Mit heiler Haut - Céline Minard - E-Book

Mit heiler Haut E-Book

Céline Minard

4,9

Beschreibung

"Über-die-Ebene-fließendes-Wasser", ein Indianermädchen, dessen Familie zusammen mit ihrem gesamten Stamm getötet wurde, schlägt sich alleine und ziellos durch die Prärie. Hier trifft sie auf eine Siedlerfamilie, die sich auf den beschwerlichen Weg in den Westen gemacht hat, um dort ihr Glück zu suchen. Bald schließen sich weitere Abenteurer dem Treck an, und ein praller Western mit wilden Schießereien vor spektakulären Landschaften und voller extremer Charaktere nimmt seinen unerbittlichen Lauf. Céline Minard hat mit diesem Überraschungserfolg eine neue Art des Western erfunden: weiblich, humorvoll, leichtfüßig und funkelnd literarisch. Eine große Autorin, die wie nebenbei auch das männlichste aller Genres, das des wilden Westerns, souverän beherrscht.

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Céline Minard

MITHEILERHAUT

Roman

Aus dem Französischen

von Nathalie Mälzer

Unablässig rollte der Planwagen voran. Hinten lag die Großmutter und schrie mit aller Kraft gegen die Erde und die Stöße an, gegen die Luft in ihren Lungen.

Wenn sie nicht im Tiefschlaf lag, fühllos für die Welt, taub, blind und endlich stumm, dann schrie sie ihre Wut in den Stofftunnel, den sie schon zu Beginn der Reise, als sie sich hineingesetzt, ihren »ersten Sarg« genannt hatte.

Seit Wochen ernährte sie sich nur noch von einer Art Weizenbrei. Einem Brei, der immer heller und dünner wurde, den sie aus ihren persönlichen Vorräten machte. Aus dem einzigen Sack, den sie sich vorbehielt und eifersüchtig hütete, indem sie den Kopf darauf bettete wie auf ein Kissen. Obwohl ihr Weizen schnell verdorben war, hatte sie alle andere Nahrung verweigert, abgesehen von kleinen Fischen, die das Mädchen fing, wenn der Weg einen Fluss entlangführte. Schimmel hatte sie nie davon abgehalten zu essen. Ihre Mutter, nach der sie in ihrem Greisinnenwahn nun lauthals rief, ihre Mutter, eine gute Pflanzenkennerin, hatte empfohlen, zu bestimmten Jahreszeiten davon zu essen. Den Schimmel vom Roggen oder vom Weizen. Im Frühsommer, im Spätherbst. Dieses Wissen, das sie bröckchenweise weitergab, vermengte sich mit den Erinnerungen an ihr Dorf, das sie vor über sieben Jahrzehnten verlassen, bevor sie sich, erst sitzend, dann liegend mit dem Planwagen ins letzte Exil begeben hatte.

Wenn der Weg ihm Gelegenheit bot, setzte sich das Mädchen zu ihr in den Wagen und betrachtete die Landschaft. Den Rücken gegen die bewegliche Plane gelehnt und die Hand auf den Füßen der in die Decke gewickelten Alten hörte sie zu, wie die Frau ihre seit fünfzig Jahren tote Mutter in dieser Sprache, die sie nur allmählich verstand, anschrie, um die Erlaubnis anschrie, endlich das Reich zu betreten.

Schon seit Wochen, seitdem der Planwagen in die Ebenen vorgedrungen war, mussten die beiden Söhne und der Enkel das abwechselnde Schweigen und Zetern der Greisin erdulden. Brad, der Ältere, ertrug es mit Langmut, wie ein feindseliges Element oder ein Geheimnis der Natur. Nicht weniger gelassen nahm er die Hagelstürme und kurzen Gewitter hin, von denen sie gelegentlich gestriegelt wurden. So wie er die Lektionen und deftigen Abreibungen über sich hatte ergehen lassen, die sie ihm früher verpasste. So wie er ihren Händen sein täglich Brot entwendet hatte, bis er in der Lage gewesen war, es selbst zu ernten, zu backen oder zu verdienen. Sein Sohn, Josh, versuchte jedes Mal, wenn das Geschrei wieder anfing, zu Fuß oder zu Pferd einen großen Vorsprung zu gewinnen, was Brad nicht weiter wunderte. Es wäre ihm nicht im Leben eingefallen, darüber zu urteilen. Genau wie er nicht darüber urteilte, dass das Mädchen, das sie viele Meilen von ihrem Ziel und ihrem Ausgangspunkt entfernt am Fuße einer großen Kiefer kauernd vorgefunden hatten, sich so leicht an ihr Leben anpassen konnte.

Die Dinge, Leute und Ereignisse kamen, wie er selbst zur Welt gekommen war, und er musste sie hinnehmen.

Vor sechs Monaten, kurz bevor sie in die Ebenen vorgedrungen waren, hatte die Kleine, an ihren Baum gelehnt, reglos beobachtet, wie sie sich näherten. Sie aß etwas, das sie eilig hinunterschluckte, bevor sie in Reichweite kamen. Sie hatte die Ochsen und die drei Männer angesehen: Jeffrey, den anderen Sohn der alten Frau, der auf dem Sitz hockte, Josh, der sein Pferd an den Zügeln hielt, und Brad, das Schlusslicht, der sich mit seinem Hut die Fliegen aus dem Gesicht wedelte. Als sie gerade an dem Mädchen vorbeifahren und es zurücklassen wollten, ohne ihm mehr als einen wachsamen Blick zu schenken, heulte im Planwagen plötzlich die Großmutter los wie ein Kojote. Die Kleine hatte ein wenig geblinzelt, sich aber nicht gerührt. Die anderen waren erschauert, als wäre ein kalter Luftzug über sie hinweggeweht. Und das Kojotengeheul, das am Fuße der Kiefer begonnen hatte, hatte sich an diesem Tag den ganzen Weg über fortgesetzt.

Josh hatte das Weite gesucht. Jeffrey hatte sich Wachskugeln in die Ohren gestopft, die er in seinem Hutband aufbewahrte. Brad hatte sich mit Geduld gewappnet. Das Mädchen hatte gewartet, bis sich der Gesang über eine beträchtliche Distanz ausgerollt hatte. Dann war es aufgestanden und hatte beschlossen, der Klangspur zu folgen, die von der verzerrten und ihr doch irgendwie vertrauten Stimme gezogen wurde.

In der Abenddämmerung hatte es sich dem Lager mit Holz unterm Arm und einem toten Kaninchen genähert. Josh, der durch die Prärie getrabt war und nun zurückkehrte, hätte sie beinahe umgeritten. Die Nacht hatte sich gesenkt; als sie das Pferd hörte, blieb ihr gerade noch Zeit, sich hinter ihr Reisigbündel zu ducken – er hatte sie nicht gesehen.

Die Großmutter brüllte noch immer, sie hatte an dem Abend gebrüllt, bis das Gesicht des Mädchens in der Öffnung des Planwagens erschien. Erst da hatte sie den Mund geschlossen und die Hand nach den schwarzen Haaren des Kindes ausgestreckt. Sie hatte es mit ihren brüchigen Fingern berührt, ihr die Zunge herausgestreckt und war dann schlagartig eingeschlafen.

Brad fragte sich nicht, woher das Mädchen kam. Seine Vergangenheit war eingeschrieben in die Form seiner Augen, in die Größe der Schwielen an seinen Füßen und in die hastigen Bewegungen, mit denen es die Beute häutete. Seine Vergangenheit begleitete es und erlaubte ihm, in einer Wüste mit verdorrtem Gras den Überresten eines Gesangs zu folgen. Vielleicht erlaubte sie ihm auch, die Kojoten zu besänftigen. Wenn es regnete, ließ er es unter dem Planwagen schlafen.

Es trug eine Tunika aus Stoff, die ihm bis zu den Knien reichte. Die Tunika war ebenso abgewetzt wie Joshs Hosen, der so selten wie möglich vom Pferd stieg. Auf Höhe der Taille steckte, von einem geflochtenen Gürtel ohne Schnalle gehalten, ein Messer. Das Mädchen aß wenig und schnell, es pflückte allerlei kleine Früchte, die es sich meist fürs Abendessen aufhob. Josh weigerte sich beharrlich, davon zu probieren. Er hatte gesehen, wie rasch Brad eingeschlafen war, nachdem er eine der schwarzroten Beeren gekostet hatte, die so herb war, dass ihm der Speichel floss. Zwar schrie die Großmutter weniger, wenn sie ein paar davon geschluckt hatte, doch wurde sie nicht geheilt – wer wird schon vom Altwerden geheilt? Er blieb misstrauisch. Seitdem sich das Mädchen hinter sein Reisigbündel geduckt hatte, in dieser Prärie, wo selbst der kleinste Kuhhaufen so deutlich zu sehen war wie ein Zinken im Gesicht, war Josh auf der Hut und stets darauf bedacht herauszufinden, wo es sich gerade aufhielt, wenn er zum Lager zurückkehrte. Näherte er sich dem Planwagen, ohne es erspäht zu haben, wechselte er vom Trab in den Schritt.

Stieß er zu den anderen, nachdem er sein Pferd gehobbelt hatte, und dann das Mädchen am Feuer sitzen sah, spuckte er und blickte ihm auf die Stirn oder auf die Hände, aber nie in die Augen. So ging das jeden Abend, bis das Mädchen ihn einmal so perfekt nachahmte, dass Jeffrey in schallendes Gelächter ausbrach.

Vermutlich hätte es Schläge gehagelt, wenn Brad Josh nicht angefahren hätte, er solle sich setzen und essen. Was er auch tat. Dreißig Meilen flussaufwärts hatte er eine Furt entdeckt, die der Planwagen überqueren konnte. Seit drei Tagen hatte er sie gesucht und das Flussbett mit eigenen Füßen erkundet, um sein Pferd nicht in Gefahr zu bringen. Tags zuvor war er plötzlich in ein Wasserloch in der Mitte des Flusses gesunken und verdankte sein Überleben bloß dem Ast einer Gelbkiefer, der zwischen zwei Felsen klemmte. Dabei hatte er einen Stiefel verloren. Doch statt halb gestiefelt zurückzukehren, schleuderte er den anderen ans gegenüberliegende Ufer. Der Fluss war zwar breit, aber der Stiefel war sicher auf der anderen Seite gelandet. Außerdem hatte er eine Staubwolke gesehen, die sich von Ost nach West auf eben jene bewaldeten Berge zubewegte, auf die auch sie zusteuerten. Ungefähr drei Tage Fußmarsch entfernt befand sich offenbar eine kleine Herde, ein Treck oder eine Gruppe Menschen, die recht zügig vorankam. Er ließ sich Zeit, bis er das erzählte. Er goss sich Kaffee ein und wich Jeffreys Blick aus. Er wusste, dass sein Onkel sein halbes Hemd hergegeben hätte, um endlich mit jemandem ein Glas zu trinken oder die andere Hälfte beim Kartenspiel zu verlieren. Normalerweise hätte er ihn davon unterrichtet, aber dieser Volltrottel hatte sich gerade über ihn lustig gemacht, davon abgesehen konnte er an der Farbe des aufgewirbelten Staubs nicht erkennen, um was für eine Gruppe es sich handelte. An ihrer letzten Station hatten die Kerle von ein paar beeindruckenden Vorfällen und finsteren Gesellen berichtet, von denen keiner unbewaffnet war. Josh war nicht darauf erpicht, irgendwelche Bekanntschaften zu machen. Insgeheim dachte er, dass es sogar besser sei, Leute zu meiden, bis man die Stadt erreichte. Sofern das möglich war.

Jeffrey bot ihm eine Kelle Eintopf an, die Josh jedoch ablehnte. Er goss sie in den Topf zurück, legte die Kelle auf die Steine und spuckte zwischen seine Füße auf den Boden.

»In deinem Alter hätte ich nie eine Kelle Eintopf zurückgewiesen.«

»In meinem Alter hast du noch Hühner gefickt.«

Jeffrey lächelte. Er stand langsam auf und räkelte sich, die Fäuste im Rücken. Dann ging er auf den Planwagen zu und sprang mit einem Satz hinein, dass die Pfosten wackelten. Sie hörten ihn in den Kisten wühlen und dabei etwas grummeln. Als er wieder hervorkam, baumelte ein Schatten an seiner rechten Hand. Er warf Josh das Ding zu, das vor seinen Füßen landete. Es waren fast neue Bergstiefel, die sich sein Onkel für die Abende mit den großen Trinkgelagen aufgehoben hatte.

»Damit wirst du vielleicht meinem Beispiel folgen, wenn wir die Stadt erreichen.«

Josh war rot geworden und hatte sie mit einem leise ins Feuer gemurmelten Danke entgegengenommen. Der Verband um seine Füße nutzte ihm nicht viel, seit er keine Stiefel mehr hatte. Die Steigbügel hatten sich tief in seine Haut geschnitten, sodass er sie hatte hochziehen und die Fersen in die Flanken der Pferde pressen müssen. Heute Abend fühlten sich seine Oberschenkel an wie Baumstämme.

Brad bedeckte den Kochtopf und erhob sich, als Joshs Pferd plötzlich zu wiehern begann. Das Tier war für gewöhnlich sehr ruhig, daher waren sie sofort in Alarmbereitschaft. Unter den Rädern des Planwagens neigte das Mädchen den Kopf zur Seite, um zu horchen. Das Pferd schnaubte und schüttelte die Mähne. Es herrschte tiefe Stille, in der sie das Rascheln genau hören konnten. Darauf folgte ein hastiges Getrappel, der dumpfe Atem einer Flucht durchs Gras, woraufhin das Mädchen auf die Fährte eines gehetzten Tieres deutete, das von der Prärie verschluckt wurde.

Brad fiel die Kelle aus der Hand. Sein Bruder löste die linke Hand vom Kolben seiner Waffe und ließ sie neben sich sinken. Josh atmete auf. Dann erhob er sich, schlüpfte in seine neuen Bergstiefel und sah nach dem Pferd. Er tätschelte es am Hals, zwischen den Nüstern und gab ihm eine der wilden Möhren, die er in der Tasche hatte. Trotzdem zuckten die Ohren des Pferdes noch lange hin und her.

In derselben Nacht, nur etwas später, hatte das Mädchen ein Unheil abgewendet, unter großem Risiko, das es ohne Zögern auf sich genommen hatte. Josh, der Zeuge dieser Tat geworden war, hatte daraufhin nie wieder ins Feuer gespuckt, wenn er abends ins Lager zurückkehrte. Von da an rief er es bei seinem Namen: Xiao Niù.

Im Unterholz stand die Luft und hallte wider vom Galopp der Pferde, die die Männer durch die Kiefern mit ihren scharfkantigen Stämmen trieben. Das Getrappel glich dem satten, leichten und seidigen Klang einer Trommel, während die Männer lautlos über den Boden hinwegrannten. Kaum hatten sie den Wald verlassen, dehnte sich das Hämmern der Hufe über die ganze Ebene aus, setzte sich fort in die Prärie und schwoll weiter an. Sie brachten die Kiesel ins Rollen, als sie den Fluss durchquerten, die Tiere sprangen bebend durchs Wasser, das aus seinem Bett aufspritzte. Sie erklommen den Hang, ohne langsamer zu werden, ihre Lungen pfiffen wie Lokomotiven, ihre Hufe knallten gegen die Steine, dass die Funkengarben nur so sprühten. Sie überwanden den Kamm und stürzten wie im Flug hinab ins Tal zwischen den aufwirbelnden Erdklumpen. Allmählich nahm das Geräusch ab und verebbte schließlich, zu Zebulons großer Erleichterung, der gerade unter einem Salbeibusch schlief. Er wäre nur äußerst ungern entdeckt oder noch länger gestört worden. Friedlich schlummerte er vor sich hin, überzeugt, das Schläfchen verdient zu haben. Seitdem er vor zwei Wochen auf Sues Rat den Saloon von Owensboro überstürzt verlassen, zwei Pferde den Aasgeiern überlassen und sich dazu durchgerungen hatte, nur noch nachts, im Schutz der Dunkelheit, weiterzugehen, hielt er es für sein gutes Recht, sich hin und wieder ein erquickliches Mittagsschläfchen zu gönnen, und zwar wo und wann er wollte – schließlich war das hier ein freies Land.

Zebulon hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung von der Freiheit. Die beiden Taschen, die er mit sich schleppte, hätten dies jedem beweisen können. Sie waren schwer.

Nachdem die lärmende Herde vorbeigezogen war, hob er den Kopf von seinen Lederbeuteln, setzte sich auf und schob den Hut in den Nacken. Während er sich umblickte, rieb er sich die Wangen und gähnte. Er hatte Durst, er hatte Hunger, wie immer, seit er unterwegs war. Doch allein der Gedanke, irgendeinem Wild zu folgen und es zu erlegen, ermüdete ihn. Er brauchte ein Bad, etwas zu trinken und ein echtes Bett mit Laken, Decken, Kopfkissen, vor allem aber eine richtige Mahlzeit. Am besten von einer Frau zubereitet – auch wenn er einen Kerl aus den Tafelbergen, einen Ute-Indianer, kannte, der zwar spindeldürr war, aber wie kein zweiter Pozole zubereiten konnte. Einfach unvergleichlich. Schwerfällig stand er auf, klopfte sich den Staub von der Kleidung, griff nach den Taschen und warf sie über die linke Schulter. Im Laufe der vergangenen Wochen hatte er ihr Gewicht nach und nach perfekt austariert und sie in eine vergleichsweise bequeme Position gebracht, um sie über weite Strecken auf dem Rücken tragen zu können. Außerdem konnte er so jederzeit nach seinem Peacemaker greifen, den er über der rechten Hüfte trug: den Hahn auf die einzige leere Kammer abgesenkt und den Kolben auf halber Höhe zwischen Ellbogen und Handgelenk.

Langsam stieg er zum Fluss hinab, um zu trinken, bevor er den gegenüberliegenden Hang erklimmen und den Reitern folgen würde. Da er zu Fuß unterwegs war, würde er sicher den gebotenen Abstand zu ihnen wahren.

Über-die-Ebene-fließendes-Wasser hatte keine Eltern, sie waren verbrannt.

Über-die-Ebene-fließendes-Wasser hatte keinen Wigwam, er war zerrissen.

Keine Vorräte, sie waren dahin.

Keine Tränen, sie waren versiegt.

Über-die-Ebene-fließendes-Wasser sah niemanden mehr, weder Weiße noch Lenape, Kickapoos, Hirsche oder Wölfe. Sie folgte ihrem Weg durchs hohe dichte Gras. Er war unauflösbar verwoben mit den Hängen, dem Wind, den Geistern, Bränden und Begegnungen, die sie machte, und denen, die sie mied. So abenteuerlich sein Verlauf sein mochte, war er doch in nichts dem Zufall überlassen.

Sieben Monde, bevor sie den Gesang der Kojotenmutter gehört hatte, war sie auf die Spur eines verletzten Mannes gestoßen. Sie hatte ihm täglich aufgelauert und war ihm gefolgt, bis sie sich ein Bild von seiner Schwächung gemacht und ihn eingeholt hatte.

In ein eigenhändig gegrabenes Staubloch gekauert, hatte der fiebernde Mann beobachtet, wie sie sich ihm näherte. Die ganze Zeit über hatte er mit den Fingern in der Erde gescharrt und in einem fort geredet, unentwegt denselben Satz wiederholt, der schließlich angefangen hatte, über seinem Hut zu kreisen, und nachdem der Hut heruntergefallen war, über seinem Kopf zu kreisen wie ein Fliegenschwarm. Ständig hatte er ihn wiederholt, bis seine aufgesprungenen Lippen ihn nicht mehr hatten aussprechen können, bis seiner Kehle nur noch ein heiseres Krächzen entstiegen war. Da sie das Geräusch sehr gut kannte, ging sie auf ihn zu. Während sie sich näherte, berührte ihre Hand das Messer. Sie lag nur leicht auf dem Knauf, aber ihr ganzes Wesen war angespannt, horchte auf den leisesten Atemzug. Obwohl er weit weg war, spürte er ihre Konzentration. Sie war wie ein Lichthof, eine warme Kugel, die entschlossen auf ihn zukam, jedoch ohne Hast. Er fühlte den Augenblick, als die Kugel ihn in sich aufnahm, als Über-die-Ebene-fließendes-Wasser sich über seine staubige Stirn beugte, er hielt ihn in seinem Geist fest wie ein Wunder, wie die Erfüllung seines Lebens. Sie spuckte ihm ins Gesicht und hielt die Messerklinge an seine Gurgel. Ihre Handbewegung war so behänd gewesen, dass er seinen Tod kristallklar vor sich sah. Seine Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln. Blitzschnell schnitt sie die Knöpfe seines Hemds und seine Hosenträger durch, bevor sie sich wieder in die Gräser schlug.

Dann hatte sie die Knöpfe wie eine Kriegstrophäe an ihr langes Lederkleid genäht und jeden mit einer Feder vom Eichelhäher geschmückt.

In der Dämmerung hatte sie nachgesehen, ob der Mann noch lebte. Er lebte. Sie hatte seinen Hut aufgehoben und war erneut in der Prärie verschwunden. Nachts war sie ein zweites Mal gekommen und hatte den Hut mitgebracht, der übervoll mit Wasser war. Der Mann war wieder zu Bewusstsein gekommen. Er hatte wie ein Tier getrunken und die Flüssigkeit vorsichtig zwischen seinen schmerzenden Lippen eingesogen. Er hatte den Mond gepriesen, der auf dem Grund seines Hutes schwamm. Er hatte die Erde gepriesen. Und er hätte wohl auch die Indianerin gepriesen, wenn sie sich nicht schon wieder fortgestohlen hätte.

In den Tagen nach seiner Beraubung beschloss Gifford, das ihm in Form eines Liters Wasser in einem schmutzigen Hut wieder geschenkte Leben anzunehmen. Die Botin zu ehren und zu fürchten, ihrer Lehre zu folgen, seine eigene Geschichte zu vergessen und endlich in die Welt zurückzukehren, neu zu beginnen.

Als Erstes ließ er seine Oberbekleidung zurück, da ihr ohnehin die Knöpfe fehlten, und fand sich in Hemd und langen Unterhosen in der Ebene wieder.

Dann begann er zu frieren. Um etwas dagegen zu tun, sammelte er Holz, schichtete es auf und zündete es an. Das Streichholz hatte er aus einer Schachtel gezogen, die er für Notfälle in seinen alten Taschen aufbewahrte. Als das Feuer kräftig loderte, legte er Hose, Hosenträger und Hemd aus seinem früheren Leben hinein und sah zu, wie sie brannten. Das Wollhemd widerstand dem Feuer am längsten. Mehrmals musste er Holz nachlegen, erst wegen des Hemds, dann wegen der Dämmerung. Schließlich setzte er sich vor die Flammen und streckte die Hände nach der Wärme aus, voll Glück über die Elemente, dass es sie gab, dass sie da waren, hier und jetzt mit ihm.

Er wartete auf die Indianerin.

Er betrachtete seinen Hut, um wie am Tag seiner Wiedergeburt darin den Mond zu erspähen. Die Gedanken waberten wie Nebelschwaden durch seinen Geist. Doch sie kam nicht. Schließlich schlief er ein, mit angezogenen Beinen um einen warmen Stein gekauert, den er aus dem Feuer geholt hatte, den Rücken zur Nacht. Vier Tage wartete er, ohne etwas anderes zu tun, als Holz zu sammeln und das Feuer zu schüren – wie auf einem Opferaltar. Hunger verspürte er schon lange nicht mehr. Wenn er barfuß durch die Prärie lief, hatte er das paradoxe Gefühl, fest verwurzelt zu sein und gleichzeitig über einem Algenmeer zu schweben, das von der Strömung mal in die eine, mal in die andere Richtung getrieben wurde. Durch das Fasten fühlten sich seine Beine an wie lose mit dem Rumpf verbundene Rohrstöcke. Lang und spröde, mit verkehrt angeordneten Kniegelenken, wie bei den Stelzvögeln: Sie gehorchten ihm nicht mehr. Hin und wieder schlüpfte er für kurze Zeit aus seinem Körper.

Am fünften Tag sah er die Indianerin durch die Flammen. Sie kam auf das Feuer zu. In den Händen hielt sie drei große weiße Eier mit schwarzen Punkten. Sie setzte sich neben ihn, legte die Eier ab und pflückte zu ihrer Linken einen langen hohlen Halm, den sie zerschnitt. Dann blies sie durch den Halm, um zu prüfen, ob er Luft durchließ, hob ein Ei vom Boden auf, klopfte zweimal auf die Schale, um ein Loch hineinzubohren, und steckte den Halm hinein, mit dem sie das Ei verrührte, bevor sie es dem zusammengekauerten Mann reichte, der sie nicht aus den Augen ließ. Es kostete Gifford viel Kraft, die Finger auszustrecken und das Ei entgegenzunehmen. Als er es endlich in den Händen hielt, erschien es ihm als etwas Vollkommenes und zugleich höchst Zerbrechliches, was es tatsächlich auch war. Über-die-Ebene-fließendes-Wasser tippte auf den vorragenden Halm und auf Giffords Lippen. Die Geste verblüffte ihn. Dann nahm sie das zweite Ei, bohrte ebenfalls ein Loch mit dem anderen Halmende, hob es an den Mund und schlürfte es in drei Zügen leer. Während Gifford, noch immer reglos vor dem Feuer ausgestreckt, den Halm betrachtete, als steckte er in nichts Geringerem als dem Sonnenball, nahm Über-die-Ebene-fließendes-Wasser das dritte Ei, stand auf und verschwand durch die Flammen wieder dorthin, von wo sie gekommen war.

Dieses Mal brauchte er nicht auf sie zu warten. Sie kehrte bei Tagesanbruch zurück und weckte ihn, indem sie ihn mit Steinchen bewarf. Er hatte das Bewusstsein verloren, nachdem er das Eigelb in kleinen Schlucken getrunken hatte. Vor Verzückung, pflegte er hinzuzufügen, wenn er an diese Stelle seiner Erzählung gelangte. Vor Verzückung und Bewunderung für dieses so schlichte Ding, das hinter seiner dünnen Kalkwand in halbflüssiger Form alle Lebensprinzipien vereinte – bis auf eines: Wärme. Was das anging, hatte Gifford in seiner Reserveschachtel achtzehn Streichhölzer gezählt, dies dürfte für sein Ausschlüpfen genügen. Die Indianerin brachte ihm noch ein Ei. Als müsste er alles erst Schritt für Schritt wieder erlernen.

Sie führte ihn durch die Prärie, indem sie Linien ins Gras zeichnete. Anfangs lief sie zwei oder drei Mal hin und her bis zu dem Punkt, an den sie ihn haben wollte. Die Spur war genauso gut sichtbar wie ein Strich auf einer weißen Seite. Sie führte ohne Unterbrechung schnurgeradeaus von der Feuerstelle oder dem Platz, an dem er sich hingelegt hatte, zu einem drei Meilen entfernten Wasserloch, das man mit bloßem Auge nicht erspäht hätte, zu einem unerklärlichen runden Platz, der deutlich sichtbar war wie eine Waldlichtung, zu einem Grabhügel mit winzigen Süßgräsern, die nur an dieser Stelle zu wachsen schienen. Sie führte ihn zu einem Bau, der sich als Eichhörnchenkobel entpuppte. Das Tier war noch darin. Als Gifford sich auf den Boden legte, um einen Blick hineinzuwerfen, sprang das Eichhörnchen mit einem Satz heraus und fauchte empört und mit aufgestelltem, gebauschtem Schwanz wie eine wütende Katze. Gifford hätte fast einen Herzinfarkt erlitten. Er war aufgesprungen und hatte sich auf den Rücken gerollt, wobei ihm das Herz kräftig gegen die Rippen pochte. Das Eichhörnchen hatte erst aufgehört, ihn zu bedrohen, als er sich, von einem irren, unkontrollierbaren Lachen geschüttelt, aufsetzte.

Sie führte ihn zu einer kleinen Senke, die ihn an jene erinnerte, die er für sich hatte graben wollen. Die von ihr gezeichneten Wege waren mit der Zeit immer schlechter lesbar geworden. Sie ging sie nur noch einmal ab und hinterließ bloß wenige Hinweise an trockeneren oder steinigen Stellen. Zuweilen verlor sich die Spur über mehrere Dutzend Meter. Gifford hatte gelernt, sich in konzentrischen Kreisen um den letzten sichtbaren Punkt zu bewegen, bis er wieder Fühlung aufgenommen hatte. Er war überzeugt, dass ihr Weg unverwechselbar war. Sobald er ihn wiedergefunden hatte, waren beide miteinander verbunden wie durch elektrischen Strom. Er konnte ihn in den Muskeln, unter der Haut spüren.

Sie führte ihn zu einem Nest, das drei der Eier enthielt, die sie ihm gebracht hatte. Er duckte sich in die Gräser, um sich zusammengekauert vor dem Wind zu schützen, reglos wie ein Schilfrohr. Er wollte seine Zukunft sehen und er sah sie. Sie war ein schöner Vogel mit langen goldenen Federn. Später sollte er Hunderte Zeichnungen von ihm anfertigen.

Sie führte ihn zu einer Falle, die eine Schlinge versteckte. Er schloss daraus, dass sie mit Franzosen oder Irokesen Handel trieb. Ein großer Hase war darin gefangen. Er lebte noch und reagierte derart panisch auf sein Näherkommen, dass er ihm nicht einmal den Gnadenstoß zu geben brauchte. Gifford schnitt die Schlinge durch und hob das Tier auf. Er hielt es an den Ohren, weit weg vom Körper, und trug es zu einem Platz, den er für die Nacht auserkoren hatte. Er machte Feuer und betrachtete die Flammen, während das tote Tier in seinem Fell erkaltete. Nur wenige hundert Meter entfernt hörte er das Heulen eines Kojoten, der offenbar die Schnauze gen Westen richtete. Das Leben erschien ihm wieder unsagbar traurig. Er ließ den Hasen liegen und aß an diesem Abend nicht. Erst spät schlief er ein, in einer sternlosen Nacht. Als er wach wurde, regnete es, der Tag brach gerade an. Die Indianerin saß neben ihm und blickte ihn unverwandt an. Sie packte den Hasen, hob ihn an die Nase, warf ihn zu Boden und spie auf den Körper. Dann zückte sie ihr Messer, schnitt dem Tier den Kopf ab, hielt ihn an den Ohren fest und schleuderte ihn Gifford ins Gesicht. Der schnaubte angewidert bei der kalten Berührung der durchgeschnittenen Arterien, fing aber reflexartig den Kopf mit den Händen auf. Dann befühlte er ihn, wie er zuvor das Ei befühlt hatte. Ein Beutel voller Leben, einfach, komplex und in vorbildlicher Weise zweckmäßig. Er wusste, was zu tun war: Er schabte den Kopf aus, steckte einen kleinen Zweig in die beiden geöffneten Höhlen, legte die Lippen an eines der Löcher, und während er mit dem Stöckchen im anderen Loch rührte, sog er genüsslich die Substanzen ein, die er sich auf diese Weise einverleibte.

Als er fertig war, sah ihm Über-die-Ebene-fließendes-Wasser gerade in die Augen. Sie hob den Hasen auf und zog ihm ganz langsam das Fell ab, damit er sah und begriff, wie man es anstellen musste. Als der Körper des Tiers mit allen Muskeln ausgeweidet dalag, Lungen, Herz und Leber am Brustkorb befestigt, reichte sie ihm das Fell, das an vier Stellen eingeschnitten war und machte sich mit dem Fleisch davon.

Am späteren Nachmittag nahm er deutlich den Geruch von Eintopf wahr, konnte aber nicht sagen, von woher er kam. Sie hatte keine Spur hinterlassen, der Wind drehte sich ständig. Und wie er in der Prärie so ganz allein dastand, überkam ihn trotz der Magenkrämpfe ein wildes Gelächter.

Elie Coulter ging nicht gern zu Fuß. Diese Art Fortbewegung war seines Erachtens nur attraktiv, wenn sie von Frauen auf den Brettern einer Bühne oder beim Einkaufen unter den Arkaden einer Stadt praktiziert wurde. Andere Reisen hatten für Damen im Cabriolet, für Männer zu Pferd und für den Rest der Menschheit auf dem Rücken eines Maulesels stattzufinden. Dass die Nimiipuus in der Lage waren, an einem Tag über achtzig Meilen zurückzulegen, war für ihn ein unwiderlegbarer Beweis für ihre fehlende Zivilisiertheit. Im Übrigen so ziemlich der einzige, da alle anderen Argumente – etwa die ihnen mangelnde Seele, die einfache Lebensweise, die mittelmäßigen Kochkünste und die schlechten sexuellen Gewohnheiten – seines Erachtens ausgemachter Blödsinn waren. Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob in seinem Körper eine Seele hauste, außerdem hatte er nie besser geschlafen als im tiefsten Winter in einem gut geschlossenen Wigwam mit einer Shoshone-Frau unter einer Otternfelldecke, die glatter und weicher war als die herrlichste Chinaseide, während die Hafergrütze, mit der sich die meisten Weißen begnügten, ihn regelrecht anwiderte. Als er im Schatten eines entfernten Wäldchens ein Pferd erblickte, zögerte er keinen Augenblick, er war weder Frau noch Mexikaner. Und wie der Vaquero zu sagen pflegte, der ihn vor einigen Jahren bis zu Bevs Ranch in Chilshom begleitet hatte: Wenn du nicht imstande bist, skrupellos ein Pferd zu stehlen, dann ist etwas mit deiner Erziehung im Argen.

Er ging auf das Pferd zu, sah sich dabei um, dann stellte er die Steigbügel ein, überprüfte den Bauchgurt, machte das Zaumzeug los, legte dem Pferd die Zügel um den Hals und schwang sich in den Sattel. Schnalzend vollführte er eine Kehrtwende und beruhigte das Tier, das ihn nicht kannte, mit leisen Worten. Er erzählte ihm von seiner Sicht der Dinge, von seiner Vorstellung von den Beziehungen zwischen seiner Spezies und der der Pferde, die, innerhalb vernünftiger Grenzen, einen gewissen Respekt gegenüber der Freiheit des anderen verlangte. Als er der Meinung war, dass der Lärm eines Galopps auf diese Entfernung für ihn keine schädlichen Folgen mehr hätte, drückte er beide Fersen heftig in die Flanken des Pferds, sodass es einen Sprung machte und einen beinahe bellenden Laut von sich gab, von dem es selbst überrascht war, bevor es wie ein geölter Blitz losrannte, als ritte ihn der Teufel in Person.

Der Mann, dem Elie gerade sein Pferd gestohlen hatte, ging auch nicht gern zu Fuß. Als er den seltsamen Schrei hörte, auf den das Geräusch eines wilden Galopps folgte, stellte er sich hinter einem Felsen auf und legte eine Patrone in die Kammer seines Karabiners. Wenn er Glück hatte und der Dieb in Richtung Stadt ritt, würde er weiter unten in Reichweite seines Gewehrs vorbeijagen. Es war nicht leicht, aber machbar. Bird Boisverd legte den Lauf auf den Vorsprung des Basaltfelsens und horchte. Das Geräusch kam näher. Am Rand seines Gesichtsfelds sah er, wie sein Pferd mit einer Geschwindigkeit, die er nie hätte aus ihm herausholen können, die Landschaft zerteilte – auf seinem Rücken der Schweinekerl, der es antrieb. Er atmete tief durch, nahm ihn ins Visier und folgte seiner Bewegung. Doch als er den Schuss abfeuern wollte, hob der Reiter den Kopf in seine Richtung, als hätte er seine Anwesenheit gespürt, ließ sich in derselben Sekunde hinter die Flanke des Pferdes fallen und ritt, die Beine um den Sattel geklammert, im selben Tempo, das Pferd antreibend, dem Schützen vor der Nase weg. Dieses Kunststück zeugte von einer solchen Kungelei mit dem Schicksal, dass Bird Boisverd nicht übel Lust gehabt hätte, sein Pferd abzuknallen. Drei Sekunden später saß der Dieb wieder im Sattel, und die Gelegenheit verlor sich in der Landschaft.

Er konnte es nicht fassen. Über neunhundert Meilen hatte er zurückgelegt, mit nur ein, zwei unbedeutenden Zwischenfällen in einem Saloon und ein paar spannungsgeladenen Geschäften mit einer isolierten Gruppe Migranten, das heißt, er war schlau genug gewesen, seine Bahn zu ziehen und dabei die meisten natürlichen und menschlichen Fallen zu meiden – und nun das. Mitten in diesem wüstengleichen Gebirge, obwohl seit Tagen keine Spur von einer Menschenseele zu sehen gewesen war, weder nah noch fern, und nun das: ein derart unbekümmerter Pferdedieb, das war mehr als Pech. Hätte er sich versehentlich in den Fuß geschossen, er hätte es leichter weggesteckt.

Elie hingegen fühlte sich wie neugeboren. In den Pistolenhalftern seines unvorhergesehenen Partners – was ist schon ein Räuber ohne Beraubten – hatte er eine Tasche gefunden, die rund war wie eine kleine Melone und prall gefüllt mit einem geruchlosen feinen Pulver, das einen unvergleichlichen Glanz besaß. Ganz zu schweigen von der Decke, den getrockneten Bohnen, den Blechtöpfen, dem Päckchen Kaffee und der Flasche Schnaps, die die Ausrüstung auf angenehmste Art und Weise vervollständigten. Ein hervorragendes Geschäft. Auch wenn nichts über ein Pferd geht, wenn man zu Fuß unterwegs ist – er hätte wirklich leicht auf die Geldbörse und den ganzen Rest verzichten können, wenn man ihn vor die Wahl gestellt hätte –, so gehörte Elie nicht zu denen, die die Annehmlichkeiten des Lebens verachten. Die Aussicht darauf, sich ein Chili einzuverleiben und von dem Alkohol zu probieren, den sein neuer Freund geschmuggelt hatte, erfüllte ihn mit großer Vorfreude. Aber zuallererst musste er zwischen sich und dem anderen eine Entfernung legen, die die größte Vorsicht gebot. Besser noch: die doppelte. Er folgte dem Weg auf achtzig Meilen. An einem Abzweig nach Osten verließ er den Weg und ritt im rechten Winkel zu ihm weitere zehn Meilen. Er trieb sein Pferd nicht mehr an, denn nun war das Gelände voller Löcher. Präriehunde. Er hielt die Richtung, aber verringerte den Druck und verließ sich auf den Selbsterhaltungstrieb des Tieres, das darauf achten würde, sich kein Bein zu brechen.

Als sie auf ein Wildwasser stießen, das sanft die fernen Hänge hinabfloss, zog Elie am Zaumzeug und streckte die Beine in den Steigbügeln durch. Das Pferd nutzte die Gelegenheit zu äppeln. Der Mann lächelte und erhob sich aus dem Sattel, um ihm den Druck auf die Flanken zu nehmen. Dann beschloss er, sich auf einer kleinen runden Grasfläche neben dem Ufer niederzulassen. Als das Pferd fertig war, stieg er ab, legte ihm die Zügel über den Hals und führte es zu einem kleinen Baum, der genau deshalb dort zu stehen schien. Saftiges Gras wuchs rings umher. Elie band das Pferd so fest, dass es nach Herzenslust grasen konnte. Aber doch in vernünftigem Maße. Er nahm ihm den Sattel und den Krempel seines Partners ab und legte alles zwanzig Fuß entfernt von dem Tier hin, das er nachts atmen hören wollte. Er brauchte nicht lange, um ein paar Steine und Holz zu sammeln, sie im Kreis anzuordnen und ein Feuer zu entzünden. Auch nicht viel länger, um sich den Essnapf zu schnappen und den Speck anzubraten, bevor er die Bohnen dazugab, Wasser hinzufügte und das Ganze abdeckte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Eintopf nur simmern würde ohne anzubrennen, stand er auf und rupfte ein paar Handvoll Gras aus, das er zu einem großen Klumpen formte. Damit striegelte er sorgfältig und ausgiebig den ganzen Körper des Pferdes. Das Geräusch des Wildwassers verhinderte, dass er mit einem Ohr auf seinen Eintopf achten konnte, aber der Geruch in der Luft gab ihm hinlänglich Auskunft über die noch nötige Garzeit. Er war fast fertig, als er das Grasbüschel wegwarf und sich vom Pferd entfernte, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Während er sich übers Wasser beugte, wehte eine so deutliche Geruchsschwade von seiner Mahlzeit zu ihm herüber, dass er den Eindruck hatte, direkt über dem Kochtopf zu stehen. Blinzelnd wandte er sich um, mit triefenden Händen und feuchten Haaren. Nichts hatte sich gerührt. Er beendete seine Toilette und lächelte bei dem Gedanken, endlich wieder etwas Stärkeres als geschmolzenen Schnee, der zwischen Kieseln gelegen hatte, zu trinken. Als er kehrtmachte, versperrte ihm das Pferd die Sicht auf sein Lager. Es spielte keine Rolle, er hatte das Bild davon im Kopf, er hätte mit geschlossenen Augen darauf zugehen können. Er wollte das Pferd im Vorbeigehen tätscheln, doch das Tier entzog sich. Und bei diesem kleinen Seitschritt, der sicherlich eine Art Missbilligung zum Ausdruck brachte, glaubte Elie die Gestalt eines Mannes zu erkennen, der ihm gegenüber vor dem Feuer saß. Der schwarze Umriss hob sich von dem schwarzen Hintergrund des Hanges deutlich ab, er war reglos, bis auf die Bewegung eines kurzes Stabs, die mit dem linken Teil des menschlichen Schattens, vielleicht dem Ellbogen, ausgeführt zu werden schien. Er brauchte keine zwei weiteren Schritte, um zu begreifen, dass der Kerl im Begriff war, sein Chili aufzuessen, dass er ein Weißer war, weil er einen Hut trug, und dass er die Mahlzeit auf die eine oder andere Weise wieder aus ihm herausholen würde. Leise rannte er auf den Mann zu, der ihn nicht bemerkt zu haben schien, doch dann sah er neben dem Feuer, als er gerade angreifen wollte, einen Pistolenlauf aufblitzen, dessen schwarzer Schlund auf seinen Bauch gerichtet war. Der Mann hielt seine Waffe ganz lässig auf ihn gerichtet, wie ein Potential, das im Falle seiner Umsetzung zu einem unabwendbaren Ergebnis führen würde. Elie hielt ohne Zögern inne, richtete sich auf und musterte den Unbekannten, der keinen Augenblick aufgehört hatte, mit der linken Hand den Löffel an den Mund zu heben. Schamlos kratzte der Metalllöffel über den Boden des Topfes. Er spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, und zwang sich tief durchzuatmen. Der Mann verschlang den letzten Happen, legte den Löffel in den Teller zurück und warf das Ganze hinter sich. Dann sagte er, dass es wohl an der Zeit wäre, sich einen hinter die Binde zu kippen. Und zwar am liebsten in Gesellschaft, wenn keiner etwas dagegen hatte. Elie, dessen leerer Bauch noch immer vom schwarzen Auge des Colts seines Gegenübers beobachtet wurde, fiel kein Einwand ein. Er ging auf seine Sachen zu und sah in Gedanken das Gewehr mit dem abgesägten Lauf in einem seiner Halfter liegen, mit hervorlugendem Kolben, aber unsichtbar von dort, wo der Mann saß. Er stellte sich vor, wie er die Flasche mit einer Hand würde herausholen, mit der anderen die Waffe zücken, sie über die Hüfte schwingen und in derselben Bewegung würde zielen müssen, wobei es nicht infrage kam, sein Ziel zu verfehlen, denn er würde nur einen Schuss haben – da rief ihm der Mann zu, er solle sich keinen Kopf machen, das Gewehr sei bereits nicht mehr geladen.

Zu seiner großen Überraschung stellte Elie fest, dass diese Nachricht auf seine Lungen befreiend wirkte.

Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Die holprige Piste warf sie auf ihrer Strohmatratze hin und her, und jeder Buckel entriss ihr einen Atemzug, den mühevoll wieder einzusaugen sie Minuten kostete. In diesem Stadium wusste Brad nicht mehr, ob sie darum kämpfte, weiterzuleben oder hinüberzugehen. Manchmal hatte er den Eindruck, das Leben klammerte sich verzweifelt an ihre Brust und weigerte sich hartnäckig, die Belagerung aufzugeben. Er betete zu dem kosmischen Gott, zu den Gräsern, an denen sie vorbeikamen, zu den Wäldern und Tümpeln, ihre Seele aufzunehmen, in Frieden, ohne sie dafür zahlen zu lassen. Aber jeder Tag erneuerte die Tortur der Stöße und jede Nacht die der Visionen und Albträume. Er ermunterte das Mädchen, ihr Kräutertee einzuflößen, aber sie lehnte häufig ab. Er wusste, dass sie ihre Gründe hatte. Josh kam nur noch für die Mahlzeiten zum abendlichen Lager und verschlang sie hastig, bevor er wieder in die Dunkelheit verschwand. Auf der Spur von einem Wild, einer Person, Wasser, Gras, Holz, von allem, was ihm gerade einfiel. Doch in Wirklichkeit hielt sich Josh einfach in einer Entfernung auf, die es ihm erlaubte, sie im Auge zu behalten, ohne sie zu hören. Wenn die Anfälle lauter wurden und durch seinen Stillepuffer drangen, weinte er auf seinem Sattel. Wie ein Kind, wie ein Enkel, der die letzte Frau leiden hörte, die ihn hatte zur Welt kommen sehen und die ihn liebte. In diesen Augenblicken kam es vor, dass er mit staubgeröteten Augen auf die Kolonne zugaloppierte und in den Planwagen sprang, um ihr die Hände zu halten. Ihre vogelgleichen Hände. Und ihr die Stirn zu streicheln. Das war alles, was er tun konnte. Und er verspürte Scham. Scham, wie einer, der unfähig war, einem anderen etwas Gutes zu tun. Er verfluchte sich, bis Xiao Niù ihm sagte, dass Ohnmacht die Voraussetzung aller Medizin sei. Sie machte ihn auch darauf aufmerksam, dass er der einzige war, der den Augen dieser Frau noch ein Lächeln entlocken konnte, seit Langem hatte sie die letzten Stadien der Erschöpfung durchschritten.

Von diesen Momenten abgesehen dachte Josh nur an eines. Vorwärtskommen. Das Ziel ihrer Reise hatten sie Monate früher festgelegt, er hätte es als Zeitverschwendung empfunden, auch nur daran zu denken. Nun, da sie an diesem Punkt der Reise angelangt waren – und der Zustand der Großmutter bestärkte ihn darin –, nun ging es nur noch darum, vorwärtszukommen.

Für Brad hingegen, der das Reisen nicht mochte, ging es einzig darum, ans Ziel zu gelangen. Im Gegensatz zu seinem Sohn nahm er das endlose Zugehen auf einen Horizont, der beständig fortrückte, mit der Geduld eines Farmers hin. Mit einer Hartnäckigkeit, die man für Hitzköpfigkeit halten konnte – aber in seinem tiefsten Innern verabscheute er dieses Weiterziehen, das er als das Gegenteil vom Sich-Niederlassen und als Preis für jenes gute Stück Erde betrachtete, das sie der Welt schließlich entreißen würden. Und sei es an ihrem entlegensten Winkel.

Die langen Stunden, die Jeffrey im Planwagen zubrachte, die Ohren sorgfältig mit Wachskugeln versiegelt, vertrieb er sich, indem er sich die Stadt und die Prärie vorstellte, von denen sein Bruder träumte, jenes Stück Land, das sie irgendwann erreichen mussten und das ihr Königreich sein würde. Er, der während der ersten zwanzig Jahre seines Lebens die torfige Erde bewirtschaftet hatte, die schwarze Erde der vom Wind geharkten Hochebenen, sah vor sich ein weites hügeliges Land, das licht bewaldet war, auf dem sich eine schöne Weide fände und genügend gutes Holz zum Bauen und Heizen. Wenn es dort Schiefer fürs Dach gab, einen breiten Bach zum Angeln, gutes Klima für Rosen und Clematis, und wenn das alles etwa vierzig Meilen von einer friedlichen Stadt entfernt lag, die über zwei oder drei Saloons verfügte, dann würde er sich als den glücklichsten aller Menschen betrachten. Und natürlich versäumte er es an diesem Punkt seiner Zwiegespräche nie, sich daran zu gemahnen, dass das Gesetz der Träume ein ganz besonderes war und dass Träume in der wirklichen Welt nie ganz in Erfüllung gingen, der eine oder andere Teil seines Gedankenkonstrukts würde in einen Abgrund stürzen, noch bevor sie das erste Stück jenes Landes erblickten, auf dem sie am Ende bleiben würden. Woraufhin er stets hinzufügte, dass man genau aus diesem Grund die besten, größten und schönsten Dinge erfinden musste. Weil der Traum auf diese Weise, selbst wenn sich nur ein kleiner Teil realisieren würde, noch immer gehaltvoll genug wäre, um sie glücklich zu machen.

An diesen morgendlichen Gedanken war er angelangt, als er am Rand seines Blickfelds eine ungewöhnliche Bewegung ausmachte. Seit Langem hatte er sich an die verschiedenen Flugweisen der Vögel, die ihnen begegneten, gewöhnt, ebenso an das Verhalten des Hoch- und Niederwilds. Zu diesem Zeitpunkt der Reise hätte er allein an der Bewegung der Blätter oder der Gräser sagen können, welches Tier gerade vorbeigekommen war und sie belauerte. Aber dieses Schwingen der Zweige in dem niedrigen Bewuchs entlang des Wegs, fast drei Meilen weiter vorn, passte irgendwie auf nichts. Er nahm die Wachskugeln aus den Ohren und steckte sie zurück in sein Hutband. Es gelang seiner Mutter ohnehin nicht mehr, so lange zu brüllen, wie sie es einige Wochen über getan hatte. Besser einen Anfall zu ertragen, zumal er kurz sein würde, als in einer unerwarteten Situation eines seiner Sinne beraubt zu sein. Er befreite seinen breiten Ledergürtel von den Schößen seiner Jacke und nahm die Zügel der Rinder in die Hand. Brad warf ihm einen fragenden Blick zu und er wies mit dem Kinn auf die Stelle, an der er die verdächtige Bewegung bemerkt hatte. Brad kroch in den Wagen, um das Gewehr zu holen. Als sie sich den krummen Sträuchern näherten, die eine Art undurchdringliches, mehrere Fuß breites Dickicht bildeten, gähnte das Mädchen, das hinten geschlafen hatte, und räkelte sich, bevor es über die Bank hinwegstieg und sich neben Jeffrey setzte. Der rückte ein wenig zur Seite, um ihr Platz zu machen. Sogleich schnüffelte sie in der Luft, und als sie ungefähr in der Mitte des Dickichts angelangt waren, rief sie warnend Dakota,