja zu allem, was ihr Erde und Schöpfung bedeuteten, durchflutete heiß und kalt ihren geschundenen Körper und Geist. Carla ließ sich rücklings zu Boden fallen und spürte eine tiefe Verbundenheit mit allen Tieren und Pflanzen, mit Berg und Tal, Licht und Schatten, den Menschen und sogar den Dämonen, die ihr seit dem Unfall der Eltern unaufhörlich nachstellten. Alles war auf unerklärliche Art und Weise friedlich miteinander vereint.

Als ihr Hochgefühl allmählich dem Verlangen nach einem Schluck Wasser Platz machte, kroch Carla auf allen Vieren in den Schatten einer riesigen Schierlingstanne, in deren Wurzelwerk sie am Vortag ihren Rucksack deponiert hatte. Wie eine Verdurstende verleibte sie sich den Inhalt einer Wasserflasche ein und schüttete eine zweite über den Kopf. Danach zwang sie sich, zwei Tuben Nährstoffkonzentrat herunterzuwürgen, die nach Hustensaft schmeckten, und biss gleich darauf in ein Stück Zitronen-Quarkkuchen. Ihr Körper lechzte nach Zucker und war mit den wenigen Vorräten im Rucksack nicht zu befriedigen. Am liebsten hätte sie jetzt eine riesige Pizza verdrückt oder bei Wendy’s in Sonora die gesamte Speisekarte geordert. Carla nahm sich vor, genau dies am Abend zu tun. Dazwischen lagen jedoch ein steiler und ausgesetzter Abstieg über den Yosemite-Falls-Trail und ungefähr achtzig Meilen Fahrt über die Big Oak Flat Road.

Als sie wieder bei Kräften war, machte sie sich an den Abstieg in das weitläufige Tal. Am Vortag hatte ihr der Trail keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Aber nach diesem Höllentrip fiel es ihr auf dem steil abfallenden Weg zusehends schwerer, sicher Tritt zu fassen. Es wurde Abend, als sie endlich den Parkplatz von Camp 4 erreichte und in ihrem Mietwagen zitternd die Beine hochlegte. Carla war so müde, dass sie auf der Stelle in ihren Schlafsack kroch und nur noch kurz einen Blick auf ihr Mobiltelefon warf. Ihr Bruder Darian hatte dreiundvierzigmal versucht sie zu erreichen, aber keine Nachrichten hinterlassen. Bestimmt war er in Sorge, nachdem er sich eingehender mit ihrem Vorhaben beschäftigt hatte. In ihrem Telefonat vor der Abreise hatte Carla nur beiläufig den Namen der Route erwähnt. Sie stellte sich vor, wie Darian, nachdem er ein paar Fotos von The Nose gesehen hatte, haareraufend vor dem Computer gesessen und sämtliche männliche Beschützerinstinkte in Alarmbereitschaft versetzt hatte.

Typisch Darian! Dabei war sie es doch, die ihm regelmäßig aus der Patsche helfen musste. Jetzt war sie zu müde, um ihn zu beschwichtigen, und tippte lediglich eine kurze SMS in die Tasten: »Be cool! Alles gut gegangen! Melde mich morgen. Yours C.«

Wenig später fiel sie in einen tiefen Schlaf und hörte nicht einmal den Schwarzbären, der gegen Morgen hungrig mit seinen Pranken gegen die Heckscheibe des Wagens schlug.

Kulmhotel

ZERMATT | SCHWEIZ

Das abgelegene Hotel in den Schweizer Bergen war Wiebke Janssen von Beginn an unsympathisch gewesen. Sie konnte diesen Eindruck nicht erklären, aber allein der Umstand, dass die gesamte Location eigens für diese Besprechung angemietet worden war und sich mit Ausnahme des wenigen Personals niemand dort befand, war befremdlich. Sie war dem Präsidenten des Komitees nie zuvor begegnet, obwohl sie seit über einem Jahr Unterstützung vom KWTF erhielt. Allerdings nicht ohne Gegenleistung, worüber sie den Vereinbarungen zufolge jedoch mit niemandem sprechen durfte. Nicht einmal mit ihrer Katze, so war es ihr eingebläut worden. Zuvor war ihr das Internationale Komitee für Wirtschaft, Technologie und Fortschritt nur ein leerer Begriff gewesen, aber nachdem ihr ein Vertrag als förderungswürdige Nachwuchspolitikerin angeboten worden war, hatte sie sich näher mit der Arbeit des Komitees auseinandergesetzt – und unterschrieben. Das Komitee hatte sich in den vergangenen zwanzig Jahren als weltweit mächtigstes unabhängiges Beratungsorgan aller Staats- und Regierungschefs, der Finanzmärkte sowie der führenden Persönlichkeiten der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds etabliert. Das weitaus größte Augenmerk des Präsidenten mit seiner globalen Agenda lag aber auf dem digital-finanziellen Komplex und der Verschmelzung von Informations- und Biotechnologie. In seinen Büchern machte der Präsident keinen Hehl daraus, ein brennender Verehrer von Julian Huxley zu sein, dem britischen Biologen und geistigen Vater des evolutionären Humanismus, sowie von Abraham Maslow und Robert Ettinger. Anfänglich waren diese Themen böhmische Dörfer für sie gewesen, und eine ganze Weile betrachtete sie den Präsidenten als eine Art philosophisch-soziologischen Esoteriker. Nicht zuletzt stand das gebetsmühlenartige Lob des Fortschritts in krassem Gegensatz zu der liberalen und demokratischen Weltanschauung des Komitees. Bei allem Respekt gegenüber diesem Imperium hatte sie ihre Meinung dazu immer wieder geäußert.

Richtig verstanden hatte sie erst, nachdem ihr der Präsident eine persönliche Videobotschaft zukommen hatte lassen, in der er ihr sein Verständnis eines demokratischen Transhumanismus anschaulich vermittelte. Es ging ihm mitnichten darum, mit Big-Data-Algorithmen digitale Diktaturen zu schaffen (wie Kritiker ihm zuweilen vorwarfen) und durch die Verschmelzung von Info- und Biotechnologien Millionen und Abermillionen Menschen durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz von ihren Arbeitsplätzen zu verdrängen. Noch viel weniger ging es ihm um die Untergrabung von Freiheit, Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Stattdessen standen eine Vielzahl von Chancen auf der Agenda, die allen Menschen mithilfe modernster Technologien Möglichkeiten boten, ihre Lebensqualität zu verbessern. Für den Präsidenten, und das betonte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, stand das Individuum im Vordergrund. Natürlich würden dabei einige unverbesserliche Nostalgiker, Religionsfanatiker und Technophobe auf der Strecke bleiben, was ihr aber ziemlich egal sein konnte. Kein Mensch auf dieser Welt musste sich zu seinem Glück zwingen lassen.

An diesem Abend sollte sie dem Präsidenten zum ersten Mal persönlich begegnen. Aufgeregt tappte sie in ihrer Suite auf und ab. Was konnte er mitten im Wahlkampf von ihr wollen? Hatte sie einen Fehler gemacht? Ein falsches Wort an der falschen Stelle? Sie konnte sich an keinen nennenswerten Fauxpas erinnern. Ganz abgesehen davon, dass sie sich stets an die Protokolle ihrer Beraterinnen und Berater hielt, die der Präsident selbst für sie ausgewählt hatte. Ohne die personelle und vor allem finanzielle Unterstützung des Komitees hätte sie keine Chance gegen die Kandidaten der etablierten Parteien. Schon gar nicht als Frau und, bis vor Kurzem noch, politische Außenseiterin. Linus, ihr engster Berater, der direkt mit dem Präsidenten in Kontakt stand, hatte ihr vor der Abreise nur süffisant Hals- und Beinbruch gewünscht, was sie dazu bewogen hatte, ihm ohne ein weiteres Wort die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Als ob sie mit dem Präsidenten zum Skifahren gehen würde! Obwohl sie sich auf eine Affäre mit Linus eingelassen hatte (was der Präsident niemals erfahren durfte), hasste sie seine zuweilen maliziöse Veranlagung. Linus hatte in den vergangenen Tagen nicht die leiseste Andeutung gemacht, worum es bei diesem Gespräch gehen könnte. Selbst nachdem sie es ihm vor der Abreise in seiner Lieblingsstellung auf dem Duschhocker mit dem Mund gemacht hatte, wich er ihrem Bitten und Drängen aus. Dieser Mistkerl!

Wiebke Janssen erschrak, als es unvermittelt an der Tür klopfte. Ein Portier in einem weißen Frack teilte ihr mit, dass er sie in den Konferenzraum führen würde. »Bitte lassen Sie alle persönlichen Gegenstände auf dem Zimmer.«

»Meine Handtasche?«

»Verzeihung«, sagte der junge Mann. »Alle persönlichen Gegenstände.«

Sie entschuldigte sich ins Badezimmer und kehrte wenig später unverrichteter Dinge zurück. Dann folgte sie dem Portier durch endlose Gänge und fragte sich, ob sie ohne Begleitung wieder zurückfinden würde. Schließlich gelangten sie in ein rustikales, schwach beleuchtetes Kaminzimmer. Die einzige Lichtquelle bildeten die Flammen der Holzscheite, die eine angenehme Wärme ausstrahlten. Die gesamte Rückwand des menschenleeren Raumes wurde von einem riesigen Bücherregal eingenommen. Der Portier wies ihr einen Platz an einem fein gearbeiteten Baumkantentisch zu, der mit der üblichen Getränkeauswahl, Gläsern, einer mit Macadamianüssen gefüllten Porzellanschale und auf fünf Plätzen jeweils mit einer Schreibunterlage aus Glas, einem ledernen Notizbuch und einem sandfarbenen MONTBLANC-Tintenroller bestückt war.

Nachdem der Portier den Raum verlassen hatte, trat sie an das einzige Fenster. Ihr war heiß. Doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass das Fenster weder zu öffnen war, noch einen Blick nach draußen zuließ.

»Wiebke! Was für ein umwerfendes Kleid.« Die Stimme gehörte zweifelsohne dem Präsidenten. »Wie schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Hatten Sie eine gute Anreise? Es ist herrlich hier oben, finden Sie nicht auch?«

Sie wandte sich um und erwiderte seinen kräftigen Händedruck. »Danke für die Einladung.« Er war größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte, und älter. Sein Parfum roch aufdrinlich nach Sandelholz, Lavendel und Patschuli.

»Setzen wir uns«, sagte er, bevor sie auf seine Fragen antworten konnte. Im selben Moment betraten drei weitere Männer den Raum und nahmen auf Handzeichen des Präsidenten Platz.

»Darf ich vorstellen.« Der Präsident deutete auf den älteren Herrn, der sie durch die dicken Gläser einer Hornbrille musterte. »Advan Posner, unser heißer Draht ins israelische Ministerium für Wirtschaft und Industrie. Ihm gegenüber sein deutsches Pendant, Frido von Bräunlich.« Wiebke Janssen erwiderte die gleichgültigen Blicke der beiden Männer mit einem freundlichen Lächeln. »Und zu Ihrer Linken …«, der Zeigefinger des Präsidenten wanderte auf die gegenüberliegende Tischseite, »… Maxim, einer meiner engsten Mitarbeiter in Sicherheitsfragen. Ich muss zugeben, dass er mir seinen Familiennamen bislang nicht verraten hat, falls er denn überhaupt einen besitzt.«

Die Männer schmunzelten.

»Und hier natürlich unsere liebenswerte Wiebke Janssen, die künftige Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Jedenfalls laut der aktuellen Umfragewerte, an denen sich hoffentlich nicht mehr viel ändern wird.«

»Sehr erfreut«, sagte Advan Posner und klatschte symbolisch in die Hände. Sein Gegenüber schloss sich ihm kommentarlos an. Maxim kaute teilnahmslos an einer Nuss, als ob ihm dieses ganze Chichi lästig wäre. Oder der Anlass, dachte Wiebke Janssen beunruhigt.

»Darauf sollten wir trinken«, sagte der Präsident und ließ einen Finger über ein winziges Tablet gleiten. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und eine Ordonanz brachte zur Hälfte gefüllte Champagnerflöten aus antikem Kristallglas.

»Was haben wir da Schönes?«, erkundigte sich der Präsident.

Die Ordonanz hob die bauchige Flasche aus dem Kühler. »Ein 2000er Clos D’Ambonnay.«

»Hervorragend«, sagte der Präsident und hob sein Glas. »À votre santé!«

Zögerlich griff sie nach ihrem Glas. Alles folgte einem unsichtbaren Protokoll, und sie war ganz offensichtlich die Einzige, die keinen blassen Schimmer davon hatte, was hier gespielt wurde. Zu ihrem Verdruss meldete sich zum wievielten Mal an diesem Tag ihre Blase. Nicht auch noch das!

Der Smalltalk endete so abrupt, wie er begonnen hatte, und der Präsident erteilte Advan Posner das Wort.

»Verehrte Frau Janssen!«

Sie zuckte zusammen. Der bis eben noch kumpelhafte Tonfall hatte sich in einen kühlen, geschäftsmäßigen Bariton verwandelt. »Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass wir Kenntnis davon erlangt haben, dass in Ihrer Dissertation – wie soll ich sagen – Unstimmigkeiten entdeckt wurden.« Posner legte eine Pause ein, die mit jeder Sekunde unerträglicher wurde. »Oder nennen wir es Ungereimtheiten, die, wenn sie an die Öffentlichkeit kämen, einen Skandal sondergleichen zur Folge hätten. Einen Skandal, der nicht nur Sie selbst, sondern ebenso all Ihre Unterstützer und damit das Komitee derart in Misskredit bringen würde, dass der Schaden ins Unermessliche ginge. Und ich spreche hier nicht von finanziellen Kalamitäten, sondern von dem Verlust unserer weltweiten Reputation.«

Sie schluckte. Damit hatte sie weiß Gott niemals gerechnet. Natürlich war ihr sofort klar, worauf (ausgerechnet) der Repräsentant des israelischen Wirtschaftsministeriums anspielte. Aber wie zum Teufel waren sie darauf gekommen? Die Veröffentlichung ihrer Dissertation lag über fünfzehn Jahre zurück. Nie hatte jemand diesen Teil ihrer Arbeit hinterfragt, dazu gab es auch gar keinen Anlass. Schließlich hatte sie sich wasserdicht abgesichert, es gab keinerlei Beweise dafür, dass etwas an den Tagebuchauszügen gefälscht war. Eigentlich hätte sie es für unmöglich gehalten, dass jemand darauf kommt. Was zum Teufel war da passiert?

»Sie fragen sich bestimmt, wie wir darauf gekommen sind.« Die Stimme des Präsidenten hatte ebenfalls an Wärme verloren. »Aber damit brauchen Sie sich nicht zu belasten. Wichtig ist nur, dass Sie in der Öffentlichkeit unter keinen Umständen über diese heiklen Themen im Zusammenhang mit Ihren polnischen Großeltern sprechen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Ja«, sagte sie kleinlaut.

»Um die Handvoll Schmierfinken, die im Begriff sind, Ihre Weste zu besudeln, werden wir uns kümmern«, fuhr der Präsident fort, während er Maxim mit ernster Miene einen Umschlag reichte. »Wenn Sie keine Fragen mehr haben?«

Ihr war schlecht, und sie musste nun wirklich dringend auf die Toilette. Wieder öffnete sich, wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, die Tür, und der Portier betrat den Raum.

»Sie können Frau Janssen wieder auf ihr Zimmer bringen«, sagte der Präsident. »Passen Sie gut auf sich auf, Wiebke.«

Sie erhob sich mit hochrotem Kopf. Als der Portier im Begriff war, die Tür hinter ihnen zu schließen, vernahm sie ein letztes Mal die Stimme des Präsidenten: »Und, Wiebke: Viel Erfolg bei Ihrem Auftritt in Hamburg.«

Den Rückweg auf ihr Zimmer brachte sie wie in Trance hinter sich. Die Blase drückte, ihr Kopf glühte, und ihr Magen schien sich am liebsten nach außen stülpen zu wollen. Der Traum von der Kanzlerschaft würde schneller vorüber sein, als er begonnen hatte. Nachdem sie sich erleichtert hatte, ließ sie vor dem Panoramafenster ihrer Suite den Blick über die schneebedeckten Gipfel schweifen und fand zusehends ihre Fassung wieder. Wo immer ein Leck entstanden war, würde sie sich auf das Wort des Präsidenten verlassen müssen. Wenn er versprochen hatte, sich der Angelegenheit anzunehmen, war er weiterhin von ihren Qualitäten überzeugt. Im Grunde war sie mit einem blauen Auge davongekommen. Als eine Handvoll Schmierfinken hatte er diejenigen bezeichnet, die wohl offensichtlich ihren Ruf schädigen wollten. »Na wartet«, knurrte sie. »Ihr habt euch mit den Falschen angelegt!«

Der Präsident war mehr als deutlich gewesen. Kurz lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Dass für die Plagiate in ihrer Dissertation eines Tages unschuldige Menschen mit dem Leben bezahlen mussten, wäre ihr in den kühnsten Träumen nicht in den Sinn gekommen. Dieses Risiko wäre sie sehenden Auges nie eingegangen. Andererseits hatte sie sich mit ihrer Entscheidung, in die Politik zu wechseln, für ein schmutziges Geschäft entschieden. Das war ihr von Beginn an klar gewesen. Manchmal musste auf diesem Terrain der Zweck die Mittel heiligen. So jedenfalls hatte sie den Präsidenten verstanden.

Mazowiecki Park

30 KILOMETER SÜDÖSTLICH VON WARSCHAU | POLEN

Roman Czarnecki trat energisch auf die Rücktrittbremse und pfiff seinen Hund zurück. Der kurzhaarige Windhund rannte ihm bei seinen frühmorgendlichen Radtouren durch den Mazowiecki Park, ein riesiges Naturschutzgebiet vor den Toren Warschaus, regelmäßig einige hundert Meter voraus. Aber der Rüde zeigte stets guten Gehorsam und lief auch jetzt mit weit ausgreifenden Sprüngen zurück zu seinem Herrchen. Czarnecki lehnte sein Rad an einen Baum und nahm den keuchenden Hund an die Leine.

»Wollen doch mal sehen«, murmelte er und näherte sich dem blauen VW-Bus, der bereits am Tag zuvor verbotenerweise an derselben Stelle gestanden hatte, im Kreuzungsbereich zweier unbefestigter Waldwege.

»Ruhig, Anatol, ganz ruhig!« Czarnecki warf einen Blick auf den Fahrersitz des Bullis mit deutschem Kennzeichen. Für gewöhnlich verirrten sich keine Touristen in diese Gegend. Wenn, dann begegnete man ihnen am Bunkry Dabrowiecka Góra, einem sorgfältig renovierten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Oder am Tory See und manchmal am jüdischen Friedhof. Aber nicht hier, auf diesen einsamen Schotterstraßen, die im Grunde nirgendwo hinführten.

Der Hund fing leise an zu knurren. »Ist ja gut, mein Junge.« Er hielt ihm ein Stück getrocknetes Schweineohr hin. Der Rüde schnappte gierig danach. Czarnecki trat wieder vor den Bus und klopfte gegen die Schiebetür. »Ist da jemand? Hallo!«

Nichts rührte sich. Nur das entfernte Klappern eines Schwarzstorches. Sollte er die Polizei verständigen? Er warf einen Blick auf sein altes Nokia. Kein Empfang. Um telefonieren zu können, müsste er wenigstens einen Kilometer radeln. Entschlossen trat er nochmals an den Bus und rüttelte am Griff der Schiebetür. Zu seiner Überraschung sprang die Tür geräuschlos auf und gab einen Blick ins Wageninnere frei. Roman Czarnecki wusste sofort, dass das unnatürlich verkrümmte und in einem Schleim aus Erbrochenem liegende Wesen ein toter Mensch sein musste. Irgendwo im Wagen setzte der Vibrationsalarm eines Mobiltelefons ein. Czarnecki wich erschrocken zurück, fiel rücklings zu Boden und erbrach noch im Sturz sein gesamtes Frühstück. Der Hund bellte wie verrückt, als ob von dem Toten oder seinem Handy eine Gefahr für sie ausgehen würde. Czarnecki rappelte sich auf, rannte zu seinem Fahrrad und suchte das Weite.

Erst als in der Ferne die Umrisse des Bahnhofs von Kolbiel auftauchten, gelang es ihm wieder, klare Gedanken zu fassen. Dort angekommen, nahm er einen großen Schluck aus seinem Flachmann, wischte sich mit dem Ärmel die Reste des Erbrochenen aus dem Gesicht und rief die Polizei.

Erst viel später fiel ihm ein, dass er in den Vernehmungen vergessen hatte, den scharfen Geruch zu erwähnen, der ihm aus dem Bus entgegengeschlagen war.

Eine Mischung aus Desinfektionsmittel und verfaultem Kohl.

Sacramento International Airport

KALIFORNIEN | USA

Mit weit ausladenden Schritten rannte Carla durch das Abflug-Terminal. Obwohl sie der schnellsten Route des Navis gefolgt war und gedacht hatte, die Umleitung über Stockton wieder wettgemacht zu haben, war sie viel zu spät. Weitere wertvolle Minuten hatte sie bei der Rückgabe ihres Mietwagens verloren, da der Zweitschlüssel wie vom Erdboden verschluckt war. Vermutlich war er ihr während des Abstiegs verloren gegangen. Die kaugummikauende Tussi von Alamo machte einen riesigen Aufriss und bestand auf einer Kaution von dreihundert Dollar, die Carla zähneknirschend entrichtete, nachdem über die Lautsprecheranlage zum zweiten Mal ihr Name aufgerufen worden war. Als sie endlich den Check-in von Delta Airlines erreicht hatte, teilte ihr die Angestellte mit, dass das Boarding bereits abgeschlossen sei. Carla standen die Tränen in den Augen. Mit Engelszungen versuchte sie zu erklären, dass sie erst am frühen Morgen von einem Notfall in ihrer Familie erfahren und aus diesem Grund die späte Umbuchung vorgenommen hatte. »Es ist ein Notfall!« Carla stöberte hektisch in der Galerie ihres Smartphones und hielt der Angestellten ein Foto ihres Bruders unter die Nase. »Das ist mein Bruder, Darian. Glauben Sie mir, er braucht dringend Unterstützung!«

»I’m really sorry, but I can’t take your luggage any more.«

Carla war im Begriff, ihren Koffer einfach stehen zu lassen, als ein Beamter des TSA-Checkpoints plötzlich neben sie trat und sie mit einem Augenzwinkern begrüßte. Lässig wandte er sich an die Mitarbeiterin von Delta Airlines. »Was meinst du, Eleonore? Für mich sieht dieses Köfferchen so aus, als könntest du es als Handgepäck durchgehen lassen.«

»Du weißt, dass ich das nicht entscheiden kann, Liam.«

»Aber ich«, erwiderte Liam, warf Eleonore ein Lächeln und Carla ein weiteres Augenzwinkern zu und schlenderte zu seinem Checkpoint zurück.

Der Gabelflug über Seattle und Amsterdam nach München würde knapp zwanzig Stunden dauern. Allein die Aufenthalte nahmen sieben Stunden in Anspruch, dabei saß sie sprichwörtlich auf Kohlen. Die Hilferufe ihres Bruders hatten sie wie eine kalte Dusche aus ihrer Hochstimmung gerissen. Carla unterdrückte einen Seufzer. Wie gern wäre sie noch ein paar Tage in Kalifornien geblieben. Am meisten hatte sie sich auf die Helikoptertour am Lake Tahoe gefreut. Ein Geschenk ihrer amerikanischen Kletterfreunde, mit denen sie im Frühjahr im Yosemite unterwegs gewesen war. Noch wurde sie nicht schlau aus den Nachrichten, die ihr Darian in der Nacht geschickt hatte. Klar war nur, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.

Die sind zu allem fähig!

Wer waren »die«? Carla hatte Darians übermächtige Angst und das Zittern seiner Hände beinahe körperlich gespürt, während sie am Morgen, als sie aus einem komatösen Schlaf erwacht war, ihre Antworten getippt hatte. Die letzte Nachricht war um 04:37 Uhr bei ihr eingegangen. Also 13:37 Uhr Ortszeit. Irgendwo in Polen. Sie legte den Gurt an, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und rechnete neun Stunden Zeitverschiebung hinzu. Wenn Darian, wie er geschrieben hatte, um fünf losgefahren war, befand er sich seit vier Stunden auf der Autobahn und wäre gegen Morgen in München. Das bedeutete, dass er bis zum Spätnachmittag auf sie warten musste. Ob er sich an das Versteck des Wohnungsschlüssels erinnern oder ihre Vermieterin aus den Federn klingeln würde? Was, wenn er weiterhin nicht ans Telefon ging und ihm tatsächlich etwas zugestoßen war? Hoffentlich hatte er ihre Nachrichten erhalten. Als sie das letzte Mal nachgesehen hatte, waren sie noch als ungelesen markiert. Carla verdrängte die finsteren Gedanken mit der Vorstellung, wie er am Flughafen auf sie warten und ihr, wie üblich, anlasslos von irgendwelchen neuen Heavy-Metal-Bands vorschwärmen würde. Für dieses Mal würde sie sich sogar darauf einlassen können, wenn sie ihn nur unversehrt wiedersah. Sie entsperrte ihr Mobiltelefon und öffnete den Messenger. Seltsam, dass Darian den Nachrichtendienst Threema benutzt hatte, wo er sich bisher allen Argumenten zum Trotz geweigert hatte, die Einmalgebühr zu zahlen, und beharrlich kostenfreien Anbietern vertraute. Sie las die abgehackten Nachrichten zum wiederholten Mal. Wort für Wort. Begleitet von der Sorge und der Hoffnung, etwas Wichtiges übersehen zu haben:

Bin in (ernsthaften) Schwierigkeiten

Die sind zu allem fähig!

Kein Fake

Du musst mir glauben

Lösch alles, wenn du gelesen hast!!!

Ich komme nach M.

ASAP

Keine Polizei einschalten!

Egal was passiert!

Bitte!!!

Kann dir alles erklären!

Bin in Polen

Fahre gegen fünf los!

Du musst mir helfen.

Kein Wort zu niemand

Bitte!!!

Carla starrte dem Fahrer eines Gepäckwagens auf dem Rollfeld hinterher, während die Triebwerke des Airbus aufheulten und der Vogel zitternd aus der Parkposition rollte. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschriebenen. Das war definitiv die Handschrift ihres Bruders. Auch wenn sie ihn so noch nie erlebt hatte. Nicht einmal in der schlimmsten Zeit nach dem Unfall mit den Eltern. Damals hatten sie alle möglichen Anstrengungen unternommen, um das Trauma und die nicht enden wollende Trauer zu überwinden, und irgendwann hatten sie beide wieder Boden unter die Füße bekommen. Seitdem war ihr Dasein ohne existentielle Ängste und Bedrohungen verlaufen.

Darian hatte Geschichtswissenschaften studiert und sich der Genealogie verschrieben. Binnen kürzester Zeit galt er europaweit als anerkannter Ahnen- und Familienforscher, seine Expertisen kosteten inzwischen ein Vermögen. Daneben fotografierte er fleißig, am liebsten in Schwarz-Weiß.

Carla selbst hatte ungefähr ein Jahr nach der Katastrophe sämtliche Lebensentwürfe über Bord geworfen. Es war ihr im Zusammensein mit Menschen schwergefallen, auf Knopfdruck gute Laune an den Tag zu legen. Die Trauer verhielt sich in den ersten Jahren wie unterseeische Beben, deren Zentren und Intensität nie vorhersehbar waren. Sie erwarb ihren Master in Wirtschaftsinformatik und IT-Management in der Zurückgezogenheit eines Fernstudiums und machte sich selbstständig. So konnte sie Arbeit und Freizeit nach Belieben einteilen bei einem mehr als auskömmlichen Verdienst. Neben ihrer Leidenschaft für die Berge unternahm sie am liebsten ausgedehnte Spaziergänge mit Rosco, dem Irish-Setter-Rüden, den die Eltern zurückgelassen hatten. Der Hund bedeutete Carla eine unsichtbare Brücke über jenen Fluss, der in ihrer Vorstellung die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten markierte.

»Sorry?« Eine Flugbegleiterin riss sie aus ihren Gedanken. Carla bestellte Tee und ein Käsesandwich.

»Möchten Sie eine Decke?«

Carla griff nach einer der bequemen Ärmeldecken und kuschelte sich in den weichen Fleecestoff. Die Decke gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Eine wärmende Barriere zwischen Außen und Innen. Carla dachte darüber nach, wie sie diese Grenze zeitlebens selbst versucht hatte zu definieren. Wohin sie auch ging und was immer sie tat oder dachte oder fühlte. Wie weit ließ sich diese Trennlinie verschieben? War es möglich, mit sich selbst und den vielen Unbekannten der Klimazonen des menschlichen Daseins im Reinen zu sein, egal, was passierte? Mit Ängsten und dem Tod? Mit der Angst vor der Angst? Je länger sie darüber sinnierte, umso unübersichtlicher erschienen ihr die vielen Gedankenfäden.

Immer wieder fiel Carla in einen leichten Schlaf und fand sich inmitten verrückter Traumbilder wieder, bis sie sich teils amüsiert, teils erschrocken zurück an die Oberfläche zog. Ein Schmetterling, der sich auf dem Auge eines Elefanten niederließ. Ein verlassener Kletterschuh, der in einer Felsspalte feststeckte. Ihre Mutter, die verzweifelt versuchte, ihr Smartphone zu entsperren. Darian, der ihr aus dem Laternenhaus eines Leuchtturms zuwinkte. Die See darunter war ruhig. Endlich fiel sie, umspült vom gleichmäßigen Rauschen der Triebwerke, in einen traumlosen Schlaf.

Hamburg / Gütersloh

DEUTSCHLAND

Zum Ende ihrer emotionalen Wahlkampfrede auf dem Hamburger Fischmarkt schwenkte sie eine traditionelle Kapitänsmütze. Die Menge johlte, als ob Madonna im Reiter-Outfit von Gaultier die Bühne betreten hätte. Wiebke Janssen genoss den anhaltenden Beifall und verteilte strahlend Kusshändchen. Die eigens für den Wahlkampf engagierte Band German Blend, in der namhafte Künstlerinnen und Künstler aller in Deutschland lebenden Minderheiten vertreten waren, spielte einen Tusch um den anderen. Schließlich stimmten die Musiker die Hamburg-Hymne an und forderten die Anwesenden zum Mitsingen auf:

Heil über dir,

Hammonia!

O wie so glücklich stehst du da!

Die Stimmung wurde feierlich, und die Menge ließ es sich nicht nehmen, sämtliche Strophen lauthals zu begleiten. An den Auslegern der Lastkräne im Hafenbecken wurde ein Feuerwerk gezündet, und als die Hymne sich von einem Glockenspiel begleitet dem Ende zuneigte, bereitete die Kanzlerkandidatin der Fortschrittspartei Deutschlands ihre letzte Überraschung vor. Als ob sie beabsichtigte, vor der Menge zu strippen, entledigte Wiebke sich mit gekonntem Hüftschwung ihres Schals und Jacketts. Die Band spielte La Vida Es Un Carnaval von Celia Cruz. Der erotische Tanz gab den Blick auf ein Trikot des HSV frei. Wieder tobte die Menge und wiegte sich im Rhythmus des Salsa. Aber es gab auch Pfiffe und Buhrufe, womit Wiebke Janssen natürlich gerechnet hatte. Wie von einem unsichtbaren Tanzpartner geführt, bewegte sie sich über die Bühne und machte eine überraschende Wende, so dass sie jetzt mit dem Rücken zum Publikum stand. Auf der Rückseite ihres T-Shirts befand sich das Logo des FC St. Pauli, der zweite bekannte Fußballverein der Hansestadt. Die Security bildete rasch einen engen Kreis um das Rednerpult. Aber es blieb bei nicht enden wollenden Ovationen.

Es ist so leicht, die Menschen für sich zu gewinnen, dachte Wiebke Janssen, sie lächelte und winkte, bis der Beifall allmählich verebbte und die ersten Grüppchen sich auf den Nachhauseweg machten. Man musste den Menschen nur glaubhaft in Aussicht stellen, wonach sie sich sehnten. Den Reichen eine Senkung des Spitzensteuersatzes, den Armen einen adäquaten Mindestlohn. Den Alten höhere Renten und den Jungen Karrierechancen. Den Frauen Chancengleichheit und den Homosexuellen Gleichstellung. Den Süchtigen ihren Stoff und den Vegetariern ihr Gemüse. Und über allem die Vision von Fortschritt und einem besseren Leben.

Gott ist tot! Die Worte des Präsidenten bei einer Rede auf einer Konferenz in Kapstadt kamen ihr in den Sinn, während noch einige hundert Zuschauer um die Bühne herumstanden und sich rhythmisch zur Musik der Band bewegten. Gott ist schon lange tot, dachte Wiebke Janssen, wenn es ihn überhaupt jemals gegeben hat. Mit einem Mal spürte sie ihre Macht über die Menschen, die ihr plötzlich so töricht und kleingeistig vorkamen. Das Vertrauen, das ihr der Präsident entgegenbrachte, verlieh ihr (zusehends) die Gewissheit, Teil eines großen Umbruchs zu sein. Ja, sogar eine wesentliche Rolle darin zu spielen. In der Programmatik des Kommitees und seiner globalen Akteure ging es nicht mehr nur darum, eine möglichst hohe Rendite zu erzielen, sondern darum, eine Menge an sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Faktoren in ein diffiziles Gleichgewicht zu bringen. Hierzu mussten Opfer gebracht werden, um am Ende eine Win-Win-Situation für alle zu schaffen. Und es galt, diesen Narren den Respekt vor der Wissenschaft und der Verpflichtung zum Fortschritt einzubläuen. Wie sonst konnte es jemals gelingen, die menschliche Natur zu überwinden? »Ich muss diese Wahl gewinnen«, sagte sie leise und ballte die Fäuste. »Veni, vidi, Wiebke!«

»Träumst du?« Linus reichte ihr Sakko und Schal. »Komm schon.«

Sie folgte ihm wortlos zum Parkplatz, wo ihre Limousine wartete. Unterwegs schüttelte sie gedankenverloren ein paar Hände, ohne auf die Gesichter und Worte ihrer Anhänger zu achten. Im Wagen spürte sie, wie ihre Füße brannten, und entledigte sich ihrer Pumps.

»Du warst sexy«, sagte Linus, der sich neben ihr auf die Rückbank fallen ließ.

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

Linus zog eine Schnute. »Vielleicht, dass ich dich gern ficken würde. Jetzt, hier, auf der Stelle.«

»Manchmal bist du ein richtiges Arschloch!«

»Das ist mein Job.«

Sie wandte sich angewidert von ihm ab und blickte durch die verspiegelten Fenster auf das Hafenpanorama. »Für dich ist das alles nur ein Spiel, hab ich recht?«

Linus legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. »Für dich nicht?«

»Du verstehst gar nichts«, sagte sie leise. »Nimm deine Pfoten weg.«

»Es ist ein Spiel, Süße. Ein verlogenes und dreckiges Spiel. Und wenn du das nicht endlich kapierst, bist du so gut wie tot.« Er lachte. »Politisch gesehen, natürlich.«

»Lass mich einfach in Ruhe, ja?«

»Kein Hotel mehr?«

»Ich will nach Hause und in Ruhe nachdenken.«

»So was habe ich mir schon gedacht. Wiebkes Polit-Migräne?«

Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Wir telefonieren. Aber nicht mehr heute.«

»Wie Frau Kandidatin begehren. Dann wünsche ich noch einen schönen Abend und empfehle mich.«

»Wir sind gleich da.« Die freundliche Stimme des Fahrers schreckte sie aus einem unruhigen Halbschlaf.

»Danke«, sagte Wiebke und sah auf die Uhr. Halb elf. Die Fahrt hatte über drei Stunden gedauert. Erschöpft und in der festen Absicht, sofort ins Bett zu gehen, stieg sie aus dem Wagen und steckte ihrem Chauffeur einen Fünfziger zu. Von zwei Securitys begleitet, schritt sie die Zufahrt zu dem kleinen Einfamilienhaus hinauf. Für den Bruchteil einer Sekunde wunderte sie sich, dass die Bewegungsmelder nicht reagierten, der Weg lag in völliger Dunkelheit.

Dann passierte es.

Der Angriff kam aus dem Nichts. Wie das plötzliche und lautlose Herabstürzen eines Nachtvogels auf seine ahnungslose Beute. Wiebke Janssen vernahm ein metallisches Knattern und sah ihre beiden Bodyguards, buchstäblich vom Blitz getroffen, zu Boden gehen. Im nächsten Augenblick rammte ihr jemand eine unsichtbare Faust in die Magengrube. Sie schnappte nach Luft und versuchte, die Angreifer auszumachen. Aber in der Dunkelheit des Vorgartens war nichts zu erkennen. Zögernd wagte sie einen wackeligen Schritt über einen der am Boden liegenden Männer, den Blick auf den Hauseingang gerichtet, der ihr unerreichbar erschien. Hinter dieser Tür wäre sie in Sicherheit und könnte die Polizei rufen. Während sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund tastete, schlug etwas Hartes gegen ihre Schläfe. Der Hieb war so heftig, dass er sie von den Beinen riss. Der Schmerz fühlte sich an wie zerberstendes Glas. Gleichzeitig sprang der Bewegungsmelder des Nachbargrundstücks an und tauchte das Gebäude in ein fahles Licht. Jemand hatte in gelbem Neon JUDENSCHLAMPE auf ihre Hauswand gesprüht. Quer über dem Küchenfenster prangte ein rotes Hakenkreuz. Etwas Warmes rann über ihre Wangen. Sie begann zu frösteln und am ganzen Körper zu zittern. Ich bin müde, dachte sie. So müde.

Das ist alles nur ein Spiel, hörte sie Linus flüstern. Was würde er sagen, wenn er jetzt hier wäre? Nur ein verlogenes, dreckiges Spiel. Vermutlich hatte er recht. Dieser Scheißkerl.

Als sie wieder zu sich kam, bemerkte sie zuerst das üppige Blumenbouquet neben dem Bett. Bestimmt vierzig oder fünfzig rote und pinkfarbene Rosen. Jedenfalls zu viele für die kleine Bodenvase, dachte sie. Jemand müsste Wasser nachgießen. Eine Frau in einem hellblauen Kasack betrat den Raum. »Wie geht es Ihnen, Frau Janssen?«

»Wer sind Sie?«

»Schwester Eva«, die Pflegerin tippte auf einen Textilstempel oberhalb ihrer Brust.

»Wo bin ich?« Wiebke Janssen fasste sich zögernd an die Stirn. »Und … was ist passiert?«

»Im Krankenhaus.« Die Krankenschwester reichte ihr eine Broschüre des Klinikums Gütersloh. »An was erinnern Sie sich?«

»Ich habe Schmerzen. Jemand hat mich …«

»Sie hatten Glück im Unglück. Eine Prellung am Jochbein. Eine leichte Gehirnerschütterung und ein paar Schürfwunden.«

Wiebke Janssen schloss die Augen. Langsam kehrten die Erinnerungen an den nächtlichen Angriff zurück. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Die Polizei war bereits hier. Sie möchten mit Ihnen sprechen und sagten, die Ermittlungen würden auf Hochtouren laufen.«

»Kommenden Freitag …« Sie atmete tief durch. Der lärmende Schmerz in ihrem Kopf verstärkte sich bei jedem Wort. »… muss ich in Frankfurt sein.«

Die Krankenschwester griff behutsam nach ihrer Hand. »Darüber sprechen Sie am besten mit dem Oberarzt. Ich gebe Ihnen jetzt ein Sedativum, und dann sollten Sie sich noch ein wenig ausruhen, ja?«

Wiebke Janssen entzog sich dem Griff der Pflegerin und starrte resigniert aus dem Fenster. »Es ist kein Spiel«, sagte sie.

»Was meinen Sie?«

»Vergessen Sie es.«

In einem Fiebertraum hielt sie eine Rede vor einer riesigen Menge. Junge und alte Menschen, ganze Familien mit Kindern und Babys auf den Armen ihrer Mütter. Sonderbarerweise hielten die Leute einen beinahe unerträglichen Abstand zur Bühne, auf der ihr Rednerpult stand. Wie von imaginären Sicherheitskräften zurückgedrängt, standen sie da und lauschten teilnahmslos ihren Ausführungen. Es gab keinen Beifall, keine Buhrufe, keine Fähnchen. Nichts. Ein ums andere Mal verlor sie den Faden. Sie bat das Publikum, näherzutreten, ohne eine noch so kleine Reaktion zu bewirken. Immer wieder hörte sie die Stimme des Präsidenten aus dem Off, der sie aufforderte, weiterzumachen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Nichts und niemand darf uns vom Kurs abbringen!

Plötzlich entdeckte sie voller Entsetzen ihre beiden Securitys, die regungslos vor der Bühne am Boden lagen. Ihre Körper waren von einem wuselnden Teppich aus Schmeißfliegen bedeckt, deren Leiber grün und blau in der Sonne glänzten. Erschrocken rief sie nach den Sanitätern, die in einer Seitengasse vor ihrem Rettungswagen standen und das Geschehen mit starrem Blick verfolgten.

Zeigen Sie niemals Schwäche!

Völlig konsterniert fuhr sie mit ihrer Rede fort.

Plötzlich setzte sich die gesamte Menge mit einem Ruck in Bewegung. Zuerst zögerlich, dann immer entschlossener. Im ersten Moment glaubte sie an eine Inszenierung radikaler Gruppierungen, wie sie es bei Demonstrationen und Kundgebungen bereits erlebt hatte. Andererseits schien dies in der Heterogenität dieser Masse völlig ausgeschlossen. Selbst Jugendliche und Kinder hielten, unter wütenden Sprechchören, auf sie zu. Immer wieder kam jemand zu Fall und wurde von den Nachfolgenden rücksichtslos überrannt. Zuerst verstand sie in dieser aufgebrachten Stampede nicht, was die einzelnen Gruppierungen riefen, aber als sie nur noch einen Steinwurf entfernt waren, vernahm sie die Worte immer deutlicher: »Judenschlampe!«, skandierten sie. »Lügnerin!« Je näher die Menge kam, umso hässlicher wurden die Beleidigungen. »Judenfotze!« Wiebke Janssen war klar: Diese Menge war im Begriff, sie an Ort und Stelle zu lynchen. Voller Panik wollte sie die Flucht ergreifen, aber ihre Hände und Füße klebten an Pult und Boden fest.

»Hilfe!«, brüllte sie verzweifelt. »L i n u s !«

»Ich rufe zurück!«

Als Wiebke Janssen die Augen aufschlug, stand ihr Berater mit dem Telefon am Ohr neben ihrem Krankenbett. Er beendete sein Gespräch und trat zu ihr. »Du zitterst ja.«

Wiebke musterte verängstigt die Umgebung. Als die Erinnerungen zurückkehrten, griff sie nach seiner Hand und atmete tief durch. »Ich bin okay. Nur ein blöder Traum.«

»Wie geht es dir?«

»Ich habe Durst.«

»Und sonst?« Er reichte ihr ein Glas Wasser.

»Was machst du hier?«

»Ich kann auch wieder gehen.« Linus entzog sich ihrem Griff.

»So war das nicht gemeint.«

»Wir sollten über das Protokoll sprechen, bevor wir auf Sendung gehen.«

Wiebke Janssen zog die Stirn in Falten. »Du wirst doch nicht …?«

»Es war seine Idee. Übrigens hat er sämtliche Meetings in Japan und Malaysia abgesagt und seinen Flieger noch in der Luft nach Deutschland umdrehen lassen, als er von dieser Geschichte erfahren hat.«

»Ich verstehe gar nichts. Was für eine Idee? Welches Protokoll? Welche Sendung?«

»Schon mal was von Publicity gehört, Frau Doktor?«

»Erklär es mir.«

»Kapierst du denn gar nichts?« Linus zog einen Stuhl neben das Bett. »Du wurdest von irgendwelchen rechten Vollidioten angegriffen. Deine Bude sieht aus wie nach einem Nazi-Graffiti-Contest, und einer deiner Bodyguards liegt ziemlich lädiert auf der Intensivstation.«

»Verdammt!«, entfuhr es Wiebke Janssen. »Und der andere?«

Linus überging die Frage. »Die Mainstreammedien berichten rund um die Uhr von dem Vorfall, deine Wähler und Wählerinnen haben das Recht zu erfahren, wie es ihrer Märtyrerin geht. Findest du nicht?«

»Ihr habt die Presse hierher beordert?«

»Die Idee ist doch genial. Dein Bekanntheitsgrad und deine Sympathiewerte werden in die Höhe schnellen. Etwas Besseres hätte uns in dieser entscheidenden Phase des Wahlkampfs gar nicht passieren können.«

»Ja, genau!« Wiebke Janssen war den Tränen nahe. Gleichzeitig wurde sie von einer unbändigen Wut erfasst. »Ich habe schon immer davon geträumt, überfallen, verprügelt und vor der ganzen Welt gedemütigt zu werden!«

Linus hob beschwichtigend die Hände. »Du weißt genau, wie ich das gemeint habe.«

»Ehrlich gesagt fällt es mir von Tag zu Tag schwerer, deine Anspielungen und dein Verhalten richtig zu deuten.«

»Hast du den Verstand verloren?«, zischte Linus und hob drohend den Zeigefinger. »Hier geht es um alles oder nichts, falls du das vergessen hast!«

»Was stand denn im Protokoll, für den Fall, dass die mich totgeprügelt hätten?«

»Es war deine Entscheidung, diesen Weg mit der Unterstützung des Komitees zu gehen und dir ihre Agenda auf die Fahnen zu schreiben. Dass es kein Zuckerschlecken werden würde, muss dir klar gewesen sein.«

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

Er ignorierte ihre Frage. »Nicht zuletzt geht es bei alledem auch um meine Reputation. Und ich habe keine Lust, am Ende als Verlierer dazustehen.«

»Und wenn ich Nein sage?«

In der Ferne war das Knattern eines näherkommenden Hubschraubers zu vernehmen. Linus trat ans Fenster. »Das wäre die letzte dumme Idee unserer Zusammenarbeit. Aber vielleicht solltest du das mit ihm besprechen.«

Als alles vorüber war und die letzten Kameras, Stative und Scheinwerfer aus dem Zimmer entfernt waren, trat der Präsident an ihr Krankenbett und überreichte ihr einen Blumenstrauß.

»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Wiebke. Ich bin stolz auf Sie.«

Wiebke Janssen griff unter Schmerzen nach den Blumen. »Danke.«

»Und seien Sie unbesorgt, künftig wird sich Maxim selbst um Ihren persönlichen Schutz kümmern.« Der Präsident tätschelte anerkennend die Schulter seines Sicherheitschefs. »Wir werden noch enger mit den zuständigen Polizeidienststellen zusammenarbeiten und mehr Personal zur Verfügung stellen.«

»Es wird keine weiteren Zwischenfälle geben«, sagte Maxim kühl.