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Mia Sassen

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Beschreibung

Für alle Fans von Dora Heldt, Virginia Ironside und Monika Preetz - eine hochkomische, total chaotische und dennoch nachdenkliche Reise durch den wilden Balkan zum Sinn des Lebens. Gerade hat Isabel ihren Job verloren und sich mit Mann und pubertierender Tochter gestritten, da gibt auch noch ihr uralter Opel Corsa seinen Geist auf. Verzweifelt streckt sie am Straßenrand den Daumen raus. Zu ihrer Überraschung hält tatsächlich jemand an: Die ältere Dame am Steuer des Landrovers ist auf dem Weg nach Istanbul, um ihre Jugendliebe wiederzufinden. Das liegt zwar nicht gerade direkt auf dem Weg nach Hamburg, aber dort vermisst Isabel ja ohnehin niemand. Ein aufregender Roadtrip durch den steinigen Balkan beginnt, mit geheimnisvollen Kroaten, wütenden Albanern und gefesselten Polizisten - und einem blinden Passagier...

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Seitenzahl: 436

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Mia Sassen

Ziemlich mitgenommen

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über den wilden Balkan zum Sinn des Lebens

 

Über Mia Sassen

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel

Für meine Tochter Morgaine

1. Kapitel

Doktor Jane Eppingham beugt sich so weit vor, dass ihr Ausschnitt keine Fragen mehr offenlässt. Erstaunlich, denke ich, während ich auf meinen Einsatz warte. Sie ist doch auch schon Mitte vierzig, genau wie ich. Aber ihre Brüste sind perfekt.

«Was meinst du», frage ich Daniel, der neben mir steht und mindestens ebenso gebannt von dem Anblick ist wie ich. «Push-up oder Silikon?»

«Naturschönheit», murmelt Daniel. Er steht ein bisschen auf Jane.

Ich mache ein paar schluchzende Geräusche, denn Jane verzieht jetzt weinend das Gesicht. «Er ist tot», sage ich und schlage genau wie sie die Hände vors Gesicht, damit meine Stimme bei dem Wort «tot» unterdrückt klingt. Daniel sagt gar nichts mehr, was logisch ist angesichts der Tatsache, dass sein Herz soeben stehengeblieben ist. Beziehungsweise das Herz von Johnny, den Daniel synchronisiert. Jetzt kommt der Abspann, und ich höre Tinas Stimme in der Sprecherkabine. «Ein Traum! Super gemacht, Isabel!»

Ich drehe mich zur Glasscheibe um, hinter der Tina sitzt, und winke ihr lachend zu.

«Kann ich dich eben noch mal sprechen?», fragt sie mich, als ich meine Jacke aus der Regie hole und mich von Daniel verabschiede.

«Klar», sage ich. «Worum geht’s?»

«Nicht hier.» Tina steht auf und winkt mir, ihr ins Büro zu folgen.

«Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?», fragt sie. «Glas Wasser vielleicht?»

«Gern.» Ich stelle fest, dass Tina rote Flecken im Gesicht hat und zittert.

«Geht es dir gut?», frage ich. Es ist die Frage, die ich ihr vielleicht am häufigsten gestellt habe, denn Tina geht es selten gut. Wir arbeiten seit neun Jahren zusammen, Tina als Redakteurin und ich als Synchronsprecherin. Zusammen mit Doktor Jane Eppingham bilden wir das infernalische Serientrio, und wenn wir sehr betrunken sind, was nach besonders langen Tagen im Tonstudio ein paarmal vorgekommen ist, nennt Tina mich Doktor Voice. «Praxis Dr. Eppingham» ist der totale Verkaufsschlager, die Serie läuft und läuft. Doktor Eppingham wechselt ihre Liebhaber wie Einwegspritzen, während um sie herum alles gesundet oder auch stirbt.

Tina reicht mir ein Glas und setzt sich mir gegenüber. «Doktor Eppingham hört auf.»

«Ehrlich?» Ich stürze das Wasser meine trockene Kehle hinunter. «Was will sie denn machen, wenn sie nicht mehr als Ärztin arbeitet?» Ich sehe Jane manchmal fast als Freundin.

«Sorry, ich habe mich wohl nicht klar ausgedrückt.» Tina schluckt. «Judy Durham hört auf.»

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass sie von der Schauspielerin spricht. Der Frau, die Doktor Jane Eppingham darstellt. Unsere Serienfigur.

«Das heißt …?»

Tina spielt mit dem Ring an ihrem Finger, den sie zur Geburt ihres Sohnes bekommen hat. Von ihren Eltern. In Ermangelung eines Ehemanns. Mit ihrem Ring spielt sie immer, wenn sie etwas sagen will, das nicht so einfach ist wie Ja. «Das heißt, die Praxis Eppingham wird geschlossen. Es ist vorbei.»

«Aber», ich ringe nach Worten. «Wie kann sie das tun? Es lief doch alles so gut! Jetzt ist endlich alles abbezahlt, und mit Will gibt es auch keine Probleme mehr …» Ich stocke, weil ich schon wieder die Serie mit dem wirklichen Leben verwechsle. Mit meinem Leben. «Also, was genau hat diese Durham für ein Problem? Ist sie rausgeworfen worden oder was?»

«Nein. Sie wollte nur einfach nicht mehr. Hat England schon verlassen. Ist nach Indien geflogen, in so einen Ashram, um zu …»

«Essen, zu beten und zu lieben?! Hält sie sich für Julia Roberts oder was?» Ich stehe auf, um mir Wasser nachzufüllen. «Verdammt noch mal, sie hat doch einen Vertrag!» Ich stürze auch dieses Glas Wasser hinunter. Das Büro ist die reinste Wüste Gobi an diesem Nachmittag.

«Natürlich. Die letzte Staffel hat sie auch ordnungsgemäß abgedreht. Nach dem Staffelende kommt ja immer die Vertragsverlängerung für die Schauspieler. Und die hat Judy Durham abgelehnt.»

Ich sehe Tina an. Neun Jahre, zwölf Staffeln, das Leben einer englischen Serienärztin in all seinen sentimentalen Details. Das Leben meiner Redakteurin kenne ich inzwischen mindestens ebenso gut. Ich habe zugesehen, wie Tinas Bauch wuchs. Ich habe sie und ihren kleinen Robert gleich nach der Geburt im Krankenhaus besucht. Und ich habe sie viele Abende getröstet. Tina trinkt Trost wie andere Leute Kaffee, es ist ihr Lebenselixier. Es gibt nämlich nur wenige Dinge in ihrem Leben, die so laufen, wie sie es sich wünscht: Der Vater ihres Sohnes hat sie verlassen, über ihr Dating-Portal lernt sie nur Aufschneider kennen («und damit meine ich keine Chirurgen», sagt sie gern, wenn sie einen lustigen Moment hat), und dann hätte sie eigentlich auch lieber einen anderen Beruf.

Sie probiert ein kleines Lächeln. «Was hätte denn jetzt auch noch groß passieren sollen? Jetzt, da Johnny tot ist, wären Jane und Will sowieso nicht mehr miteinander glücklich geworden!»

«Aber Jane konnte doch nichts dafür, dass Wills Stiefsohn gestorben ist!», verteidige ich meine Leinwandvorlage. Dann werde ich ernst. «Ich bin jetzt arbeitslos, stimmt’s?»

«Wir werden was Neues für dich finden», sagt sie, um mich zu beruhigen. «Der Sender hat gerade eine Serie aus Australien eingekauft. Da finden wir schon was für dich.»

Aber keine Hauptrolle, füge ich im Stillen hinzu. Dafür ist es zu früh. Noch bringen alle meine Stimme mit Doktor Jane Eppingham in Verbindung. «Ich muss jetzt los», sage ich hastig. «Lisa hat heute ein Fußballturnier in Kiel, und ich habe versprochen, sie zu fahren!»

«Ich rufe dich an», verspricht Tina.

Und auf einmal gibt es einen merkwürdigen Moment. Ich will sie kurz drücken, wie immer, wenn wir uns verabschieden. Aber gerade noch rechtzeitig bemerke ich, dass sie mir die Hand hinstreckt. Ich halte verblüfft inne. Aber dann zieht Tina mich doch an sich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. «Ich werde unsere Zusammenarbeit sehr vermissen», flüstert sie.

Ich habe das Gefühl, als ob in meinem Kopf nur Watte ist. «Das werde ich auch.»

Auf dem Weg hinaus komme ich an der Teeküche vorbei. Die Tür steht halb offen. Ich kann niemanden sehen, aber ich höre zwei Stimmen. Eine der beiden sagt: «Sie ist auch einfach längst nicht mehr so gut wie noch vor ein paar Jahren. Sie reißt es nur noch so runter. Es ist überhaupt kein Gefühl mehr dabei.» Und die andere: «Ich bin einfach nur froh, dass es jetzt vorbei ist. Und noch froher, dass ich sie nicht mehr sehen muss.» Dann lachen sie. Es sind Bernd und Johannes, zwei Toningenieure, mit denen ich schon oft zusammengearbeitet habe. Ihr Urteil über Judy Durham fällt aber unverhältnismäßig hart aus, denke ich. Und auch: Ich wusste gar nicht, dass die beiden solche Lästermäuler sind.

Und dann kommt plötzlich die furchtbare Gewissheit.

Die beiden haben nicht über Judy Durham geredet.

Sondern über mich.

 

Auf dem Weg zum Wagen schalte ich mein Handy ein: drei Anrufe in Abwesenheit. Der Akku ist fast alle, deshalb wähle ich nur Carstens Nummer. Mein Angetrauter gehört zu jener seltenen Spezies von Physiklehrern, die nicht nur logisch, sondern auch beruhigend wirken können.

Er meldet sich nach dem zehnten Klingeln. Zu seinen Vorzügen zähle ich nicht die Schnelligkeit.

«Ich bin soeben gefeuert worden», sage ich statt einer Begrüßung. «Und hinter meinem Rücken zerreißen sie sich das Maul über mich.»

«Isabel? Bist du es? Ich kann dich ganz schlecht verstehen!», ruft er.

Ich halte das Handy ein Stück von meinem Ohr ab. «Ich dich dafür ziemlich gut!»

«Ein alter Hut?!»

«Ja, ein alter Hut, dass du dich taub stellst, wenn ich Probleme mit dir besprechen will!»

«Aha, jetzt bin ich draußen, jetzt kann ich dich wieder hören. Entschuldigung, hattest du eine Frage?»

Ich verdrehe die Augen, was Carsten zum Glück nicht sehen kann. «Ja, ich frage mich, was es mit Murphys Gesetz auf sich hat.» Ich drehe den Autoschlüssel im Zündschloss. Mein alter Opel Corsa springt schon wieder nicht an.

«Mach dir darum keine Sorgen. Murphys Theorie ist systembezogen und kann nur auf geschlossene Versuchsanordnungen angewendet werden.»

Endlich. Der Motor schnurrt. «Carsten, ich bin in einem ganz schlimmen Tag gelandet!» Ich versuche, einem dieser Fahrzeuge mit Allradantrieb auszuweichen, das den Parkplatz vor dem Tonstudio offensichtlich als Verkehrsübungsplatz missbraucht. «Erst habe ich verschlafen, dann habe ich mich mit Lisa gestritten und jetzt das!»

«Es vergeht doch kein Tag mehr, ohne dass wir uns mit Lisa streiten», versucht mein Mann mich zu beruhigen.

«Ja, aber was, wenn es von nun an alles immer schlimmer wird!»

«Das wird es nicht. Das, was viele Leute unter Murphys Gesetz verstehen, ist nur der Effekt der illusorischen Korrelation.»

«Habe ich schon mal gesagt, dass du mich in den Wahnsinn treibst? Ja, auch du, Carsten!»

«Fährst du etwa gerade Auto und hast dein Handy am Ohr?»

«Lenk nicht ab!»

«Besser, du konzentrierst dich auf die Straße. Wir reden später, wenn wir beide zu Hause sind.»

Jetzt fühle ich mich noch unzufriedener. Es ist ja nicht so, dass ich von Carsten erwarte, dass er sich wie der einfühlsame Will in «Praxis Dr. Eppingham» verhält. Aber ein Trostsatz mehr, eine liebevolle Grußformel zum Schluss … Wir sind eben nur ein ganz normales Paar, das seit siebzehn Jahren zusammenlebt. Für Carsten und seine physikkundigen Freunde sind siebzehn Jahre natürlich nur ein Wimpernschlag, verglichen mit dem Alter des Universums. Aber für ein mitteleuropäisches Paar im 21. Jahrhundert ist eine siebzehn Jahre währende Beziehung schon eine Ewigkeit. Wir sind auch so ziemlich die Einzigen in unserem Bekanntenkreis, die noch immer zusammen sind. Ein Kollege von Carsten hat uns mal die Archosaurier der Neuzeit genannt. Das ist schön und langweilig. Denn manchmal nehmen wir uns einfach nur so hin.

Lisa steht schon vor der Tür, als ich ankomme. Sie schultert ihre Fußballtasche und reißt die Beifahrertür auf. «Wo warst du denn so lange?», brüllt sie mich an.

«Hallo, Lisa, ich freue mich auch, dich zu sehen!» Ich muss den Kopf einziehen, um nicht von der Tasche getroffen zu werden, die Lisa mit voller Wucht auf den Rücksitz schmeißt.

«Du musst Gas geben, sonst komm ich zu spät!»

«Ich muss gar nichts», wende ich ein. «Ich fahre dich jetzt schließlich mal eben hundert Kilometer, da könntest du ruhig ein bisschen netter zu mir sein!»

«Siehst du, das ist immer das Problem mit dir!» Lisa greift nach dem Gurt. «Wenn man dich einmal um einen Gefallen bittet, reitest du gleich monatelang darauf herum!»

«Ich habe doch gar nicht …»

«Außerdem, wenn ich gewusst hätte, dass du so trödelst, hätte ich Charlotte gebeten, mich mitzunehmen!»

«Warum hast du das nicht von vornherein getan?»

Lisa funkelt mich wütend an. «Du bist doch diejenige, die immer darauf besteht, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen! Jetzt lass ich mich mal darauf ein, und schon kommst du zu spät!»

«Mir ist was dazwischengekommen.» Ich will Lisa lieber nichts davon sagen, dass ich meine Arbeit verloren habe. Ich weiß, wie wichtig das Turnier für sie ist, und will sie nicht mit Dingen belasten, für die sie nichts kann.

Lisa schiebt sich ein Kaugummi in den Mund und blickt schweigend geradeaus. Ich mustere sie heimlich von der Seite. Sie ist meine geliebte, wilde Lisa und vermutlich der störrischste Teenager seit Billy the Kid. Seit sie sechs Jahre alt ist, spielt sie Fußball, und wenn ich ihrem Trainer glauben kann, ist sie unheimlich begabt. Seit einem halben Jahr spielt sie in der Jugendmannschaft des HSV. Für die Schule hat sie jetzt noch weniger Zeit als sonst.

«Bist du aufgeregt?», frage ich sie.

Lisa schüttelt den Kopf. «Ich will die einfach nur allemachen. Das sind solche Loser. Aber wir werden ihnen schon zeigen, wo der Hammer hängt!»

Ich lache.

Lisa fährt so heftig zu mir herum, dass ihr eine rote Strähne aus dem Pferdeschwanz rutscht. «Das war nicht lustig gemeint!»

«Sorry. Es klang nur so … süß.»

«Verdammt!» Lisa schlägt so hart auf das Armaturenbrett, dass ich unwillkürlich auf die Bremse trete.

«Was ist los?», frage ich irritiert.

«Ich hasse das, wenn du so redest!», brüllt sie. «Süß, mein Gott! Wann begreifst du endlich, dass ich kein kleines Kind mehr bin?!»

Ich fahre den Wagen rechts ran.

«So kannst du mit mir nicht reden», sage ich so ruhig, wie ich kann. Es kostet mich beträchtliche Mühe. In mir brodelt die Wut.

Lisa verdreht die Augen und ballt die Fäuste. «Mann, Mama, jetzt fahr endlich los!»

«Erst wenn du mir gegenüber einen anderen Ton anschlägst!»

Lisa wird feuerrot im Gesicht. Sie weiß, dass ich es ernst meine. «Ich sag einfach gar nichts mehr», presst sie endlich hervor und steckt sich die Stöpsel ihres MP3-Players ins Ohr.

Die Fahrt nach Kiel zieht sich eine Ewigkeit hin. Ich schalte das Radio ein und schrecke zusammen, als ich Heinrichs Stimme in einem Interview höre. Heinrich ist mein ehemals bester Freund. Er lebt jetzt in Italien und kommt nur nach Deutschland, wenn ihm hier eine Rolle angeboten wird. Gut gemacht, lobe ich ihn innerlich, und dann durchzuckt mich die Sehnsucht, wie immer, wenn ich an ihn denke. Er fehlt mir, aber daran habe ich mich schon vor Jahren gewöhnt.

Es folgt eine kleine Popnummer, die ich gedankenlos mitsinge, bis ich Lisas missbilligenden Blick bemerke.

Auf einmal höre ich meine eigene Stimme. Es ist ein Programmhinweis auf die neue Staffel von «Praxis Dr. Eppingham». Ich werfe Lisa einen Blick von der Seite zu, um zu sehen, wie sie darauf reagiert. Als Kind fand sie es lustig, mich im Radio zu hören, und hat mir tausend Fragen dazu gestellt. Jetzt tippt sie an ihrem Player herum, ohne eine Miene zu verziehen. Vielleicht hat sie es gar nicht gehört.

Als wir endlich vor der Kieler Sporthalle eintreffen, greift sie nach ihrer Tasche und sagt: «Du brauchst mich nicht abzuholen. Ich fahre mit Charlotte zurück.» Dann schlägt sie die Tür zu.

Kein Abschiedswort, kein Dankeschön.

Ich spüre, wie die Tränen in mir aufsteigen.

Nach ein paar Kilometern auf der Landstraße biege ich in eine Haltebucht ein. Ich muss Carsten jetzt einfach noch mal sprechen. Vielleicht hat er gar nicht mitbekommen, dass ich gefeuert worden bin.

Er nimmt wieder erst nach dem zehnten Klingeln ab. «Ich weiß nicht, ob du das vorhin richtig verstanden hast», fange ich an. «Aber ich habe meine Arbeit verloren.» Im selben Augenblick fällt mir auf, wie jammernd mein Tonfall klingt. Also hebe ich meine Stimme etwas. «Aber ich sehe das jetzt einfach als Chance», fahre ich fort. «Ich glaube nämlich, dass ich jetzt zurück ans Theater gehe. Was hältst du davon? Ach übrigens, hier spricht deine Frau.»

«Ans Theater?» Carsten klingt ehrlich verblüfft.

«Ja. Warum nicht? Ich meine, Lisa ist jetzt groß, ich kann ja abends wieder arbeiten und …»

«Ich glaube nicht, dass du zurück ans Theater kannst», unterbricht Carsten mich.

«Warum nicht?», frage ich nach.

«Der Zug ist abgefahren, würde ich sagen. Jeder verbindet deine Stimme mit «Praxis Dr. Eppingham». Außerdem bist du jetzt zu alt fürs Theater, finde ich.»

Ein paar Sekunden lang bleibt mir die Luft weg. Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert: dass Carsten es geschafft hat, meine Ängste in wenigen knappen Sätzen zu formulieren. Oder dass er so wenig Mitgefühl zeigt. Dann bricht es aus mir heraus. «Zu alt, Carsten? ZU ALT?!?»

«Nun reg dich nicht gleich wieder so auf. Das ist ja jetzt keine Beleidigung, sondern einfach ein Fakt. Du bist fünfundvierzig. Willst du dir das wirklich noch antun, die langen Abende auf der Bühne und diese ganzen Texte, die du für deine Rollen auswendig lernen musst?»

Als ich schweige, fährt er fort: «Was, wenn du eine Rolle bekommst, für die du zum Beispiel laufen und springen musst. Denk doch nur mal an deinen Gelenkschaden am Knie!»

«Na toll, soll ich mir vielleicht einen Rollator bestellen?!» Ich bemühe mich redlich, meine Stimme leicht und scherzhaft klingen zu lassen, aber in Wahrheit fühle ich, wie sich eine Eiseskälte in mir ausbreitet. Kurz darauf gefolgt von einer Hitzewelle. Oder, und bei diesem Gedanken klammere ich mich mit der rechten Hand am Lenkrad fest: die Wechseljahre! Ausgerechnet an diesem Tag brechen auch noch die Wechseljahre über mich herein!

«Vielleicht solltest du einfach eine kleine Auszeit nehmen», höre ich Carstens sachliche Stimme. «Lass dir Massagen verschreiben wie andere Leute in unserem Alter. Du könntest dich auch mehr an Lisas Schule engagieren. Die suchen händeringend nach Kantinenmüttern. Oder du machst Gartenarbeit.»

«Wow, das klingt echt partymäßig, Carsten. Aber du bezweifelst nicht grundsätzlich, dass ich noch ein Rollenangebot bekomme, oder?»

«Mmh, grundsätzlich wohl nicht. Du musst ja nicht darauf bestehen, dass es noch mal die jugendliche Liebhaberin ist.»

Und dann ist die Leitung tot. Ich blicke auf mein Handy und stelle fest, dass es ausgegangen ist.

Die Minuten vergehen, ohne dass ich irgendetwas tue. Links von mir rasen die Autos auf der Landstraße vorbei. Rechts leuchtet der Raps. Ich bade meinen Blick in all dem Gelb, ohne etwas anderes zu fühlen als diese seltsamen Temperaturschwankungen in meinem Körper. Kalt und heiß. Kalt. Und heiß.

Mechanisch drehe ich den Schlüssel im Zündschloss. Weiterfahren, denke ich. Bloß weg von hier. Es dauert genau drei Herzschläge, bis ich bemerke, dass etwas nicht so ist wie sonst.

Der Wagen springt nicht mehr an.

Ich lehne meinen Kopf auf das Lenkrad vor mir. Und dann bricht es plötzlich aus mir heraus: Die Tränen strömen mir nur so aus den Augen, bis das schwarze Lenkrad glänzt. Meine Schultern zucken, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun könnte.

Noch einmal versuche ich, die Zündung zu betätigen, doch der Motor schweigt beharrlich.

Plötzlich habe ich eine fast außerkörperliche Erfahrung. Ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich mir die Tränen von den Augen wische. Wie ich nach meiner Handtasche greife, die auf der Rückbank liegt. Wie ich aussteige, den Corsa ordentlich abschließe und losgehe. Wohin ich gehe, weiß ich noch nicht, aber das werde ich ja gleich sehen. Aha. Ich gehe auf die Einfahrt der Haltebucht zu.

Und dann hebe ich langsam den rechten Arm, so langsam, dass ich mir immer noch genau dabei zusehen kann. Und strecke den Daumen raus.

2. Kapitel

In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war ich vielleicht das deutsche Trampertalent. Also, neben Heinrich. Wir beherrschten alle Techniken, die ein Mensch benötigt, um ohne Geld von A nach B zu kommen. Hätte es jemals eine Stellenausschreibung für einen Job als Tramper gegeben, wir hätten dem Anforderungsprofil voll entsprochen: Dank unserer schauspielerischen Fähigkeiten konnten wir die Fahrer so unterhalten, dass sie am Steuer nicht einschliefen, außerdem verfügten wir über hervorragende Kenntnisse im Lesen von Landkarten, verhandlungssicheres Englisch und selbstredend über ein großes Maß an Flexibilität. Ich hatte außerdem einen Grundkurs in Selbstverteidigung absolviert.

Nun sehe ich mich von außen, wie ich hier stehe: ein zerknittertes Wesen mit wirren Haaren und verweintem Gesicht. Es sieht aus, als wäre es gerade von irgendwo weggelaufen: entweder aus dem Altersheim oder aus dem Irrenhaus. Täusche ich mich, oder beschleunigen die Autofahrer bei meinem Anblick?

Am Horizont sehe ich einen uralten olivgrünen Landrover auftauchen. Er fährt so langsam, dass ich ihn mir ganz in Ruhe ansehen kann, während er näher kommt. Das Dach ist nicht aus Blech, sondern besteht aus einer Tuchplane. Und jetzt kann ich auch die Fahrerin sehen. Es ist kein Zweifel möglich: Sie verlangsamt, als sie mich sieht.

Und bleibt stehen.

In diesem Augenblick erst wird mir bewusst, was ich hier tue: Ich bin im Begriff, in ein fremdes Auto einzusteigen. Und mein eigenes? Lasse ich einfach stehen. Ich will ja bloß nach Hamburg fahren. In mein altes Leben zurück.

Aber mein altes Leben gibt es nicht mehr, denke ich, während ich auf den Landrover zugehe. Ich habe keine Arbeit mehr, ehemalige Kollegen lästern über mich, meine Tochter spricht nicht mehr mit mir, und mein Mann hält mich für alt. Womit er vielleicht sogar recht hat. Weder mein Auto noch meine Eierstöcke springen mehr an. Ich stehe im Begriff, mich in ein beigefarbenes Neutrum zu verwandeln. Ich bin nicht mehr gefragt. Alles, was ich für sicher gehalten habe, die großen Konstanten in meinem Leben, ist auf einmal in die Ferne gerückt, und da stehe ich, verwundet und allein.

Die Fahrerin beugt sich zur Seite hinüber und öffnet die Beifahrertür. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um hineinzusehen. Die Frau lächelt mich an. Hunderte kleiner Fältchen durchziehen ihr Gesicht. «Ich fahre in Richtung Prag», sagt sie. «Und Sie?»

Ich probiere zurückzulächeln. Es tut weh. «Ich auch», sage ich.

 

Das Innere des Landrovers sieht aus, als hätte sich darin ein orientalischer Inneneinrichter ausgelebt. Am Rückspiegel baumelt eine Kette aus großen goldenen Perlen mit einem schillernd pinkfarbenen Anhänger in Herzform. Auf dem Armaturenbrett thront ein Miniatur-Minarett. Balkanfolklore tönt aus den Lautsprechern. Überall sind kleine Bilder aufgeklebt, die aussehen, als wären sie aus Zeitschriften ausgeschnitten worden. Ich erkenne ein türkisches Kaffeehaus darauf, in dem Männer an Tischen Tavla spielen, und ein Haus an einem Fluss. Es duftet nach einer Mischung aus Erdbeeren und Jasmin. Die Fahrerin hat kinnlang geschnittene weiße Haare. Mit ihrer weißen Bluse und der Marlene-Hose aus grauem Stoff sieht sie geradezu aberwitzig elegant aus in diesem Auto, das trotz der phantasievollen Aufmachung ziemlich heruntergekommen wirkt.

«Sie haben wenig Gepäck dabei», bemerkt sie, als sie wieder auf die Autobahn auffährt.

«Die Reise war nicht geplant», antworte ich.

Es ist eine Erleichterung, dass mir die Fahrerin keine weiteren Fragen stellt. Obwohl ich mich auch ein bisschen darüber wundere. An ihrer Stelle würde ich mich jetzt nämlich in Grund und Boden löchern.

Das hier ist natürlich die totale Schnapsidee. Das ist mir sogar in meinem Schockzustand klar. Ich kann jetzt nicht wegfahren. Und was zum Teufel soll ich in Prag? Ich muss meinen Agenten anrufen, zusehen, dass neue Aufträge reinkommen, gern auch wieder irgendwelche Engagements an einem Theater in der Provinz. Außerdem will ich mich mit Lisa aussöhnen. Ich blicke auf die Uhr. Ihr Spiel müsste mittlerweile vorüber sein. Wie es wohl ausgegangen ist?

Dann fällt mir ein, dass ich vorerst nicht telefonieren kann. Das Ladegerät meines Handys liegt zu Hause. Hamburg, 15 km, lese ich auf einem Schild. Noch kann ich die Fahrerin bitten, mich hier abzusetzen. Noch kann ich umkehren. So als wäre nichts geschehen.

Aber es ist ja etwas geschehen. Eine ganze Menge sogar. Wie herzlos Carsten mit mir geredet hat! Für wie selbstverständlich er meine Anwesenheit in seinem Leben hält! Das Muttchen mit den schmerzenden Gelenken, das jetzt genauso gut Gartenarbeit machen kann. Weil es zu alt für die harte, ehrliche Theaterarbeit ist. Was soll ich tun? Die Ausfahrt nach Hamburg rückt näher. Soll ich aussteigen oder weiterfahren?

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, überfordert zu sein. Nicht, dass ich noch nie Probleme gehabt hätte. Im Gegenteil. Aber die Probleme waren immer hübsch ordentlich der Reihe nach gekommen. Nicht alle auf einmal. Nicht so wie jetzt.

«Ist alles in Ordnung mit Ihnen?» Die Fahrerin sieht mich besorgt von der Seite an.

Und schon wieder bricht es aus mir heraus. Ich sehe sie an, während mir die Tränen über die Wangen laufen. Und schüttele den Kopf.

«Sie sind müde», sagt sie. «Am besten, Sie legen sich nach hinten auf die Ladefläche. Da liegt auch eine Matratze mit einer Decke. Nutzen Sie die ruhig. Wenn Sie aufwachen, wird es Ihnen bessergehen.»

Draußen taucht die Ausfahrt in einen nördlichen Hamburger Wohnbezirk auf. Ich könnte jetzt ganz einfach sagen, dass das mit Prag ein Irrtum war. Aber ich kann nicht. Meine Lider sind zu schwer.

 

Als ich erwache, ist es dunkel. Ich brauche einen Augenblick, um zu begreifen, wo ich bin. Dann fällt es mir wieder ein. «Praxis Dr. Eppingham» geschlossen. Mit Lisa zerstritten. Carsten findet, ich sei zu alt.

Hier hinten auf der Matratze riecht es gut, der Jasminduft ist jetzt noch gegenwärtiger. Nun schlägt jemand den Vorhang zurück, der die Ladefläche von der Fahrerbank trennt. Der Strahl einer Taschenlampe tanzt über mein Gesicht. Ich schirme meine Augen ab.

«Oh, verzeihen Sie bitte», höre ich die dunkle Stimme der Fahrerin. «Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.»

«Doch, das haben Sie, aber das ist auch ganz gut so … Wo sind wir eigentlich?»

«In Dresden.» Und nach einer Pause: «Kennen Sie die Stadt?»

Ich verneine.

«Hätten Sie Lust, mit mir einen Spaziergang zu unternehmen?»

Alles in mir sträubt sich dagegen, mich zu erheben. Mir ist nicht danach, die Welt wiederzusehen, nicht einmal Dresden. Aber es wäre unhöflich, jetzt abzulehnen. Also versuche ich, meiner Stimme einen munteren Ton zu geben. «Meinetwegen gern.»

 

Wir stehen auf einem Parkplatz an einem Fluss. Stadtlichter glitzern auf dem Wasser. Es ist die Elbe, fällt mir ein, und ich ziehe den Reißverschluss an meinen Stiefeletten hoch. Derselbe Fluss, der auch durch mein bisheriges Leben zog. Aber jetzt stehe ich näher an der Quelle. Das Wasser, das ich hier sehe, wird noch eine Weile brauchen, bis es in Hamburg ankommt. Komischerweise tröstet mich das.

«Entschuldigung», sage ich. «Ich habe mich überhaupt noch nicht vorgestellt.»

«Ich mich auch nicht.» Die Fahrerin ergreift meine ausgestreckte Hand. «Ich heiße Viktoria.»

Ihre Haut fühlt sich sehr zart und dünn an, aber ihr Händedruck ist fest. «Isabel», sage ich.

«Und was führt Sie nach Prag, Isabel?», fragt sie, während wir zum Wasser hinuntergehen.

«Nichts», antworte ich wahrheitsgemäß.

Wir sehen uns an. Und dann fangen wir im selben Moment an zu lachen. Viktorias Augen sind von Falten umkränzt. Die Linien ziehen sich strahlenförmig über ihre Schläfen. Die Nase zieht sie beim Lachen kraus.

«Das habe ich mir gedacht», antwortet sie schließlich.

Gläserklirren und Stimmengewirr wehen vom Wasser zu uns herauf. Der Weg führt um ein Gebüsch herum auf eine Terrasse. Auf den Tischen funkeln Teelichter.

«Darf ich Sie auf ein Glas Wein einladen?», frage ich.

Wir lassen uns an einem Tisch in Flussnähe nieder. Ich fühle mich immer noch benommen. Eigentlich ist Alkohol jetzt keine gute Idee.

«Ich schulde Ihnen wohl eine Geschichte», sage ich, nachdem wir miteinander angestoßen haben.

«Sie schulden mir gar nichts», erwidert Viktoria.

Sie hat eine angenehme Stimme. Tief, ohne männlich zu klingen. Saubere Aussprache. Wie jemand, der es gewohnt ist, angehört zu werden, wenn er spricht.

«Und was führt Sie nach Prag?», frage ich.

«In Prag bin ich nur auf der Durchreise. Ich fahre weiter nach Istanbul.»

«Oh.» Istanbul in einem Landrover. Eine über zweitausend Kilometer lange Fahrt. Als Frau. Ich schätze Viktoria auf fünfundsechzig bis siebzig. «Und was machen Sie da?»

«Da besuche ich einen Freund.»

Mir liegt die Frage auf der Zunge, warum sie nicht einfach einen Flug gebucht hat, um in die Türkei zu reisen. Aber es kommt mir unhöflich vor, sie das zu fragen. Stattdessen sage ich: «Na, der freut sich bestimmt.»

Viktoria trinkt einen tiefen Schluck und wendet den Blick ab. «Er weiß noch nichts davon.»

Die Kellnerin bringt zwei weitere Gläser Rotwein und reicht mir schüchtern einen Stift und ihren Bestellblock. «Würden Sie mir ein Autogramm geben?», fragt sie. «Sie sind doch diese Ärztin, oder? Ich gucke die Serie immer gern. Erst habe ich Sie überhaupt nicht wiedererkannt.»

Ich bin so verblüfft, dass ich Stift und Block nehme und meinen Namen daraufschreibe. «Ich leihe der Ärztin bloß meine Stimme», entgegne ich.

«Oh, wirklich?» Die Kellnerin wirkt etwas enttäuscht.

«Sie sind Synchronsprecherin?», fragt Viktoria belustigt, nachdem die Kellnerin wieder gegangen ist.

«Schauspielerin, eigentlich. Aber meine Zeit auf der Bühne liegt schon etwas zurück. Und Sie?»

«Ich war Professorin.»

«So etwas bleibt man doch», sage ich.

Viktoria lacht. «Schauspielerin auch.»

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich mit einer fremden Frau in einer fremden Stadt sitze, oder daran, dass ich mitten am Tag geschlafen habe. Aber ich fühle mich sehr unwirklich. Und dann erzähle ich Viktoria alles. Sie hört mir aufmerksam zu.

«Warum kommen Sie nicht einfach mit nach Istanbul?», fragt sie und leert ihr zweites Glas. «Ich könnte jemanden gebrauchen, der mich am Steuer ablöst. Und Sie nutzen die Zeit, um sich darüber klarzuwerden, wie es jetzt mit Ihnen weitergehen soll.»

«Das kann ich nicht machen», sage ich. «Aber danke für das Angebot.»

 

Die Terrasse, auf der wir gesessen haben, gehört zu einem Hotel. Mir fällt plötzlich ein, dass ich keinen einzigen Toilettenartikel dabeihabe. Es gibt im Moment nicht viele Dinge, auf die ich in meinem Leben stolz bin. Aber der Umstand, dass meine Zähne noch immer in tadellosem Zustand sind, ist eines davon. «Gehen Sie ruhig schon vor, ich sehe mal eben im Hotelshop nach, ob ich dort etwas finde, das mich auch weiterhin zivilisiert aussehen lässt.»

«Oh, einen Lippenstift könnte ich Ihnen leihen», sagt Viktoria, und die strahlenförmigen Falten in ihren Augenwinkeln vertiefen sich.

«Ich dachte mehr an eine Zahnbürste.»

Der Hotelshop hat schon geschlossen, und so frage ich an der Rezeption. Die junge Frau dort schüttelt bedauernd den Kopf. Ich zeige ihr mein Handy. «Oder vielleicht ein Ladegerät?»

Die Frau beäugt mein Telefon wie ein seltenes Fossil. «Bedaure, aber Ladekabel für so ein Handy führen wir schon seit Ewigkeiten nicht mehr.» Täusche ich mich, oder schüttelt sie ungläubig den Kopf? Offenbar gehöre ich zu den letzten Menschen auf der Erde, die immer noch kein Smartphone besitzen. Wir Archosaurier haben schließlich einen Ruf zu verlieren.

Ich will mich gerade umdrehen und das Hotel verlassen, als mir eine Szene aus «Praxis Dr. Eppingham» einfällt. «Könnten Sie nicht noch einmal nachsehen, bitte?», frage ich mit schmeichelnder Stimme. «Ich bin mir sicher, dass ein Hotel mit Ihren Qualitätsstandards seinen Gästen jede Art von Service bieten kann.»

Die Rezeptionistin zögert, aber dann verlässt sie doch ihren Platz.

Kaum ist sie durch die Tür in einen rückwärtigen Raum verschwunden, überprüfe ich die Schlüssel, die an der Wand hinter der Rezeption hängen. Die Nummer 235 fällt mir ins Auge. Hastig beuge ich mich über den Tresen und reiße das Gästebuch zu mir herum. Zimmer 235, Ariane Fischer, lese ich. Ich lege das Buch wieder an seinen Platz und nehme erneut meine Warteposition ein.

In diesem Moment kehrt auch die Rezeptionistin zurück. «Tut mir leid, aber es ist so, wie ich vermutet habe. Ein solches Kabel haben wir nicht.»

«In Ordnung, danke trotzdem für Ihre Mühe. Dann hätte ich gern meinen Zimmerschlüssel. Raum 235.»

Überrascht sieht sie mich an. «Ihr Name war noch einmal?»

«Ariane Fischer», antworte ich.

«Natürlich, Frau Fischer.» Sie greift ans Schlüsselbrett. «Bitte sehr.»

Ich bin selbst erstaunt darüber, dass mein Plan so einfach aufgeht. Vorsichtshalber stelle ich mich aber nicht vor den Fahrstuhl in der Halle, sondern laufe rasch die Treppen hinauf. Das Hotelzimmer ist dunkel, als ich es aufschließe. Ich lasse die Tür offen, um die Geräusche auf dem Flur besser hören zu können. Dann betrete ich das Bad. Mache das Licht an. Und fahre zusammen.

Aus dem Ganzkörperspiegel zwischen Waschbecken und Dusche blickt mir eine Frau entgegen: Ich in etwa fünfzehn Jahren. Reinste Science-Fiction, eine Zukunftsvision. Meine Stirn überziehen unbekannte Falten, die Augen sind geschwollen, und der Teint ist grau. Weinen gehört zu den Dingen, die eine Frau tunlichst unterlassen sollte, wenn sie die vierzig überschritten hat. Immerhin scheine ich noch alle meine Zähne zu besitzen, stelle ich fest, als ich mich dem Spiegel entgegenbeuge und die Lippen auseinanderziehe. Und meine langen Haare sind zwar völlig verwildert, aber sie sind immer noch rot.

Robin Hood und ich haben Gemeinsamkeiten, jedenfalls was unsere Moralvorstellungen anbelangt. Ich rühre Frau Fischers Besitz nicht an, während ich keinerlei Skrupel habe, mich an den Toilettenartikeln des Hotels zu bedienen. Ich greife nach einer eingeschweißten Zahnbürste, einem winzigen Fläschchen Shampoo, einem Flakon mit Duschgel und einer kleinen Bodylotion. Bei den Tampons zögere ich. Nein, meine Tage werde ich jetzt wohl nicht mehr kriegen. Hat ja auch sein Gutes.

Als ich das Telefon im Schlafraum sehe, überlege ich kurz, Carsten anzurufen. Doch bei dem Gedanken daran, dass Frau Fischer das Gespräch bezahlen müsste, lasse ich diese Idee wieder fallen.

Ich verstaue meine Beute in der Handtasche und trete hinaus.

An der Rezeption steht eine Frau in dunkelblauem Kostüm. «Nun glauben Sie es mir doch, ich heiße wirklich Ariane Fischer!», höre ich sie verzweifelt rufen. «Warten Sie, ich habe ja meinen Ausweis dabei.»

Ich werfe den Schlüssel auf den Tresen, und dann renne ich, so schnell ich kann, über die erleuchtete Terrasse den Weg hinunter, am Gebüsch vorbei und zum Parkplatz hinauf. Ein irres Gelächter brodelt in mir.

Endlich erreiche ich den Landrover. Er ist verschlossen. Viktoria ist nirgendwo zu sehen. Ich höre Schritte. Oh bitte, nicht die Leute vom Hotel! Aber es ist eine tropfnasse Gestalt in einem langen weißen Handtuch.

«Oh, war das herrlich», sagt Viktoria. «Das Wasser in der Elbe ist wunderweich.»

«Das ist … Sie waren …?» Ich muss wie wahnsinnig lachen und halte mir die Seiten.

«Alles in Ordnung mit Ihnen?» Viktoria beugt sich vor, um mich besser ansehen zu können.

«Ja, ich …» Eine erneute Lachsalve schüttelt mich.

«Lassen Sie mich raten», sagt Viktoria und lächelt. «Sie haben soeben etwas Dummes getan.»

Ich nicke begeistert. «Aber nichts, was Sie beunruhigen müsste. Und Sie waren schwimmen?»

Viktoria rubbelt sich die Haare trocken. «Sagen wir doch jetzt Du.»

Als ich später auf der Matratze liege, kann ich Viktorias Atem hören. Ich weiß nicht, ob sie schläft, aber vorsichtshalber bewege ich mich ganz vorsichtig und atme dabei so leise, wie ich kann. Mir wird bewusst, wie intim diese Situation ist. Hier liege ich, einige hundert Kilometer von zu Hause entfernt, mit einer Frau, über die ich so gut wie nichts weiß. Professorin sei sie gewesen, hat sie gesagt, aber ich habe nicht nach ihrem Fach gefragt, weiß nicht einmal, ob es überhaupt stimmt. Immerhin ist die Matratze so groß, dass sie die gesamte Ladefläche ausfüllt, sodass wir nicht Haut an Haut liegen. Meine Mutter fällt mir ein, wie sie sich früher zu mir gelegt hat, als ich krank war, an ihre sanfte, stille Gegenwart. Die Sehnsucht nach ihr ist mehr, als ich ertragen kann, und so versuche ich, die Erinnerung an sie wieder fortzuschieben, aber es gelingt mir nicht. Meine Mutter ist in meiner Erinnerung, so wie sie vor ihrer Krankheit ausgesehen hat: mit ihren roten Haaren, ihren starken Armen und ihrer Stimme, die mir sagt, dass sie mich liebt. Was soll ich denn jetzt machen, Mama?, frage ich in den Himmel, den ich von der Ladefläche aus nicht sehen kann, weil Viktoria die Fenster mit Tüchern abgehängt hat, damit niemand hineinspähen kann. Aber ich weiß auch so, was meine Mutter geantwortet hätte. Dass ich müde sei und erst einmal ruhig schlafen solle, die Antwort komme meistens von allein.

Und ich scheine wirklich viel Schlaf zu brauchen, denn als ich wieder aufwache, spüre ich den Motor vibrieren. Ich schiebe den Vorhang beiseite und sehe gleißendes Tageslicht. Viktoria ist eine dunkle Silhouette am Steuer. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, als sie sich zu mir umdreht. Doch an ihrer Stimme erkenne ich, dass ein Lächeln darin liegt. «Guten Morgen», sagt sie. «Ich halte gleich mal für eine Toilettenpause. Wir haben Tschechien erreicht.»

3. Kapitel

Das letzte Mal bin ich vor etwa sechzehn Jahren in Prag gewesen. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich damals mit Lisa schwanger war. Carsten und ich waren frisch verheiratet, und wir wollten uns ein entspanntes Wochenende machen, das letzte vor der Geburt. Ich erinnere mich an unseren nächtlichen Spaziergang an der Moldau. Auf der Karlsbrücke gab Carsten mir einen sehr langen, zärtlichen Kuss. Doch als wir jetzt ins Zentrum hineinfahren, erkenne ich die Stadt nicht wieder. Entweder hat Prag sich dramatisch verändert oder ich. Der tausendtürmige Ort mit seinen goldenen Spitzen, seinen Gassen und Passagen sieht zwar noch immer aus wie aus dem Märchenbuch. Doch jetzt funkeln dazwischen Glasfassaden in der Sonne, hinter denen spanische und schwedische Modehersteller ihre überall gleichen Klamotten ausstellen, und in der Ferne erheben sich Wohnburgen aus Beton.

«Alles in Ordnung?», fragt Viktoria, während sie den Landrover in eine ruhige Seitenstraße lenkt.

«Nein. Aber ich hoffe, das ändert sich demnächst.» Aus dem Fenster beobachte ich ein junges Pärchen. Sie trägt die langen Haare zu einem Zopf geflochten und ist ganz augenscheinlich schwanger. Er legt die Hand auf ihren Bauch. Als wir vorüberfahren, sehe ich sekundenlang in ihre strahlenden Augen, und ich wende mich rasch ab. «Heute Abend nehme ich den Nachtzug nach Hamburg, und morgen früh bin ich in meinem alten Leben zurück.»

«Das ist fein.» Viktoria parkt den Wagen ein. Sie hat sehr schöne Hände, bemerke ich, mit langen gepflegten Nägeln und winzigen braunen Flecken auf dem Handrücken. Ein goldener Ring mit einem verschlungen eingefassten Rubin ziert einen Finger ihrer rechten Hand. Ob es ihr Ehering ist?

«Wer ist eigentlich dieser Freund, den du in Istanbul besuchst?», frage ich. Und weil ich schon mal dabei bin, schiebe ich gleich die zweite Frage hinterher: «Und warum weiß er nicht, dass du ihn besuchst?»

Viktoria lacht. «Das ist eine lange Geschichte.»

«Hast du Lust, sie mir zu erzählen, bevor ich fahre?»

Viktoria zögert, dann hebt sie die Schultern und lächelt noch breiter. «Warum nicht? Ich nehme an, wir zwei werden uns sowieso nie mehr wiedersehen.»

«Die perfekte Gelegenheit, um einander die Beichte abzunehmen.»

«Ich kenne eine ganz hervorragende Bar hier», sagt sie. «In einem wirklich schönen Hotel. Wenn du möchtest, begleiten wir unsere Beichte dort mit einem Abendmahl. Ohne Oblate, dafür mit Wein.»

«Sehr gern. Aber meinst du nicht auch, dass mein Aussehen für das Abendmahl praktisch Blasphemie bedeutet?» Ich deute auf meine Haare, für die sich nistwillige Schwalben begeistern könnten. «Und meine Klamotten haben auch schon bessere Zeiten gesehen!»

«Ich habe eine Idee», meint Viktoria. «Wir gehen erst ins Schwimmbad.»

 

«Hast du eigentlich früher mal an Wettkämpfen teilgenommen?», frage ich Viktoria, nachdem ich die fünfte Bahn hinter ihr hergekeucht bin. Der Badeanzug, den ich mir an der Kasse gekauft habe, ist zu groß und wirft eine gigantische Blase über dem Bauch, wenn ich mich auf dem Rücken treiben lasse. Viktoria ist augenscheinlich nicht nur sehr gut in Form, sondern macht auch die bessere Figur von uns beiden mit ihrem breiten Schwimmerkreuz.

«Nein», lacht sie. «Aber vor zehn Jahren hat mir mein Arzt zu mehr körperlicher Betätigung geraten. Ich fand es albern, in meinem Alter noch mit dem Joggen anzufangen, also habe ich mir eine Dauerkarte fürs Schwimmbad gekauft.» Sie schießt mit einem technisch einwandfreien Crawl davon.

Später kann ich nicht mehr aufhören zu duschen. Es ist, als müsste ich alles fortspülen, was mich in den vergangenen Tagen belastet und beschmutzt hat. Immer heißer stelle ich das Wasser, immer mehr Duschgel reibe ich mir in die Haut, immer toller schäumt es auf meinem Körper auf. Nachdem ich mir die Haare geföhnt und etwas Mascara aufgetragen habe, fühle ich mich aber einigermaßen wiederhergestellt. Nun bin ich bereit, mit Viktoria in diese Hotelbar zu gehen.

Das Hotel hat fünf Sterne und liegt in der Prager Innenstadt in der Nähe des Rathauses. Schmale farbige Häuser stehen in dieser Straße. Hier erkenne ich das Prag wieder, das ich damals mit Carsten besucht habe: Stuck an den Fassaden, Kopfsteinpflaster, Straßenlaternen wie aus einem alten Film. Wir zwängen uns durch einen Pulk asiatischer Touristen und betreten das Hotel durch gläserne Flügeltüren. «Einen Moment, bitte», sage ich zu Viktoria und wende mich mit meinem Telefon in der Hand an das bonbonfarbene Geschöpf, das die Rezeption bewacht. «Haben Sie hierfür vielleicht ein Ladegerät?», frage ich auf Englisch.

Die Rezeptionistin strahlt mich an. «Bedaure», antwortet sie. «Aber so etwas führen wir leider nicht mehr.»

Zu meiner Überraschung empfinde ich Erleichterung. Dann muss ich das Gespräch mit Carsten heute Abend wohl nicht mehr führen. «Könnten Sie mir dann bitte sagen, wann heute noch ein Zug nach Hamburg fährt?»

Sie tippt mit ihren schimmernden Nägeln auf einer Tastatur herum, blickt auf den Monitor und schüttelt den Kopf. «Heute? Keiner mehr. Der letzte ist vor einer Stunde abgefahren.»

Komischerweise fühle ich mich jetzt noch besser. «Na, das ist ja phantastisch!», strahle ich sie an.

«Gute Neuigkeiten?», fragt Viktoria etwas später an der Bar.

«Ja. Ich kann immer noch nicht telefonieren. Und der letzte Zug nach Hamburg ist auch schon weg!»

«Du weißt schon, dass es auch hier diese Erfindung namens Festnetztelefon gibt? Ich habe mir sagen lassen, dass sie ganz hervorragend funktioniert!»

«Ach, weißt du», winke ich ab. «Technik ist nicht so mein Ding.»

«Dafür aber hoffentlich Spirituosen.» Viktoria deutet auf die Getränkekarte. «Möchtest du wieder so einen langweiligen Rotwein wie in Dresden? Oder etwas Anständiges?»

Sie trägt ein elegantes schwarzes Kleid und schwarzes Augen-Make-up. Und sie passt so wunderbar an diese Hotelbar wie der gedimmte Kristalllüster, der Tresen aus schwarzem Marmor und der uralte Barpianist in seinem weißen Smoking, der an einem Flügel Frank-Sinatra-Lieder spielt.

Der Barmann schenkt mir ein freundliches Lächeln. Er sieht gut aus mit seinen hellgrünen Augen, den dunklen Haaren und der bronzefarbenen Haut. Er erinnert mich an Vincent, der mir an der Schauspielschule das Herz gebrochen hat. Und ich war nicht die Einzige. Vincent hat so ziemlich alle an der Schule erledigt, darunter sogar eine Dozentin und meinen damals besten Freund Heinrich. Heinrich hat mindestens zwei Jahre gebraucht, um über Vincent hinwegzukommen.

«Ich glaube, dies ist ein Gin-Tonic-Abend», sage ich. «Ich konnte diese Rotweinszene übrigens auch noch nie leiden.»

«Zwei Gin Tonics, bitte», sagt Viktoria zum Barmann.

Er hebt den Kopf und sieht mich an. Sein Blick wandert zu meinem Dekolleté. Mir wird auf einmal sehr heiß.

«Hast du viel mit dieser Rotweinszene zu tun gehabt?», fragt Viktoria.

«Theaterrotweinszene, Lehrerrotweinszene, ich kenne sie alle. Und du?»

Der Barmann stellt die Gläser vor uns hin.

«Auch. Aber das ist Vergangenheit. Jetzt wartet die Zukunft auf mich. Prost!» Wir stoßen miteinander an.

«Tut mir leid, aber ich muss dir jetzt diese Beichte abnehmen», sage ich, nachdem ich einen tiefen Schluck genommen habe. «Was willst du in Istanbul?»

Wie auf Befehl beginnt der Pianist ein neues Lied.

«Anfang der sechziger Jahre war ich Studentin der türkischen Sprache», fängt sie an.

Ich sehe sie aufmerksam an.

«In meinem vierten Semester bin ich für ein halbes Jahr an die Uni in Istanbul gegangen.» Versonnen streicht sie mit ihren langgliedrigen Fingern über das Glas. «An meinem ersten Tag im Hörsaal saß ich neben einem jungen Mann, der mich nicht in sein Buch blicken lassen wollte.»

«Wie unhöflich.»

Viktoria lächelt. «Er hatte Angst, mich zu berühren. Aber ich wusste sofort, dass er sich von mir angezogen fühlte. Dass er gespannt auf mich war.» Sie leert ihren Drink und bedeutet dem Kellner, uns zwei neue zu bringen. Ich habe meinen Gin Tonic nur zur Hälfte ausgetrunken, beeile mich aber, mit Viktoria gleichzuziehen. Nichts bringt einen Frauenabend so durcheinander wie ein ungleicher Trunkenheitsgrad.

Der Alkohol zaubert mir Leichtigkeit in den Kopf. Es fühlt sich gut an, mit Viktoria hier zu sitzen und ihrer Geschichte zu lauschen. Der Pianist spielt «New York, New York».

«Und du?», frage ich und nehme einen Schluck aus meinem Glas. «Warst du gespannt auf ihn?»

Viktoria lacht, und in diesem Augenblick begreife ich, dass sie eine Frau gewesen sein muss, die für Aufsehen gesorgt hat, eine schöne, schillernde Frau. Welche Farbe ihr Haar wohl hatte?

«Sehr sogar», antwortet sie. «Wir haben uns von da an immer nebeneinandergesetzt. Haben uns heimlich angesehen und dabei darauf geachtet, uns nicht zu berühren.»

Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Der Reiz des Unerreichbaren – erotischer kann eine Annäherung nicht sein.

Viktoria wendet den Blick ab. «Das erste Mal haben wir uns in dem Zimmer geküsst, das ich bei einer Familie bewohnte. Es war, als würde eine Flutschutzmauer eingerissen. Die Liebe brach über mich herein wie ein Unwetter, über uns beide. Can hatte vor mir auch noch keine richtige Freundin gehabt. Vom Rest des Semesters habe ich nichts mehr mitbekommen, zumindest nicht den Unterricht. Es gab nur noch Can und mich. Seine Blicke, seine Küsse, sein Lachen. Unsere Ausflüge. Ein Abend in einem Tanzlokal, irgendwo am Ufer des Bosporus.»

«Was ist dann geschehen?», frage ich nach einer langen Stille.

Viktoria bedeutet dem Barmann, uns zwei weitere Gin Tonics zu bringen. Ich überlege flüchtig, ob ich genügend Geld für dieses luxuriöse Besäufnis habe, komme zu dem Schluss, dass ich das nicht habe und obendrein arbeitslos bin, und freue mich insofern umso mehr auf das selige Vergessen, das mir die Getränke bringen.

«Dann war das Semester zu Ende, und ich fuhr zurück nach Deutschland. Wir haben uns noch ein Jahr lang gesehen, mal kam Can mich in Berlin besuchen, mal ich ihn in Istanbul. Nach einem Jahr bat er mich, ihn zu heiraten und zu ihm zu ziehen, er habe schon mit seiner Familie gesprochen, es sei alles sehr sorgfältig überlegt.» Viktoria setzt das Glas an die Lippen und trinkt. Ich versuche, ihren Gesichtsausdruck zu deuten, kann sie aber nicht mehr ganz klar erkennen. Hat jemand das Licht noch weiter heruntergedimmt?

«Was hast du ihm geantwortet?»

«Dass ich mir nicht vorstellen könnte, in der Türkei zu leben, schon gar nicht als verheiratete Frau.»

«Hättet ihr denn nicht auch in Deutschland leben können?»

«Das wollte Can auf gar keinen Fall. Außerdem war klar, dass ich als angehende Turkologin viel weniger Mühe haben würde, mich den Gepflogenheiten in der Türkei anzupassen als umgekehrt.»

«Was ist dann passiert?»

«Dann bin ich zurück nach Berlin gefahren. Wir haben uns nie wiedergesehen. Ich habe promoviert, und später bin ich Professorin geworden.»

«Und das war’s?», frage ich erschüttert.

«Ende der Geschichte, ja.»

«Hast du jemand anderen geheiratet?»

Viktoria nickt. «Ja, das habe ich. Es war keine besonders glückliche Ehe. Aber auch keine schlimme. Wir haben uns nach zehn Jahren wieder getrennt. Herbert ist vor ein paar Jahren gestorben. Ich glaube, er hat bedauert, dass wir keine Kinder miteinander hatten. Eigentlich war er ein netter Mensch.»

O Gott, denke ich und klammere mich an meinem Barhocker fest, der seltsamerweise unter mir schwankt, obwohl ich mich überhaupt nicht bewege. Ich hoffe, dass Carsten nie so über mich reden wird. «Isabel? Ach ja, ein netter Mensch.» Der Gedanke an Carsten stört mich. Ich schiebe ihn eilig fort. «Und du?», frage ich. «Bedauerst du es, keine Kinder zu haben?»

«Ich bedaure sehr vieles. Und darum fahre ich jetzt in die Türkei.»

«Du willst Can wiedersehen?»

Viktoria nickt.

«Aber dein Can … der weiß doch überhaupt nicht, dass du jetzt kommst!» Die Worte toben in alle Richtungen. Ich habe Mühe, sie in einem Satz einzufangen.

Viktoria schüttelt den Kopf. Das sieht witzig aus, wie in einem dieser computerbearbeiteten Filme, in denen jede Bewegung farbige Schlieren hinterlässt.

«Wann hast du ihn zuletzt gesprochen?»

«Vor achtundvierzig Jahren.»

«Vor … bitte, was?!»

Viktoria macht eine beruhigende Geste. «Du solltest hier nicht so schreien.»

«Ich habe nicht …!!!»

«Du tust es gerade wieder.»

Zu spät fällt mir ein, dass meine Stimme dafür ausgebildet wurde, einen ganzen Saal zu durchdringen.

Durch den Schleier, der sich über die Bar gelegt hat, sehe ich, dass ich nicht nur die Aufmerksamkeit des Barmanns habe. Selbst der Pianist hält auf einmal inne und schaut zu mir herüber, mitten im Takt.

«Du hast die Liebe deines Lebens zuletzt vor achtundvierzig Jahren gesprochen?!», flüstere ich. «Weißt du denn überhaupt, wo er jetzt lebt?»

Viktoria lächelt, öffnet ihre Handtasche und holt einen Zettel hervor. «Hier!» Sie reicht mir ein Stück Papier.

«Can Ocak», lese ich. «Aber hier stehen sieben Adressen! Welcher Can Ocak ist es denn?»

«Das werde ich herausfinden, wenn ich da bin. Es gibt sieben Can Ocaks in Istanbul, die im richtigen Alter sind – so sagt es jedenfalls die Auskunft. Ich werde an sieben Haustüren klingeln.»

«Wow. Das ist … aufregend! Und warum sitzen wir dann noch hier?»

«Weil wir wohl kaum in diesem Zustand Auto fahren können. Und weil ich ungern in der Dunkelheit unterwegs bin.» Ein schelmischer Ton schleicht sich in ihre Stimme. «Ich bin ja schließlich keine siebzig mehr.»

«Sondern?» Ich bin ehrlich interessiert.

«Wie spät ist es?» Viktoria blickt auf ihre goldene Armbanduhr. «Oh, drei Minuten nach Mitternacht. Glückwunsch, ich bin soeben zweiundsiebzig geworden.» Sie dreht sich zum Barmann und hält den Finger hoch. «Ich hätte gern eine Flasche Champagner, junger Mann!»

«Viktoria», stammele ich. «Das ist jetzt vielleicht keine gute Idee.»

«Im Gegenteil!», lacht sie. «Es ist sogar eine phantastische Idee!»

Vielleicht bin ich doch in einem Film gelandet, denn da ist auf einmal eine große Schwarzblende. Und dann tauche ich neben dem Pianisten auf. Wir singen unser Geburtstagslied für Viktoria zweisprachig, ich auf Englisch («Happy Birthday»), er auf Tschechisch (keine Ahnung, was). Und auf einmal liege ich auf dem Flügel, ein Jeansbein angewinkelt, und stütze mich auf meinen Ellenbogen. Der Barmann klatscht mir begeistert zu und ruft: «Ihre Stimme ist wundervoll!» Er hat einen merkwürdigen Akzent, irgendetwas Östliches oder Südliches.

Als der Pianist wenig später eine Polonaise anschlägt, stehe ich aber schon wieder. Jemand legt mir von hinten seine Hände auf die Schultern, und deshalb trabe ich folgsam los. Ich biege um die Säule in der Hotelbar, und da erst erkenne ich, wie lang die Schlange von Menschen ist, die ich anführe. Viktoria sitzt immer noch am Tresen. Sie hebt ihr Glas und prostet mir zu.

Und dann ist da nur noch Dunkelheit anstelle einer Erinnerung. Jemand hat mir den Mund mit trockenem Gras gefüllt oder vielleicht auch mit einem Haarbüschel, was ausgesprochen ekelhaft ist. Außerdem wird mein Hirn mit glühenden Werkzeugen bearbeitet. Ich öffne die Augen und kneife sie gleich wieder zusammen. Wo auch immer ich bin, es ist VIEL ZU HELL.

Wo auch immer ich bin. Ja, wo zum Teufel mag das nur sein? Ich richte mich auf, so vorsichtig es geht. So langsam, wie es die emsig arbeitenden Handwerker in meinem Kopf erlauben. Dann sehe ich mich um. Okay, ich bin definitiv nicht zu Hause, denn Carsten und ich besitzen weder Samtvorhänge noch Messinglampen, und mein Gatte, so umsichtig er auch sein mag, hat mir auch noch nie gewaschene und sauber gefaltete Handtücher auf den Nachttisch gelegt. Ganz eindeutig: Ich befinde mich in einem Hotel.

In diesem Augenblick geht mir auf, dass ich vollkommen nackt bin. Das wirft jetzt allerdings einige Fragen auf. Ich sehe mich um: Habe ich die Nacht nicht allein verbracht? Ich gehe in meinem Kopf die potenziellen Bettbegleiter durch. Mit etwas Glück haben Viktoria und ich im Zustand der Vollberauschung darauf verzichtet, zum Landrover zurückzuwanken und uns stattdessen, alle finanzielle Umsicht in den Wind schlagend, in diesem Fünf-Sterne-Hotel ein Zimmer gebucht. Mit noch mehr Glück habe ich dabei eine heiße Nacht mit dem heißen Barmann verbracht, nur dass ich davon jetzt leider nichts mehr weiß. Vielleicht habe ich aber auch den etwa achtzigjährigen Pianisten gewählt. Erschrocken suche ich nach einem Wasserglas, in dem das Pianistengebiss schwimmen könnte. Aber ich finde überhaupt keine Anzeichen dafür, dass ich die Nacht in Gesellschaft verbracht habe – nirgends irgendwelche Spuren, so weit mein vermutlich blutunterlaufenes Auge reicht. Ein heißer Schreck durchfährt mich. Habe ich wenigstens noch meine Handtasche? Darin befindet sich nämlich alles, was ich derzeit besitze, alles, was mir von meinem bisherigen Leben geblieben ist.

Erleichterung! Da steht sie, auf dem kirschbaumhölzernen Schreibtisch, und es sieht auch so aus, als wäre noch alles drin. Das Handy, das ich immer noch nicht aufladen konnte, mein Portemonnaie, mein Lippenstift …

In diesem Moment wird die Tür aufgerissen. Eine totenbleiche Viktoria starrt mich an. Sie öffnet den Mund, doch kein Ton dringt daraus hervor. Sie sieht aus, als ob sie auf der Stelle ohnmächtig werden müsste.

«Was ist?», krächze ich und greife nach ihrem Arm.

«Der Landrover ist nicht mehr da!»

4. Kapitel