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Johann Scheerer

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Beschreibung

Der ganz normale Wahnsinn moderner Existenzen David ist verstrickt im Geflecht aus Kunst, Kindern und Kreativität. Als Musikmanager muss er alle Forderungen des drogensüchtigen Weltstars Ian White erfüllen und dessen Tour begleiten. Er will sich aber auch um seine vier Kinder kümmern und nimmt sie einfach mit. Die Ausgangslage für dramatische Konflikte, die zu absurd-komischen Situationen führen. David retten oft nur Humor und das Gespür für die erstaunliche Ähnlichkeit der Bedürfnisse von Künstlern und Kindern. Trotzdem lauert die Eskalation. Dieser packende Roman erzählt vom Kampf um die Balance, in dem überraschende Schönheit liegt. »Scheerer schreibt berührend und mit lakonischem Witz.« 3sat Kulturzeit

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitate

TEIL 1

What Shall We Do With A Drunken Sailor?

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

TEIL 2

Sei wie Wasser. Sei Wasser.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

TEIL 3

Comeback

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

TEIL 4

Verbindung aufnehmen

37.

38.

EPILOG

Es muss nur gut werden

39.

40.

41.

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Zitate

»Zuerst kriegen die Leute Kinder, und dann reden sie immer davon, was ihnen die Kinder für Sorgen machen. Man müsste allen Leuten, die Kinder kriegen, die Ohren abschneiden.«

Thomas Bernhard28. 12. 1978

»Mein Baba hat ein’ starken Rücken. Der schleppt viel mit sich rum bei Nacht.

Ich wünscht, er wär ein bisschen schwächer. Dann hätt’s ihn nicht kaputtgemacht.«

Apsilon 2023

TEIL 1

What Shall We Do With A Drunken Sailor?

Prolog

»Sag mal, könntest du Elliott nachher vom Schwimmen abholen?«

»Ich bin gerade unterwegs auf dem Fahrrad, kann ich dich gleich zurückrufen?«

»Es geht nur kurz darum, ob du Elliott nachher abholst.«

»Ja, muss ich eben checken. Ich rufe gleich zurück. Ich bin auf dem Fahrrad und erwarte gleich noch einen anderen Anruf. Ich muss mich beeilen. Ich will den Anruf eigentlich nicht so gern auf dem Fahrrad machen.«

»Kannst du einfach kurz Ja oder Nein sagen?«

»Ich bin, sagte ich doch gerade, auf dem Fahrrad. Ich muss eben halten und in meinen Kalender gucken.«

»Ach so, bist du eh davon ausgegangen, dass ich Elliott abhole, oder was?«

»Nein, ich hatte mir darüber noch keine Gedanken gemacht.«

»Ja, das muss man sich auch erst mal leisten können.«

»Wie oft habe ich Elliott irgendwo vergessen? Richtig: kein einziges Mal! Ich mache mir Gedanken, wenn ich denke, dass es richtig ist, beziehungsweise wenn ich die Zeit dafür habe.«

»Das ist einfach nur egozentrisch. Hast du mal daran gedacht, dass ich auch planen muss?«

»Wie gesagt: Lass mich eben in den Kalender gucken. Aber ich bin gerade auf dem Fahrrad.«

»Immer muss ich mich nach deinem Kalender richten. Es ist echt zum Kotzen.«

»Du musst dich nach gar nichts richten, ich muss nur eben aufpassen, dass ich nicht von irgendeinem Auto überfahren werde, während ich auf mein Handy gucke.«

»Ich bitte dich einfach nur, mir eine Antwort zu geben, über die du dir schon vor Ewigkeiten hättest Gedanken machen können, damit ich auch mein Leben planen kann.«

»Ich gebe dir die Antwort gleich! Sobald ich hier rangefahren bin. Quasi: jetzt. Warte mal eben. Ich ruf dich gleich zurück. Bei mir klopft es gerade an. Ich hab ’n kurzes Geschäftstelefonat wegen der Produktion, die ich angefangen habe. Ich muss da eben die Rahmenbedingungen klären. Das ist der Anwalt oder der Manager von dem Künstler. Ich kann den nicht warten lassen.«

»Alles klar. Hauptsache, du setzt deine Prioritäten …«

»Hallo.«

»Guten Morgen. Spreche ich mit David?«

»Ja. Ich bin am Apparat.«

»Guten Morgen, David. Ist das Wetter bei euch in Berlin auch so schön wie hier in Los Angeles?«

»Nein. Eigentlich nicht. Aber man sagt hier, dass es kein schlechtes Wetter gibt. Sondern nur schlechte Kleidung. Schön, dass wir einmal sprechen. Ian hatte es schon vor einiger Zeit angekündigt.«

»Schön. Ich kann es kaum erwarten, mehr über dich und deine Arbeit zu erfahren. Aber bevor du anfängst, würde ich mich gern vorstellen. Mein Name ist Will Greenfield, und ich arbeite seit dreißig Jahren mit einer Band, deren Name dir vermutlich etwas sagt: The Sonic Audio Lightning Trio oder kurz: S. A. L. T. Ich gehe davon aus, dass du sie kennst? Oder warst du in den letzten zwanzig Jahren auf keinem Stadionkonzert?« Der Mann lacht laut.

»Ja, klar. Ich kenn die natürlich.«

»Eben. Weißt du, David, ich wollte nur kurz mit dir sprechen, um dir zu sagen … sag mal, wieso ist denn das so laut bei dir im Hintergrund? Stehst du an einer German Autobahn?«

»Nein. Ich bin auf dem Fahrrad. Aber ich stehe am Straßenrand.«

»Oh. Hier in LA fährt niemand Fahrrad. Dafür haben wir keine Zeit. Wie dem auch sei. Ich wollte dir nur kurz sagen, dass es mir sehr wichtig ist, dass diese Produktion, die du mit meinem Klienten Ian White begonnen hast, ohne mich von Anfang an zu involvieren, absolut fehlerfrei ablaufen muss. Stromlinienförmig. Verstehst du. Denn es ist so: Wenn die Produktion nicht stromlinienförmig abläuft, dann kriegt Ian schlechte Laune. Und Ian ist der beste Freund von Paul Sinister, dem Gitarristen von S. A. L.T … Und wenn Ian schlechte Laune hat, hat Paul auch schlechte Laune. Und das wiederum kann ich mir nicht leisten, David. Verstehst du? Ich bin darauf angewiesen, dass Paul gute Laune hat. Sonst füllt er irgendwann keine Stadien mehr.« Jetzt ist sein Ton sehr ernst.

»Klar. Das verstehe ich. Sag mal, kannst du vielleicht kurz dranbleiben? Ich muss ganz dringend eine Sache wegen meines Sohnes klären. Das kann leider nicht warten. Entschuldigung. Könntest du ganz kurz dranbleiben, bitte?«

»Du hast ein Kind?«

»Ich habe mehrere Kinder, ja.«

»O mein Gott. Weiß Ian davon?«

»Ja, er weiß davon. Die haben sich sogar schon kennengelernt und haben sich gut verstanden.«

»Ach. Okay. Nun ja – ich warte. Aber beeil dich bitte, es ist noch früh hier in LA, und ich habe noch eine Menge zu tun. Weißt du, alle fangen früh an zu arbeiten, aber ich mache den Job seit vierzig Jahren so, dass ich schon um sechs Uhr anfange. Nun ja – wahrscheinlich bin ich einfach crazy. Aber es zahlt sich aus, sage ich dir.«

»Okay. Ja, ich kenne das. Das Frühaufstehen. Ich bin heute trotzdem irgendwie in Zeitnot geraten. Bis gleich.«

»Lena? Da bin ich wieder. Sorry!«

»Ich hab echt die Schnauze voll, ständig auf dich zu warten. Ich hol Elliott einfach selbst ab.«

»Ich kann ihn abholen. Kein Problem.«

»Ach – das weißt du jetzt auf einmal so schnell?«

»Ich habe einfach keine Lust auf einen Streit. Sag mir doch einfach, wo ich wann sein muss, und ich mach das möglich. Ich muss diesen Typ gleich wieder anrufen.«

»Ich muss eh diese ganze Organisationsscheiße im Kopf behalten; dann kann ich das auch gleich selbst machen. Die Umsetzung ist das geringste Problem. Es ist die Mental-Load.«

»Wie gesagt: Ich hole ihn gern ab. Um sechzehn Uhr ist das immer, oder?«

»Merkst du selber?«

»Mann! Ich habe es nicht in meinem Handykalender.«

»Eben. Genau das ist mein Punkt. Ich habe das nämlich schon in meinem Handykalender. Und zusätzlich im Kopf.«

»Ich arbeite halt einfach anders als du.«

»Das kann man wohl sagen! Wobei anders ein sehr wohlwollendes Adverb ist.«

»Effektiver könnte man auch sagen. Wäre noch wohlwollender.«

»Effektiv? Ja. Dank deiner Assistentin, mit der du gerade telefonierst!«

»Ich finde, ein gewisses Maß an Wohlwollen kann dir auch nicht schaden. Und auch nicht, zu akzeptieren, dass Menschen eben anders sind.«

»Ja, du hast recht. Wir sind einfach wirklich sehr anders.«

»Es gab Zeiten, da war das kein Problem.«

»Es muss auch jetzt kein Problem sein, wenn du es nicht zu einem Problem machst, weil ich deine Ich-Bezogenheit ausbaden muss.«

»Jetzt mach mal ’nen Punkt. Wer hat denn die Zwillinge heute morgen in die Kita gebracht, als du noch geduscht hast?«

»Willst du dafür jetzt einen Orden, oder was?«

»Nein! Ich will nur sagen, dass wir doch beide unseren Beitrag leisten. Du, ich ruf dich gleich zurück, ja? Ist grad ein bisschen viel auf einmal.«

»Bei dir ist es grad viel auf einmal? Wer ist denn gerade bei den Zwillingen?«

»Ich rufe dich gleich zurück.«

»Will? So, da bin ich wieder.«

»Alles geklärt mit deinen Kindern?«

»Nein. Also, ja. Egal. Wo waren wir? Du stehst auch immer so früh auf?«

»Ich sag dir eins, David: Die beste Entscheidung meines Lebens war auf jeden Fall die, nicht so eine Brut in die Welt gesetzt zu haben.«

»Eine Brut?«

»Kinder! Dass ich keine Kinder bekommen habe. Ich hätte niemals diesen Erfolg mit S. A. L. T. haben können. Nun ja, Prioritäten eben.«

»Müssen wir denn jetzt noch etwas besprechen? Ansonsten würde ich vorschlagen, dass du mir einfach einen Entwurf für einen Produzentenvertrag zuschickst und wir dann konkret darüber reden.«

»Alles klar, wie du meinst, David. Ich halte es nicht für zielführend, dass du diese Unterhaltung so zwischen deine Familienaktivitäten quetschst, aber es scheint ja für dich nicht anders möglich zu sein. Nun ja. Ich sag dir nur noch eine letzte Sache:

Wenn ich merken sollte, dass du dich uns in den Weg stellst, David, dann werde ich dich wie einen Stein fallen lassen. Hast du das verstanden?«

»Ja. Hab ich verstanden. Wird sicher nicht passieren. Das kann ich dir quasi garantieren. Wird stromlinienförmig ablaufen. Wie so ein flitschender Stein. Nicht wie so einer der sinkt und so. Eher so ditschend. Stromlinienförmig eben.«

»Wie bitte?«

»Egal. Ich freue mich auf deine Mail mit dem Entwurf. Wir sprechen bald noch mal.«

»Alles klar, David. Wir sprechen uns. Ich wünsch dir einen entspannten Nachmittag mit deiner Family. Gute Erholung noch.«

»Okay. Danke.«

»Lena? Ey, es tut mir leid. Das war echt wichtig. Bin jetzt durch.«

»Ich habe heute morgen übrigens nicht nur geduscht, sondern auch noch die Wäsche gemacht und das Schwimmzeug gepackt.«

»Du, ich habe keine Lust auf dieses beschissene Aufrechnen von Arbeit. Ich komm jetzt erst mal nach Hause und hole dann Elliott ab.«

»Na, okay. Wenn du keine Lust mehr auf die Unterhaltung hast, dann ist natürlich klar, dass wir sie nicht mehr führen. Musst du nach deinem anstrengenden Telefonat vielleicht noch ein bisschen relaxen, oder gehts grad noch?«

»Ich bin halt einfach auf dem Fahrrad auf einer dicht befahrenen Hauptverkehrsstraße. Mir ist das alles hier grad zu unberechenbar.«

»Genieß es! Ich bin mit den Zwillingen zu Hause! Da würde ich manchmal lieber im toten Winkel eines Lastwagens fahren. Ist emotional in etwa ähnlich unberechenbar.«

1.

Das Anziehen der Handbremse, als ich das Auto auf dem Parkplatz meines Studios abstelle, weckt Teo und Helen auf. Ich atme einmal tief durch, bevor ich die beiden aus ihren Kleinkindersitzen schäle. Ich versuche mir meine Nervosität über den anstehenden Besuch nicht anmerken zu lassen.

Mein Freund Dirk, ein Konzertveranstalter, hat angekündigt, dass Ian White bei mir vorbeischauen will. Er spielt morgen ein Konzert in Paris und hatte, so hat es Dirk mir vor ein paar Tagen erzählt, gefragt, ob er nicht jetzt, wo er schon mal in Europa ist, in Berlin vorbeikommen könne, um sich das Studio in Ruhe anzuschauen. Bei seinem letzten Besuch hatte er es nur am Rande beachten können. Diesmal würden wir also mehr Zeit haben. Ian White hat angekündigt, er käme allein, ohne seinen ebenso berühmten Mitstreiter Alex, deren künstlerische On-off-Beziehung seit Jahren in aller Munde ist. Ich weiß nur ein wenig über die beiden; dass sie sich seit Kindertagen kennen und dass Alex wohl ein bisschen abgehoben ist, Ian aber ein musikalisches Genie, wenn auch etwas weniger glamourös als Alex, der Sänger ihrer gemeinsamen Band Streetlight Serenaders, die aber schon seit Jahren kein neues Album mehr veröffentlicht hat.

Ich habe etwas vorbereitet, das ihn hoffentlich überzeugen wird, mit mir arbeiten zu wollen.

In den letzten Tagen habe ich das Roland-M100-Modularsystem im Regieraum meines Tonstudios aufgebaut. In tagelanger Fummelei, unkonventionellem Adaptieren von Kabeln und Zusammenschalten von Verstärkern ist es mir gelungen, ein paar bereits aufgenommene Sounds wieder so herzustellen, dass ich in der Lage sein würde, soundlich einigermaßen nahtlos an das bestehende Playback, das seit Jahren auf meinem eingestaubten MiniDisc-Rekorder gespeichert ist, anzuknüpfen. Ich weiß von Interviews mit Ian White, dass er zwar als einer der einflussreichsten Gitarristen seiner Generation gehandelt wird, sich aber doch eher als ein Multimedia-Artist versteht. Das Modularsystem würde ihn sicherlich beeindrucken und ihm zu verstehen geben, dass ich nicht nur ein Produzent bin, sondern selbst ein Künstler mit einer eigenen musikalischen Vision.

Das Modularsystem ist eines der beeindruckendsten Instrumente, die es gibt. Mit Dutzenden Knöpfen, Schiebereglern und Steckbuchsen sieht es aus, als hätte es ein durchgedrehter Technik-Nerd als eine Art Consumerversion eines Raumschiffcockpits entworfen. Die Klänge, die man damit erzeugen kann, kommen dem eines kosmischen Klirrens auf jeden Fall verdächtig nahe. Vielleicht würden Ian White und ich kreativ damit so abflashen, dass es nicht nur eine Kooperation, sondern sogar eine Kollaboration werden würde.

Im Aufnahmeraum habe ich einen Fender Twin aufgebaut und mit vier Mikrofonen abgenommen, sodass wir den Sound des Gitarrenverstärkers und des Raumes im Regieraum hören können. Meine Vision ist, dass Ian White am Ende meines Arrangements ein furioses Gitarrensolo spielen wird.

Vor ein paar Tagen, als Dirk mir ankündigte, dass der Ian White ein paar meiner Produktionen kennt und mit dem Gedanken spielt, hier, mit mir, zu arbeiten, habe ich noch nicht so selbstbewusst reagiert: »Ian White? Wieso sollte der mit mir arbeiten wollen?«

»Nun ja«, sagte Dirk und zuckte ganz ruhig mit seinen knöchernen Schultern, die von einem »KISSAlive Tour 77 – 78«-Girlieshirt hauteng umspannt waren: »Der wird ja auch nicht jünger. Schätze mal, der hofft, dass was von deinem Zeitgeist auf ihn abfärbt.« Grinsend zog er einen Mundwinkel nach oben.

Ich war irritiert: »Von meinem Zeitgeist? Du meinst …«

»Jetzt stell dein Licht mal nicht so unter den Scheffel. Die letzten beiden Alben, die du produziert hast, haben in gewissen Kreisen schon einiges an Aufsehen erregt.«

»In gewissen Kreisen? Was sollen das denn für Kreise sein? Auf jeden Fall keine besonders zahlungskräftigen.«

Dirk lachte. »Jetzt stell dich mal nicht dümmer, als du bist. Du weißt doch, wie das läuft: Die Produktionen waren Achtungserfolge. Sie waren einfach cool. Nicht besonders erfolgreich, wenn es um Zahlen geht, aber dafür umso cooler. Das haben einfach ein paar Leute mitbekommen. Und Ian White ist seit über zwanzig Jahren im Geschäft. Er ist natürlich viel erfolgreicher als du, auf allen Ebenen …«

Ich verzog den Mund und hob die Augenbrauen, um Dirk anzudeuten, dass ich es jetzt gar nicht so detailliert hören musste, aber Dirk ließ sich nicht beirren: »Aber was ist das Erste, das einem bei wachsendem Erfolg abhandenkommt? Richtig: Coolness. Und die erhofft er sich von dir. Er will nicht David, den Überproduzenten, der schon mit Gott weiß wem gearbeitet hat, er will Dave, den supercoolen Indietypen, den er selbst entdeckt hat, damit er beweisen kann, dass er immer noch den Finger am Puls der Zeit hat. Der hat einfach genug von seiner Zweckgemeinschaft mit Alex Val-Bizar und ist auf der Suche nach frischem Wind. Ich glaube, der will mal ohne Alex was auf die Reihe kriegen. Einen Soloerfolg.«

Als Dirk die Worte Puls der Zeit aussprach, pulsierte er seinen Zeigefinger immer fester in meine Brust.

»Ich fühl mich aber überhaupt nicht so cool«, sagte ich leiser werdend, in der Hoffnung, Dirk würde mir widersprechen. Aber er erwiderte nur trocken: »Bist du auch nicht. Das weiß aber keiner. Fake it until you make it.«

Was Dirk erklärte, machte alles Sinn. Erfolg und Coolness, das sind die Währungen in diesem Geschäft. Trotzdem bin ich mir sicher, dass Ian White das Studio dafür erst mal auf Herz und Nieren prüfen wird. Nicht zuletzt, um gleich eine klare Hierarchie zu etablieren. Und deshalb habe ich alles vorbereitet. Den Kindern habe ich versprochen, dass sie jeweils einen ganzen Film sehen dürfen. Für Helen und Teo heißt das diverse Folgen Peppa Pig und Elliott darf den vierten Teil von Star Wars schauen. Wir sind also alle aufgeregt. Doch der Abend bis zu Ian Whites Ankunft zieht sich länger als gedacht.

Als ich um kurz nach zweiundzwanzig Uhr endlich ein Auto vorfahren höre, wälze ich mich von Elliotts Bettkante. Bin ich doch kurz eingenickt? Die Zwillinge habe ich unter traditionell enttäuschtem Geschrei, weil sie aufhören mussten, Fernsehen zu schauen, ins Bett gebracht, während der Millennium-Falke nach einem Feuergefecht mit einigen TIE-Fightern gerade den Sprung in den Hyperraum machte. Als sie endlich schliefen, war Elliott von dem Film so verstört, dass ich mich neben ihn legen musste, bis er und mein Bein eingeschlafen waren. Doch das Adrenalin, das mein Körper ausschüttet, als ich das Auto vorfahren höre, weckt mein Bein und mich in Sekundenbruchteilen wieder auf.

Vom vierten Stock des alten Lagerhauses, in dem sich mein Studio befindet, blicke ich auf den Parkplatz, auf den ein dunkelroter, alter Jaguar vorgefahren kommt. Die Heckklappe steht zur Hälfte offen und ist mit irgendetwas an der hinteren Stoßstange festgebunden. Dass nur der linke Scheinwerfer funktioniert, gibt dem Auto, ja dem ganzen Auftritt etwas Verruchtes. Als würde der Wagen mir jetzt schon zuzwinkern, in schelmischer Vorahnung, was noch passieren würde.

Jetzt öffnet sich die Fahrertür des Rechtslenkers. Ian Whites Fuß wird sichtbar. An der Art, wie sein Schuh an seinem Fuß herumschlackert erkenne ich sogar aus dem vierten Stock, dass seine Schnürsenkel offen sind. Der Rest seines Körpers folgt seinem Bein in einer merkwürdig unkontrollierten, aber dennoch eingespielten Bewegung, und mit einem schlabberigen Ruck steht er neben dem Auto. Er schlägt die Tür zu, beugt sich zum Seitenspiegel, fährt sich routiniert durch die Haare und beginnt sich um seine Nase herum durchs Gesicht zu wischen. Er ist so konzentriert darauf, sein Aussehen im Seitenspiegel des Jaguar XJ zu richten, dass er nicht bemerkt, wie der Wagen auf dem leicht abschüssigen Parkplatz vor dem Gebäude langsam rückwärtsrollt. Im Gegenteil; der näher kommende Spiegel irritiert ihn erst, als er, selbst rückwärtsstolpernd, mit dem immer mehr Geschwindigkeit aufnehmenden Auto nicht mehr mithalten kann und mitgerissen zu werden droht. Doch gänzlich entspannt, so wie er sich gerade die Haare gelegt hat, reißt er die Fahrertür auf, lehnt sich hinein und stoppt das Auto mit etwas, das ich selbst durch die Windschutzscheibe, in der sich die Parkplatzbeleuchtung spiegelt, als beherzten Riss an der Handbremse ausmache. Der XJ bleibt ruckartig mitten auf dem Parkplatz stehen. Ian White würgt sich wieder aus dem Auto, stößt sich den Kopf am Türrahmen, richtet seine Haare noch einmal und geht dann, mit seltsam aufrechtem Gang, als würde er auf einem roten Teppich laufen, zum Kofferraum. Als er nach minutenlangem Fummeln den selbst gemachten Verschluss öffnet, springt die Heckklappe ganz auf und gibt den Blick auf diverse wahllos hineingeworfene Koffer und Taschen frei. Ian White beginnt fahrig darin herumzuwühlen.

Ich hatte es damals nicht richtig mitbekommen, aber bei unserem ersten Treffen vor ein paar Jahren, als Dirk ihn mitgebracht hatte, war Ian White anscheinend schwer heroinabhängig gewesen. Ich hatte es zwar vorher schon in irgendeiner Zeitung gelesen, wusste aber nicht, wie sich eine schwere von einer leichten Heroinabhängigkeit unterscheidet. Ob es auf diese Differenzierung überhaupt ankommt und was einen echten Heroinabhängigen eigentlich ausmacht. Er hatte schon etwas rastlos gewirkt, war immer mal wieder auf der Toilette verschwunden, dort relativ lange geblieben und hatte Mühe gehabt, irgendwo still sitzen zu bleiben. Aber im Grunde wirken in einer gelungenen Recording-Session alle Beteiligten immer etwas rastlos, fahrig und aufgeregt. »Busy Doing Nothing« nenne ich das. Auch der Nervosität geschuldete längere Aufenthalte auf der Toilette sind keine Seltenheit. Und somit war Ian Whites angeblich verdrogte Zerrissenheit in der allgemeinen Hektik einfach untergegangen.

Doch die Art und Weise, wie er jetzt in den Koffern, Taschen, Beuteln und sonstigen Gefäßen im Kofferraum des Jaguar XJ wühlt, erinnert mich an die Begegnung damals und lässt mich rückblickend erkennen, dass seine Art doch über das normale Maß an Fahrigkeit hinausgegangen war.

Ich weiß noch genau, wie ich vor ein paar Wochen, als Elliott das erste Mal auf Klassenfahrt ging, mit ihm Kofferpacken geübt habe. Die schweren und großen Sachen nach unten und dann die kleinen weiter oben. Alles, was sich rollen lässt, wird gerollt. Die Dinge, die man oft braucht, kommen obendrauf. Ich lächele, denn es beruhigt mich zu wissen, dass Elliot schon als Grundschüler deutlich praktischer packen kann als der Ian White.

Ian White greift nach einem abgewetzten Gitarrenkoffer, der vermutlich einmal schwarz gewesen ist, und zieht mit einem Ruck am Griff. Er hat sich im Innenraum wohl irgendwie verkantet, und als es Ian White mit einem weiteren Riss am Griff endlich schafft, das Instrument den Fängen des Kofferraums zu entziehen, springt mit ihm eine Glasflasche aus dem Kofferraum und zersplittert auf dem Boden. Er flucht irgendwas, das ich nicht genau hören kann, wischt die Scherben mit ein paar schlampigen Fußbewegungen unter das Auto und stellt den Gitarrenkoffer neben sich auf den Boden. Dann wickelt er die Heckklappenhalterung, die sich als Krawatte entpuppt, erst vom Scharnier des Wagens ab, sich dann um den Hals und macht sich sicheren Schrittes auf in die falsche Richtung.

»Du bist David? Wie alt bist du? Zwölf? Wo ist dein Vater, David senior?« Nachdem ich von oben gerufen habe, steht Ian White kurze Zeit später in der Eingangstür und echauffiert sich über mein Alter. Seine speckigen Anzugschuhe, das erkenne ich jetzt, haben gar keine Schnürsenkel mehr. Die normalerweise unter den Senkeln versteckte abgegriffene Lasche, die er wohl als eine Art eingebauten Schuhanzieher missbraucht hat, ist nach außen gebogen und gibt den Blick auf einen Teil seiner geschwollenen Füße frei. Ich habe von seinen Drogeneskapaden gehört, doch dass es so schlimm ist, war mir nicht bewusst.

»Ich bin sechsundzwanzig«, antworte ich und ergänze mit einem Blick auf meine imaginäre Armbanduhr: »Fühle mich gerade aber immerhin wie mein eigener Opa.«

Ian White lacht. »Entschuldige die Verspätung. Es war viel Verkehr zwischen Paris und Berlin. Aber die Kunst kennt keine Tageszeiten, oder?« Er zwinkert mir zu. »Nach dem, was man über dich erzählt, müsstest du aber mindestens fünfzehn Jahre älter sein. Ich habe gehört, dass du Schreibmaschinen und alte Kameras sammelst?«

»Ja«, erwidere ich erstaunt und trete einen Schritt zur Seite, »komm doch erst mal rein.«

Ian White lässt seinen Gitarrenkoffer im Türrahmen stehen, tritt mit einigen selbstbewussten, langen Schritten in den Eingangsraum des Studios, greift in die Tasche seines Jacketts und fummelt einen Zigarillo und ein Feuerzeug heraus. »Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich hier rauche? Ist schließlich ein Studio.« Wieder zwinkert er mir zu.

»Nun ja, wenn es eine Regel in einem Tonstudio gibt, dann wohl die, dass man darin nicht rauchen darf«, antworte ich schnell, und Ian White schaut mich erstaunt an.

»Ach so? Und warum ist das so?«

Ich greife nach seinem Gitarrenkoffer, der für seine Größe erstaunlich leicht ist, stelle ihn zwischen uns und schließe die Tür. »Nun ja, viele teure Mikrofone und alle möglichen elektrischen Geräte, auf denen sich kein kalter Rauch festsetzen sollte.«

»Und warum nicht?«

»Weil sie dann irgendwann schlechter klingen. Und hier geht es ja in erster Linie um guten Klang.«

»In erster Linie? Ist das tatsächlich so?« Ian White schaut mich übertrieben skeptisch an. »Wer weiß denn, ob diese heiligen Mikrofone durch den Rauch nicht vielleicht irgendwann noch besser klingen? Sind nicht alle ganz wild auf diese Vintage-Microphones und Vintage-Studio-Equipment? Und wollen nicht alle diesen aufregenden Vintage-Sound? Und haben nicht früher, in Vintage-Zeiten, alle in den Studios geraucht? Vielleicht …«, Ian White zeigt mit dem Zigarillo auf mich, »klingt dieser Vintage-Sound ja gerade deshalb so gut? Wer beweist mir das Gegenteil?«

Ich lächele. Seine Art gefällt mir.

»Außerdem habe ich noch eine zweite Frage: Wieso geht es in Studios eigentlich in erster Linie um den Klang? Sollte es nicht in erster Linie um die Qualität der Performance gehen? Oder um das Werk an sich? Und sollte man sich nicht erst im Anschluss mit der ordinären elektrischen Aufzeichnung beschäftigen?«

Ich mag es, wie er versucht, mich aus der Reserve zu locken, und dennoch ganz und gar nicht arrogant wirkt. Obwohl sein gesamter Auftritt ein bisschen neben der Spur ist, scheint sein Verstand wach. Ich atme einmal durch, dann antworte ich: »Nun ja, im besten Fall mache ich das alles gleichzeitig. Es muss ja auch alles nachher eins werden: die Idee, die Vision, die Komposition, die Performance und die Aufzeichnung. Es muss zu etwas verschmelzen, das uns alle überdauert. Die beste Idee ist, wird sie nicht umgesetzt und aufgezeichnet, nur ein kurzer, unbedeutender Moment.«

»Unbedeutend? Ideen sind unbedeutend?« Ian White lehnt sich an den Küchentisch, der in einer Ecke des Eingangsbereiches steht. »Ich würde so weit gehen, dass Ideen das Einzige sind, das irgendeinen Wert hat.«

»Nicht, wenn sie nicht umgesetzt werden«, schiebe ich so schnell wie möglich hinterher, während wir einander direkt in die Augen sehen.

Dann grinst Ian White mich an und steckt den Zigarillo in seine Brusttasche. »Okay, fein. Du willst mich also wirklich davon abhalten, diesen Zigarillo zu rauchen?«

»Wenn es etwas gibt, das ich nicht will, dann ist es, dich von irgendetwas abzuhalten. Im Studio gilt ab jetzt, und nur für dich, folgende Regel: ein Tabakerzeugnis pro Tag, pro Raum. Kannst du damit leben?«

Sofort zieht sich Ian White den Zigarillo wieder aus der Brusttasche, steckt ihn sich in den Mundwinkel und zückt sein Feuerzeug. »Leben kann ich damit nicht. Aber für eine gute Performance und die eine oder andere Idee sollte es schon ausreichen.«

Als er den Zigarillo mit seinem gelben Wegwerffeuerzeug anzündet, fällt mir auf, dass seine Finger im Vergleich zu seinem hageren Körper sehr dick sind. Seine Hand passt nicht zum Rest. Als wäre sie von einem anderen Menschen mit gänzlich anderem Beruf. Sie wirkt eher wie eine Handwerkerhand als wie die eines Feingeistes oder legendären Gitarrenspielers. Auch fällt mir auf, dass seine Fingernägel dreckig sind. Nicht der Dreck, den man von einem Tag Gartenarbeit unter den Nägeln hat. Eher der, der sich durch jahrelanges Im-Dreck-Wühlen in die Haut eingräbt und den keine Seife der Welt in nur einem Waschgang abzutragen vermag. Dann streckt er sie mir entgegen, und ohne zu zögern ergreife ich sie: »Deal! Zeigst du mir jetzt die Schreibmaschinen?«

»Klar«, sage ich, »hast du auch eine?«

»Eine?« Ian White blickt überrascht. Und mit einem Tonfall, der einen gewissen Stolz nicht verhehlen soll, erwidert er: »Ich habe vier verschiedene.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und versuche ihm so meine Bewunderung zwischen zwei Schreibmaschinen-Nerds zu vermitteln.

»Im Kofferraum. Also vier habe ich immer dabei. Hätten in den alten XJ fast nicht mehr reingepasst.«

Ich nicke anerkennend, und auf die Gefahr hin, als weltlicher Pragmatiker dazustehen, frage ich dann doch: »Wieso hast du vier verschiedene Schreibmaschinen dabei?«

Ian White schaut mich verständnislos an. »Wieso hast du mehr als eine Schreibmaschine in deinem Tonstudio?«

»Guter Punkt«, sage ich. »Sie klingen alle anders. Die alten, vollständig mechanischen sind für mich die besten Percussion-Instrumente. Sie sind allerdings sehr träge. Die etwas moderneren haben einen schnelleren Anschlag, und deshalb kann man sie auch für feinere Beats benutzen. Die ganz modernen, die irgendjemand noch gebaut hat, als alle schon Computer hatten, sind allerdings für überhaupt nichts mehr zu gebrauchen. Aber die waren damals ja schon für ihren eigentlichen Zweck nicht mehr wirklich tauglich. Man kann aber immer noch mit Drumsticks draufhauen. Das macht manchmal ’nen interessanten Sound. Manche von denen haben auch wirklich einzigartige Warngeräusche eingebaut, wenn die Zeile dem Ende zugeht oder so. Die kann man super sampeln und für alles Mögliche benutzen. Es geht mir einfach um das Unverwechselbare, das Einzigartige und die Haptik. Wenn diese Kombination stimmt, ist es ein gutes Instrument. Oder sie einfach irgendwo als Erinnerung hinstellen, dass die Zeit weiterläuft und man ab und zu aufpassen sollte, nicht den Anschluss zu verlieren.«

»Interessant.« Nun ist es Ian White, der die Augenbrauen hochzieht. »Du bist der erste Tonstudiomensch, der nicht zuerst darüber redet, dass irgendein Instrument besonders gut klingen muss.«

»Vielleicht liegt das daran, dass ich nicht in erster Linie ein Tonstudiomensch bin. Sondern ein Produzent und Musiker. Ich finde gut klingende Instrumente einfach nur langweilig. Wenn etwas gut klingt, klingt es tot. Fehlerfrei. Niemals ist ein Song geliebt worden, weil er fehlerfrei vorgetragen worden ist. Eine fehlerfreie Performance berührt nicht. Und guter Klang ist in erster Linie etwas für Hi-Fi-Idioten. Homestereo-Enthusiasten, oder wie ich sie nenne, Home-Steroid-Enthusiasten, die Lust darauf haben, für ihre Stereoanlage hunderttausend Euro auszugeben und sich eine Woche Urlaub zu nehmen, um sie störgeräuschefrei in ihrem ebenso geschmacklosen Wohnzimmer neben ihrem beschissenen Eames Lounge Chair aufzustellen. Das sind Arschlöcher, denen es wichtig ist, dass irgendetwas besonders gut klingt. Die kaufen sich überteuerte Messmikrofone, um ihr Wohnzimmer auf ihre viel zu großen Lautsprecher akustisch abzustimmen. Und dann kommt nämlich erst mal ganz lange nichts. Diese unterkomplexe Pseudohochkultur ist ein grauenvoller Auswuchs des Musikhörens. Eigentlich sollte man es doch schon viel früher gemerkt haben, findest du nicht? Es heißt schließlich Musikhören und nicht Klanghören. Musikanlage und nicht Klanganlage. Die würden sich vermutlich auch 'ne Sinuswelle anhören oder irgendwelche besonders toll aufgenommene Scheißmusik, wobei das ja tatsächlich die Regel ist, wenn sie besonders gut klingt. Nein, ein gut klingendes Instrument, eine gut klingende Aufnahme ist erst mal nichts. Obwohl es immer öfter zu einem perversen Selbstzweck geworden ist. Hör dir mal an, wie GUT diese Aufnahme klingt.« Ich strecke meine Zunge raus und mache ein Kotzgeräusch. »Natürlich kann ein guter Klang vieles. Aber eben erst, wenn Wichtigeres geschafft ist. In Reihenfolge der Relevanz: die Idee, also der Song an sich, dann die Performance, also wie der Song vorgetragen wird, und zwar mit allem, was dazugehört, oder eben nicht, und erst dann die Qualität der Aufzeichnung. Da geht es dann, wenn es passt, um guten Klang. Wobei ich immer sagen würde, es sollte in erster Linie um passenden Klang gehen. Wenn die Aufmerksamkeit aller Beteiligten der Aufnahme im Produktionsprozess relativ zu dieser Reihenfolge verteilt worden ist, können die Leute den Song von mir aus auch auf ihrer Hunderttausend-Euro-Stereoanlage hören. Aber nur aus dem einen Grund: Weil es mir egal ist, wie ein gutes Ergebnis gehört wird. Ghettoblaster, Küchenradio, Handy, Wilson Speaker oder Burmester Audio. Alles das Gleiche.« Ich hole kurz Luft, will erneut ansetzen: »Entschuldigung, wo waren wir gerade?«

Ian White knüpft nahtlos an: »Wir sind bei den Schreibmaschinen irgendwie abgedriftet.«

Ich mag es, dass er wir sagt.

»Ich habe zum Schreiben immer eine Olympia SM2. Dafür habe ich auch entsprechend viele Farbbänder. Falls die mal kaputtgehen sollte, habe ich noch eine weitere SM2 als Ersatz dabei. Wenn ich es mal ganz ernst meine mit einer Idee und es nicht schnell gehen muss«, er verzieht sein Gesicht zu einem übertriebenen Ausdruck, der vollkommene Ahnungslosigkeit darstellen soll, hebt die Hände, als wolle er ich weiß es doch auch nicht sagen, und fährt dementsprechend fort, »als könnte man das jemals vorher wissen; wann aus einer Idee etwas Ernstes wird. Oder sie besonders gut oder bedeutend ist. Na ja, wie dem auch sei; dann schreibe ich diese sozusagen güldene Idee auf einer Hammond Multiplex, weil das die schönste Schreibmaschine ist, die jemals konstruiert wurde, und mich ihr Aussehen allein schon inspiriert. Und für unterwegs – also für die kleinen Trips vom Auto zum Zug oder von zu Hause zum Kino oder so – habe ich eine Olympia Traveller dabei. Nicht so schön, aber immerhin, im Vergleich zu den anderen sehr handlich. Und als Bonus«, er nimmt einen tiefen Zug von seinem Zigarillo, behält die Luft lange in seinen Lungen und schließt mit gepresster Stimme, »sind die Farbbänder mit denen der SM2 kompatibel.«

Ian White hat aus Rücksicht auf mich das Fenster geöffnet, als er angefangen hat zu rauchen. Die kühle Nachtluft, die über die Dächer Berlins und durchs Fenster hereinzieht, bläst den Rauch noch tiefer in die Räumlichkeiten.

»Ich mach das Fenster mal wieder zu, ja? Sonst zieht der Rauch gleich bis ins Kinderzimmer. Ich habe keine Lust, dass die aufwachen. Wir wollen ja heute vielleicht noch was aufnehmen, oder?«

Erstaunt nimmt Ian White seinen Zigarillo aus dem Mund und drückte ihn in einer herumstehenden Tasse aus. »Du hast Kinder? Ist das nicht illegal, minderjährig Kinder zu bekommen?«

Ich bemühe mich zu lächeln. Zu gut kenne ich die Kommentare über mein frühes Vatersein. Bringt der Bruder ihn heute? Wer ist denn von euch der Vater? Habt ihr auch einen Erziehungsberechtigten dabei? Muss ich zur Bestätigung nicht noch eure Mutter anrufen? Doch ich beschließe, mich einfach nicht aufzuregen, keinen coolen Spruch als Replik rauszuhauen, und probiere es einfach mit der Wahrheit: »Ja. Ich habe drei Kinder; Elliott, Teo und Helen. Elliott ist fast acht und Teo und Helen werden bald drei.«

»Wieso redet ihr Eltern immer davon, wie alt eure Kinder demnächst werden, und nicht darüber, wie alt sie sind? Wenn ich etwas esoterischer drauf wäre, würde ich dir sagen, du solltest mal im Hier und Jetzt leben und den Moment genießen, den Diem carpen. Anstatt dich darauf zu konzentrieren, was als Nächstes passiert. Na egal, wie dem auch sei; du bist anscheinend noch erwachsener, als ich dachte. Aber das muss ja nicht schlecht sein.« Ian White sagt das, als versuche er, das Beste daraus zu machen.

Ich zucke mit den Schultern: »Also ich hab es bis hierhin geschafft und schaffe es auch noch weiter. Ich hab einfach früh angefangen. So früh, dass ich kein Arbeitsleben ohne Kinder kennengelernt habe. Das ist eigentlich ganz gut, denn ich musste mich nie umgewöhnen. Ist einfach gefühlt immer schon so, wie es ist. Was nicht heißt, dass es immer einfach …«

Ian White fällt mir ins Wort: »O Gott, jetzt, wo du es sagst …«, er schließt das Fenster und arretiert den Griff. »Nichts ist schlimmer als Erwachsene, die plötzlich zu Eltern werden. Als hätten sie in dem Moment, in dem das Kind geboren wird, die Gehirne getauscht. Die kleinen Typen sind ja meistens total nett, und irgendwie verstehe ich mich ganz gut mit denen, aber die Eltern werden immer komplett infantil. Als müsste man denen eigentlich 'ne Windel anziehen und die Kleinkinder ins Büro schicken, um die Arbeit zu machen.«

Ich grinse. Endlich sagt es mal jemand. Die gezwungenen Gespräche mit irgendwelchen Männern, deren einzige Gemeinsamkeit mit mir ist, dass sie auch Kinder haben, über Dinge, die sich so anfühlen, als könnten sie meinen Vater in den Sechzigerjahren mehr interessiert haben als mich jetzt. Oder die scheinbar unüberwindbare, über Generationen herangezüchtete Gap zwischen der sorgenden Rolle der Mutter und der sich darauf ausruhenden des Vaters. Ich bin mit anderen Eltern nie richtig warm geworden.

2.

»Weißt du, was das bedeutet?« Lena hält mir einen Schwangerschaftstest hin, der zwei Striche zeigt. Ich weiß es nicht, reime es mir aber zusammen, wie man sich in solchen Situationen eine Konsequenz zusammenreimt, ohne vorher in der Situation gewesen zu sein. Eine Boa constrictor wickelt sich um deinen Körper und der Führer der Dschungelexpedition so: »Weißt du, was das bedeutet?« Man rast als Beifahrer mit hundertfünfundneunzig Kilometern pro Stunde geradeaus auf der Autobahn, und vor einem ist plötzlich Stau. Die Fahrerin dann so: »Weißt du, was das bedeutet?« Oder man spritzt sich vermeintlich Sprühsahne in den Mund, es war aber Bauschaum, und der Mitarbeiter im Baumarkt dann so: »Weißt du, was das bedeutet?«

Tatsächlich weiß man, wenn man noch keine einundzwanzig Jahre alt ist, noch nie über Kinder gesprochen hat, in manchen Teilen der Welt noch zu jung ist, um legal Alkohol zu trinken, und in allen mir bekannten Teilen der Welt auch noch zu jung ist, um Kinder zu haben, nicht besonders viel und sicherlich kaum etwas wirklich Hilfreiches über Kinder. Man weiß vielleicht, dass Kinderhaben anstrengend ist. Dass man sich irgendwie abstrakt kümmern muss. Man weiß, dass man verantwortungsvoll sein muss und dass es das eigene Leben verändern wird. Man weiß, dass man für das Kind sorgen muss und dass man irgendwie selbst erwachsen sein sollte, um das auf die Reihe zu kriegen. Das alles weiß man.

Aber man weiß nicht, was das alles bedeutet. Man weiß nicht, dass es bedeutet, dass man sich als werdende Eltern über ganz viele Dinge unterhält, von denen man gar nicht wusste, dass sie existieren: Vaterschaftsanerkennung. Geteiltes Sorgerecht. Sorgerechtserklärung. Fruchtwasserpunktion. Trisomie 21. Beleghebamme. Geburtsvorbereitungskurs. Wehenhemmer. Periduralanästhesie. Maxi-Cosi. Kitaplatz. Höchstsatz. Elternberatung. Zahnungshilfen. Hast du es mal mit Osanit versucht? Beikost. Honig kann giftig sein. Eingewöhnung. U-Untersuchungen. Lammfelleinlage. Unbezahlte Urlaubstage. Milchstau. Kohlwickel. Schuldgefühle. Stillberatung. Schreikrampf.

Man weiß nicht, dass man sich das erste Mal in seinem Leben über eine Wandfarbe streiten wird. Dass man erkennen wird, dass der eigene Geschmack keine Rolle spielt, wenn man Babykleidung, Babyeinrichtung und Babyaccessoires kauft, und dass diese Dinge nicht nur hässlich sind, sondern auch teuer. Dass man die Möglichkeit nicht ausschließt, das eigene Kind sei hochbegabt. Dass man Witze darüber macht. Und dass man dann enttäuscht ist, wenn es nicht hochbegabt ist. Dass man als Vater wochenlang keine Rolle spielt und sich dann darüber streitet, wenn man es doch tut. Dass Ambivalenz nicht nur ein abstraktes Wort, sondern die Beschreibung einer Lebensphase sein kann. Dass man sich nach freier Zeit sehnt, und wenn man sie dann hat, nicht weiß, was man damit anfangen soll. Dass man sich als Mann wünscht, Brüste zu haben, und gleichzeitig froh ist, dass man keine hat. Dass man mit Widersprüchen der eigenen Gefühle leben muss. Und es auch kann, weil man es können muss. Dass der gesamte Tag von einem Baby bestimmt wird. Dass die gesamte Nacht von einem Baby bestimmt wird. Dass die gesamte Zeit, die man atmet, von einem Baby bestimmt wird. Sogar wenn es schläft. Dass man sich wünscht, dass das Baby endlich schläft, und wenn es schläft, kontrolliert, ob es tatsächlich nur schläft. Dass einem langweilig ist, wenn es schläft, und man sich trotzdem ärgert, wenn es aufwacht. Dass einem das Baby vor jedem Termin auf den Pullover kotzt. Dass man T-Shirts im Schrank hat, die nach saurer Milch riechen, und dass man plötzlich gar keine T-Shirts mehr im Schrank hat, sondern nur noch auf einem großen Haufen. Man lernt, dass es bedeutet, dass man sich plötzlich um jemand anderen mehr sorgt als um sich selbst. Dass es einem nicht mehr egal ist, wenn man früh sterben sollte. Dass man sich wünscht, dass das Baby schnell größer wird, und jedes Mal wehmütig ist, wenn es wächst. Dass man sich so sehr wünscht, dass es endlich Fahrradfahren lernt, dass man tagelang gebückt und verschwitzt hinter dem Fahrrad herläuft und am Gepäckträger schiebt und ihn irgendwann loslässt, und wenn man dann losgelassen hat, es einen innerlich vor Freude fast zerreißt und man im nächsten Moment das Kind vom Fahrrad reißen möchte, um es bei sich zu halten. Und dass dem Kind verletzende Dinge gesagt werden, die man selbst schon tausendmal gedacht hat, die, von anderen ausgesprochen, aber so wehtun, dass es sich anfühlt, als hätte es jemand über einen selbst gesagt. Dann lernt man, was es bedeutet, gemeinsam Eltern zu sein, um es irgendwann ausschließlich zu sein, um es dann nicht mehr gemeinsam zu sein. Irgendwann lernt man, dass dies bedeutet, dass sich Kinder wirklich an einem festklammern können und dass man sie manchmal nicht losbekommt, ohne ihnen wehzutun. Dass man ihnen dann wehtut, um ihnen weniger wehzutun. Dass es das Wort Wechselmodell gibt und dass es bedeutet, dass man abends Bücher vorliest, von denen man nur jedes zweite Kapitel kennt. Dass man einen zweiten Kinderwagen kauft. Und ein zweites Kinderbett. Und alle Hässlichkeiten noch einmal. Dass man sich diesmal das Modell und die Farbe selbst aussuchen kann. Und es aber auch muss. Dass kleine Kinder kein Mitleid mit einem haben, auch nicht, wenn es einem wirklich schlecht geht. Und dann lernt man, warum das so ist. Und man lernt über sich selbst. Und was Verantwortung, Abhängigkeit, Sorge, Fremdbestimmung und Erwachsensein wirklich bedeuten.

Kurz gesagt: Ich weiß nicht, dass ich nichts weiß.

3.

»Wollen wir mal in den Aufnahmeraum gehen?« Ich deute mit dem Kopf zur Tür den Gang hinunter.

»Ja, können wir machen, Dave. Aber vorher habe ich noch eine Frage.« Ian White nimmt den Zigarillo aus der Tasse und bröselt das feuchte Ende ab. »Die zählt noch als eine, oder?«

Ich nicke mit kritisch-gönnerhaftem Blick, wie man ein Kind anschaut, um ihm zu sagen, dass es den Lolli gerne haben kann, wenn es Wert darauf legt, sich die Zähne zu ruinieren.

Er zündet den abgeknibbelten Zigarillo an, pafft ein paarmal, bis der lädierte Stumpen souverän glüht, und sagt dann: »Ich möchte, dass du mein Soloalbum produzierst. Es muss ein Meisterstück werden, und ich denke, du bist genau der Richtige dafür.«

Ich bin völlig baff, versuche aber, souverän zu bleiben, mir nichts anmerken zu lassen und so auszusehen, als wäre die Anfrage einfach im Rahmen des Möglichen gewesen. »Welche meiner Produktionen haben dir denn am besten gefallen?«

»Darum geht es mir nicht, Dave. Ein Mann, der in seinem Tonstudio Schreibmaschinen sammelt und es in einen Ort verwandelt hat, der Kreativität zulässt, ja, sogar beflügelt, anstatt, wie die allermeisten Studios, im Keim erstickt, der kann nur ein guter Produzent sein.«

Ich weiß nicht, ob es mir schmeicheln oder mich verwirren soll. Ich fühle beides gleichzeitig und stelle somit die einzig wichtige Frage: »Hast du denn gute Songs?«

Ian White nimmt einen letzten tiefen Zug von dem Zigarillo. Drückt den ekligen Stummel dann endlich in der Tasse aus und bläst den Rauch rücksichtsvoll aus seinem Mundwinkel an mir vorbei. »Das zu beurteilen, mein Lieber, ist jetzt dein Job. Aber ich kann dir dabei behilflich sein, indem ich dir etwas vorspiele. Hast du eine Gitarre hier?«

Ich deute aufmunternd auf seinen Gitarrenkoffer, doch er schüttelt den Kopf. »Nope. Das ist keine Gitarre. Warum um alles in der Welt sollte ich eine Gitarre mitnehmen, wenn ich in ein Tonstudio fahre? Ich bringe doch auch keine Brötchen zum Bäcker.«

Ich schmunzele: »Aber du gehst schon angezogen zum Klamottenkaufen?«

»Ha!«, Ian White lacht laut auf. »Fair enough! Bereit für einen Seelenstriptease, wenn du es bist.« Mit einem fragenden Blick zeige ich auf den Gitarrenkoffer, und Ian White schnappt ihn sich. »Da drin ist nur meine Medizin! Los geht’s«

 

Im Aufnahmeraum sucht sich Ian White eine alte Takamine-Akustikgitarre aus, die ich vor vielen Jahren von meinen Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Er setzt sich auf den nächstbesten kniehohen Verstärker, stellt seinen Gitarrenkoffer neben sich auf einen weiteren Lautsprecher, klappt ihn wie einen Kaufmannsladen vor sich auf und greift hinein. Die Geräusche aus dem Koffer klingen, als würde er irgendetwas aus Metall und Glas zusammenbauen. Kurze, harte Klänge, gefolgt von Schaben und Kratzen. Doch der aufgeklappte Deckel versperrt mir die Sicht. Dann beugt er sich hinein und schnieft einmal laut. »David, hast du zufällig eine Flasche Jägermeister und ein Bier da?«

Ich gehe in die Küche, hole eine Flasche Jever aus dem Kühlschrank, eine Flasche Jägermeister aus dem Gefrierfach, jeweils ein Glas aus dem offenen Küchenregal oberhalb der Espressomaschine und bringe es ihm.

Wie Dominosteine baut er alles vorsichtig und äußerst akkurat neben dem Koffer auf. Die Tasse, in der er den Zigarillo ausgedrückt hatte, fummelt er gerade aus seiner Jackentasche und drapiert sie als Teil des Altars. Ian White sieht zufrieden aus, als er sich das Rauschgefäßensemble anschaut. Er gießt sich ein Glas Jägermeister ein und kippt es schnell runter. »Ich liebe Deutschland dafür.«



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