Plasmen - Céline Minard - E-Book

Plasmen E-Book

Céline Minard

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Beschreibung

Die Zeit der Menschen geht zu Ende. Aus den Tiefen der Asphaltgruben, in denen die Knochen von Urtieren sieden, steigen heiße Blasen auf, die wie unser Planet kurz vor dem Bersten sind. Die Erdkruste bricht auf und die entfesselten Gewalten reißen alles mit sich: sämtliche Vorstellungen von Menschheit und Menschlichkeit, Geschlecht, Macht und Moral. Céline Minard lässt vor uns eine faszinierende Kosmos-Vision erscheinen. Sie beschreibt das unendlich Große – den Walzer von Mond und Erde, die Bewegungen tektonischer Platten und meteorologische Umwälzungen – ebenso wie das unendlich Kleine – die Metamorphose der Insekten, die Wellen nach einem Steinwurf und die Genmutation: Ein Präparator legt versehentlich eine unbekannte Dimension frei, in der Asche der Welt keimt unheimliches neues Leben und in einem Zirkuszelt springen die letzten Kunstturnerinnen Salti vor den kalten, ungläubigen Augen der Kameras. Während der letzte Romantiker aussterbende Schmetterlinge auf verblassende Karteikarten bannt, hilft eine forsche Wissenschaftlerin der ersten Kreuzung aus Pferd, Wolf und Schleimpilz auf die Welt. Was sich schauerlich anhört, ist in Wirklichkeit viel mehr: der blanke Horror.

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Céline Minard

Plasmen

Aus dem Französischen von Milena Adam

Inhalt

In der Luft

Schneekugeln

Tar Pits

Casino Baldo

Große Hunde

Große Affen

Steinehüpfen

Uiush

Große Tiefen

Die Kuīn

Brigham, das ist doch Unfug!

Erzähl uns eine Geschichte, alter Mann

oder alte Frau, von anderswo

oder du, alter Teiresias, zirpend wie eine Grille

erzähl uns eine Geschichte, die ein rechtes Ende hat

statt immer wieder von vorn zu beginnen

und dadurch ein Wirrwarr schafft

das naturgemäß weder etwas Besonderes verfolgt

noch etwas auf sich folgen lässt

sondern in der Schwebe bleibt

und sich seelenruhig in den Schwanz beißt.

Ursula K. Le Guin

Tanz am Rand der Welt

In der Luft

Der Saal summt elektrisch. Sie alle sind da, warten im Dunkeln, Kameras auf Stand-by, Sensoren ausgeschaltet, im Stillstand, seitdem sie der Reihe nach, einer nach dem anderen, Platz genommen haben, schweigend, regungslos.

Galván steht auf der Startplattform, aufgewärmt, gedehnt, bebend erwartet er den Lichtstrahl, der ihm den Anstoß geben wird. Er weiß, wie er die zwanzig Sekunden zwischen dem Anspringen des Scheinwerfers und dem Absprung verbringen wird. Mit geschlossenen Augen, konzentriert auf das allmähliche Verschwinden des Phosphens, das durch die Spots ausgelöst wird, die ihn erfassen und in den kommenden fünfunddreißig Minuten nicht mehr loslassen werden. Wenn alles gut geht.

Rodric klettert weiter unten auf der anderen Seite hinauf, er kann ihn hören. Léna wird in wenigen Sekunden im hellen Licht zu ihm stoßen. Sie wird sich auf seine Schulter stützen, um die Stange zu erreichen. Dann werden sie alle drei das gemeinsame Klicken von dreitausend reaktivierten Sensoren wahrnehmen.

Galván atmet mit Hingabe, er zählt. Sein Schweiß beginnt, unter den Achseln, in den Kniekehlen und im Kreuz seinen Einteiler zu durchnässen. Der Stoff bläht sich unmerklich auf, die Belüftung wird in Gang gesetzt. Er trauert seinem antiken Leotard aus Graphen nach, der stets schon vor Ende der Aufwärmphase zu stinken begann. Doch kein Mensch darf sich mehr ohne seine vernetzte elektro-organische Hülle bewegen. Sie verarbeiten alle Daten, ununterbrochen. Und jetzt, an diesem Abend, ist nicht der Moment, um dem zu entkommen.

Die dreitausend Bjorgs im Parkett sind deshalb hier, um Informationen zu sammeln, auszuwerten und weiterzuverarbeiten. In Echtzeit und unter nachgebildeten Realbedingungen.

Die Geräte sind stilecht, das Netz spannt sich zwölf Meter unterhalb der Plattformen, vier über dem Sägemehl und dem Sand, mit denen die Manege bedeckt ist, als wäre man wirklich dort. Die Ränge wurden angepasst. Statt Sitzen eine sich als sacht ansteigende Spirale um den zentralen Kreis windende Rampe aus biegsamem Kunstharz, die sie bis zu ihren jeweiligen Haltepunkten hinaufgerollt sind. Die Messdifferenzen sind unerheblich.

Mechanische Beobachtung ist kein Thema mehr. Galván kennt den langen Weg der Bjorgs hin zur fließenden Bewegung. Die Versessenheit der Menschen, später dann die der Modularen, mit der Behändigkeit der Lebewesen gleichzuziehen. Schon vor langer Zeit wurden die menschlichen Rekorde vernichtend geschlagen. In jeder Disziplin. Sie springen, schwimmen, fliegen, werfen, höher, weiter, tiefer, sie schlagen stärker, sie laufen schneller. Auf weichen Stahlkufen dienen die minimal ausgestatteten Bjorgs als Köder für ihre Hunderennen. Mit den erforderlichen Einstellungen, um die Hunde bei der Stange zu halten und sie schneller, immer schneller ihrem Ende entgegenzuhetzen.

Sie haben Tausende davon verbraucht, bis sie die kritische Schwellenzone auf einen Punkt reduziert haben. Präzise, unüberwindbar. Die Analyse der Bjorgs ist effizient.

Die Strickleiter schwingt gegen das Metall des Gerüsts. Léna klettert schwerelos hinauf, scheint das Hanfgeflecht hinaufzufließen, das sie trägt, nimmt eine Stufe nach der anderen, ohne innezuhalten, steigt über die Plattform hinaus und springt darauf. Sie berührt Galván an der Schulter, der Scheinwerfer überflutet sie. Sie greift nach der Stange, hält sie in ihrer Hand, wärmt sie auf. Galván hat die Augen geschlossen. Rodric befindet sich ihnen gegenüber auf dem Trapez, sitzend, in Bewegung. Seine Unterarme sind bis zu den Ellenbogen puderweiß. Seine Reckriemchen glänzen matt. Er wippt hin und her, in der Schwebe auf einer Pobacke und einem Schenkel, die Beine schwingend. Das Lichtgespenst hinter Galváns Lidern ist verblasst, an den Kniekehlen hängend, Schultern und Kopf entspannt, legt Rodric mit jedem Hin- und Herpendeln an Geschwindigkeit zu. Er liebt diesen Augenblick. Die schrittweise Umkehrung der Ausrichtung seines Körpers. Diese Minute der Aufstellung, der Wiederannäherung mit der Positur, der Verankerung in seinen Schenkeln, der Präsenz seines Schädels, dem Kribbeln in den Fingern. Er genießt das, er ist bei sich, stabil, ein Fänger.

Und Galván hält plötzlich die Stange in den Händen. Vollführt seinen kleinen Startsprung, Beine und Fußspitzen gestreckt, und hebt ab. Ohne Pauken und Trompeten, die einzigen Geräusche kommen von den Geräten, den Körpern, dem Atem, den Erschütterungen und dem Wind. Seit dem ersten Schwung pfeift er ihm um die Ohren. Arme ausgestreckt, ummantelt, Beine auf dem Rückschwung parallel zum Boden legt er an Kraft zu, macht sich leicht und dann in gleichem Maße schwer, nimmt den Druck auf, lässt ihn kommen und wieder abfallen, führt seine Figur aus. Ein doppelter Salto, an dessen Ende Rodric ihm »Gib!« zuruft, und er gibt ihm seine Hände, sein Herz, sein Leben mit ein und derselben Bewegung. Ein kurzer Blickwechsel zwischen ihnen und dann kehrt Galván mit einer anderthalbfachen Schraube zurück. Ausholend, bedächtig, ein rasender Spazierflug. Alles in allem zehn Sekunden Leben. Die Plattform erzittert unter der Autorität seines wiedergefundenen Gewichts. Da steht er, in seinem Element, im Vollbesitz seiner Möglichkeiten, bei klarem Verstand, in Hochform, und denkt nur daran, sie wieder zu verlassen. Aber Léna ist mit dem Trapez davongeflogen, er wird auf sie warten müssen. Sie erklimmt das zweite Trapez, schwingt hinab, die Fußspitzen jeweils an einem Ende der Stange, sie wartet auf den Höhepunkt, lässt los, fällt, senkrecht, Beine geschlossen, Arme lang, Handflächen zusammengelegt, und streckt ihre Knöchel Rodric entgegen, der sie ergreift.

Er hält sie fest, Kopf nach unten, voller Wasser, voller Blut, er spürt den Widerstand in Lénas Beine hinabsteigen, die mit ihren Fingern die Luft streicht und sie zu zeichnen, aufzureißen scheint, er hält sie fest, um sie wieder abzuwerfen, ihr als Schwung mitzugeben, was sie ihm mit dem Aufprall übertragen hat, der sie beide nach hinten und nach vorn gerissen hat, er wirft sie ab, die Stange schneidet in seine Schienbeine, Galván hat die Stange zurückgeworfen, Léna schwingt sich über sie hinweg, vollführt eine Schraube und an ihrem Ende eine Wendung. Ihre Hände sind riesig. Alle Venen sichtbar. Sie lächelt nicht, als sie wieder auf der Plattform landet. Das musste sie nie. Das ist keine Aufführung. Hier sieht nicht eine Spezies einer anderen zu – und geht einfach wieder. Außer ihnen dreien weiß niemand, was sie an diesem Abend tun.

Das Trapez schwingt sechs Mal leer, während Rodric den an seinem Gurt befestigten Magnesiabeutel öffnet, die rechte Hand hineinsteckt, ihn wieder schließt und einen pulvrigen Wirbel entlang der von ihm beschriebenen Kurve, seinem Ambitus, seinem Revier, sich ausbreiten lässt.

Die Bjorgs sind abgedichtet, unempfindlich gegenüber Feinstaub.

Da ist Galván, bereit, den Dreifachsalto zu springen, wie er seit Jahrhunderten, seit der Antike gesprungen wird. Seine Technik ist tadellos, routiniert. Die Bjorgs, die Fünf- oder Sechsfachsalti beherrschen, sind noch nie über ihn hinweggekommen, seine Kunst, vielleicht seine Angst. Die Schwankungen seines Adrenalinspiegels, der ganz zu Beginn des Absprungs in die Höhe schießt, in der Drehung des Körpers wieder sinkt und sich in der Figur einpendelt, stabiler als ein Schwerpunkt, während er um sich selbst kreist wie um eine unverrückbare Achse, um im Moment der Begegnung wieder anzusteigen, kurz bevor er den Fänger endlich hört, spürt, sieht, seine Augen wie zwei nach innen gekehrte Seen, übervoll mit Leben, mit zurückgehaltenen Tränen.

Auch über Rodric sind sie nicht hinweggekommen. Über das, was sie über den Abgrund hinweg verbindet und ihren Messungen entgeht. Der Kräfteberechnung, der Strömungsmechanik, der Chemie.

Er macht seinen Sprung und schwingt zurück. Rodric klatscht in die Hände. Léna springt wieder ab. Mit einem nüchternen, sehr reduzierten Satz verschwindet sie von der Plattform, die einzige Anstrengung, die sie aus sich selbst hervorzubringen, aus ihrem Körper, ihrer ureigenen Kraft zu ziehen scheint, der einzige Akt, der ihren Willen offenbar werden lässt, durchschlagend und kompakt wie ein Geschoss. Die Bewegung, nach der alles gesagt ist, obwohl sich noch nichts abgespielt, nichts stattgefunden oder Gestalt angenommen hat außer in ihrem Fleisch und auch in der Luft, die sie trägt. Sie geht über die Figur hinaus, die sie vollführen wird. Nur mit ihrer Schwebe beschäftigt, die Hände umschließen die Stange, unbeweglich in der Bewegung des Geräts, der sie umgebenden Masse an Gas. Nicht sie bewegt sich, sondern die Elemente um sie herum. Die Stange, der Fangstuhl, das Netz, das Gerüst. Sie lässt sie zu allen vier Richtungen hin los, versetzt sie in Drehung, fängt sie im Fall wieder auf, legt sie ab, wirft sie erneut, versetzt sie in Aufruhr und kehrt mit der Stange in ihren Händen zurück, die Plattform unter den Füßen, die Stange in ihren Händen, die Schwerkraft in der Erde, die Luft in ihrem Mund.

Léna ist keine Fliegerin, das Fallen geht sie nichts an.

Den Bjorgs gelingt es nicht, ihren Abwesenheitsgrad zu quantifizieren.

Galván ist in Position für den Vierfachen. Er holt Luft und stößt sie ihm Sprung aus. Immer das Gleiche, ein Seil, ein Verbund aus Stäben und elastischen Bändern, eine gestählte mentale Verfassung, ein harter Blitz, der zum Kreisel wird und sich in das Raumvolumen hineinwirft, nicht greifbar, völlig unerreichbar, nicht aufzuhalten. Dieser Moment ist es, der ihn fliegen lässt. Die Sekunde, die Zehntelsekunde, in der die Bewegung einsetzt und von ihm Besitz ergreift, ihn mitreißt, als wäre er die Welle im Ozean, die Urgewalt, der Kontakt. Viel weniger als ein Zeitraum, eine Ewigkeit. Woraufhin ihm Rodrics Arme seinen Körper zurückgeben, Rodrics Augen seinen Flug bezeugen, und die Stange sein Gewicht.

Die Bjorgs berechnen ununterbrochen seine Dichte neu.

Sie suchen den Bruch. Wenn er sich nicht zeigt, werden sie ihn herbeiführen.

Léna klettert auf Galváns Schultern. Sie springt den Vierfachen von einem anderen Standpunkt aus, hoch oben. Er hält das Trapez in ihrer Reichweite über seinen Kopf, wartet darauf, ihre Faust neben seiner zu spüren, bevor er loslässt und sich auf den von ihrer Abwesenheit verursachten Rückstoß vorbereitet. Ein Federgewicht, das losgeht wie ein geladenes Gewehr. Sie ist abgesprungen. Galván rüttelt an den Stahlseilen, an denen er sich festhält. Léna hat sich abgestoßen. Sie öffnet die Beine am Ende der ersten Pendelbewegungen, um den ersten Sinkflug zu beschleunigen, steigt über ihn hinweg, sehr hoch, sehr weit, auf der Höhe ihrer Fahrt nun im rechten Winkel, ihre Füße streifen unter der Stange ihre Hände, dann beginnt sie wie aus dem Leerlauf ihren zweiten Sinkflug, in der Luft sitzend, sich allmählich auseinanderfaltend, plötzlich aufrecht, mitgerissen, aufgesogen vom Anstieg stößt sie in die Geschwindigkeit vor. Am höchsten Punkt ihrer Flugbahn, bevor die Energie aufgehoben und umgepolt wird, öffnet sie die Finger und beginnt. Der erste Salto ist der von jeder und jedem, er kommt als geballte Faust in die Welt, mit zusammengepressten, gierigen, verstopften Lungen, so sicher wie der Instinkt einer jahrtausendealten Spezies, der nächste holt Atem und geht vom Leben zum Leben über, in dem er die Gestalt wechselt, die Knie gespreizt, der dritte beschleunigt, durchbricht die Wände, den Schall, das Licht, und den vierten schlägt Lena um die Schaukel ihrer Kindheit als Mensch, bevor sie in den Sturz selbst hineinspringt, sich in ihm einrichtet, sich treiben und fallen lässt, spürt, wie ihre Arme sich strecken, abheben, halten und die Kraft in Rodrics Schultern zersprengen. Dann bedauert sie, dass er so hartnäckig zur Stelle ist, der Fänger.

Dass er sie nicht Drehung um Drehung, Fall auf Fall ihre Bahn ziehen und sie schließlich ihren Lauf nehmen lässt. Jenseits des Bodens, frei von ihrem Halt, ihrer Dynamik, dem Mantel, der geflochtenen Hülle, die die soeben verflüchtigte Bewegung durchquert hat. Nicht zu fassen.

Die Bjorgs suchen den Bruch, ohne ihn zu sehen.

Sie betrachtet Rodric, die Klarheit, die schwarze Iris, die langen Wimpern, sie lächelt, sie wird wieder springen.

Zwei Pirouetten warten auf halber Strecke, zweieinhalb Pirouetten. Irgendwo der Bruch und die regungslosen Bjorgs.

Schneekugeln

Sie sind schwer. Liegen kühl in der Hand. Es sind die drei letzten, sie stehen in Regal XVIII der Digitalischen Vitrine des Konservatoriums. Die drei letzten weltweit. Ihr Gewicht verändert sich nicht, doch ihre Temperatur steigt an, wenn man sie ausreichend lange berührt. Um zwei oder drei Grad, genug, um den Unterschied zu spüren. Diese Erwärmung findet unabhängig vom gewählten Szenario statt, doch niemand kommt umhin, eine Verbindung zwischen dem, was sich im Innern der Kugel abspielt, und dem sich in den hohlen Handflächen ausbreitenden Gefühl herzustellen. Die Pilze, die explodieren, sodass sich ihre Rauchwolke und ihre nebelhafte Cuticula gegen die halbflüssigen Glaswände drücken, sind allerdings nicht immer ockerfarben oder rot. Doch so wie eine Milchwolke eine Tasse Tee abkühlt, erhitzt ein Atomblitz die Erde. Das ist eine vererbte, epigenetische, unwillkürliche Vorstellung. Und die Darstellung von Fakten zeigt Wirkung, wenn sie jene miniaturhafte Genauigkeit erreicht, zu der es die Erfindergeneration dieser Digitalischen Modelle gebracht hat.

Als Helen die Kugel aus beweglichem Glas, groß wie ein Kulturapfel, zum ersten Mal in der Hand hielt, machte sie während des Hochfahrens eine ungeschickte Bewegung. Es war eine Art reflexartiges Aufschrecken, als sie sah, wie sich mit einem Mal die Hälfte der Kugel, der Erde, erhellte und sie Afrika erkannte, in blaues Wasser und weißes Licht getaucht. Weder die Form des Kontinents war es, die sie überrascht hatte, noch seine schlagartige Erleuchtung, sondern das Vorhandensein der dunklen Nilader und der Fläche Kairos, ein klar hervortretendes Ginkgoblatt am Rande der Wüste. Sieben Minuten nach Beginn der Animation hatte sie zugesehen, wie der Fluss sich verengte, verblasste, und die Stadt unterging. Auf der dunklen Seite der Kugel konnte sie durch die Wolken hindurch das elektrische Sternbild Amerikas ausmachen, den Wurmfortsatz Florida, die strahlenden Krater von New York, Philadelphia, Baltimore, Atlanta, die drei schwarzen Löcher der großen Seen, die wie aus dem strahlenden Raster von Chicago, Detroit, Toronto und Ottawa ausgestanzt schienen. Zwischen Houston und Minneapolis war das Netz klar und in Vierecken geordnet, von üppigen, teilweise strömenden Schwaden bedeckt, in den Rocky Mountains wurde es weitmaschiger, und plötzlich erstreckten sich Los Angeles, San Francisco am Rand des Abgrunds, an die Küste geklammert, mit feinem Gold geädert.

Auf dem Meer, auf einer Geraden und einer Senkrechten, häuften sich Hunderte ununterscheidbare Fischtrawler in ihrem jeweiligen Radius, eingezwängt in Hoheitsgewässer, aufgereiht, in Position, auf Beute lauernd. Gleich zu Beginn der Animation wurden sie weggeblasen, ausgelöscht mit den ersten Küstenstädten. Nur wenige Minuten nachdem sich aus dem polaren Marmor unter der vergehenden Watte des schwebenden Wassers riesige Eisblütenblätter lösten, die sofort von einer starken Strömung erfasst wurden und bald schwanden, zersplittert in Milliarden Vorboten des Frühlings, der Blütezeit. Helen hatte schon bei ihrer ersten Betrachtung die faszinierende Leichtigkeit der Bewegung erkannt, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie aufeinander folgten. Die versprengten und über die Ozeane gewehten Eispollen hatten fahle Erde hinterlassen, gespickt mit vulkanischen Blütenschäften, die auf ihr Erblühen drängten. Die grauen Rauchschwaden mit roten Untertönen stoben auf, aschebedeckte Flüsse aus schwarzem Schlamm flossen berstend die Hänge hinab und ließen Gesteinsschmelze zurück, um als feurige Staubblätter zischend das Wasser zu erreichen und lange Gasstiele sprießen zu lassen, die der Wind einstrich. Die vulkanischen Blumen entfalteten sich daraufhin überall, wo der Samen verborgen lag, wuchsen aus der Erde, dem Wasser, aus tiefen Aushöhlungen und dem Grund von Grabenbrüchen. Am helllichten Tag entzündete sich Sibirien, stoben Funken aus Amazonien, entflammte Kalifornien. Inmitten der Wüste fingen Ölfackeln Feuer, ganze Reserven verbrannten, um die schwarzen Blütenkronen fossiler Brennstoffe freizusetzen. Die Braun- und Rosatöne der verkohlten Pflanzen sammelten sich in üppigen Wirbeln, die in einem Tanz der Zyklone mit heißem Herzen erfasst, fortgezogen, eingewickelt wurden. Sie überquerten den Atlantik, strichen über den Erdboden hinweg, reihten in einem fort ihre Figuren, ihren strudelnden Wandel aneinander, ließen ihre salzbeladenen Aronstabhülsen in den Raum zwischen Wasser und Glas gleiten. Ganze Sträuße davon.

Und die Zeit ging vorüber. Das Innere der Kugel verschwand zeitweise in einem homogenen, mit Flocken gesprenkelten Aerosol. Dann hielt man eine Rauchkugel in der Hand, zerbrechlich wie eine Seifenblase und genauso leer.

Der Staub der Blütezeit fiel zu Boden. Langsam setzte er sich ab, legte sich auf die reglosen Oberflächen, akzentuierte das Relief, überzog die Ebenen, kennzeichnete die Flüssigkeiten. Alles war grau und schwarz, bedeckt von einer dicken Staubschicht, einem Teppich unregelmäßiger Fraktale, durchsetzt mit Braun, durchzogen von Weiß. Winde zogen darüber hinweg und setzten die Böden neu zusammen. Die Gezeiten durchmischten Fels und Asche mit Sand. Die Glut erstickte in der Nachtzone, bis sie völlig erloschen war. Die Wolken verloren an Masse und formten sich neu, heller, wuschen das Land ausgehend von den Gipfeln sauber. Berge verschoben sich, die großen Flüsse gerieten in Unruhe, schwollen an, schoben Schwemmland vor sich her und durchbrachen Sperren, um sich in die Meere zu ergießen. Die schmutzigen Ströme hellten sich auf. Und das Grün erschien. Stellenweise erst, bis sich die Flecken über die Landmassen ausbreiteten. Durch Kapillarwirkung nahm es dem ehemaligen Raster des Lichtnetzes folgend die Ostküste Nordamerikas bis zur Mitte des Kontinents ein, folgte Flüssen in ihrem Lauf, lief über Ebenen hinweg und erklomm Berghänge. Der Nordteil Eurasiens warf sich einen lückenlosen hellen Mantel über, um Australien wuchs ein Saum, Afrika fand sein Herz wieder, Südamerika eine Kappe, ein Kleid und Federschmuck. Und weiterhin wüteten die Wirbelstürme, hellten sich die Ozeane auf und verschlangen Inseln und Küsten. Als der Sand aus dem Schaum hervorzutreten begann und sich als blonde Kontur um die Ufer legte, als die Lagunen im Kaspischen Meer erschienen, die Mangroven an der Spitze Somalias, die Korallenriffe vor Australien, hielt Helen die Animation an. Es war allgemein bekannt, wie es weiterging. Ihre Zuhörerschaft konnte die Erwähnung der Ereigniskette in jener Spätantike nicht mehr ertragen. Der Überdruss, seltener die Wut, machte sie taub für diese historische Zeitspanne.

Sie stellte die Kugel zurück in das Regal XVIII der Vitrine und schlug zwei ihrer bevorzugten Studentinnen vor, beide verbliebenen Digitalischen Modelle zeitgleich einzuschalten. Den fahlen Mond und den staubigen Mars. Die Hypothesen von einst.

Sie sahen also den Trabanten und den roten Planeten sich mit winzigem Leben füllen, das jeweils auf wenige Krater beschränkt war. Zunächst auf dem Mond, mit den Lebensstrukturen, Bohrungen und Aufbauten im Schnellverfahren, dann wenige Minuten später auf dem Mars. Die Atomreaktoren, Sonnenkollektoren, Wasser- und Sauerstoffblasen, Treibhäuser, Eingänge zu Wohntunneln, die Rover- und Schwärmerparks, die bald Hunderte Hektar einnahmen. Die Daten dieser als »Installation« bekannten Zeit waren noch immer verfügbar. Genau wie ein paar Dutzend Berichte von Entdeckern, für deren unbeholfenen Enthusiasmus Helen eine Schwäche hatte. Kein Mensch damals war in der Lage, seine Emotionen angesichts der Valles Marineris zurückzuhalten, des Grabenbruchsystems, das neunmal tiefer war als der Grand Canyon. Der Mars war dem Umfang nach klein, doch er war dramatisch, exzessiv und für aerobe Lebensformen grundsätzlich ungeeignet. Die zuerst entsandten Menschen waren Ingenieure, Forscher und Wissenschaftler in optimaler körperlicher Verfassung und mit geringer Neigung zu passiver Kontemplation. Sie hatten Daten, Versuchsbeschreibungen und mehr oder weniger vorläufige Schlussfolgerungen geliefert. Doch die zweite Bevölkerungswelle war weniger homogen. Sie war es, von der jene näherungsweisen Berichte stammten, die Helen so schätzte und die sie seit zwei Jahrzehnten diesen jungen Menschen näherzubringen versuchte, die sowohl die Erde als auch den Mond und den Mars lediglich als Anschauungsmaterial kannten. Wie vermittelt man jemandem, der noch nie eine der Schwerkraft unterliegende Umgebung betreten hat, dass das Erklimmen eines Hangs eine Anstrengung ist, die erbringen zu müssen keinen Erdling verwunderte? Wie kann man ihn die Verwirrung des Hobbybergsteigers nachfühlen lassen, der sich am Rand der Caldera des Ulysses Tholus wiederfindet, beseelt von seiner Leistung und der Landschaft, die er überblickt, doch zutiefst frustriert darüber, eingesperrt in seinem Anzug zu sein, ohne den er seine vitalen Funktionen nicht erhalten könnte? Wie erklärt man das paradoxe Gefühl in seinem Innern, in seinem Fleisch und in seinem Wissen? Ganz da zu sein, lebendig, im Vollbesitz seiner Kräfte, erregt von den Endorphinen, in einer Umgebung, die er gerade durchquert hat und die ihn innerhalb von fünfzehn Sekunden töten würde, wenn er dem Impuls nachgeben würde, sein Visier hochzuschieben, nur um einmal tief durchzuatmen. Jemandem, für den das Außen schon immer irrespirabel und unwirtlich war, dürfte die Sehnsucht nach einem einladenden, offenen Raum völlig fremd sein. Es sei denn, es handelt sich um eine ererbte Vorstellung, wie es für manche »der Garten Eden«, für andere »die Natur« gewesen war. Für die Exilierten war es »die Erde«.