Plötzlich mächtig - Mia Sassen - E-Book

Plötzlich mächtig E-Book

Mia Sassen

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Beschreibung

Mit Macht ins Glück Den ganzen Tag nur Statistiken berechnen - das kann auf Dauer ganz schön öde sein. Deshalb ergreift die kleine Angestellte Jule Meyer nur zu gern die Gelegenheit, für ihre musikalische Schwester einzuspringen und mit ihrer Ukulele und dem «Frollein-Orchester» nach Mexiko zu reisen. Und was für einen Bahnhof das einladende Goethe-Institut für seine Gäste veranstaltet! Jule wird von einem ausgesprochen gut aussehenden Chauffeur abgeholt, man bringt sie in einer luxuriösen Hacienda unter, und sie hat sogar einen eigenen Koch! Bald schwant Jule: Man verwechselt sie - mit der Vorstandsvorsitzenden eines internationalen Luxuskonzerns. Jule beginnt, ihr neues Leben zu genießen. Was kann man nicht alles zum Guten verändern, wenn man mächtig ist! Sie darf bloß nicht auffliegen. Wären da nur nicht die Gefühle für ihren Chauffeur ... Der zweite Roman von Mia Sassen nach «Ziemlich mitgenommen»: Eine wilde Selbstfindungstour durch Mexiko!

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Seitenzahl: 436

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Mia Sassen

Plötzlich mächtig

Roman

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Über dieses Buch

Mit Macht ins Glück

 

Den ganzen Tag nur Statistiken berechnen – das kann auf Dauer ganz schön öde sein. Deshalb ergreift die kleine Angestellte Jule Meyer nur zu gern die Gelegenheit, für ihre musikalische Schwester einzuspringen und mit ihrer Ukulele und dem «Frollein-Orchester» nach Mexiko zu reisen. Und was für einen Bahnhof das einladende Goethe-Institut für seine Gäste veranstaltet! Jule wird von einem ausgesprochen gut aussehenden Chauffeur abgeholt, man bringt sie in einer luxuriösen Hacienda unter, und sie hat sogar einen eigenen Koch! Bald schwant Jule: Man verwechselt sie – mit der Vorstandsvorsitzenden eines internationalen Luxuskonzerns.

Jule beginnt, ihr neues Leben zu genießen. Was kann man nicht alles zum Guten verändern, wenn man mächtig ist! Sie darf bloß nicht auffliegen. Wären da nur nicht die Gefühle für ihren Chauffeur …

 

Über Mia Sassen

Inhaltsübersicht

Motto1. KapitelZwei Monate zuvor2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelDrei Monate späterDanksagung

«Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.»

Abraham Lincoln

1. Kapitel

Die Schlange ist so dick wie mein Oberarm, aber sie bewegt sich anmutiger. Was kein Wunder ist, denn meine Arme sind im Schock erstarrt. Es gibt jetzt genau drei Möglichkeiten: Nummer eins, es ist eine Würgeschlange. Zwei: Sie erledigt ihre Opfer mittels Gift. Drei: Sie will nur spielen.

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Vorsichtig, ohne die Schlange aus den Augen zu lassen, taste ich mich nach hinten. «Jetzt keine ruckartigen Bewegungen machen, Jule!», ermahne ich mich selbst. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, wenn man panische Angst hat. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Ich darf auf keinen Fall ohnmächtig werden, nicht hier im Badezimmer, nicht wenn ich allein mit der Schlange bin. Ob ich sie vielleicht mit Musik beruhigen kann, wie eine Schlangenbeschwörerin? Ein Lied fällt mir ein, das ich Lotte und Louis früher immer vorgesungen habe. Leise, mit zitternder Stimme, beginne ich zu singen: «Eine lange Schlange wird früh am Morgen wach. / Sie räkelt sich und streckt sich, sagt freundlich guten Tag.»

Na bitte! Das Kriechtier hält inne. Sogar seine Zunge hat es wieder eingefahren. Mein Reden, Musik vollbringt Wunder! Ermutigt singe ich weiter: «Eine andere Schlange kommt zufällig vorbei. / Sie sieht die erste Schlange und sagt ganz einfach Hei!»

Das Ungetüm schießt so plötzlich nach vorn, dass ich einen Satz nach hinten mache. Dabei ramme ich den Hängekorb, der an der Duschstange baumelt. Die Shampooflasche fällt aus der Vorrichtung ins Waschbecken und kippt der Schlange ihren glibberigen Inhalt über den Kopf.

Was dann passiert, bekomme ich nicht mehr mit, denn ich bin mit einem Satz draußen und knalle die Tür hinter mir zu.

Und dann sehe ich es. Die Tür reicht nicht bis zum Boden. Der Spalt dazwischen bietet so viel Platz, dass die Schlange bequem drunter durchkriechen kann!

Um mich herum drehen sich die Wände, und mir wird schwarz vor Augen. Ich muss sofort raus aus diesem Zimmer und jemanden um Hilfe bitten, nur wen? Richard ist rausgegangen, um Capoeira zu machen. Ada sitzt in einem Internetcafé, sie will einen fremden Server hacken. Und die anderen Gäste in unserer Pension möchte ich nicht unnötig auf uns aufmerksam machen. Bleibt der Junge, der an der Rezeption Wache hält. Ja, Diego wird mir helfen können. Er ist in Yucatán aufgewachsen. Ganz gewiss weiß er, wie man eine Schlange erledigt.

Ich versuche, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Es gelingt mir so halbwegs – das jahrelange Gesangstraining zahlt sich eben aus, wenn vielleicht auch nicht in puncto Schlangenbeschwörung. So sachte wie möglich schlüpfe ich in meine Flip-Flops und trete auf die Veranda hinaus. Die Palmen werfen lange Mondschatten über den Patio, irgendwo raschelt es, weiß und rund gleißt der Mond vom sternenübersäten Himmel, und aus der Ferne höre ich, wie das Meer seine Wellen über den Sandstrand wirft. Noch einmal atme ich tief ein und aus.

Diego sieht wenig amüsiert aus, als ich ihn um Mithilfe bei der Beseitigung einer möglicherweise todbringenden Schlange bitte.

«Und sie ist jetzt in eurem Badezimmer, sagst du?», fragt er mich. «Dann ist sie wohl durch den Abfluss gekommen. Das tun Schlangen manchmal. In der Regel kehren sie dorthin auch wieder zurück.»

Ich versuche, in die respekteinflößende Haltung zurückzufinden, die ich mir in den vergangenen Wochen so erfolgreich antrainiert habe: Brust raus, hüftbreiter Stand. «Hör mal, Diego», sage ich drohend. «Ich weiß, dass ich eines Tages sterben muss. Aber ich wäre total ungehalten, wenn es hier und heute passiert!»

Diego zieht seufzend eine Schreibtischschublade auf, holt eine Machete daraus hervor und sagt etwas, das ich wie folgt deute: «Dann zerhacken wir sie halt.»

Wir wandern über den mondbeschienenen Patio zurück, und ich hoffe, dass wir keinem der anderen Gäste begegnen. Diego ist zwar klein und sieht relativ zart aus, aber die Machete, mit der er jetzt probehalber links und rechts die Luft zerteilt, verleiht ihm etwas Bedrohliches. Ich selbst sehe seit unserer Flucht natürlich auch nicht gerade aus wie Barbie.

Als wir die Badezimmertür öffnen, ist die Schlange verschwunden. Dafür aber ist der Glibber aus der Shampooflasche über den gesamten Boden verteilt.

«Was ist denn das für eine Schlange?», wundert sich Diego, die Machete noch immer in der erhobenen Hand.

Ich versuche, es ihm zu erklären. «Das kommt nicht von der Schlange, sondern von meinem Shampoo.»

Diego blickt mich an, als ob ich nicht ganz dicht wäre. «Aber du bist sicher, dass du die Schlange gesehen hast?»

«Natürlich bin ich sicher!», rufe ich. Erneut spüre ich Panik in mir aufwallen. Die Schlange könnte jetzt von überall her auftauchen, vielleicht richtet sie sich gerade in diesem Augenblick hinter uns auf, vielleicht … ich stoße einen markerschütternden Schrei aus, bemerke aber gerade noch rechtzeitig, dass es nur Diegos Hosenbein ist, das meine Haut gestreift hat. Diego sieht mich befremdet an. «Ich lasse dir die Machete hier», sagt er und drückt mir den hölzernen Griff in die Hand. «Wenn die Schlange», er betont das Wort ironisch, «hier wieder auftaucht, musst du versuchen, ihr den Kopf abzuschlagen.» Und damit geht er hinaus und lässt mich allein.

Ich versperre die Tür zum Badezimmer wieder, lasse mich auf das Bett sinken, das ich mir mit Ada teile, und lege die Machete vor mir ab. Ich kann nicht glauben, was mit meinem Leben passiert ist. Noch vor zwei Monaten war ich Jule Meyer, eine normale, deutsche, neunundvierzigjährige Frau. Eine normal geschiedene, normal alleinerziehende, normal in einem öden Job arbeitende Frau. Vor zwei Monaten war ich noch nie in Mexiko gewesen, hatte Ada und Richard noch nicht gekannt, war noch nie einem Mann wie Carlos begegnet und hatte nicht gewusst, dass man so unendlich glücklich, aber auch so wahnsinnig verzweifelt sein kann …

Ein Geräusch lässt mich hochschrecken. Und dann fällt mein Blick auf die steinernen Fliesen vor mir. Zwischen meiner Ukulele und Adas Reisetasche windet und räkelt sich die Schlange empor. Sie hebt den Kopf und sieht mir direkt in die Augen. Wieder schießt mir die Angst mit aller Macht durch den Körper, ich möchte schreien, bringe aber keinen Ton heraus. Ich will nach der Machete greifen, aber ich kann mich nicht bewegen.

In diesem Moment durchzuckt mich die Erkenntnis: Es ist eine Würgeschlange. Und ich bin so gut wie tot.

Zwei Monate zuvor

«Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, an einem Freitag im Straßenverkehr zu sterben, am höchsten», erkläre ich, ohne den Blick von den farbigen Balken auf meinem Monitor zu nehmen. «Vor allem, wenn man Radfahrer ist.»

Mein Chef hängt seinen Fahrradhelm an den Garderobenständer. «Ihnen auch einen fröhlichen Freitagmorgen, liebe Julia», sagt er, und in seiner Stimme schwingt leichte Irritation. Wir arbeiten jetzt seit achtzehn Jahren zusammen, und ich kann die Gefühle meines Chefs besser lesen als die von irgendjemand anderem. Lotte und Louis natürlich ausgenommen.

«Kennen Sie schon die neue Verkehrsführung an der Hallerstraße, Ecke Bogenstraße?» Ich stehe auf, um dem Chef einen Becher Kaffee einzugießen. «Die ist als Radfahrer mit niedrigem IQ nicht zu überleben, hat zumindest Sabine Knopfler aus der Buchhaltung gesagt.»

«Ja, und aus diesem Grund vermeide ich die Kreuzung immer», antwortet mein Chef, nimmt den Becher und schlendert in sein Büro.

Ich atme auf. Selbstironie beim Chef ist ein gutes Zeichen, in der Regel ist er dann entspannt und guter Laune. Mir ist natürlich klar, dass der Chef bewusst Witze erzählt und dass sie auf eine merkwürdige Weise mir gelten. Obwohl ich ihm unterstellt bin, will er mir imponieren, und dafür gibt es eine biologische Erklärung. Der Testosteronspiegel eines Mannes steigt um acht Prozent, wenn er mit einer Frau allein in einem Raum ist. Auch das ein Ergebnis der Studien, mit denen wir in der Agentur arbeiten und die in der Regel von praktischem Nutzen sind. Eine Information, mit der sich auch spätabends noch beschwingten Fußes in die U-Bahn steigen lässt, betrifft zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden. Die liegt nämlich hierzulande bei 1:20000. Nur ein Lottogewinn ist noch unwahrscheinlicher – 1:14 Millionen. Nicht, dass ich Lotto spielen würde, ich bin einfach nicht der Gewinnertyp. Und spätabends bin ich auch nicht mehr oft unterwegs, denn ich werde als Musikerin nur noch selten gebucht. Das hat nichts mit mir persönlich zu tun, sondern nur mit meinem Alter. Auch hierzu gibt es phantastische Zahlen. Aus denen geht hervor, dass ich kein Einzelfall bin.

Das Großraumbüro nebenan füllt sich mit einem Schlag, das kann ich hören, es ist Punkt neun. Warum der Chef sich gegen die Gleitzeit sperrt, ist mir ein Rätsel – selbst die Freien haben immer auf die Minute pünktlich da zu sein. Es ist ja nicht so, dass die Zahlen nicht mal eine Stunde warten könnten, ehe sich jemand mit ihnen beschäftigt, aber auf mich hört der Chef nicht. Auf mich hört eigentlich niemand. Selbst Lotte und Louis haben meine mütterliche Autorität nur in einer Art Notstandsdiktatur anerkannt, das heißt, wenn ich alle anderen Hausgesetze ausgehebelt hatte, und da ich grundsätzlich ein friedliebender Mensch bin, kommt das nur selten vor. Abgesehen davon, dass ich in der Firma nichts zu sagen habe, ist mein Job hier aber ganz okay. Und zwar, weil … Ich blicke vom Monitor zum Fenster hinaus. Regen nieselt gegen die Scheibe, dahinter schieben sich Wolkenwände in unterschiedlichen Grauschattierungen ineinander. Ich versinke in mehrminütiges Nachdenken, leider ohne Ergebnis. Mir fällt kein einziger Grund ein, warum ich gern in einer Agentur für Statistik arbeite, abgesehen von dem guten Gefühl, überhaupt einen Job zu haben. Als geschiedene Frau mit zwei Kindern ist es ja nicht unwichtig, dass am Monatsende zuverlässig Geld aufs Konto fließt.

Stickig ist es hier. Ich stehe auf und öffne das Fenster. Über den vollgestellten Parkplatz hastet eine der Freiberuflerinnen. Im Laufen hält sie ihren Bauch.

Chef reißt die Tür auf. «Haben Sie das gesehen? Marie ist SCHON WIEDER zu spät!»

«Na ja, Marie ist schwanger», verteidige ich sie. «Und es gibt hier keine Schwangerenparkplätze, da musste sie vermutlich …»

«Es WIRD hier auch keine Schwangerenparkplätze geben, Julia! Nicht solange ich hier das Sagen habe! Verstanden?» Er schleudert mir einen argwöhnischen Blick zu. «Sie machen sich für Schwangerenparklätze stark? Da ist jetzt hoffentlich kein egoistisches Motiv im Spiel?»

Ich stutze kurz, dann muss ich lachen. «Chef, das ist sehr schmeichelhaft, aber meine Bemerkung war eher allgemeiner Natur.»

«Schön, dass Sie so gute Laune haben, es wartet nämlich noch ziemlich viel Arbeit auf Sie!» Chefs gute Laune von vorhin ist augenscheinlich schon wieder verflogen. «Bis zur Mittagspause müssen Sie mir das Dossier für meine Besprechung mit Hansen zusammenstellen! Außerdem brauche ich noch die Ergebnisse von der Uni Freiburg. Und Sie müssen die Teambesprechung vorbereiten, die gleich stattfindet, Sie wissen schon, alle Zahlen und Fakten zur Wahrscheinlichkeit eines Suizids bei Frauen in den Wechseljahren, die dieses Institut für Sexualforschung herausgefunden hat! Schreiben Sie mir doch auch ein paar Stichpunkte für eine Rede, die ich über dieses Thema halten kann. Nicht wahr, Reden schreiben Sie doch immer gern!»

Ich schlucke. «Das alles in einer Stunde und zwölf Minuten?»

«Bravo, Julia, Sie können die Uhr lesen! Das dürfte helfen bei der Bewältigung Ihrer Aufgaben!» Und damit knallt er die Tür wieder hinter sich zu. Nur um sie augenblicklich wieder aufzureißen. «Und machen Sie die Rede nicht so langweilig und vorhersehbar wie beim letzten Mal!», beflügelt er mich und meine Motivation.

Ich spüre, wie etwas in mir hochsteigt, das ich nur schwer fassen kann. Meine Gefühle und ich, wir haben uns nämlich schon vor einer ganzen Weile voneinander getrennt. Ich komme einfach nicht besonders gut mit ihnen klar, schon vor der Scheidung nicht und danach noch weniger. Meine Gefühle sind mir nämlich zuweilen etwas zu negativ. Aber jetzt bewegt sich etwas in mir. Ich benötige ein paar wertvolle Minuten, um zu erkennen, was es ist: Wut. Von wegen, der Mann ist entspannt heute! Nichts da – er ist so schlecht gelaunt wie eh und je.

Während ich die Rede für ihn skizziere, stelle ich mir vor, wie ich sie selbst vortrage: hier die Stimme anheben, dort eine wirkungsvolle Pause einfügen. Das ist natürlich das Showgirl in mir. Ich liebe Publikum, doch leider komme ich nicht mehr allzu oft in Kontakt mit dieser Gattung Mensch. Ah, der Kontakt … die Gemeinschaft … der Zusammenhalt … Jetzt habe ich einen Lauf. Meine Finger flitzen über die Tasten. Was würde ich darum geben, wenn ich selbst diese Rede halten könnte! Einmal war ich dabei, als der Chef eine Rede hielt, die ich ihm geschrieben hatte, und als am Ende ein geradezu stürmischer Applaus aufbrandete, hätte ich mich um ein Haar erhoben und verbeugt. Ich muss ein bisschen grinsen, als ich wieder daran denke, und so arbeite ich einigermaßen beschwingt alles weg.

 

In der Mittagspause habe ich die Wut schon wieder vergessen. Sabine Knopfler aus der Buchhaltung fragt mich, ob ich meinen Sommerurlaub schon gebucht habe, und ohne die Antwort abzuwarten, erzählt sie, dass sie mit ihrem Mann nach Mallorca fährt. Dann will sie wissen, wohin ich reise. Nirgendwohin, antworte ich und finde ein paar schlappe Begründungen zum Thema Geld. In Wahrheit ist es so, dass ich nicht wüsste, mit wem ich fahren sollte. Louis macht sein Freiwilliges Soziales Jahr in Costa Rica, und Lotte fährt mit ihrem Vater und Rebecca, seiner neuen Frau, und deren Sohn in die Provence. Auch mit meinen Freundinnen kann ich in diesem Punkt nicht viel anfangen. Im Gegensatz zu mir führen sie alle ein mehr oder minder intaktes Familienleben, und die Urlaube planen sie gemeinsam mit Mann und Maus. Im vergangenen Jahr bin ich durch Hessen geradelt, alleine. Das war so ein Versuch, mir selbst zu beweisen, dass ich ohne Begleitung glücklich bin. War ich dann aber nicht, glücklich. Im Gegenteil.

Sabine ist so rücksichtsvoll, mich nicht nach einem Partner zu fragen, der mich eventuell begleiten könnte, denn sie weiß, dass es keinen gibt. Ich blicke gen Himmel, der von mittel- zu dunkelgrau gewechselt hat, während ich an der Bushaltestelle warte, um nach Hause zu fahren. Das Wichtige ist doch vielleicht, dass man weiß, wo man steht. Ich für meinen Teil kenne meine Zukunft, und jetzt, wo ich in den Bus einsteige und mich an dem Haltegriff festklammere, weiß ich auch wieder, wozu die Arbeit in einer Agentur für Statistik gut ist. Die alte Glückskeks-Weisheit von dem Unabänderlichen, in das man sich fügen muss, verliert durch die Zahlen unserer Agentur etwas von ihrer esoterischen Schwammigkeit, sodass man sich besser auf seine Zukunft einstellen kann. So bin ich mir beispielsweise recht sicher, dass ich auch in zehn Jahren noch allein leben werde, denn die Wahrscheinlichkeit, einen Singlehaushalt zu bewirtschaften, steigt bei einer Frau ab Mitte vierzig kontinuierlich mit jedem weiteren Jahr. Abstruse Wünsche, so wie ich sie früher hatte, als ich noch von einer Karriere als Musikerin träumte, konnte ich mir auf diese Weise ebenfalls abschminken. Ein Künstlerleben, so wie es meine Eltern und Schwestern führen, ist gesellschaftlich gesehen die Ausnahme, und bei mir hat es dann ja auch nicht geklappt. Mir ist auch bewusst, dass ich niemals eine Führungsposition innehaben werde, erstens weil ich nicht wüsste, wen ich führen sollte, und zweitens ist der Zug für mich abgefahren. Mein Leben wird bis zur Rente immer so weiterlaufen, und zwar hier in Hamburg, denn statistisch gesehen liegt die Wahrscheinlichkeit, meine zweite Lebenshälfte im Ausland zu verbringen, wenn ich mein Lebtag lang in meiner Heimatstadt gelebt habe, bei 0,3 Prozent. Worauf ich mich hingegen einstellen kann, ist ein Feierabend mit Lotte, wenn sie zu Hause ist, und anschließend vielleicht mit einem guten Film auf dem Sofa. Ich könnte mir auch etwas vorsingen und mich dazu auf meiner Ukulele begleiten, da bin ich recht genügsam geworden. Es gibt Menschen, denen es bedeutend schlechter geht als mir.

Ich sehe noch das Treppenhaus vor mir, in dem ich an diesem Abend nach oben gehe, die angeketteten Fahrräder am Geländer, ich rieche den Duft von gebratenem Fleisch, der das Haus durchzieht. Mein Handy klingelt, aber ich sehe mir die Nachricht noch nicht an, denn ich will erst einmal ankommen. Und dann sehe ich unsere so untypisch aufgeräumte Wohnung; Lotte, die am Herd steht, die langen blonden Haare hochgebunden zu einem Knoten auf ihrem Kopf, ihr Lächeln und ihre Worte: «Mama – schön, dass du schon da bist! Ich hab Essen gemacht!»

Zum zweiten Mal an diesem Tag bricht sich ein Anflug eines Gefühls in mir Bahn, nur dass ich es dieses Mal sofort einordnen kann. Ich mache einen kleinen Luftsprung, so wie ich ihn früher auf der Bühne manchmal gemacht habe, wenn ich etwas allegro spielte. «Ist das wahr?», strahle ich Lotte an. «Das ist ja unglaublich! Und wie phantastisch es riecht!»

Lotte erwidert mein Lächeln, aber es erreicht nicht ihre Augen. Und in diesem Augenblick weiß ich: Das hier ist mehr als nur irgendeine Mahlzeit, die meine einundzwanzigjährige Tochter auf dem Heimweg von der Uni zu kochen beschlossen hat.

Es ist etwas passiert.

«Setz dich, Mama», sagt Lotte hastig und drückt mir ein Glas Weißwein in die Hand.

Ich habe ein schreckliches Déjà-vu. Vor sechs Jahren bin ich genauso nach Hause gekommen, nur dass damals Stefan in der Küche gestanden und mir ein Glas Wein gereicht hat. Was für ein Bild ich meiner Familie gegenüber wohl abgebe?, schießt es mir durch den Kopf. Das einer Furie, die man nur mit Rebensaft sediert?

«Also … ich habe jemanden kennengelernt.»

Das ist jetzt ein Scherz, oder? Ich starre meine Tochter an und sehe wieder nur Stefan. Mit genau diesen Worten hat er vor sechs Jahren seinen Wunsch eingeleitet, dass wir von nun an getrennter Wege gehen. Ich setze das Glas ab, um mich besser an meinem Stuhl festklammern zu können. Der Stuhl schwankt unter mir wie ein Boot in unruhiger See.

«Alles in Ordnung?», höre ich Lotte vom fernen Ufer fragen.

Ich versuche, mich zusammenzureißen. Es ist natürlich Zufall, dass Lotte diese Worte wählt. Und es macht ja auch einen gewaltigen Unterschied, ob einem der Angetraute so etwas eröffnet oder die Tochter, die in der Vergangenheit ein Händchen für Jungen mit zweifelhaftem Charakter hatte und für die ich mich jetzt vielleicht freuen kann. Ich probiere ein kleines Lächeln und nicke.

«Er heißt Fritz, es ist ein WG-Zimmer bei ihm frei geworden, und ich ziehe nächste Woche bei ihm ein!»

«Das kommt … ein bisschen plötzlich», bringe ich heraus.

Lotte wirft den Kopf in den Nacken und lacht ihr glockenhelles Lachen. «Du bist echt witzig, Mama! Ich bin einundzwanzig. Es wurde langsam mal Zeit, dass ich jemanden kennenlerne, der mehr ist als ein Mann für eine schlechte Nacht!» Sie sieht mein entsetztes Gesicht und fährt hastig fort: «Ich möchte, dass ihr euch kennenlernt, Fritz und du!»

Ich nicke langsam. Das ist gut, oder? Es beweist, dass meine Tochter normal ist. Eine normale junge Studentin, die sich in jemanden verliebt, der nett zu ihr ist, und die jetzt mit ihm zusammenzieht. Die nicht wochenlang darüber nachdenkt, wie sie das ihrer Mutter beibringen soll. Die sich nicht um mich sorgt.

«Dieser Fritz ist bestimmt süß», sage ich. «Ich meine, mit nicht süßen Menschen würdest du ja nicht zusammenleben wollen!»

Sie lächelt und greift nach meiner Hand. «Nein, ich lebe nur mit süßen Menschen zusammen, etwas anderes kommt für mich nicht in Frage!»

Ich mustere sie. Sie ist so hübsch, so lebenslustig, so klug, meine Tochter. Und sie lacht so gern. Schon jetzt kann ich sehen, wie sich winzige Lachfältchen in ihre Augenwinkel eingraben und was für ein vom Lachen gezeichnetes Gesicht sie als ältere Frau haben wird. Ich versuche, nicht daran zu denken, was es bedeutet, dass ich dieses Lachen ab kommender Woche nur noch sehen werde, wenn es mich besuchen kommt. Die Kehle schnürt sich mir zu. «Das mit dem WG-Zimmer kommt aber auch sehr plötzlich, oder?», frage ich.

«Ehrlich gesagt habe ich ein paar Wochen lang überlegt, wie ich dir das beibringen soll. Wo du doch ansonsten alleine bist.»

Ich schlucke und winke ab. «Wir Eremiten sind zu außerordentlich spirituellen Erfahrungen fähig! Sieh dir Buddha an! Den heiligen Benedikt! Oder Johannes den Täufer! Und ich kann mich glücklich schätzen – im Gegensatz zu dem muss ich mich noch nicht mal von Heuschrecken ernähren!»

Lotte lacht. «Ich werde regelmäßig zu dir pilgern – du weißt, dein Kühlschrank ist mein Wallfahrtsort!»

«Dieser Wallfahrtsort wird zukünftig sein Sortiment reduzieren. Milchschnitten sind ab nächster Woche aus!» Ich trinke hastig aus meinem Glas. Dabei rollt mir eine Träne über die Wange. Ich versuche sie so wegzuwischen, dass Lotte sie nicht sieht, aber zu spät. Sie streicht mir mit dem Finger über die Wange. Ich blicke auf und sehe, dass auch in ihren Augen Tränen stehen. «Wird es gehen?», fragt sie.

«Nein», lächele ich und jetzt fließen mir noch mehr Tränen über mein Gesicht. «Scherz. Natürlich wird es gehen, Lotti. Ich freu mich für dich. Und diesen Fritz möchte ich sehr gerne kennenlernen!»

«Das wirst du, Mama! Und ich komme jede Woche, um dir meine Wäsche zu bringen!»

«Untersteh dich!», lächele ich. «Ein Eremit weiß nicht, was er mit diesen weltlichen Dingen anfangen soll!»

Ich beschließe, nicht traurig zu sein. Ein Moment der Schwäche, und schon war es das wieder, zack! Das ist das Gute daran, wenn man mit seinen Gefühlen Schluss gemacht hat: Man kann sie zum Teufel schicken, wenn sie beschlossen haben zurückzukommen.

Die Nachricht lese ich erst, als ich gegen elf ziemlich betrunken in die Federn sinke. Sie ist von meiner Schwester und hat irgendetwas mit einer Vertretung zu tun. Ich soll für jemanden Musik machen, der es nicht selbst tun kann. Vor meinen Augen tanzen die Buchstaben, während ich an der Antwort tippe. Ich muss ein wenig in mich hineinlachen. Dieses Autokorrektur-System ist echt lustig, wenn man es nicht entschieden bewacht. Und dazu habe ich jetzt gerade nicht die Kraft. Wer bin ich auch, Jule Meyer, dass ich ein Autokorrektur-System kontrollieren wollte? Den Wunsch, etwas zu kontrollieren, habe ich schon vor einer ganzen Weile aufgegeben. Ich hoffe nur, dass Eva-Maria versteht, was ich meine.

 

«Hast du gestern Abend Drogen genommen?» Eva-Maria klingt sehr viel strenger als gewohnt. Und für diese Tageszeit auch viel zu laut.

Ich versuche die Augen zu öffnen. Das Zimmer ist heller, als ich es in Erinnerung hatte. Es tut ein bisschen in den Augen weh. «Evi», murmele ich. «Und selbst wenn. Ich bin neunundvierzig Jahre alt. Ich kann tun, was ich will.»

«Okay, du hast getrunken. Wie viel?»

«Aua, geht das auch tausend Dezibel leiser? Ein paar Alkopops.»

«Ein paar was?!»

«Du weißt, das, was die Jugendlichen jetzt immer trinken, ein alkoholhaltiges Süßgetränk, ich habe …»

«Ich weiß, was Alkopops sind, ich verbringe mein Leben bloß im Orchester, nicht hinterm Mond!»

«Die Alkopops, die Lotti und ich gestern hatten, waren sehr lecker, irgendwas mit Kokos und Ananas. Und vorher hatten wir noch Wein.»

«Das glaube ich jetzt nicht – du hast deine eigene Tochter zum Trinken verleitet!»

«Falsch!» Ich versuche mich aufzurichten, mit dem Ergebnis, dass der Raum kippt. «Lotti mich!»

«Ach, Jule. Manchmal mache ich mir echt Sorgen um dich!»

«Oh, das ist nicht … nötig.» Ich klaube mir die Worte mühsam zusammen. Der Pelz auf meiner Zunge verhindert, dass sie so zueinanderfinden, wie sie es normalerweise tun. «Dieser Fritz scheint echt ein total netter Junge zu sein, und Lotte ist ja auch nicht aus der Welt.»

«Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.»

«Na, von Lotte, deiner Nichte! Sie zieht nächste Woche aus.»

«Oh.» Jetzt klingt Eva-Maria betroffen. «Das tut mir leid. Dann bist du jetzt also ganz allein.»

Ich seufze. Müssen immer alle darauf herumreiten?

Evi kichert. «Aber du hast nicht zufällig das Instrument gewechselt? Deiner Nachricht entnehme ich, dass du gestern auf anderen Sachen gespielt hast.»

«Jetzt bin ich es, große Schwester, die deinen Worten keinen Sinn zuordnen kann.»

«Ich rede von deiner SMS letzte Nacht. Du solltest deine Nachrichten besser prüfen, bevor du sie abschickst. Kannst von Glück sagen, dass du nur mir das geschickt hast. Das hast du doch, oder?»

«Was habe ich denn geschrieben?», frage ich.

«Ich lese es dir vor.» Eva-Maria versucht, meine Altstimme nachzuahmen. «Bin gerade voll am Hoden. Aber klar kann ich auch auf der Ukraine spielen. Bin ja nicht mehr verheiratet. Gute Nacht!»

Ich muss so plötzlich und so heftig lachen, dass ich zur Seite kippe.

«Jule?», höre ich meine Schwester durch den Hörer, der mir beim Lachen entglitten ist. «Bist du noch dran? Da muss irgendwas in der Leitung sein, da ist so ein komisches Geräusch!»

Ich versuche, nach dem Hörer zu greifen, aber der Lachflash ist so heftig, dass ich mich nicht richtig danach strecken kann. «Warte, Evi», presse ich hervor. «Es ist gleich vorbei!»

«Ich will auch mal so einen Alkopop», sagt sie, als ich mich wieder beruhigt habe. «Allerdings vielleicht nicht vor einem Konzert. Apropos. Das geht also in Ordnung für dich, dass du da einspringst? Ich weiß, die sind manchmal etwas schwierig, die Damen vom Frollein-Salon-Orchester, etwas … schlecht gelaunt.»

Endlich bin ich wieder im Film. Ich soll für die Sängerin eines Salonorchesters einspringen, die auch Einlagen mit der Ukulele hat. Prima. Das bedeutet ein paar Mehreinnahmen, die ich zurzeit bitter nötig habe. Die Stromnachzahlung hat mir fast die Schuhe ausgezogen, und dann wollte ich noch zur Krebsvorsorge, das volle Programm, bei dem man immer draufzahlen muss, denn es ist ja wichtig, sich durchchecken zu lassen, und …

Evi spricht unterdessen munter weiter. «Sie sind streng genommen ja auch gar keine Frolleins. Die Bratsche braucht schon seit einiger Zeit eine Brille, und die Geigen kommen kaum noch mit dem Färben hinterher.»

«Ich werde mit denen schon klarkommen», unterbreche ich sie. «Mit der Bratsche habe ich sogar schon mal zusammengespielt. Claudia heißt sie, wenn ich mich richtig erinnere. Sie war in der Tat etwas übellaunig. Aber so etwas kommt ja mal vor.»

«Und vierzehn Tage Tournee sind kein Problem? Und dass du nächste Woche schon losfliegen musst?»

«Nein, nein, das geht in Ordnung, ich hatte ja keinen Urlaub geplant.» Sabine Knopfler von der Buchhaltung wird Augen machen. Habe ich jetzt also doch ein Reiseziel. «Sagtest du losfliegen? Fahren wir nicht mit einem Tourbus oder so?»

Meine Schwester lacht. «Das wäre etwas schwierig, so übers Meer.»

«Übers Meer?», wundere ich mich.

«Du hast meine Nachricht überhaupt nicht richtig gelesen!», beschwert sie sich. «Das mexikanische Goethe-Institut hat euch eingeladen. Ihr tourt durch Yucatán.»

 

Ich liege still auf meinem Bett. Die Sonne scheint durch die Vorhänge, und ich reiße sie auf. Ein Kribbeln durchfährt mich, ich weiß nicht, ob es Furcht oder Vorfreude ist. Mexikooo, Mexikooo, der alte Schlager singt in meinem Kopf. Ich war noch nie in Mexiko. War überhaupt noch nie jenseits des Atlantiks. Muss ich mich jetzt eigentlich impfen lassen? Irgendwas beachten? Jemandem Bescheid sagen, außer meinem Chef und Louis und Lotte? Mir wird auf einmal bewusst, dass mich kaum jemand vermissen wird. Ich schalte mein Handy ein und fahre bei dem Piepen zusammen. Stefan hat mir geschrieben: «Schön, dass du dich so amüsierst. Na, dann noch viel Spaß!» Verdammt, das kann nur eines bedeuten! Ich öffne den Ordner für gesendete Nachrichten, und ein heißer Schreck durchfährt mich. Ich habe die Antwort auf Eva-Marias Anfrage ganz offensichtlich «an alle» geschickt.

2. Kapitel

«Nie war Fliegen so sicher wie im vergangenen Jahr.» Ich blicke auf die aufgeschlagene Zeitung vor mir und runzele die Stirn. Was soll das heißen? Dass Fliegen in diesem Jahr unsicherer ist? Zum Glück gehöre ich nicht zu den Menschen, die unter Flugangst leiden – schließlich kenne ich die Zahlen! Statistisch gesehen fliegt ein Mensch 14000 Jahre lang unfallfrei, und auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, echt alt zu sein – so alt dann doch nicht.

Wir warten an einem Gate in Schiphol, dem Flughafen, auf dem sich die Wege der Welt kreuzen. Daran, dass wir in Amsterdam sind, erinnern die großformatigen Bilder mit Tulpen und die blau gekachelten Stände, an denen blonde Menschen Poffertjes und holländischen Käse verkaufen. Ansonsten ähnelt das Gelände einem globalen Dorf. Frauen in Saris mit punktgeschmückter Stirn schreiten die Gänge hinab, dazwischen gehen übergewichtige Europäer in ausgeleierter Freizeitkleidung, asiatisch aussehende Geschäftsreisende, braun gebrannte Hippies mit Silberschmuck, tief Verschleierte, schöne und hässliche Menschen mit dunkelbrauner, elfenbeinweißer, von der Sonne verbrannter, kaffeefarbener und sommersprossiger Haut.

Noch drei Minuten, bis unser Flug aufgerufen wird. Ich drehe mich zur Bratsche um, die ihre Brille auf die Nasenspitze geschoben hat und einen Punkt in der Ferne fixiert. Wir haben noch nicht sonderlich viel miteinander gesprochen, seitdem wir uns am Hamburger Flughafen getroffen haben, aber es ist ja auch erst sieben Uhr morgens, und vielleicht ist sie einfach nicht der Typ für diese Tageszeit. Auch die Geigen, in schimmerndem Blond und Leuchtendrot, schweigen bedächtig. Ich hoffe, dass sie auf der Bühne ein wenig mehr Stimmung zaubern als bei den Proben, aber ich habe leise Bedenken. Sollten sie jemals so unbedacht gewesen sein, Drogen zu nehmen, so tippe ich auf Morphium.

Wir sind zu fünft: Claudia, die Bratsche, die zwei Geigerinnen, eine ziemlich dicke Pianistin und ich. Die Original-Ukulele liegt mit Grippe im Bett.

«Mexiko, ja?», strahle ich in die Runde, in dem Versuch, dieses molto andante zu durchbrechen. «War eine von euch schon mal da?»

Claudia blickt weiterhin in die Ferne, die anderen schütteln müde den Kopf. «Hätte mir Mexiko jetzt auch nicht unbedingt ausgesucht», sagt die dicke Pianistin. «Aber das Goethe-Institut hat uns nun mal gebucht.»

Ich unterdrücke eine sarkastische Mitleidsbekundung. Schließlich will ich nicht, dass es schon vor unserem ersten Konzert Misstöne gibt.

Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, als unser Flug endlich aufgerufen wird. Meine erste Fernreise seit vierundzwanzig Jahren! Und dann auch noch nach Mexiko! Bevor ich Stefan kennenlernte und die Kinder kamen, war Mexiko mein Traum gewesen, insbesondere Yucatán mit seinen karibischen Stränden, seinen vielen bunten Farben und der Maya-Kultur! Doch während des Studiums wurde nichts daraus – in den Semesterferien musste ich entweder proben oder arbeiten. Später mit Stefan klappte es auch wieder nicht. Meine wiederholten Vorschläge, an das Ziel meiner Träume zu fahren, tat er ebenso wiederholt mit dem Einwand ab, dass er sich die Magen-Darm-Grippe lieber in heimischen Gefilden hole. Was denn stattdessen mit der Ostsee wäre? Ich hatte nichts gegen die Ostsee, zumindest in den ersten zehn Jahren unseres Zusammenseins nicht. Ab dem elften Jahr Ostsee begann sich in mir leiser Protest zu regen, und ab dann verlor die Sache für mich an Reiz.

«Wie bitte?» Ich bin so versunken in meine Grübeleien, dass ich nicht verstehe, was die Dame am Schalter zu mir sagt.

«Ich meinte, dass es mir entsetzlich leidtut.» Die Dame blickt mich voller Mitgefühl an.

Einen irren Augenblick lang überlege ich, ob die Dame Gedanken lesen kann. «Aber wir werden selbstverständlich für alle entstehenden Unannehmlichkeiten aufkommen. Und Sie erhalten eine Übernachtung in Amsterdam!»

«Aber ich will hier nicht übernachten!», rufe ich aus und drehe mich, Bestätigung heischend, zu meinen neuen Kolleginnen um.

Doch das Phlegma hat hier erneut zugeschlagen. Nur Claudia schiebt sich ihre Brille wieder den Nasenrücken hoch und blickt die Schalterdame durchdringend an. «Wir haben heute in Mérida einen Auftritt», sagt sie. «Alle zusammen.»

Die Schalterdame knetet ihre Finger. «Ich muss mich wirklich aufrichtig entschuldigen. Aber der Flieger ist überbucht, ich kann da nichts machen!»

Ich möchte die uralte Frage aufbringen, die mich umtreibt, seitdem ich die Schule verlassen habe: WARUM IMMER ICH? Immer bin ich die Ausnahme, und das so gut wie nie im positiven Sinn! Ich habe zwar mal als Einzige von uns fünf Geschwistern den bundesweiten «Jugend musiziert»-Wettbewerb gewonnen – aber als Einzige von uns fünf bin ich nicht Profimusikerin geworden, sondern Angestellte in einem Büro. Ich suche mir die falschen Männer aus. Ich stehe immer in der falschen Schlange. Ich bin die Einzige bei uns, die Überstunden machen muss. Und ausgerechnet ich, die ich immer eine große Familie haben wollte, die ich es über alles liebe, mit anderen Menschen zusammen zu sein, mit anderen zu musizieren, mit anderen zu feiern, ausgerechnet ich bin immer allein. Und nun bin ausgerechnet ich von allen Mitgliedern des Frollein-Salon-Orchesters diejenige, die nicht mit auf den überbuchten Flieger darf. Ich weiß nicht, was ich schrecklicher finde: dass ich anfange, mich selbst zu bemitleiden. Oder dass ich nicht mit nach Mexiko fliegen kann.

Allmählich kommt Bewegung in die entschleunigten Kolleginnen. «Das ist jetzt wirklich komisch», murrt eine der Geigerinnen. «Wir fünf sind doch zusammen gebucht.»

Die Schalterdame blickt in ihre Unterlagen. «Leider nein. Frau Julia Meyer hat ihren Flug erst vor einer Woche gekauft.»

«Und was heißt das jetzt genau?», frage ich verzweifelt.

«Dass Sie leider erst morgen fliegen können», antwortet sie.

 

Ich verbringe den Tag in Amsterdam, einer Stadt, die ich schon immer mal kennenlernen wollte. Aber jetzt habe ich keine rechte Freude daran. Um mich herum nichts als verliebte Paare, die sich küssen und tief in die Augen schauen, Mädchengruppen, die sich unter Lachanfällen selbst fotografieren, Mütter mit kleinen Kindern und junge Männer mit vollen Bierkrügen in bunten Bars. Aus einem Café wehen Salsaklänge zu mir herüber, ich habe Lust zu tanzen, aber mit wem? Ein Mann mit dunkelblonden, welligen Haaren bemerkt mein Zögern und winkt mich fröhlich zu sich hinüber, aber ich kenne den Mann ja gar nicht. Es ist doch merkwürdig, mit einem Wildfremden einfach so tanzen zu gehen. Zwei Straßen weiter bereue ich mein Zögern, aber jetzt ist es zu spät.

Auf einmal bin ich inmitten einer Menschenmenge, die mit jedem weiteren Schritt anzuschwellen scheint. Die Menge strömt auf einen Boulevard, der von Häusern mit hohen Glasfassaden gesäumt ist, und ich fließe einfach mit. Was für Dinge in den Auslagen zu sehen sind! Ein Kleid, das ich am liebsten sofort kaufen möchte, nicht weil es dem entspricht, was ich sonst trage, sondern im Gegenteil, weil es eine neue Jule herstellen würde, zumindest äußerlich. Eine, die elegant ist und selbstsicher, der das Geld egal ist, weil … Oh verdammt, wie kann ein Kleid bitte schön zweitausend Euro kosten? Ich versuche mir die Leute vorzustellen, die da einfach mal zugreifen würden, aber es gelingt mir nicht. Dabei weiß ich, dass es diese Leute gibt und dass sie sich vermehren, wenn auch wohl nicht im biologischen Sinn. Wir haben vor ein paar Monaten in der Agentur eine Studie zum Thema Umsatz von Luxusgütern ausgewertet, und von daher weiß ich, dass die Nachfrage nach hochwertiger Kleidung und Schuhen, nach Schmuck, Autos, Yachten und Luxusimmobilien weiter steigt. Komischerweise ist bei mir das genaue Gegenteil der Fall. Mit jedem neuen Jahr scheine ich mir weniger leisten zu können. Jeden Monat, so um den 28. herum, rutscht mein Konto ins Minus. Der Februar ist nur deshalb mein Lieblingsmonat, weil er so kurz ist. Es ist der einzige Monat, den ich durchstehe, ohne am Ende total auf dem Trockenen zu sitzen. Auf der Plus-Seite sage ich mir, dass das toll ist. Die Welt da draußen mag immer irrer werden, aber in meinem Leben gibt es eine Konstante, etwas, an dem die Jahre nichts verändern und an dem ich mich immer festhalten kann: die Finanz-Ebbe am 28. Auf der Minus-Seite ist das scheiße. Weil ich mir absolut nichts außer der Reihe leisten kann. Dabei bin ich wahrlich nicht der Typ, der das Geld zum Fenster hinauswirft. Ich färbe mir meine Haare selbst, ich habe kein Auto, und eine Pediküre gönne ich mir bloß im Sommer.

 

Während ich weiter vor der Auslage mit dem tollen Kleid stehe, überlege ich, ob ich den Niedergang meiner Kaufkraft mit einer Tätigkeit als Straßenmusikerin aufhalten kann. Diese stark bewanderten Grachten könnten eine Goldgrube sein, das weiß ich noch von früher, als ich mit Kommilitonen durch die Hamburger Innenstadt zog. Die meisten Passanten wissen es zu schätzen, wenn man nicht nur Popsongs, sondern Vivaldi oder Rachmaninoff spielt. Ich bleibe tatsächlich stehen, um meinen Instrumentenkoffer zu öffnen, doch dann sehe ich mich in der verspiegelten Glasfront eines Juweliergeschäfts und schüttele langsam den Kopf. Wie würde das denn aussehen!

Gut, flüstert mir eine kleine Stimme in meinem Kopf zu. Du bist immer noch eine attraktive Frau, und wenn du anfängst zu spielen, dann horchen die Leute auf!

Schlecht, widerspricht eine andere. Eine Frau kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag wirkt armselig, wenn sie sich so allein an den Straßenrand stellt.

Die zweite Stimme gewinnt. Ich trete den Rückzug ins Hotel an. Es war ja auch ein langer Tag.

 

Die dunkelblonden Wellen wippen durch den Gang, als wäre der Airbus nach Mérida ein Tanzcafé. Ich erkenne ihn sofort wieder, vor allem an den Hüftschwüngen, und merkwürdigerweise erkennt er mich auch. Er schleudert sein Handgepäck ins Fach, lässt sich auf den Sitz neben mir fallen und strahlt mich an: «Die Schüchterne vom Grachtengürtel!»

Ich lächele vorsichtig zurück. «Ein Mann, der schon morgens um sieben gute Laune hat!»

Sein Blick fällt auf die Ukulele, die in ihrem Koffer zwischen meinen Beinen steht. «Und dann auch noch musikalisch – das sind die Frauen, mit denen man theoretisch Spaß haben könnte, hat mein Ex-Freund immer gesagt!»

«Oh, danke.» Jetzt erwidere ich sein Strahlen. «Wenn du in diesen Flieger gestiegen bist, damit ich mich besser fühle – Mission erfüllt!»

Er reicht mir seine Hand. «Richard. Freut mich, dich kennenzulernen. Und tut mir leid, dass ich so aufgedreht bin! Das ist die Flugangst. Sobald die hier wirken –», er schüttelt eine Schachtel Schlaftabletten, «bin ich wieder normal!»

«Wenn du die alle schluckst, bist du nicht normal, sondern tot. Jule. Mich freut es auch.»

Richard lacht. «Und dann bist du auch noch witzig! Musstest du das werden? Warst du als Kind hässlich?»

«Ich war nicht …» Jetzt muss ich auch lachen. «Danke für das Kompliment!»

«Keine Ursache!» Richard fächelt sich Luft zu. «Ganz schön heiß hier drinnen! Oder bin ich schon in den Wechseljahren?»

«Keine Ahnung. Wie alt bist du denn?»

«Hey – das ist keine Frage, die man einfach so stellt! Aber du kannst ja mal schätzen!» Richard zwinkert kokett. Ich nehme ihn näher in Augenschein. Soweit ich das unter seinem T-Shirt und seiner Jeans erkennen kann, hat er einen muskulösen, durchtrainierten Körper. Im Gesicht hat er ein paar Falten, vor allem aber wohl vom Lachen. Und seine dunkelblonden Wellen wirken noch ziemlich voll.

«Fünfunddreißig?», frage ich und bete zugleich innigst, dass ich ihn damit nicht beleidigt habe. Ich bin im Schätzen nicht sehr gut.

Doch Richard wirkt erfreut. «Schätzchen, jetzt hast du mir aber den Tag gerettet. Ich gehe ganz stark auf die vierundvierzig zu!»

«Verzeihung?» Eine zarte Person steht fragend vor uns. «Es tut mir sehr leid, aber ich müsste da einmal durch. Ich habe den Fensterplatz.»

«Keine Ursache.» Richard springt eilfertig auf. Ich quetsche mich ihm hinterher und lasse die junge Frau an mir vorbei. Sie lächelt noch einmal entschuldigend.

«Boarding completed.» Die Stimme der Flugbegleiterin dringt aus Lautsprechern zu uns. Ich kann die Frau nicht sehen, dazu ist der Airbus zu groß.

Ich blicke an meiner Sitznachbarin vorbei nach draußen. Der Himmel ist noch immer grau. Durch den Morgennebel schimmern die Lichter auf dem Rollfeld. Ich versuche mir meine Ankunft in Mexiko vorzustellen. Ich weiß, dass das Goethe-Institut jemanden schicken wollte, um uns vom Flughafen abzuholen, aber holen die auch eine einsame Ukulele ab?

«Wir zeigen Ihnen jetzt, wie Sie den Gurt öffnen und schließen …», tönt es aus dem Lautsprecher.

Neben mir krampfen sich Richards Hände zusammen.

«Du musst keine Angst haben», tröste ich ihn. «Mindestens einhundertundeine Airline haben in ihrer Geschichte noch nie einen Absturz hinnehmen müssen, und dazu zählt diese hier!»

«Prägen Sie sich besonders die Lage der Notausgänge ein», tönt es weiter.

«Ach ja?» Richards Atem geht jetzt deutlich schneller. «Und warum sagt die Frau dann das?»

«Die Lage der Notausgänge zu kennen gehört einfach zur Allgemeinbildung.»

«Schätzchen, in puncto Notausgänge und Fluchtwege bin ich so was von gebildet, ich könnte eine Doktorarbeit drüber schreiben!»

Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass unsere Sitznachbarin zu lächeln beginnt. Auf einmal kommt es mir nicht richtig vor, dass wir uns einander nicht vorgestellt haben und dass sie sich Richards und meinen Albernheiten nicht anschließen kann. «Wir reden gerade über Flugangst», sage ich zu ihr. «Ich heiße übrigens Jule. Und du?»

Wenn es sie überrascht, dass ich sie so einfach duze, dann zeigt sie es nicht. Stattdessen wird sie einfach nur dunkelrot. «Ada», sagt sie leise. «Das ist so freundlich, dass du … also ihr …»

«Machst du Urlaub in Mexiko?»

«Äh, nein.» Sie nestelt mit einem Kopfhörer herum, dann sieht sie mich an. Sie hat blaue Augen und dünne braune Haare. Nicht hübsch im klassischen Sinne, eigentlich eher unscheinbar, aber auf eine Weise sehr zart und irgendwie rührend. Ich schätze sie auf irgendetwas in den Dreißigern, aber gleichzeitig sieht sie fast kindlich aus.

«Ich mache übrigens auch keinen Urlaub», mischt sich Richard von der anderen Seite ein.

«Toll, dann hat die ganze Sitzreihe ja was gemeinsam. Ich nämlich auch nicht», erkläre ich.

In diesem Augenblick setzt sich der Flieger in Bewegung. Richard wird bleich. «Ich glaube, ich schlucke die jetzt trocken runter», sagt er und wedelt erneut mit der Packung Schlaftabletten. «Das dauert ja noch eine Ewigkeit, bis die mit den Getränken kommen!»

«Oder du versuchst, dich jetzt zu entspannen.» Ich rede mit ihm wie früher mit Lotte und Louis vor Klassenarbeiten. «Weißt du, zwölf Prozent aller Unglücke ereignen sich schon auf dem Rollfeld. Und jetzt starten wir. Das heißt, dass sich unsere Chancen zu verunglücken um zwölf Prozent verringert haben. Wenn das nicht eine gute Nachricht ist!»

Richard bewegt leise die Lippen. Seine Hände umschließen die Packung mit den Schlaftabletten wie im Gebet. Wir rollen jetzt immer schneller, nehmen Fahrt auf, draußen wischen die Lichter auf dem Rollfeld vorbei. Und dann durchfährt ein kleiner Ruck die Maschine. Wir heben ab.

In diesem Moment spüre ich ein Gefühl in mir. Ein ganz kleines zwar, aber es ist da. Und wieder brauche ich ein paar Sekunden, um es zu lesen: Es ist Glück! Oh, wie schön es ist, die Welt unter mir zurückzulassen! Wie leicht ich mich auf einmal fühle, wie frei!

«Und jetzt?» Richard dreht sich zu mir um. Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. Immer weiter fliegen wir nach oben, ziemlich senkrecht, wie mir scheint.

«Ab jetzt ist alles gut», lächele ich ihn an.

«Das ist doch gelogen!», stößt er hervor.

Ich sehe ihn an. Er tut mir wirklich leid. «Würde es dir helfen, wenn ich dir etwas vorsingen würde?»

Er lässt die Tablettenschachtel los und ergreift meine Hände. «Würdest du das wirklich für mich tun?»

Mein Herz klopft ein bisschen schneller. So etwas habe ich noch nie getan. Einfach so im Flieger anfangen zu singen. Ob so etwas vielleicht sogar verboten ist? Schon bereue ich meinen Vorschlag. Aber dann sehe ich Richards erwartungsvollen Blick.

Ich schließe die Augen und fange an.

«Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.»

Meine Stimme trägt durch den Flugzeugraum. Sie übertönt das Dröhnen und das Stimmengewirr. Um mich herum wird alles still. Ich weiß nicht, warum ich jetzt ausgerechnet das Deutsche Requiem singe, es klingt ja so traurig, wie ein Requiem klingen soll, aber seine Worte sind so tröstlich.

«Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.»

Ich singe die ersten beiden Verse durch und dann springe ich zum sechsten Vers, meinem liebsten, und schmettere vivace in C-Dur: «Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?»

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich, wie Richard mich anstarrt. Und nicht nur Richard. Die Menschen aus den umliegenden Sitzreihen haben sich ebenfalls zu mir umgedreht.

«Ich habe Gänsehaut», bringt Richard endlich hervor.

«Das war wunderschön», wispert jetzt auch Ada. «Würdest du … würde es dir etwas ausmachen weiterzusingen?»

Ich sehe mich um. Nicht alle hier sehen begeistert aus. Ein Mann mit kahlrasiertem Schädel in der Reihe schräg vor mir schüttelt den Kopf und zeigt mir einen Vogel. Richard kichert.

Jetzt tritt eine Flugbegleiterin auf mich zu und mustert mich streng. «Ich muss Sie leider bitten, Ihre Rufe jetzt einzustellen.»

«Meine … was?»

«Wir wollen hier nichts von Hölle oder Tod hören. Außerdem haben Sie eben unsere Lautsprecherdurchsage übertönt!»

«Sie hat es für mich getan!», fällt Richard ein. «Weil ich doch solche Flugangst habe! Und ich konnte meine Schlaftablette nicht nehmen, weil Sie ja mit den Getränken nicht vorbeikamen. Und das eben war auch nicht die Hölle, sondern Brahms!»

Die Flugbegleiterin mustert ihn mit einer erhobenen Braue. «Wenn Sie Wasser für Ihre Tablette brauchen, müssen Sie mir nur Bescheid sagen! Dafür sind wir schließlich da.» Und damit rauscht sie davon.

Wir bleiben sprachlos zurück.

«So ist es irgendwie immer», sagt Ada leise.

Ich drehe mich zu ihr um. «Wie meinst du das?»

Ada wird rot. «Ich … ich weiß nicht. Dass einem die anderen die Regeln diktieren.»

Richard zerdrückt die Schachtel mit den Schlaftabletten zwischen seinen Fingern. Die Angst ist aus seinem Gesicht verschwunden. Er sieht verwirrt und wütend aus.

Ich blicke zwischen den beiden hin und her. Tausend Fragen schwirren mir durch den Kopf. Aber ich beschließe, sie nicht zu stellen. Ich kenne die beiden ja gar nicht. Auf einmal strahlt helles Sonnenlicht zu uns herein. Wir haben die Wolkendecke durchstoßen und fliegen einem endlos blauen Himmel entgegen. Wieder spüre ich dieses Glücksgefühl. Ich denke daran, wie ich das Deutsche Requiem im Chor der Hochschule gesungen habe, damals vor fast dreißig Jahren, und wie ich bei unserer Aufführung kaum aussingen konnte, so sehr war mir die Kehle vor Rührung eng. Ich denke an das Blau um mich herum und unter mir im Ozean und daran, wie sehr mich Musik immer verändert. Aber dann sehe ich mich wieder als Neunzehnjährige bei der Aufnahmeprüfung zum Dirigentenstudium und wie ich damals die einzige Frau war und dann nicht genommen wurde und wie ich stattdessen Gesang im Hauptfach studiert habe und wie mein Leben eine Aneinanderreihung von zweiten Wahlen geworden ist.

«Glaubt ihr an Schicksal?», reißt mich Richard plötzlich aus meinen Gedanken.

«Nein», antworten Ada und ich wie aus einem Mund. Wir lächeln uns an.

«Nein?», wiederholt Richard ungläubig.

«Nein», wiederholen wir.

«Mann, was seid ihr denn für Frauen?»

Ada und ich sehen uns an. «Keine Ahnung», sage ich.

Ada wird wieder rot. «Kommt vielleicht darauf an, was du unter Schicksal verstehst.»

«Na, dass ausgerechnet wir drei in einem Flugzeug nach Mexiko unterwegs sind. Und auch noch in einer Sitzreihe! Das Schicksal hat uns zusammengeführt! Uns drei verbindet doch etwas! Spürt ihr das nicht?»

«Was möchten Sie trinken?» Die Flugbegleiterin steht wieder vor uns, ihr Gesicht ist immer noch streng.

«Champagner», sagt Richard.

«Der kostet extra.»

«Der? Na, das erleichtert die Auswahl. Den nehme ich dann. Und für meine Nachbarin, die phantastische Sängerin, bitte auch ein Glas. Und für meine andere charmante Nachbarin bitte auch.»

Ich strahle. Champagner um acht Uhr morgens trinken? Das habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getan!

«Auf uns!», strahlt Richard, als wir einen gefüllten Plastikbecher in den Händen halten.

Ich strahle zurück, und auch Ada lacht. Ihr kleines Gesicht leuchtet richtig. Es ist ein schöner Moment, der schönste seit Jahren, eine Glücksmoment-Insel in einem Meer von immer gleichen Tagen und Einsamkeit.

«Und darauf, dass uns die anderen nicht mehr die Regeln diktieren!», ruft Richard und nimmt einen kräftigen Schluck.

Der Typ aus der Sitzreihe schräg neben uns wirft uns einen verächtlichen Blick zu und schüttelt wieder den Kopf.

3. Kapitel

«Ich bin Zahnarzthelfer aus Leidenschaft», antwortet Richard auf meine Frage, was er denn beruflich mache. Es duftet nach Kaffee. Die Flugbegleiter händigen die Boxen mit dem Frühstück aus. Wir klappen unsere Tabletts herunter.

«Es ist mein Traumberuf! Und zwar schon seit ich sechs Jahre alt war! Danke schön!» Er lächelt die Flugbegleiterin an, nimmt seine Box entgegen und reißt sie auf.

«Weil du damals beim Zahnarzt warst, nehme ich an. Oh, vielen Dank!»

Neben mir nimmt Ada nun ihre Box entgegen. Ich sehe, wie sie einen Blick drauf wirft und dann die Box zurückreicht. «Es tut mir leid», sagt sie so leise, dass die Flugbegleiterin sie nicht versteht.

«Entschuldigung!», sage ich etwas lauter, an die Flugbegleiterin gewandt.

«Da ist Fleisch drin», murmelt Ada und wird rot. «Es tut mir leid, ich hatte Vegetarisch bestellt.»

Die Flugbegleiterin runzelt die Brauen und holt eine Liste hervor. Das Lächeln gefriert ihr im Gesicht. Ganz eindeutig, «Hölle» ist das Wort, das sie mit unserer Sitzreihe assoziiert. «Davon steht hier nichts», sagt sie.

«Okay, ähm … nicht so schlimm.» Ada nimmt die Box wieder entgegen. «Entschuldige», wendet sie sich an Richard. «Ich habe dich unterbrochen. Was ist passiert, als du sechs Jahre alt warst?»

«Keine Ursache. Aber Ada, du solltest dein Recht einfordern! Wenn du Vegetarisch bestellt hast, dann steht dir das auch zu!»

«Es ist kein Problem, wirklich. Die Flugbegleiterin ist schon gestresst genug. Und es gibt ja noch einen Obstsalat hier drin.» Ada beugt sich errötend über ihre Box. Ich möchte ihr etwas sagen, um sie aufzumuntern, aber mir fallen nicht die richtigen Worte ein. Stattdessen wende ich mich an Richard: «Hast du damals eine Zahnarzthelferin kennengelernt, die du gern mochtest?»

«O ja. Die beste, liebste und kompetenteste Zahnarzthelferin, die ihr euch vorstellen könnt! Ich war so klein und verängstigt und hatte Schmerzen, und sie hat das alles weggezaubert, einfach so. Später ist mir bewusst geworden, wie sehr Menschen leiden, wenn sie zum Zahnarzt müssen, nicht nur wegen der Schmerzen, sondern weil es so demütigend ist, mit offenem Mund dazusitzen und darauf zu warten, dass jemand was mit einem macht. Und hier kommen nun die Zahnarzthelfer ins Spiel. Sie können beruhigen und trösten, den Patienten aufmuntern, den Sauger so vorsichtig in seinen Mund legen, dass er ihn nicht spürt, und sein Blut abtupfen, bevor er merkt, dass es fließt. Wir Zahnarzthelfer haben die Macht, die Welt ein bisschen besser zu machen. Und darum liebe ich meinen Beruf!» Er reißt den Plastikverschluss seines Bechers mit Nachdruck ab und trinkt das Wasser in einem Zug leer.

«Das ist wahr», sagt Ada leise. «Aber nicht jeder Zahnarzthelfer nutzt diese Macht.»

«Nein», antwortet Richard. «Weil viele auch gar nicht wissen, wie viel Macht sie haben. Wie auch? Sie werden für bessere Putzfrauen gehalten und auch so bezahlt. Und wenn du dann auch noch als Mann in dem Beruf arbeitest, ist die Verachtung besonders groß. So, als hätte man sein Medizinstudium nicht geschafft oder so. Der letzte Zahnarzt, für den ich gearbeitet habe, hat ständig Dinge in dieser Richtung gesagt.»

«Wie dumm von ihm», sage ich. «Ich meine, wie dumm es ist, seine Angestellten kleinzumachen! Wie sollen sie denn dann großartig sein?»

«Ach, ich habe mich mittlerweile dran gewöhnt.» Richard holt wieder die Schlaftabletten raus.

«Würde es dir etwas ausmachen, die Tabletten nicht zu nehmen?» Die Worte sind heraus, bevor ich darüber nachdenken kann. Der Champagner zaubert mir Leichtigkeit in den Kopf.

«Warum?» Richard runzelt die Brauen.

«Weil es mir Spaß macht, mit dir zu reden. Und weil …»

«… du jetzt keine Angst mehr haben musst», fällt Ada lächelnd ein.

«Nicht? Warum nicht?»

«Na ja, nur ein winziges bisschen. Wenn du unbedingt Angst haben willst», sage ich.

«Das ist keine Frage des Wollens!»

«Auch nicht des Müssens. Wir haben nämlich unsere Reiseflughöhe erreicht, und in dieser Phase ereignen sich nur acht Prozent aller Unglücke. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir jetzt sterben, ist also so niedrig wie der IQ deines letzten Chefs.»

Ein paar Sekunden lang blickt Richard mich ungläubig an, dann lacht er schallend los. Auch Ada fängt an zu kichern.