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Im 16. Jahrhundert wird die Familie des Bauern Moormann von ihrem Einödhof Ismoorkatrins im Fürstentum Riedburg samt Gesinde und Vieh auf den Lichtjahre entfernten Planeten Wosa entführt. Kleinwüchsige, großköpfige Menschen besiedeln die fremde Welt, in der es keine Vögel gibt. Was wollen die Wosamenschen von den Erdlingen? Ihre Heimat werden sie nie wiedersehen. Doch da lernt Bauernsohn Martin seine einheimische Gefährtin Ki kennen. Gemeinsam planen sie die Flucht: Martin und die Huka-Kapitänin Ki reisen zur Erde. Damit die junge Frau endlich die unvorstellbaren Wunder der Vogelwelt kennenlernen darf. Doch auf den Diebstahl des Huka-Fluggeräts steht auf Wosa die Todesstrafe …
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Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Hans Jakob Gall
Planet der Vögel
Roman
AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
©2022 FRANKFURTER LITERATURVERLAG
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Titelbild: Raphael Rychetsky/Unsplash
Lektorat: Dr. Annette Debold
ISBN 978-3-8372-2603-4
Inhaltsverzeichnis
Entführt
Fremde Welt
Ki
Ismoorkatrins
Schluss
Weitere Werke des Autors
HZ – Die Heimatzeitung
Dienstag, 2. Juni 2020
In eigener Sache
Liebe Leserinnen und Leser,
in den letzten Tagen erreichte uns mit der Post ein fest verschnürtes Päckchen ohne Absenderangabe, im Päckchen ein anonymer Brief, festgeklemmt auf einem Bündel spiralgehefteter Normseiten. Ich gab die Papiere einem unserer altgedienten Redakteure mit dem Auftrag, sie nach einem kurzen Blick darauf dorthin zu werfen, wohin anonyme Briefe gehören, in den Papierkorb.
Doch dem Redakteur fiel bei einem kurzen Blick auf den Brief das Wort „Steinkreis“ auf, und er erkannte bereits nach flüchtigem Lesen einen Zusammenhang zwischen „Anna – Eine seltsame Geschichte“, die wir im Jahre 2003 in Fortsetzungen gedruckt hatten – manche unserer Leser werden sich erinnern – und dem uns jetzt übersandten Text, und so beschlossen wir, das gesamte Manuskript zu lesen. Und heute können wir wieder und nicht ohne Stolz behaupten, in den Besitz eines sensationellen Berichtes gekommen zu sein, um den uns viele der großen Zeitschriften und Magazine beneiden werden.
Die Papiere mit dem Titel „Planet der Vögel“, die mit der Entführung einer Familie mitsamt ihrem Gesinde und Vieh beginnen und mit einem weiteren Verbrechen enden, wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Es sind sonderbare, doch spannende Texte, die Ihnen manchen Schauer über den Rücken jagen werden. Da sie einen großen Umfang haben, werden wir sie in Fortsetzungen veröffentlichen; wir beginnen damit in der Ausgabe vom Dienstag, den 9. Juni 2020. Wenn Sie kein Abonnent sind, dann kaufen Sie ab kommenden Dienstag unsere Zeitung jeden Dienstag und Freitag. Es lohnt sich.
Und lesen Sie bitte zudem sehr sorgfältig den nachfolgend aufgeführten Brief mit der Beschreibung der Örtlichkeit, die der Absender auch dieses Mal nicht erkennbar gemacht hat. Denn wie schon im Jahre 2003 halten wir fest: Die erste Person, die uns nach dem Lesen des Berichts einen Hinweis auf den dort beschriebenen Talkessel mit dem Steinkreis geben kann, darf lebenslang unsere Zeitung kostenlos beziehen. Wann immer Sie glauben, die Landschaft erkannt zu haben, melden Sie sich bitte bei uns. Wenden Sie sich vertrauensvoll an den Herausgeber der HZ – Die Heimatzeitung, der Ihnen hiermit zusagt, Ihren Besuch oder Ihren Anruf auf Wunsch vertraulich zu behandeln.
Robert Henzlich jr.
Herausgeber
HZ – Die Heimatzeitung
Nachfolgend der Brief und der Bericht, die uns erreichten. Den im Brief beschriebenen Rechtsverstoß haben wir der Polizeibehörde und der Beauftragten für Denkmalschutz in unserer Kreisstadt durch eine Kopie des Briefes mitgeteilt.
An die Geschäftsleitung der HZ – Die Heimatzeitung
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich schicke Ihnen heute einen Bericht mit mehr als dreihundert Seiten. Er ist eine in geltendes Deutsch von mir verfertigte Übertragung eines im 16. Jahrhundert geschriebenen Originals, und ich bin mir sicher, der Text ist geeignet, Ihr Interesse zu wecken.
Doch vorab: Ich habe für eine große deutsche Maschinenfabrik jahrelang im Ausland gearbeitet und konnte daher die Heimatzeitung nicht regelmäßig lesen. Meine Mutter jedoch war eine eifrige Leserin Ihres Blattes und hat Ereignisse und Reportagen, von denen sie glaubte, dass sie mich interessierten, stets ausgeschnitten und für mich aufgehoben. So hat sie auch Ihren Bericht mit dem Titel „Anna – Eine seltsame Geschichte“, von Ihnen im Jahre 2003 in der HZ veröffentlicht, mit allen Fortsetzungen in einem besonderen Schnellhefter für mich verwahrt.
Meine Mutter ist vor vier Jahren verstorben, aber den Hefter mit der Anna-Geschichte habe ich bei der Haushaltsauflösung gefunden und in Besitz genommen. Und wie erstaunte es mich, im Frühjahr 2019 im Internet lesen zu können, dass die Geschichte nun in einem Buch mit demselben Titel wie Ihr damaliger Fortsetzungsbericht erschienen ist, ich habe es natürlich sofort gekauft und gelesen.
Nach meiner Zeit im Ausland bin ich für meinen Arbeitgeber in Deutschland sehr viel herumgekommen, zuletzt habe ich bis zum Eintritt ins Rentenalter in einem Landkreis weit im Osten Deutschlands gearbeitet und gelebt. Mir hat es dort so gut gefallen, dass meine Frau und ich – ich bin 66 Jahre alt, meine Frau ist acht Jahre jünger, Kinder haben wir keine – vor zwei Jahren einen alten Bauernhof gekauft, im Westen alles aufgegeben und uns in einem für uns neuen Landstrich niedergelassen haben.
Der Hof und die Restaurierung der zugehörigen Gebäude machen uns sehr viel Arbeit, und dennoch finden wir oft die Zeit, die nähere und weitere Umgebung mit dem Fahrrad oder mit dem Auto zu erkunden. Auf einem unserer sonntäglichen Ausflüge haben wir im Mai letzten Jahres eine Gegend entdeckt, in der ein Talkessel mit einer Öffnung nach Süden liegt und der mit dem in „Anna“ geschilderten Talkessel identisch sein könnte, auch deshalb, weil unterhalb des Talkessels ein kleiner Fluss verläuft (in Anna „die Broone“ genannt), der nach einigen Kilometern in einen größeren Fluss (dort „der Medern“ genannt) einmündet. Ferner befindet sich gegenüber der Mündung eine größere Stadt, die nach wie vor nur über eine Fähre von Osten her erreicht werden kann. Sogar eine kleine Stadt, im Bericht Riedburg genannt, gibt es in der Nähe in einem Gebiet, das noch vor zweihundert Jahren ein Ried gewesen, aber im Laufe der Zeit entwässert und kultiviert worden ist und heute mit ausgedehnten Spargel- und Erdbeerfeldern unter Plastikplanen intensiv genutzt wird.
Meine Frau und ich waren uns nach mehrmaligem Lesen der Beschreibung des Talkessels durch Peter und Bruno in der Anna-Geschichte und nach einigen Besuchen oberhalb, unterhalb und innerhalb des Talkessels sicher, den beschriebenen Steinkreis dort finden zu können.
Allerdings hat der Wald, der vor einigen Jahren mit seinem uralten Buchen- und Eichenbestand als Naturwaldreservat einen Schutzstatus erhielt und demnach von jeder Nutzung ausgeschlossen ist, nicht den Namen Eiswald, auch gibt es keinen „Stich“, also keine Straße von der Hochebene in den Kessel, keine Förster-Krantz-Schneise, keinen Waldparkplatz und keine Drei Riegel, nur einen leicht ansteigenden Privatweg von einer den kleinen Fluss begleitenden Bundesstraße im Süden her, der das Befahren mit dem Auto in den Wald hinein nicht zulässt, sodass ich annehmen muss, dass Peter seine Schilderung des Zugangs zum Talkessel mit vielen falschen Beschreibungen ausgeschmückt hat, um das Auffinden des Steinkreises unmöglich zu machen.
Doch ich fand die Steine. Nachdem ich im vergangenen Jahr an einem Sonntagmorgen im Mai mit dem Fahrrad und ohne meine Frau dem Waldweg einige Kilometer von Süd nach Nord gefolgt war, auf einen den Waldweg kreuzenden ehemaligen Wirtschaftsweg stieß, der Zwerchweg genannt werden könnte, legte ich mein Rad einige Meter vom Weg entfernt zwischen hohem Farn auf den Waldboden, folgte dem Querweg ein Stück nach Osten hin nicht allzu weit in den Wald hinein, erreichte einen jungen Fichtenwald, der vor zwanzig Jahren eine Fichtenschonung gewesen sein könnte, drang in ihn ein und konnte mithilfe der GPS-Funktion meines Smartphones nahezu metergenau die zentrale Mitte des Talkessels aufspüren mit dem kleinen Hügel dort, den Bruno „Katzkopf“ nannte und der die sieben Steine einschließt. Nur jetzt im Jahre 2019, also mehr als zwanzig Jahre nach Peters Entdeckung und Beschreibung, musste ich mit meinem Taschenmesser in die Erde stechen, um die flachen Oberflächen der Steine zu finden, sie waren mittlerweile von Erde bedeckt und mit Gras überwachsen. Ringsum wuchsen dicht gedrängt junge Fichten, ein Dickicht aber gab es dort nicht mehr; mögen die Fichten im Jahre 1998 zwei Meter hoch gewesen sein, so sind sie jetzt mindestens acht Meter hoch auf dem Hügel und auf dem flachen Waldboden daneben. Doch es schien mir, als hätte niemand den Hügel erklommen, seit Peter dort gesessen hatte.
Ich erinnerte mich, dass Peter nie nach Brunos Hof gesucht hatte, er brauchte es auch nicht, da Anna und Bruno ihm in aller Lebendigkeit und Deutlichkeit davon berichteten. Doch ich wollte es versuchen, und so suchte ich nach „Ismoorkatrins“ in einiger Entfernung vom Steinkreis, stieß auch auf die lang gestreckte Erhöhung, die Bruno „Katzbuckel“ genannt hatte, doch den Einödhof mit all seinen Gebäuden konnte ich nicht finden, auch die Kapelle zu Ehren der heiligen Katharina nicht und auch keine Reste von Fundamenten; ich nehme an, dass sie im Laufe der Jahrhunderte von der Walderde verschluckt worden sind.
Also konnte ich auch den kreisrund verbrannten Boden nicht finden, von dem Bruno annahm, dass er etwas mit dem Verschwinden seiner Familie mit allem Gesinde und Vieh zu tun haben könnte. Auch bezog sich die Beschreibung Brunos auf Sümpfe und Moore, und jetzt gab es im gesamten Talkessel und rings um das ehemalige Fichtendickicht nur einen alten Wald aus Buchen und Eichen und irgendwo vielleicht noch den einen oder anderen mittlerweile verlandeten Teich, von denen Peter geschrieben hatte, aber die suchte ich nicht, ich hatte ja die sieben Steine gefunden. Und auch die Quelle fand ich, von der Anna im gleichnamigen Buch sagte: „Doch nichts war zu hören außer dem Gemurmel der unweit der großen Steine zutage tretenden Quelle und dem Plätschern des von der Quelle gespeisten Wasserlaufs, der unter dem Gestrüpp und neben den großen Steinen floss und sich einen Steinwurf weit hinter dem Katzkopf in einen kleinen, sumpfigen Tümpel ergoss.“ Ich nahm mit der hohlen Hand vom Quellwasser auf, roch daran und nahm es dann in den Mund, schmeckte vorsichtig das kühle und klare Wasser ab, hatte das Gefühl, dass es mir nicht schade, und trank es und trank noch einmal eine Handvoll davon. Gutes Wasser, dachte ich.
Ich nahm mir vor, im Steinkreis zu graben. Ein wenig anders, als Peter sie beschrieben hatte, bilden die sieben Steine einen Kreis nicht von vier, sondern nur von etwa drei Meter Durchmesser; die Tiefe bis zum Boden, dorthin, was Peter die Kaute nannte, könnten es mehr als zwei Meter sein, darauf hatte ich mich einzustellen. Ich nahm mein Smartphone zu Hilfe und rechnete nach: Drei Meter Durchmesser ergeben eine Fläche von etwa sieben Quadratmetern, bei einer Tiefe von zwei Metern müsste ich bis zum Grund der Kaute vierzehn Kubikmeter Erde bewegen – nein, das schaffte ich nicht alleine und vor allem nicht in zwei, drei Tagen, meine Frau musste mir helfen, und das tat sie dann auch.
Jetzt hatten wir also zu graben, doch da wir eine große Menge Erde auszuschaufeln hatten, würde es nicht verborgen bleiben, wenn wir einige Tage hintereinander mit Werkzeugen auf dem Fahrrad und auf der Schulter durch den Talwald fuhren. Wir nahmen also an einem Nachmittag Anfang Juni zwei Rucksäcke mit zwei Klappspaten, zwei Schlafsäcken, zwei Trinkbechern, vier Räucherwürsten, einem Kilo Roggenbrot, sechs Tafeln Schokolade, zwei Rollen Klopapier und zwei Stoffbeuteln mit, erzählten den Nachbarn, dass wir einige Tage lang einem Freund beim Hausbau helfen wollten, fuhren in den Wald, stellten die Räder weitab vom Querweg unter die Fichten, gingen zum Steinkreis, klappten die Spaten auf und begannen zu graben. Und immer wenn uns dürstete, stieg ich vom Hügel, füllte die Becher, und wir tranken das Quellwasser und waren uns einig, solch gutes Wasser schon lange nicht mehr getrunken zu haben. Mit genügend Trinkwasser und den wenigen Speisen kamen wir drei Tage aus, und meine Frau und ich waren uns auch hier einig, dass das Schaufeln und Graben bei Brot, Wurst, Schokolade und viel Wasser uns eine gesunde Diät verschaffte.
Wir gruben zuerst an drei Tagen hintereinander, hatten etwa einen halben Meter in die Tiefe geschafft und wollten jetzt erst einmal unter die Dusche. Wir nahmen unsere Fahrräder und fuhren nach Hause zum Badezimmer, zur Küche und zum Schlafzimmer, und dann gruben wir noch jeweils drei Tage in den beiden folgenden Wochen und solange die heißen Sommertage noch genügend Licht verbreiteten. Nach des Tages Mühe schlüpften wir in die Schlafsäcke, hielten uns bei den Händen und schauten in den sternenklaren Himmel. Wie sagte Bruno auf seiner Wanderung nach Ismoorkatrins: „Als ich das Klingen und Singen der wandernden Sterne hörte …“, und auch ich hörte es, und als ich dies meiner Frau zuflüsterte, drückte sie meine Hand, sie hörte es auch.
Jeden Morgen nach der Notdurft unter den Fichten, nach zwei Bechern Wasser, nach einem Stück Wurst und zwei Riegeln Schokolade steckten wir die Spaten für jeweils zehn Stunden am Tag in die weiche Erde und warfen sie zwischen die Fichten.
Nach wiederum drei Tagen und nachdem wir fast einen Meter tief gekommen waren, fuhren wir nach Hause, doch wir fanden keine Ruhe, zu neugierig waren wir, etwas zwischen den Steinen zu finden. Da die Grube sehr tief werden würde und die Innenseiten der Steine sehr glatt und ohne Kletterhilfe waren, kaufte ich in einem Geschäft für Abenteuer-Aktivitäten eine fünf Meter lange Strickleiter. So fuhren wir einen Tag später wieder in den Wald, und bevor wir weitergruben, befestigte ich die Strickleiter an einer Fichte, wir würden sie bald brauchen. Als wir auf etwa ein Meter zehn Tiefe gekommen waren, fuhr uns ein Schrecken in die Glieder: Oh mein Gott! Menschliche Knochen! Ja, wir stießen auf ein Stück obere Wirbelsäule und auf Rippenknochen des Brustkorbs, doch es fehlte der Kopf: Wir waren auf ein kopfloses menschliches Skelett gestoßen und stießen gleich darauf auf noch ein zweites, weit kleineres Skelett, ebenfalls kopflos.
Wir krochen aus dem Loch, setzten uns auf einen Hügel aufgeworfener Erde, nahmen einen Schluck Wasser, aßen von der Schokolade, dachten nach und sprachen darüber: Was sollen wir tun? Aber ich wollte nicht aufgeben, meine Frau auch nicht, also warf ich die Strickleiter ins Loch, wir kletterten hinunter und gruben und schaufelten weiter, legten mit nackten Händen und mit zugespitzten Stöckchen vorsichtig die auf dem Boden sitzenden Skelette frei, stießen auf zwei Totenschädel und stießen noch auf das Skelett eines Hundes, eines großen Hundes, wie ich meinte.
Wir sahen uns die Skelette und die Totenschädel genauer an, und ich sagte: „Das zuerst gefundene Skelett scheint von einem mittelgroßen Menschen zu stammen, das andere von einem Kind oder von einem kleinwüchsigen Menschen, denn es ist viel kleiner als das andere Skelett, und die Arme und Beine dieses Menschen waren wesentlich kürzer als die Arme und Beine des anderen.“
„Ja“, sagte meine Frau, „fällt dir aber auch auf, dass das kleinere Skelett ein breiteres Becken hat als das andere? Und siehst du auch, dass einer der Schädel weit größer ist als der andere? Er hat mehr Volumen, finde ich.“
In der Tat, so war es. Doch ob der große Schädel zu dem größeren oder dem kleineren Skelett gehörte, konnten wir auch dann nicht feststellen, als wir einen Schädel nach dem anderen auf die Halsknochen der beiden kopflosen Skelette setzten und sie doch wieder auf die Erde legten.
Als ich mir dann noch das Skelett des Hundes ansah, stellte ich fest, dass zwischen den Rippenknochen ein stark verrostetes Messer mit langer Klinge steckte. Ich zog es aus dem Gerippe, und wir sahen es uns an: eine lange, ehemals scharfe Stahlklinge nur mit Griffkeil, das Griffholz war längst vermodert.
„Wahrscheinlich hat einer der Toten den Hund erstochen, bevor er selbst starb“, sagte ich. „Was meinst du?“
„Mag sein“, meinte meine Frau. „Aber ist es denn das Skelett eines Hundes? Ähnelt es nicht eher dem Knochenbau einer Hyäne? Denk an den Film, den wir im Fernsehen gesehen haben. Oder war es ein Tier, das es heute nicht mehr gibt, da es ausgestorben ist?“
Und wieder kletterten wir aus dem Loch, legten das Messer neben unsere Rucksäcke und besprachen uns. Was ist hier geschehen? Würden wir es ergründen?
„Lass uns die Sache zu Ende bringen“, sagte meine Frau und fing an, die aufgeworfene Erde zu verteilen, sie warf sie aber nicht sehr weit, da wir uns noch nicht schlüssig waren, ob wir sie wieder in das Loch zurückbringen sollten. Ich hingegen sah mich in der Kaute um, in Gesellschaft zweier Skelette von Menschen und dem Skelett eines Hundes, und wusste nun, was ich zu tun hatte: Ich begann zu suchen, vielleicht hatten ja die beiden vor ihrem Tod noch etwas zwischen den Steinen versteckt? Ich schob meine Finger zwischen die Steine, da ich mich erinnerte, dass bereits die von Peter beschriebene Anna eine in Rindsleder verpackte Bibel dort aufbewahrt hatte. Und tatsächlich ertastete ich einen Packen in einer verklebten dickwandigen Plastikfolie … einer Plastikfolie?
Ich konnte es nicht fassen: eine Plastikfolie, die ein Stück Leder umhüllte, das mit Lederschnüren gesichert einen Stoß Papiere schützte. Und dann fand ich noch etwas: Eine luftdicht verklebte postkartengroße, etwa vier Zentimeter hohe Plastikbüchse, in der sich zwei kleine Kartoffeln befanden. Plastikfolie, Plastikbüchse und Kartoffeln! Kartoffeln gab es im 16. Jahrhundert noch nicht in Deutschland, und Plastik gab es auf der ganzen Welt noch nicht.
Nun hatte ich noch die Kugel aus Bernstein zu suchen, und auch sie fand ich zwischen den Steinen.
Ich zeigte alle diese Dinge meiner Frau oben auf den Steinen, die den Kopf schüttelte und sagte: „Da waren Leute vor uns am Werk und nicht lange vor uns. Aber warum haben sie den Packen Papiere in eine Folie verpackt und nicht mitgenommen, warum haben sie die Plastikbüchse hiergelassen, verstehst du das?“
Ich verstand es auch nicht und sagte: „Zu Hause reden wir darüber“, und fotografierte den Packen, die Plastikbüchse, die Kugel und das Messer mit meinem Smartphone, danach reichte ich das Gefundene meiner Frau nach oben, bevor ich aus der Grube kletterte.
„Hör auf zu schippen und setz dich bitte hin“, sagte ich, „ruh dich aus, ich bin bald zurück.“ Denn ich wollte noch die zweite Bernsteinkugel finden, doch nirgendwo gab es einen erkennbaren Pfad, der aus dem Fichtenwald führte und mich zu der Stelle geleiten konnte, wo in den Büschen Bruno und Anna von Peter zu sehen und zu hören waren, da gerade neben den beiden die zweite Kugel versteckt unter Sträuchern gelegen hatte. Wo immer sie lag, ich konnte sie nicht finden.
Zurück bei meiner Frau sah ich, dass sie angestrengt in die Kaute sah, auf den Steinen stehend einen kleinen Schritt nach rechts, einen kleinen Schritt nach links machte und den Kopf schüttelte. Ich stellte mich neben sie und fragte: „Was ist?“, und sie antwortete: „Sieh mal, da ist ein Stückchen, das glänzt wie Gold. Geh noch mal runter und schau nach.“
Ich sah zwar nichts, kletterte aber noch einmal in die Kaute, und vorsichtig neben den Skeletten stehend fragte ich nach oben: „Wo soll ich nachschauen?“
„Neben dem rechten Fuß des kleineren Skeletts, da liegt ein, nein, zwei …“
Neben dem rechten Fuß lagen zwei golden glänzende Teile, ich hob sie auf und …
„Es sind drei“, rief meine Frau, „drei Stückchen“ – und tatsächlich lagen dort drei goldene Teile, die ich aufklaubte und mir genau ansah. „Es sind Goldknöpfe“, rief ich meiner Frau zu, „große Goldknöpfe, vielleicht von einem Mantel.“
Oben auf den Steinen gab ich die Knöpfe meiner Frau in die Hand, sie drehte und wendete sie und nickte mir zu. „Du hast recht, es sind Knöpfe von einem Mantel. Es sind wertvolle Stücke. Aber lass uns nach Hause fahren.“
Wir füllten alles in die Stoffbeutel, die in Leder eingeschlagenen Papiere, das Messer, die Plastikbüchse, die Bernsteinkugel und die Goldknöpfe, und stopften die Becher und die Schlafsäcke in die Rucksäcke. Die Spaten versteckte ich zwischen den Fichtenstämmen, dann fuhren wir mit unseren Fahrrädern nach Hause, die Rucksäcke auf dem Rücken und die Beutel im Fahrradkorb meiner Frau.
Zu Hause angekommen legten wir den Packen Papiere, das Messer und die Bernsteinkugel auf den Küchentisch, legten die Plastikbüchse in den Kühlschrank und sahen uns zuerst einen der Goldknöpfe an. Auf seiner glatten und flachen Oberfläche war ein Zeichen eingeprägt, das mich an eine Rakete erinnerte, während auf der Rückseite eine aus Golddraht gefertigte Öse zum Vernähen des Knopfes angeschmolzen war, alle drei Knöpfe sahen gleich aus. „Es sind große, starke Knöpfe für einen Mantel oder eine dicke Jacke, für ein Kleidungsstück, das längst verrottet ist“, sagte meine Frau, „gut, dass ich sie noch gesehen habe.“Ich drehte und wendete einen der Knöpfe. „Hast du gesehen, dass auf dem Knopf eine Rakete eingeritzt ist?“
„Lass mich mal sehen. Dann ist es eine sonderbare Rakete. Ich denke eher, dass es eine abgestufte Tonne ist.“
Dann sahen wir uns die Bernsteinkugel an: Dort waren wie in „Anna“ beschrieben tatsächlich ein Ohr und ein Auge in den Bernstein eingeritzt, welch ein Fund!
Doch sogleich ging ich in den Keller unseres Hauses und versteckte dort erst einmal die äußerst wertvolle Kugel, die Goldknöpfe sowie das Messer, das ich später einmal vom stärksten Rost befreien wollte.
Wieder in der Küche schnitt ich mit einem scharfen Küchenmesser die Folie auf, löste die Lederschnur und faltete das einer Lederschürze ähnliche Leder auf. Darin waren ein Bündel Einzelblätter, fast alle bis auf zwei leere Blätter und zwei Blätter mit Zeichnungen fliegender Vögel handbeschrieben in einer altertümlichen Schrift, die ich aus Dokumenten aus dem 16. Jahrhundert kannte und die ich ganz gewiss entziffern konnte. Doch was war das? Das Bündel musste in den letzten Jahren schon jemand in der Hand gehabt haben, denn am Bündel war mit einer Schnur ein Schreibstift befestigt.
Ich machte eine Schriftprobe auf einer Zeitung, doch die Schrift war kaum zu erkennen. (Wie ich später in Erfahrung bringen konnte, handelt es sich bei dem Schreibgerät um einen Silberstift, für dessen lesbare Schrift ein besonders behandeltes, ein grundiertes Papier benutzt werden muss.) Jetzt nahm ich mir eines der beiden leeren Blätter vor und machte mit dem Stift ein Zeichen an den linken unteren Rand des Blattes, und ganz deutlich trat das Zeichen hervor. Mir lief ein Schauer über den Rücken: Ganz unzweifelhaft war der Bericht mit diesem Stift geschrieben worden, Papier und Stift gehörten also zusammen.
Ich musste die Texte lesen, dann würde ich mehr wissen. Doch zuerst einmal hatte ich, was ich wollte. Und nun? Ich dachte lange nach und sprach lange mit meiner Frau, ob ich von einer Telefonzelle aus und mit verstellter Stimme am nächsten Tag die Denkmalschutzbehörde des Landkreises anrufen, die GPS-Daten durchgeben und darauf hinweisen sollte, dass an der genannten Stelle einige Skelette zu finden seien.
Doch wir verwarfen den Gedanken – und was soll ich sagen, ich habe bis heute dort nicht angerufen. Hatten wir doch archäologisch bedeutsame Funde aus dem Naturwaldreservat mitgenommen, die wir dem Amt für Denkmalpflege hätten übergeben müssen. Auch hatten wir die Sachen einem fremden Grundstück entnommen und somit Diebstahl begangen. Nein, ich rief nicht an, im Gegenteil, wir fuhren am nächsten Tag noch einmal für zwei Tage in den Wald, nahmen die Spaten aus dem Versteck und warfen die Kaute mit der vorher ausgegrabenen Erde wieder zu. Bevor wir endgültig den Hügel verließen, vergewisserten wir uns, keine Hinweise auf unsere Identität hinterlassen zu haben. Sollte der Forstwirt auf dem für eine Weile graslosen Hügel auf die Grabung stoßen, würde er sicher die Behörden informieren, die dann, neugierig geworden, dort zu suchen begännen. Sollten die Skelette daraufhin gefunden werden, würde es ganz sicher durch die großen Zeitungen und auch durch die Heimatzeitung verbreitet. Wir erführen dann davon, könnten aber ganz sicher nicht als die Urheber der ersten Grabung und als Grabräuber entdeckt werden, doch etwas nervös waren wir schon, und das ist ja wohl verständlich.
Daher ließen wir zuerst einige Tage Ruhe einkehren, erzählten beim Grillfest eines Nachbarn vom Bauwerk eines Freundes und unserer Hilfe dort, und erst acht Tage später fing ich an die Handschrift zu lesen, die damit beginnt, dass die Familie Moormann von Ismoorkatrins entführt und in eine andere Welt gebracht worden ist.
Der Verfasser des Berichts, Martin Moormann, das jüngste Kind der Moormanns, beschreibt ausführlich, wie seine Familie auf einen von kleinwüchsigen, großköpfigen Menschen bewohnten Planeten weit weg von unserer Erde verbracht worden war und wie sie dort lebten. Wie die Entfernungen bewältigt werden konnten, schrieb er nicht, er wusste es auch sicher nicht, es war einfach so, und so hat er es aufgeschrieben. Und er schrieb auch: „Ach ja, eines will ich zu Anfang noch sagen: Auf dieser Welt hier gibt es keine Vögel“, und schrieb, dass er nach Ismoorkatrins zurückgekommen ist, in seiner Begleitung eine junge Frau mit Namen Ki, die den Flug der Vögel sehen und ihren Gesang hören wollte, und ich bin sicher, die beiden sind es, deren Skelette wir im Steinkreis gefunden haben.
Als ich Seite um Seite las und in geltendes Deutsch übertrug – zehn Monate habe ich dafür gebraucht und habe dabei viele altertümliche Redewendungen durch uns verständliche Sprache ersetzt –, drängte sich mir immer stärker der Eindruck auf, als beschriebe Martin Moormann mit seiner Schilderung der fremden Welt den Zustand unserer Erde jetzt und in hundert oder mehr Jahren, aber lesen Sie selbst.
Besonderes Interesse haben auch die beiden Zeichnungsblätter verdient, die von Martins Gefährtin Ki angefertigt worden sind. Beide bilden in Schwarz-Weiß einige fliegende Vögel ab, deren Federkleid kein oder nur wenig Buntes zeigt, ich erkenne eine Elster, einen Star, einen Raben und einen Fischreiher.
Diesen Brief habe ich geschrieben am 15. Mai 2020.
Ich habe zu bemerken:
Der Text des Martin Moormann hatte keine Überschrift, ich gab ihr eine nach einem Wort von Martins Freundin Ki: „Planet der Vögel“. Martin Moormann hat für die Bezeichnung der Vögel diejenigen Namen geschrieben, die er kannte und die zu seiner Zeit gebräuchlich waren. Für sie alle konnte ich die heutigen deutschen Vogelnamen finden, sie habe ich in meinem Text verwendet.
Da die Aufzeichnungen des Martin Moormann kurz vor seinem und seiner Freundin Tod schließen, schließen mussten, habe ich mir erlaubt, die Geschichte zu Ende zu schreiben. Damit zu erkennen ist, dass dieser Text von mir und nicht von Martin Moormann stammt, habe ich dafür eine andere Schriftart gewählt.
Die Originale der Handschrift, wieder eingeschlagen in die Lederschürze und verschnürt, den Silberstift und die drei Goldknöpfe, die Bernsteinkugel, die Plastikbüchse mit den in einem Gas ruhenden, unverrottbaren Kartoffeln und das Messer haben meine Frau und ich bei einem Anwalt unseres Vertrauens in einem Schließfach deponiert, auch haben wir dort eine Landkarte aus dem Jahr 2015 hinterlegt mit den GPS-Daten des Katzkopfs.
Der Anwalt ist beauftragt, all dies zehn Jahre nach dem Tod des Letztversterbenden von uns der zuständigen Denkmalschutzbehörde zu übergeben. Wir sind sicher, dass dann am Katzkopf gegraben wird, um den Schatz der Skelette und vor allem des weiblichen Skeletts und des Hyänenskeletts aus einer fremden Welt zu bergen und zu untersuchen. Auch haben wir den Anwalt beauftragt, Sie, sehr geehrter Herr Henzlich jr., ebenfalls sofort zu informieren, damit die HZ – Die Heimatzeitung als erstes Blatt über die Grabungen berichten kann.
Nachwort:
Als ich Martin Moormanns Bericht gelesen, übertragen und noch einmal gelesen hatte, machte ich mir einige Gedanken über das dort „Huka“ genannte Weltraumfahrzeug, soll solch ein Huka doch mit „Schwerkraftspeichern“ bestückt in der Lage sein, „auf besonderen Pfaden“ gedankenschnell durch unsere Galaxie, die Milchstraße, zu reisen.
Danach haben die Bewohner der „Wosa“ genannten fremden Welt ein Prinzip entdeckt, in ihren Hukas die Schwerkraft ein- und auszuschalten, um einerseits den Flugkörper am Boden zu halten und ihn andererseits bis zu vielen Lichtjahren entfernten Sternen, Planeten, Monden und Kometen in unserer Galaxie fliegen lassen zu können. Auch haben sie mit den besonderen Pfaden die Möglichkeit entdeckt, die riesigen Entfernungen im All in sehr kurzer Zeit zu durcheilen. So konnte ein Huka wie von Martin Moormann beschrieben an einem einzigen Tag von der wohl einige Lichtjahre entfernten Wosa zur Erde und wieder zurück fliegen. Ich kenne niemanden, den ich fragen kann, ob so etwas möglich ist, im Internet will ich die Frage nicht stellen, um nicht verhöhnt zu werden.
So lasse ich es dabei, darüber so zu schreiben, wie Martin Moormann es geschrieben hat, denn beim Lesen des Berichts sind Zusammenhänge erkennbar, die zu eigenen Gedanken anregen.
Wie schrieb Martin noch: „Ach ja, eines will ich zu Anfang noch sagen: Auf dieser Welt hier gibt es keine Vögel.“ Kein Wunder, dachte ich, wer keine Vögel kennt, kann das Prinzip des Vogelflugs nicht ergründen und kann es nicht auf Flugzeuge übertragen; wer keine Vögel kennt wird niemals den Kniff der Evolution entdecken, die Vogelflügel so ausgeformt zu haben, dass beim Fliegen die Luft auf ihrer Oberseite schneller fließt als an der Unterseite und dadurch Auftrieb erzeugt wird. Auch kann kein Hubschrauber und kein Windrad erdacht werden, da diese Maschinen ebenfalls das Prinzip des Vogelflügels nutzen.
Dafür wurde auf Wosa mit sogenannten „Luftfischen“, angetrieben und gerade gehalten durch Luftschrauben, die dortige Welt über große und kleine Entfernungen bereist, und wenn es auch nur darum ging, ein Gebirge zu überfliegen, um an einem Tag Verwandte und Freunde zu besuchen und wieder zurückzukommen. Diese Flugschiffe lagen an einem unweit einer Stadt gelegenen Startplatz, und die Reisenden konnten ein- und aussteigen wie wir heute in einen Zug oder Bus; die kleinen Schrauben hoben das Schiff hoch, und die großen trieben es vorwärts, sie brauchten keine Start- und Landebahn. Zum Vergnügen konnte in einen Heißluftballon gestiegen und über das Land gefahren werden.
Doch Martin Moormann beschreibt auch einen Start eines solchen Luftschiffes, das mit einer Vielzahl von Gelehrten einige Tage lang über die Wosa fliegen sollte, und schreibt, dass aus dem mittleren Rückteil des Schiffes ein Feuer schlug; dies deutet darauf hin, dass auch das Prinzip des Rückstoßes in den Luftschiffen wie auch in den Hukas, dort zum Starten und Landen, bekannt war und mithilfe von dafür geeigneten Motoren für flüssige oder gasförmige Brennstoffe in den jeweiligen Flugkörpern eingesetzt wurde.
Wer meinen Text liest, wird sich wundern über die modernen Ausdrücke und wird sagen, die gab es doch in der frühen Neuzeit noch nicht. Das ist richtig. Aber indem ich sie benutzte und einfügte, habe ich den Text zwar leicht verändert, ihn aber verständlicher gemacht. Auch habe ich der guten Lesbarkeit halber Lesezeichen wie z. B. „Gänsefüßchen“ eingefügt und Hinweise auf die Sprecherin oder den Sprecher gegeben.
Ich will wie Martin Moormann von einer fremden Welt und seinem Leben mit einer Frau aus jener Welt auf der Erde berichten und möchte, dass der Bericht gelesen und nicht vieler unverständlicher Wörter wegen zur Seite gelegt wird.
Hierfür ein Beispiel: Martin hat von einem ihm unbekannten leichten und festen Material das Wort „Atti“ von den Bewohnern des fremden Planeten übernommen. Nachdem ich wusste, was gemeint war, wollte ich es mit „Plastik“ übertragen und damit verständlich machen, aber ich beließ es bei Atti; warum auch nicht, denn jeder Leser der Texte wird schnell erkennen, dass Atti nichts anderes als Plastik ist.
Besonders im Kapitel „Fremde Welt“ habe ich die oft unverständlichen Worte eines Einheimischen und die mühevollen Übersetzungen in die Sprache eines jungen Mannes aus dem 16. Jahrhundert durch Ausdrücke ersetzt, die jedem Leser verständlich sind, als da sind Rakete, Elektrizität, Strom, Brennstoffzelle, Fahrrad und andere.
Noch eines ist mir beim Lesen aufgefallen: Meine Frau und ich haben drei Goldknöpfe gefunden, der Mantel von Martin Moormanns Freundin Ki jedoch hatte vier Knöpfe, sodass, wer immer den Katzkopf noch einmal aufgräbt, den vierten goldenen Knopf finden wird.
PS: Zu den Maßangaben im Bericht: In der frühen Neuzeit entsprach in Deutschland eine Elle etwa 60 Zentimetern, eine Tagesreise etwa 35 Kilometern, eine Meile etwa 7,5 Kilometern.
Entführt
Diesen Bericht habe ich begonnen am 11. August 1546.
Mein Name ist Martin Moormann. Ich bin im Fürstentum Riedburg am Tag der heiligen Elisabeth im Jahre 1525 geboren und habe dort bis zu meinem sechzehnten Jahr mit und bei meiner Familie gelebt. Der Bauernhof meines Vaters, Ismoorkatrins genannt, lag in einem großen, kreisrunden, tiefen Talkessel mit einer Öffnung nach dem Mittagsstand der Sonne hin. Der Hof war umgeben von Feldern und Wiesen, von Sümpfen und Mooren, von Teichen und von einem Wald, der sich an den Hängen des Talkessels und darüber hinaus in eine weite Ebene mit Namen Widefeld ausbreitete.
Ich habe genau wie meine drei Brüder und meine zwei Schwestern von meiner Mutter das Rechnen, das Lesen und das Schreiben gelernt, auf einer Wachstafel mit einem Stift aus einem Hühnerknochen. Wann immer mein Vater ein Amt in Riedburg oder in Widerode hatte aufsuchen müssen, wurde dort vom Amtmann oder einem Schreiber entweder auf kostbares Papier oder auf Pergament mit einem Federkiel geschrieben, der in schwarze Tinte getaucht werden musste. So zu schreiben, konnte ich mir ansehen, als Vater und ich meinen Bruder Bruno besuchten, der, so hoffe ich, noch immer in Riedburg als Schreiber in Fürst Konrads Diensten lebt und arbeitet.
Jetzt schreibe ich selbst: auf Schreibblätter aus handgemachtem Papier – dazu später mehr – mit einem Stift, dessen Blei oder was immer darin ist, so scheint es mir, nie ersetzt werden muss. Wenn ich auch zu schreiben gelernt habe, wird es mir schwerfallen, alle die sonderbaren Ereignisse, die an Martini im Monat November des Jahres 1541 begonnen haben, festzuhalten. Schließlich sind wir an jenem Tag in eine neue Welt gekommen, so fremdartig, dass ich nicht sofort mit Schreiben beginnen konnte.
Nun aber, da wir bald fünf Jahre in der neuen Umgebung leben und ich die letzten drei Jahre unter Anleitung meiner Mutter und nach tüchtigem Lesen in unserer Bibel für Schreibübungen in Ausdruck und Schönschrift genutzt habe, will ich versuchen, das Vergangene und das Gegenwärtige festzuhalten.
Hier in der neuen Welt gilt eine andere Zeitrechnung, aber unserer Zeit und unserem Kalender nach schreiben wir das Jahr 1546 und bei dieser Zeitrechnung will ich bleiben, obwohl, wie später zu lesen sein wird, die Stunden, die Tage, die Monate und die Jahre hier anders sind, als wir sie kennen. Kurz gesagt liegt das daran, dass meine Familie von der Erde, auf der wir gelebt haben, in eine andere Welt, Wosa genannt, entführt worden ist. Hier sind und bleiben wir Fremde, aber wir werden gut behandelt, und das mag daran liegen, dass wir und unser Wissen über den Ackerbau und unsere Weidetiere gebraucht werden.
Nun, das werde ich alles zu schreiben haben; wer später einmal diesen Bericht lesen wird, kann feststellen, dass ich nicht immer im Fortschritt der Tage die Aufzeichnungen gemacht habe. Neues geschieht hier jeden Tag, doch das Vergangene lebt immer wieder auf, bei uns und bei den Leuten, die hier leben und uns hierhergeholt haben.
Ich schreibe „den Leuten“, und das soll aussagen, dass bei aller Fremdheit unserer Umgebung es Menschen sind, die hier leben, ausgestattet mit einem Körper wie wir, mit Kopf, Leib, Armen, Händen, Beinen und Füßen, und ich weiß noch, wie mein ältester Bruder Clees, der nach dem gewaltsamen Umzug gemeinsam mit meinem Vater das Sagen in unserer Familie übernommen hat, den alten Mann, von dem ich noch erzählen werde, danach fragte. Er erhielt die Antwort, dass es in der Natur von Leben überall im großen Weltenraum liege, dass sich die Lebewesen immer weiter wegentwickeln von den kleinen Tieren, denen sie entstammen. Und es sei im Plan jeder Entwicklung von Leben, gerade diese, eben unsere menschliche Form des Lebens zu erreichen, da sie für die Ausbreitung von arbeitenden und denkenden Wesen auf jeder der Erden, die er Planeten nennt – von denen seine Genossen bisher schon vier besucht haben, drei davon menschenleer, da deren Bevölkerung bereits vor ewigen Zeiten ausgestorben sein soll – einzig und allein von Nutzen sei.
Aber darauf komme ich ganz sicher noch zurück, und so will ich meinen Bericht beginnen mit dem Ereignis, das unser Leben in der gewohnten Umgebung beendet hat, ein Ereignis, das sich so gründlich in mein Gedächtnis eingegraben hat, dass ich keine Mühe haben werde, mich an jenen Tag und an jede Einzelheit darin zu erinnern.
Ach ja, eines will ich zu Anfang noch sagen: Auf dieser Welt hier gibt es keine Vögel.
*
An Martini des Jahres 1541, einem Freitag mit Nebel und kühler Luft, saßen wir im Einödhof Ismoorkatrins bei Kerzenschein am Küchentisch. Wir hatten unsere Nachtsuppe gegessen, unser Dankgebet gesprochen und wollten noch eine Weile zusammensitzen, da Vater versprochen hatte, jedem am Tisch aus Anlass meines Namenstages einen halben Becher Wein zu geben.
Am Tisch saßen wir zu zwölft: mein 64 Jahre alter Vater, meine 56 Jahre alte Mutter, meine Geschwister mit dem 34-jährigen Clees, der 32 Jahre alten Katharina, der 31 Jahre alten Antonia, dem 22-jährigen Antonius und ich, Martin, mit 16 Jahren das jüngste der Moormannkinder, sowie unsere drei Mägde Maria, Hildegard und Frieda, 42, 34 und 28 ihrer Jahre, und die zwei Knechte Henn und Andreas, 58 und 36 Jahre alt. Mein Bruder Bruno, seines Alters 29 Jahre, fehlt in dieser Aufzählung, da er, wie ich bereits schrieb, nicht auf Ismoorkatrins, sondern in der Stadt Riedburg lebte und arbeitete.
Gerade als Vater und Mutter vom Tisch aufstanden, Vater um einen großen Krug Wein zu holen und Mutter die irdenen Weinbecher, gerade in diesem Augenblick gab es ein großes Getöse vom Hofplatz her, vielleicht dreißig Atemzüge lang – und dann war es still, ganz still. Nicht einmal Turo, unser Hund, bellte oder jaulte, und keine unserer Katzen miaute. Wir alle sprangen auf, mein Vater gab das für einen Überfall vereinbarte Zeichen, und sofort rannten Mutter, meine Schwestern und die Mägde in die Schlafkammer der Familie und verschlossen das Fenster und die Tür mit Querbalken, während Vater, wir drei Söhne und die beiden Knechte uns bewaffneten. Vater griff nach der Axt neben der Haustür, Clees nahm unsere Armbrust und drei eiserne Schießbolzen von der Wand, und Antonius, ich und die Knechte griffen nach den kräftigen Knotenstöcken im Weidenkorb neben der Haustür, die von der Küche zum Hofplatz führt.
Vater öffnete vorsichtig die Tür, Clees stand hinter ihm, und was die beiden sahen, erschreckte sie so sehr, dass Vater sofort wieder die Tür zuwarf: Draußen, mitten auf dem Hofplatz, stand auf drei starken hellmetallenen Ständern eine riesige Tonne, sicher zehn Ellen im Durchmesser und so hoch, dass die beiden ihr oberes Ende nicht sehen konnten. Die Tonne schimmerte wie das Silberstück, das Vater vor zwei Jahren einem frechen Reiter abgenommen hatte; die Tonne hatte keine Öffnung, Vater und Clees konnten sich nicht erklären, woher sie kam und was mit ihr anzufangen sei.
Wir Brüder und die Knechte standen wortlos in der Küche, stützten uns auf die Waffen und sahen auf Vater, der mit der Axt in seinen Händen eine beruhigende Geste machte: Warten wir eine Weile ab, hieß das. Doch dann öffnete Vater noch einmal die Haustür – und da kamen sie in die Küche, dreizehn kleinwüchsige Männer mit kurzen Armen und Beinen, großen Köpfen und flinken Augen, mit Masken vor Mündern und Nasen und in schwarzer Ganzkörperkleidung in einem von ihnen mitgeführten gelben Nebel, der unsere Glieder erstarren ließ. Wir waren nicht imstande, unsere Arme und Hände zu bewegen, nur die Beine gehorchten uns. Mit Handzeichen bedeuteten uns die fremden Männer, von denen einer ihr Oberhaupt war, dass sie uns nichts zuleide tun wollten, und nahmen uns die Waffen aus den Händen. Einer von ihnen fasste nach dem Messer, das Vater neben seinem Löffel so wie wir alle am Gürtel trug, doch der Oberste schüttelte den Kopf, da er wohl wusste, dass wir die Messer zum Zerteilen unserer Nahrung bei uns trugen, und so ließen sie uns die Messer und die Löffel erst recht.
Der gelbe Nebel löste sich langsam auf, und ebenso langsam gehorchten uns die Arme und Hände wieder. Bei einem jeden von uns Männern blieb ein Maskierter stehen, die anderen gingen, so als ob sie den Weg wüssten, zur Familienschlafkammer. Doch erst als Vater den Frauen zurief, die Tür zu öffnen, kamen Mutter, die Schwestern und die Mägde heraus und in die Küche. Der Oberste schaute in die Kammer, vergewisserte sich, dass niemand mehr darinnen war, und gab Vater ein kleines Gerät mit dem Aussehen einer mit Ruß gefärbten Glasscheibe in die Hand, aus dem in unserer Sprache zu hören war, dass wir so viel als eben möglich an Kleidungsstücken, Wäsche, Bettzeug ohne Stroh und einige Paar Schuhe zusammensuchen und in den Händen halten sollten.
Nachdem die Stimme verklungen war, nahm der Oberste die Glasscheibe zurück und verstaute sie in der Brusttasche seiner Kleidung, und schon gingen die Frauen und Mädchen in die Schlafkammern und kamen bis unters Kinn bepackt zurück, während Vater, meine Brüder und ich und auch die Knechte jeder einige Paar Frauen- und Männerschuhe holten und sie in den Händen hielten. Als Vater dem Obersten mit Handzeichen und einem durch das Zusammenziehen seiner Schultern angedeuteten Frösteln zu verstehen gab, dass noch warme, also Winterkleidung geholt werden sollte, winkte der Oberste mit Kopfschütteln und mit vor seiner Brust bewegten Händen ab, das sei nicht nötig, sie werde nicht gebraucht.
Als wir alle wieder beieinander waren, zeigte uns der Oberste mit starken Handzeichen an, die Küche zu verlassen, auf den Hofplatz zu gehen und die Kleidung, die Wäsche, das Bettzeug und die Schuhe in eine dort stehende große gelbe Kiste aus uns unbekanntem Material zu geben. Auf dem Platz nahm Mutter meine weinenden Schwestern ganz dicht an sich, auch die Mägde standen neben ihr; bei Vater und uns Brüdern standen die Knechte, und ganz nah neben jedem von uns allen hielt sich einer der fremden Männer zur Bewachung auf. Jetzt sahen wir, dass die große Tonne einen Eingang hatte, zu dem ein schräg nach oben weisender breiter metallener Steg führte, auf dem man in ihr Inneres gelangen konnte.
Der Hofplatz war in ein rötliches Licht getaucht, und wir konnten sehen, dass der untere Teil der Tonne etwa zehn Ellen im Durchmesser hatte und ungefähr zehn Ellen hoch war; darüber zeigte sie sich in mehr als doppeltem Durchmesser, und in diesem Teil befand sich die Eingangsöffnung.
Bis jetzt hatte niemand ein Wort gesprochen, keiner von uns und keiner von den Fremden, bis Vater den Obersten fragte: „Was wollt ihr von uns?“ Der sah Vater nur an und zuckte mit den Schultern, demnach konnte er meinen Vater nicht verstehen. Oder er hatte den Auftrag, uns keine Antwort zu geben.
Nun wollten uns die Unbekannten unter Führung des Obersten den Steg hinaufführen, doch Mutter machte sich los und rannte ins Haus zurück, und einer der Männer rannte hinterher, aber schon kam Mutter zurück, unsere Bibel und den Kalenderstock in der Hand. Der Oberste der Männer nickte, und das sollte heißen, lasst sie, ist schon in Ordnung. Dann führten sie uns den schrägen Steg hinauf.
Wie Mutter mir später zuflüsterte, hatte sie noch den Schreibstift in eine ihrer Schürzentaschen gesteckt, den Stift, mit dem meine Schwester Antonia kleine Zeichnungen gemacht hatte auf die einzigen drei Blätter Papier, die ihr unser Vater von einer Reise in die Stadt Kemsellin am Fluss Medern als kostbares Geschenk mitgebracht hatte; den Stift hatte uns ein Wanderer geschenkt, der nach Ismoorkatrins kam, für eine Woche lang unsere Gastfreundschaft mit Essen, Trinken und Schlafen in Anspruch nehmen durfte und uns dafür mit Erzählungen von seinen Wanderungen zu unterhalten hatte.
Im Innern der Tonne gingen weitere Schrägen nach oben, und wir mussten unter Führung des Obersten eine große Strecke durch einige Öffnungen in festmetallenen Zwischendecken immer an der Wand entlang nach oben gehen, bis zu einem runden Raum mit tiefen, stark gepolsterten Sesseln an den Wänden ringsum, in die wir uns auf des Obersten Geheiß zu setzen hatten, auf jeder Sitzfläche lag ein Gürtel mit festem Gürtelschloss.
Vater und Mutter saßen zwischen Clees und mir; ich sah mich um und sah auch nach oben zu einer Öffnung in der Decke über uns, zu der eine Leiter hinaufführte. Dort konnte ich seltsame Gerätschaften erkennen, mit kleinen, aber hellen Lichtern, die in verschiedenen Farben blinkten. Ab und zu sah ich die Beine eines Menschen, der auf dem Deckenboden über uns hin und her ging.
Dann hörten wir, wie unsere Kühe und die Kälber, die Ochsen und der Stier, die Schafe, die Ziegen und die Schweine die Schräge hinauf in die Tonne geführt und dort festgebunden wurden, doch von unseren Hühnern und Gänsen hörten wir nichts, offenbar sollten sie in ihren Ställen zurückgelassen werden. Das konnte Vater nicht zulassen, und er machte dem Obersten einige Zeichen, dass er noch einmal auf den Hofplatz zurückmüsse; also ging Vater mit ihm als Bewacher den langen Weg in der Tonne zurück, ging im rötlichen Licht der Tonne zu den Ställen und öffnete die Stalltüren. Sollte das Federvieh nicht lange seine Freiheit genießen können und der Fuchs und der Habicht es holen, so sollte es doch nicht im Stall verhungern und verdursten, auch löste Vater die Kette von Turo, unserem Hund, der sich voller Angst in seiner Hütte verkrochen hatte und keine Anstalten machte, hervorzukommen; der Hund und unsere Katzen würden schon ohne unsere Fürsorge in Ismoorkatrins überleben.
Als Vater wieder bei uns war, hörten wir, wie zwei von unseren Wagen und einige Großgeräte, ganz sicher dabei die Egge und der starke, tiefgängige Beetpflug mit dem Pflugbaum, in die Tonne gerollt wurden. Ob die Fremden auch die gelbe Kiste in die Tonne trugen, konnten wir zwar nicht hören, waren uns aber sicher, dass die Männer sie nicht zurückließen. Die ganze Zeit über war der Oberste in unserer Nähe geblieben, doch dann stieg er die Leiter hoch und ließ uns allein.
Danach war es eine ganze Weile still. Doch dann kamen die fremden Männer, zwölf an der Zahl und alle ohne Masken, vom Eingang her in unseren Raum, legten uns die Gürtel an und zogen sie fest, die Bibel nahmen sie Mutter aus den Händen und legten sie und den Kalenderstock in eine offene, rot durchgefärbte Schachtel aus eben demselben Material wie die gelbe Kiste, dann kletterten sie, einer hinter dem anderen, dem Obersten nach die Leiter hinauf nach oben, zogen die Leiter hoch und verschlossen hinter sich die Öffnung zum oberen Raum mit einer Klappe. Und sofort danach drang roter Rauch in unseren Raum, der unsere Augen verschloss und uns betäubte.
Ich weiß nicht, wie lange wir in der Tonne zu sitzen hatten, doch als wir die Augen öffnen konnten, gab es den roten Rauch nicht mehr. Die Klappe an der Decke wurde geöffnet, die Leiter heruntergelassen, und die zwölf Männer mitsamt dem Obersten kamen die Leiter herunter. Als alle unten waren, sah ich noch einmal nach oben und sah, dass ein Mann in einem blauen Mantel und in blauen Hosen, eine Schildmütze auf dem Kopf, durch die Öffnung in der Decke den anderen Männern hinterhersah.
Die dreizehn Männer gingen an uns vorüber nach unten, und wir hörten, wie zuerst unsere Wagen und die anderen Geräte aus der Tonne gerollt und dann unsere Tiere die Schräge hinuntergeführt wurden. Es dauerte einige Zeit, aber dann kamen die Männer zurück, lösten unsere Gürtel, gaben Mutter die rote Schachtel in die Hand und bedeuteten uns, aufzustehen und nach unten zu gehen. Die große Tür stand offen, und wir gingen hinaus, gingen den schrägen Steg hinunter – Clees blieb einen Augenblick auf der Schräge stehen, nahm eine Hand über die Augen und sah sich um, bevor er weiterging – und waren wieder zu Hause.
Die Tonne stand auf unserem Hofplatz, die Haustür stand offen, und wir wurden in unsere Küche geleitet. Wir setzten uns an den Tisch, die fremden Männer verließen uns, schlossen die Haustür hinter sich, und dann gab es wieder ein Getöse. Als Clees und ich zur Tür rannten und sie öffneten, um nachzusehen, schlugen Flammen von der Unterseite der Tonne auf den Hofplatzboden, eine nach allen Seiten sich ausbreitende Rauchwolke begann die Tonne zu verdecken, und doch sahen wir, wie sie sich ganz langsam erhob, vielleicht zehn Ellen hoch, sahen wie die Ständerbeine hochgezogen wurden, in der Tonne verschwanden und die Luken dafür verschlossen wurden … und dann war die Tonne weg. Die Rauchwolke kam auf das Haus zu, und wir schlossen die Tür und setzten uns zu den anderen an den Tisch. Noch immer von dem roten Rauch leicht betäubt sprach niemand auch nur ein einziges Wort.
Mutter hielt die Schachtel mit der Bibel und dem Kalenderstock noch immer fest an sich gedrückt, jetzt aber öffnete sie die Schachtel und legte Buch und Kalender auf den Küchentisch, später würde sie die Bibel in die Schlafkammer bringen und Vater bitten, den Kalenderstock wieder an die Wand zu hängen. Zuletzt griff sie in ihre Schürze, nahm den Schreibstift heraus, legte ihn ebenfalls auf den Tisch und murmelte: „Lasst uns ein Gebet sprechen: Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …“, und wir alle beteten leise mit.
Nach einer Weile stand Vater auf, ging zur Haustür und öffnete sie erneut. Durch die weit offene Haustür sahen er und wir alle, dass die Tonne den Boden auf dem Hofplatz kreisrund etwa 30 Ellen im Durchmesser und mehr als eine Handbreit tief weggebrannt hatte.
Die große gelbe Kiste aber stand nahe der Haustür, und sogleich sprangen wir vom Tisch auf und gingen daran, sie auszuräumen und die Wäsche, die Kleidungsstücke und das Bettzeug in die Schlafkammern und die Schuhe in den Raum hinter der Küche zu bringen, dann schlossen wir die Haustür und setzten uns alle wieder an den Küchentisch. Niemand sprach ein Wort, bis Vater fragte: „Versteht einer von euch, warum wir und unsere Tiere zuerst in die Tonne geführt und dann wieder herausgelassen wurden? Und warum unsere Wagen und die Großgeräte zuerst hinein- und jetzt wieder herausgerollt worden sind?“
Die nachfolgende Stille wurde von Clees unterbrochen: „Vater, das hier ist nicht Ismoorkatrins, es sieht nur danach aus. Die Tonne hat uns an einen anderen Ort gebracht.“
Vater wurde ärgerlich: „Ach was. Und woher willst du das wissen, Clees?“
„Zu Hause hatten wir Kühle und Nebel, und hier ist der Himmel blau, die Sonne scheint, und es ist warm. Die beiden Bäume auf dem Hofplatz vor dem Haus sind nicht so alt wie die Apfelbäume auf dem Hofplatz in Ismoorkatrins, wenn sie auch bald zehn Jahre alt sein mögen. Auch ist kein Elsternest im Baum gegenüber. Vater, ich glaube, die Leute hier haben schon vor Jahren damit begonnen, ein neues Anwesen für uns zu bauen und es auf unsere Ankunft vorzubereiten. Außerdem blühen die beiden Bäume, ob es Apfelbäume sind, werden wir bald sehen, jedenfalls sehen die Blüten anders aus. Hier ist also nicht November und später Herbst, sondern Frühling, ich nehme an, hier ist Mai. Vater, habt Ihr die Mauern gesehen rings um das Gehöft?“
Vater schrie auf: „Nein!“
„Doch, Vater, ich habe sie von dem schrägen Abgang her gesehen. Dieser Bauernhof steht mitten in einem großen Wald, und ringsum ist eine hohe Mauer gezogen. Ich sah zwar ein Tor, doch ich nehme an, es ist verschlossen.“
Alle sprachen nun durcheinander, jeder und jede am Tisch hatte etwas anderes gesehen, bis Vater mit einem Klopfen auf den Tisch zu schweigen gebot. Er selbst sagte: „Ihr bleibt hier sitzen – bitte, Frau, auch du –, ich gehe jetzt mit Clees nach draußen“, und er und Clees standen auf.
Sie gingen von der Küche aus in den Großstall und dann weiter; im Großstall stand unser Großvieh auf Stroh und muhte, auf der anderen Seite des Hofplatzes in den Ställen grunzten hinter verschlossenen Stalltüren die Schweine, blökten die Schafe und meckerten die Ziegen. In der Scheune sahen sie den kleinen zweirädrigen Wagen und den großen Vierrädrigen, auch die Großgeräte für den Ackerbau, die Egge und der starke, tiefgängige Beetpflug mit dem Pflugbaum standen auf ihrem Platz. Doch weder Sensen, Sicheln, Rechen und Dreschflegel noch Spaten und Schaufeln gab es an der Scheunenwand, auch unsere beiden hölzernen Schiebkarren mit dem großen Rad standen nicht hinter dem Scheunentor. Links und rechts der Tenne lagerte Stroh, und oben auf dem Stangenboden konnten Vater und Clees eine Menge Heu erkennen.
Dann gingen die beiden zur Schmiede und zur Holzwerkstatt und öffneten zuerst das Tor der Schmiede. Sie war leer, darin gab es keine Esse und keinerlei Werkzeuge wie Hämmer, Zangen, Gesenke und Treiber, und auch der Schraubstock, der Amboss, die Schmiedekohle und der Blasebalg fehlten. Sie schlossen das Tor und gingen zur Holzwerkstatt, öffneten ihr Tor und sahen, dass auch hier alle Werkzeuge zum Zersägen von Baumstämmen, zum Bearbeiten von Balken und zur Herstellung von Brettern sowie alle großen und kleinen Sägen, die Hämmer, Beile, Äxte, Hobel, Handbohrer und die vielen Arten der Stemmeisen und Stechbeitel nicht vorhanden waren. Doch lagerte ein große Menge Feuerholz, gebrauchsfertig gesägt, gespalten und ordentlich aufgesetzt an der Außenwand der Holzwerkstatt.
Dann gingen Vater und Clees zurück zum Haupthaus, gingen durch die Küche in den rückseitig angelegten Garten und um das Haus herum auf den Hofplatz zurück, der sich zwischen Haupthaus, Scheune, Stallungen und Werkstätten erstreckte und zu einem großen mit Pflastersteinen befestigten Platz führte, der an drei Seiten an der Mauer endete.
Vater fragte: „Clees, weißt du, was fehlt?“, und Clees gab zur Antwort: „Der Brunnen fehlt, unser Uhrturm fehlt und die Kapelle der heiligen Katharina auch. Wie viel Uhr wird es sein?“
Vater sah nach dem Stand der Sonne und sagte: „Es ist kurz nach Mittag.“ Dann besah er sich die große gelbe Kiste, befühlte sie, fasste sie am Rand, um sie hochzuheben, und wunderte sich, dass sie nicht sehr schwer war. Er sah Clees an. „Dieses Material kennen wir nicht, es ist kein Holz und kein Eisen. Sag den Knechten, sie sollen die Kiste in die Holzwerkstatt bringen, dort ist genug Platz dafür. Übrigens, aus diesem Zeug ist auch die Schachtel, die Mutter bekommen hat.“
„Ein sonderbares Zeug. Vater, habt Ihr das kleine weiße Haus hinter der Holzwerkstatt gesehen? So ein Haus gab es auf Ismoorkatrins nicht.“
„Nein, Clees, das habe ich nicht gesehen. Komm, sehen wir es uns an.“
Vater und Clees gingen nun hinter die Holzwerkstatt zu dem weißen Bauwerk. Es maß etwa sechs Ellen im Geviert und war etwa acht Ellen hoch, hatte ein flaches, grasbewachsenes Dach, aus dessen Mitte ein metallener Mast mit einem querliegenden silbrig glänzenden Rohr an der Spitze und mehreren ebenfalls metallenen Stäben aufragte; es gab eine Tür, aber keine Fenster, und vor der Tür über die gesamte Breite des Hauses war eine Platte aus silbrig glänzendem Eisen in den Boden gelegt, aus dem Inneren hörten sie ein leises Brummen. Vater wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen, und einen Schlüssel konnten sie nicht finden. Clees besah sich die Eisenplatte sehr genau. „Ich nehme an, die Platte ist hierhingelegt, damit man nicht mit dreckigen Schuhen in das Haus geht. Also werden wir fragen, was es mit diesem Haus und dem Brummen darin auf sich hat“, sagte Clees.
Vater sah sich um. „Wen wollen wir fragen?“
„Da wird schon mal einer uns besuchen kommen, Vater. Warten wir es ab.“
Vater sagte noch: „Clees, du hattest recht. Dem Bewuchs auf dem Dach nach wurde dieses Haus und demnach dieser gesamte Bauernhof schon vor einigen Jahren gebaut. Trotzdem denke ich, dass noch niemand vor uns hier gelebt hat.“
„Vater, der Hof wurde allein für uns gebaut. Wir sind hier an einem anderen Ort, in einem Wald auf einer Ebene und nicht in einem Talkessel. Was meint Ihr, müssen wir um unser Leben fürchten?“
„Das werden uns die nächsten Tage zeigen. Doch der Aufwand mit der großen Tonne deutet eher darauf hin, dass wir hier eine Aufgabe zu erfüllen haben. Welche, das werden wir noch erfahren. Schade, dass wir nicht mit Bruno reden können, wir werden ihm eine Botschaft schicken, meinst du nicht, Clees?“
Clees sah Vater in die Augen und schüttelte den Kopf. „Für unseren Brief werden die keine Tonne auf den Weg bringen. Nein, Vater, Ismoorkatrins und auch Bruno sind uns für immer verloren.“
„Und wo sind wir jetzt? Weit weg von Ismoorkatrins sicher nicht, nach der kurzen Zeit, die wir in der Tonne verbracht haben.“
„Hier ist es warm, und hier könnte Frühling sein. Bruno hatte mir mal erzählt, dass hinter einem großen Gebirge gegen Mittag hin ein Land liegt, in dem es wärmer ist und andere Früchte wachsen als im Fürstentum Riedburg. Vielleicht sind wir dort? Wir werden es erfahren, Vater.“
Dann gingen Vater und Clees auf die Mauer zu, die etwa so hoch wie das kleine weiße Haus war und ein großes Tor ohne Türschloss hatte; sie gingen die Mauer entlang und sahen, dass sie nicht weit entfernt vom Haus und seinen Nebengebäuden in einen Wald und auf der entgegengesetzten Seite aus dem Wald heraus zurücklief.
„Ein Wald mit hohen Bäumen umgibt diesen Hof, ein großes Stück davon gehört zum Hof und ist von der Mauer umschlossen“, sagte Vater, „Äcker gibt es hier nicht, die werden wir dem Wald abtrotzen und dann bewirtschaften müssen. Ich denke, wir werden bald etwas zu hören kriegen.“
Später standen alle männlichen Ankömmlinge auf dem Hofplatz und sahen sich um. Einiges war anders, und Vater schickte mich in die Küche, die Frauen zu rufen. Ich kam mit ihnen auf den Hofplatz, nach einem Blick ringsum sagte Mutter: „Es ist kein Mist in der Mistgrube. Wer hat denn die Grube so sauber gemacht, dass man meinen könnte, sie sei gerade frisch gemauert worden? Und ich habe mich umgesehen: In der Küche gibt es nichts, keinen Topf, keine Pfanne, keine Schüssel, keine Teller, keine Löffel, nichts, nichts. Dafür hängt neben der Tür zum Hofplatz eine große Scheibe aus schwarzem Glas an der Wand, die hatten wir gestern noch nicht.“
Clees nahm Mutters Hände. „Liebe Mutter, Ismoorkatrins ist an diesem Ort nachgebaut worden, und einiges ist hier anders als dort. Die große Tonne …“
Mutter unterbrach ihn: „Und noch etwas ist anders: Alle Fenster im Haus haben durchsichtiges Glas und können geöffnet und wieder geschlossen werden, auch Klappläden gibt es. Habt ihr das noch nicht gesehen?“
Vater schüttelte den Kopf. „Nein, Frau. Und das sind wirklich Glasfenster, wie sie bei den großen Herrschaften am Marktplatz in Riedburg seit einigen Jahren üblich sind?“
„Genau so. Doch du wolltest noch etwas sagen, Clees.“
„Ja, Mutter. Die große Tonne hat uns hierhergebracht, und hier werden wir nun leben müssen. Aber wo sind wir hier?“
Mutter sah Vater an, sie wollte eine Antwort von ihm, und Vater sagte: „Frau, dies alles sieht aus wie unser Hof im Tal, wie Ismoorkatrins, doch um dieses Haus hier mit allen Nebengebäuden und dem Garten gibt es hohe Mauern mit nur einem großen Tor, wir sind eingeschlossen.“
Mutter schlug die Hände vors Gesicht. „Eingeschlossen? Wir sind eingeschlossen? Und jetzt?“
„Und jetzt, Frau, müssen wir sehen, wie es weitergeht. Wir wollen zuerst aber dankbar sein, dass wir alle noch am Leben sind.“ Dann schaute Vater in den Himmel. „Es wird noch eine Weile dauern, bis es Abend wird, aber wir wollen schon unser Nachtlager bereiten. Katharina, geh mit Antonia und den Mägden in die Scheune, dort ist Stroh genug für die Bettsäcke. Frau, hast du dich umgesehen? Was ist mit den Schlafkammern?“
Mutter gab zur Antwort: „Es gibt zwei Schlafkammern, eine für uns und die Kinder und eine für die Mägde und die Knechte, genauso wie …“ Sie begann zu weinen, trocknete mit der Schürze ihre Tränen und sagte mit fester Stimme: „Und auch für alle Bettgestelle ist gesorgt. Aber woher wussten die, wie es bei uns in Ismoorkatrins aussieht?“
Vater zuckte die Achseln. „Ob wir das je erfahren werden?“ Und fuhr fort: „Auch ihr Knechte macht euch an die Arbeit. Unser Vieh muss gefüttert und gemolken werden. Heu ist genug in der Scheune, aber es gibt keine Schiebkarren, und ihr müsst es in die Arme nehmen und den Tieren bringen. Doch zuerst müsst ihr nachsehen, ob ihr zwei Melkeimer und zwei Melkschemel findet. Und du, Frau, sieh nach, ob du einen großen Topf findest für eine Suppe, wir alle haben Hunger.“