Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
1968 ... auf einer Hippie-Farm im Hinterland von San Francisco. Charlie liebt seine Freunde, lange Nächte im Baumhaus und Cora, die wie eine Mutter zu ihm hält. Vollkommen ausreichend im Summer of Love. Warum soll er jetzt mit den Daisys in die Schule gehen und Dinge an die Tafel schreiben, die er bis jetzt nicht kannte? Denn noch ist er ein blutiger Anfänger.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Prolog
Mann oder Milchbubi
Feinde
Streichholz
Spielzeug-Cowboy
WÜRMER
DAISY
Jeany
Eröffnungsparty
Käfige
Plud
Autokino
Verträge
Einkaufszettel
Liebesbrief
Beerdigung
Menschen unter dem Mond
Alcatraz
Transfusionen
Indian Summer
Großfamilie
Vorbereitungen
Das Fest
Zwei Fronten
Blutmond
Allein
Epilog
August 1969
Wie ein kleiner Wecker summte eine Mücke an ihrem Ohr und riss sie aus ihren Gedanken. O Gott, wie wahr, es war ja schon wieder Abend. In Zeitlupe sank die Sonne dem Horizont entgegen. Aber das Fenster würde sie nicht hochkurbeln, nicht wegen einer kleinen Mücke; die kühler werdende Sommerluft tat ihr gut. Übrigens war es jetzt nicht mehr weit. Nur noch ein paar Meilen und ein paar von diesen doofen Ampeln, und dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Das sagte jedenfalls ihre zerknitterte Straßenkarte, auf der sie mit einem roten Stift die Route eingezeichnet hatte.
Ganz allein war sie den Weg von San Francisco bis hier runter nach Texas gefahren. Und jetzt auf den letzten Meilen hatte sie ein klein wenig Gesellschaft. Viel mehr als eine Mücke hätte sowieso nicht hineingepasst in ihren Ford Buick. Ihr ganzes Hab und Gut verteilte sich auf den Rückbänken des Kombis. Richtig chaotisch sah es aus, obwohl sie Unordnung hasste, genau wie diesen hässlichen Kaffeefleck auf der Karte. Aber dieses Durcheinander war ja kein Wunder, wenn man sich mitten in der Nacht dazu entschließt, alles hinter sich zu lassen und fast 2.000 Meilen nach Süden zu fahren, für eine einzige Frage, die obendrein so abstrus klingen musste, dass sie überhaupt nicht wusste, ob und wie sie sie formulieren sollte. Dabei hatte sie wahrlich genug Zeit gehabt, sich zu überlegen, welche Worte sie wählen könnte; und das Jonglieren mit Sätzen war eigentlich ihre große Stärke. Doch, immer wenn sie an dieses Thema dachte, bildete sich ein formvollendeter Knoten in ihrem Kopf und ließ einen klaren Gedanken nicht zu. Vielleicht hätte eine kalte Dusche für mehr Klarheit gesorgt oder ein frisch gemachtes Bett. Das wäre besser gewesen als der unbequeme Minutenschlaf auf dem Vordersitz am Straßenrand. Und eine warme Mahlzeit mit einem guten Glas Wein, das hätte sie zur Ruhe kommen lassen, zur Vernunft. Aber gerade davor hatte sie Angst. Sie wollte nicht vernünftig sein, dann hätte sie ihren Plan vielleicht über Bord geworfen. Sie hätte ihr Auto aufgeräumt und wäre wieder nach San Francisco gefahren. Diese eine Frage allerdings, die in ihr bohrte wie ein Ohrwurm von den Beatles, war stärker und trieb sie immer wieder voran. Darum hatte sie sich irgendwann entschlossen, sich mit dem Chaos zu arrangieren und die Reise so gut wie möglich zu genießen. Das klappte letztendlich erstaunlich gut. Sie war lange Fahrten gewöhnt. Früher war sie regelmäßig für die Gemeinschaft unterwegs gewesen. Voller Elan hatte sie neuen Lebensraum erkundet, Verträge unterschrieben, Geschäfte gemacht und zusammen hatten sie so ziemlich jeden Staat des Landes durchkreuzt. Als Rechtsanwältin hatte sie sich um sämtliche Belange der Gemeinschaft gekümmert, um alle ihre Mitglieder, ihre kleinen und große Sorgen … und natürlich um Charlie.
Das war ihre Bestimmung. Bis zum letzten Sommer und bis zu dem Tag im Oktober, als ihr Leben aufhörte zu sein. Seitdem war sie allein. Ja, es war ihre Entscheidung gewesen. Sie hätte mit der Gemeinschaft gehen können. Aber der Preis war einfach zu hoch. Obwohl, war er das wirklich gewesen? Das war die zweite große Frage, die jeden viel zu langen Tag über ihr schwebte wie eine schwarze Wolke. War er das wirklich gewesen?
„Nein!“ Die Antwort kam vom Beifahrersitz. Woher auch sonst. Sie brauchte nicht zur Seite schauen. Sie wusste: Mitten auf der zerknitterten Karte mit dem Kaffeefleck saß Charlie. Ein bisschen zu klein für sein Alter und für einen zwölfjährigen Jungen ein bisschen zu hager. Dafür waren seine Augen umso größer; und wenn sie sich jetzt umdrehen würde, dann müsste sie ihn anschauen, und seine Traurigkeit, die würde sie nicht ertragen. Dabei hatte sie versucht den Jungen aus ihrem Leben zu verbannen. Aber, was sie auch unternahm, irgendwann tauchte er auf, wie aus dem Nichts. Dann wollte er sich mit ihr unterhalten, Radio hören oder die Nachrichten gucken. Anfangs hatte er nur gelegentlich vorbeigeschaut, aber in den letzten Wochen wich er ihr nicht von der Seite. Selbst die New York Times wollte er zusammen mit ihr lesen. Er zwang sie fast dazu, jeden Tag eine Zeitung zu kaufen. Und letztendlich waren es die neuesten Schlagzeilen, die dafür verantwortlich waren, dass sie jetzt seit drei Tagen im Auto saß, mit einem salzigen Schweißfilm auf der Haut, einem zerknitterten Rock und strähnigen Haaren, die nur aufgrund ihres Haarbands an so etwas wie eine Frisur erinnerten.
Sie fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor ab. Hier musste es sein. Und obwohl sie dieses Haus und seinen Besitzer nicht persönlich kannte, fühlte sie wie die Vergangenheit sie jetzt mit aller Macht einholte. Mit einem warmen Windstoß kam die Erinnerung unaufhaltsam durch das Autofenster geweht. Ein Hoffnungsschimmer, ein Funke.
Im Rückspiegel zauberte sie sich mit ihrem Avon wenigstens etwas Rot auf die Lippen, und ein kurzes Lächeln huschte auch darüber. Mit einem Griff hinter den Sitz beförderte sie ein Paar rosa Pumps zutage und schlüpfte hinein. Da sah sie die kleine Mücke, die auf ihrer Hand gelandet war.
Wie ein Doktor, der den passenden Punkt für seine Nadel sucht, testete sie wippend zwei oder drei Stellen, bevor sie ihren Stachel langsam in die Haut versenkte. Bestimmt würde das Insekt ihre Aufregung schmecken, ihr Adrenalin, ihre Angst aber auch ihre süße Hoffnung.
Es war ihr klar, dass Charlie genau zuschaute und beim Anblick der stechenden Mücke nicht mehr ganz so traurig war. Und nur darum ließ sie es geschehen. Blutschwer und glücklich flog der kleine Blutsauger schließlich davon.
„Und du gehst jetzt auch lieber, sonst wird alles nur noch komplizierter“, sagte sie zu Charlie und schwang sich resolut aus dem Auto. Der Beifahrersitz war leer.
Der Plattenweg bis zu seiner Villa schien endlos. Und mit jedem Schritt wuchs ihre Skepsis, bis sie schließlich auf die Klingel drückte und die schrillende Türglocke sie vollends einschüchterte.
Viel zu schnell öffnete sich die Tür. Er war es. Das wusste sie aus der Zeitung, und fragend schaute er sie an. Für einen Moment war sie einfach zu perplex und überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass er wirklich vor ihr stehen könnte. Aber letztendlich fügten sich die Worte, die seit Tagen in ihrem Kopf herumschwirrten zu verständlichen Sätzen zusammen, und bevor sie wirklich überlegen konnte, sprudelte es aus ihr heraus: „Entschuldigen Sie. Es ist mir fast etwas peinlich, meinen Namen zu sagen. Ich heiße Cora. Cora Schmidt. Sie kennen mich nicht. Und wenn es nicht so ist, dann können Sie mir die Tür gerne wieder vor der Nase zuschlagen. Aber wenn es doch so ist, dass Sie jemanden getroffen haben auf Ihrer Reise …“ Cora schnappte nach Luft, und vor dem Haus gingen flackernd die Straßenlaternen an. „Ich weiß, Sie halten mich für verrückt und vielleicht bin ich das auch.“ Keine Antwort. Er schaute sie einfach nur entgeistert an. Cora schlug die Augen nieder und senkte den Kopf. Es war alles umsonst. Sie hätte es wissen müssen. „Also, entschuldigen Sie bitte die Störung“, sagte sie noch, dann wandte sie sich um, und bevor sie vor Scham im Boden versinken würde, bewegte sie sich leicht schwankend Richtung Auto. Die Laternen leuchteten noch unsicher in den Sommerabend. Wo sollte sie jetzt hinfahren, dachte sie über alle Maßen erschöpft, als sich ein leises Pfeifen in ihre Gedanken mischte. Das kam von der Haustür. O ja, sie kannte dieses Lied; und, nein, es konnte kein Zufall sein. Er wollte sie zurückpfeifen mit dieser Melodie. Ihre Kopfhaut kribbelte, ihr Mückenstich juckte, und langsam drehte sie sich um. Mit seiner Hand winkte er ihr, ihm zu folgen, oder etwa nicht? Wer war sie eigentlich, dass sie ihrer Intuition nicht vertraute? Sie war Cora Schmidt, eine der ersten weiblichen Anwälte in den Staaten. Drei Tage war sie gefahren bis hierhin, und die letzten Schritte zu einer offenen Tür würde sie garantiert nicht unversucht lassen. Trotzdem folgte sie ihm nur langsam, denn obwohl sein Lied sie wie magisch über die Türschwelle lockte … eine normale Begrüßung war das hier nicht. Aber genau dieser Umstand hatte sie schon seit der High School fasziniert; und wie eine Abenteurerin, die ein neues Land betritt, folgte sie seinem Ruf.
Im Flur war er auch nicht mehr. Sein Pfeifen kam jetzt aus einem der hinteren Zimmer, und zum ersten Mal hörte sie seine Stimme: „Ich hoffe, Sie sind nicht von der Presse.“
Das war sie definitiv nicht. Erleichtert durchquerte Cora den Flur, und noch einmal erschrak sie, als er tatsächlich wieder vor ihr stand, in einem Zimmer, das so ziemlich alles sein konnte: Arbeitszimmer, Schlafzimmer und Heimkino. Denn gerade zog er eine kleine Leinwand aus, die wie eine weiße Schultafel mitten im Raum stand.
„Sie müssen wissen“, sagte er, „ich bin nicht der Gesprächigste. Schon gar nicht zwischen Tür und Angel, oder wenn es einer von diesen Reportern ist.“ Prüfend schaute er sie an.
„Nein, ich bin Rechtsanwältin“, sagte Cora, aber sofort verfinsterte sich sein Blick. Er war mißtrauisch, und Cora beeilte sich hinzuzufügen. „Ich bin privat hier.“
Immer noch runzelte er die Stirn, und so langsam verlor sie die Geduld. Also würde sie die Angelegenheit noch einmal auf den Punkt bringen: „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Sie haben dieses Lied gepfiffen, und die Tür haben sie aufgelassen. Deswegen stehe ich hier. Und ich finde, das ist okay.“ Noch ein abweisendes Wort, und sie würde sich kommentarlos umdrehen.
„Setzen Sie sich mal besser hin“, sagte er nur und zeigte auf einen großen Polsterstuhl direkt unter dem Fenster. Immer noch angespannt betrat Cora das Zimmer und hockte sich auf die Polsterkante wie auf ein Pulverfass. Er hatte die Fäuste in die Seite gestemmt und schaute von oben auf sie herab, sekundenlang.
„No milk today“, sagte er nur, und das Pulverfass explodierte.
„Ja, das ist ihr Lied!“, rief sie viel zu laut. „Haben Sie jemanden getroffen?“
„Es könnte möglich sein“, sagte er langsam, und ein Schmunzeln mischte sich in seine Worte, „dass ich auf meiner Reise einer Gruppe von, sagen wir mal Hippies, begegnet bin. Die schienen dieses Lied wirklich in ihr Herz geschlossen zu haben, denn vor allem die Jüngeren kannten es auswendig, jedes einzelne Wort.“
Er hielt ihr ein kariertes Taschentuch hin, und jetzt zum ersten Mal lächelte er. Aber Cora bewegte sich nicht. Nur ihr Kinn bebte wie bei einer Marionette.
„War er dabei? Ein Junge? Für sein Alter ein bisschen zu klein. Aber seine Augen, die sind viel größer … ich muss wissen, ob sie noch so traurig gucken … denn er erscheint mir immer wieder … ich weiß, ich bilde mir das ein … aber er lässt mich nicht in Ruhe … das soll er auch gar nicht … ich muss nur wissen, ob er vielleicht in Wirklichkeit nicht mehr so traurig ist … und ob ihm nicht kalt ist.“
Fast flehend schaute sie ihn an. Das Taschentuch hatte er auf die Stuhllehne gelegt, dafür hielt er jetzt eine weiße Stofftasche in der Hand, und er lächelte immer noch.
„Es tut mir leid“, sagte er und seine Worte klangen jetzt ehrlich und sogar ein bisschen mitfühlend. „Ich glaube mittlerweile, dass ich Ihnen vertrauen kann, und dass Sie wirklich Cora Schmidt sind.“
Zitternd ergriff Cora das Tuch. „Das bin ich auch.“ Sie nickte tapfer und tupfte über ihre Tränen. Dabei war Cora Schmidt bestimmt keine Heulsuse. Die wenigen Male in ihrem 35jährigen Leben, bei denen sichtbare Tränen geflossen waren, konnte sie mühelos an zwei Händen abzählen. Einmal, als sie während des Studiums den kleinen Finger zwischen die Tür bekam. Da hatte sie geweint, nicht wegen der Schmerzen, sondern weil er vielleicht amputiert werden musste. Dabei war sie kurz davor, die 200 Anschläge pro Minute auf ihrer Smith-Corona zu knacken; allerdings brauchte sie dafür zehn Finger. Mittlerweile haute sie lockere 250 Anschläge in die Tasten, mit einem zwar krummen, aber dafür geretteten Körperglied. Bei dem Gedanken an ihre Schreibmaschine mischte sich tatsächlich so etwas wie Zuversicht in ihre Tränen. Und dieses weiße Täschchen, das ihr gerade vor die Nase gehalten wurde, und so gar nicht in die Hände dieses gestanden Mannes passte, das war wirklich komisch. Irgendwie lächerlich sah das aus.
Er schien ihre plötzliche Erheiterung bemerkt zu haben.
„Das …“, sagte er nicht ohne Stolz, und seine Stimme konnte richtig freundlich klingen, „das ist mein MacDivitt Purse.“
„Mac was …?“, fragte Cora und massierte ihren verkrümmten Finger.
„Meine kleine Geheim-Reisetasche“, erklärte er kurzerhand, und ohne weitere Ausführungen öffnete er surrend den Reißverschluss.
Neugierig inspizierte Cora das Innenleben. Sie sah eine garantiert sündhaft teure Filmkamera, einen ziemlich ramponierten Spiegel und eine … Handpuppe … eine Prinzessin. Ihr Lächeln erstarb; aber auffordernd wackelte er mit der Tasche wie mit einer Bonbontüte. Cora nahm das Süßeste, was sie sich vorstellen konnte. Vorsichtig nahm sie die Puppe in ihre Arme.
„Ist die von ihm?“, fragte sie. „Gehört die Charlie?“
Erwartungsvoll schaute sie ihn an, obwohl sie die Antwort kannte. Es konnte nicht anders sein.
„Charlie, so hieß er wohl der Bengel, der mich so herzlich begrüßt hat, dass wir beide im Staub gelandet sind. Besonders traurig schien er mir nicht zu sein.“
Gierig saugte Cora jedes Wort von seinen Lippen.
„Kalt war ihm auch nicht“, sagte er und packte die Kamera aus. „Das kann ich Ihnen beweisen.“
„O mein Gott“, sagte Cora und presste die Faust in den Mund. „Sagen sie nicht, er ist da drauf?“
„Doch“, antwortete er grinsend und streichelte über das Gerät, bevor er es wieder in die Tasche gleiten ließ. „Aber erstmal machen wir uns etwas Licht, dann können Sie auch besser das Sandwich und die eiskalte Cola sehen, die ich uns auf den Teller zaubern werde.“ Er knipste eine kleine Stehlampe an und machte sich gut gelaunt auf den Weg in die Küche. „Die Puppe ist für Sie“, hörte sie ihn noch rufen, dann hörte sie nur noch das Klimpern von Besteck und sein Pfeifen, das hörte sie auch. Aber jetzt wirkte die Melodie beruhigend genau wie das warme Licht der Stehlampe.
Er war ein Schlitzohr; okay, ein gutmütiges Schlitzohr. Aber er hatte sie geprüft, wie eine Verdächtige, eine Verbrecherin. Mindestens zweimal hatte sie gestammelt, wütend war sie geworden, und geweint hatte sie auch.
Aber jetzt hielt sie eine Prinzessin in den Händen, und die kam von Charlie.
Vorsichtig hob sie den Kopf und schaute sich um. Erleichtert atmete sie aus und seufzte. „Mein lieber Junge“, sagte sie leise zu niemandem, denn hier war keiner außer ihr und den Geräuschen aus der Küche. „Jetzt kommst du nicht mehr, weil du dein Ziel erreicht hast. Weil ich hier sitze und dich suche. Das wolltest du doch, oder?“
Natürlich … keine Antwort. Er würde ihr nicht mehr erscheinen; nicht mehr in ihrer Phantasie. Nur noch in Wirklichkeit und hoffentlich auf diesem Film.
Prüfend schaute sie an sich herunter. Ihr Rock, ihre Bluse und bestimmt auch ihr Gesicht, alles war zerknittert. Moment mal, war da nicht ein Spiegel gewesen? Wenigstens ein bisschen würde sie sich zurechtmachen können, und neugierig steckte sie noch einmal ihre ungepuderte Nase in die Tasche. Wie hatte er dieses Beutelchen genannt? Wie auch immer, die Kamera lag jedenfalls noch drin, und jetzt im Licht konnte sie sie noch besser erkennen; leider auch die Blutspritzer auf dem Gehäuse. Instinktiv griff sie zu ihrem Taschentuch, um es wegzuwischen, denn sie wollte nicht, dass Blut auf dieser Kamera war, und ganz bestimmt würde sie nicht erfahren wollen, woher oder von wem es stammte. Hektisch rieb sie über die getrockneten Spritzer. Weg damit, weg mit all dem Blut! Dann erschrak sie.
„Das ist von mir“, sagte er seelenruhig. „So eine Reise verläuft nie ohne Kratzer.“ Vorsichtig stellte er ein großes Tablett auf ein Tischchen unter die Lampe.
Cora zerknüllte ihr Taschentuch in der Faust. Definitiv hatte er sie ertappt, wie sie sich an fremdem Eigentum zu schaffen machte, und der leichte Vorwurf der in seiner Stimme lag, war nachvollziehbar.
„Eigentlich wollte ich mich herausputzen“, erklärte sie zerknirscht. „Und, wo ich schon mal in Putzlaune war, bin ich mit der Kamera angefangen.“ Keine Reaktion. Er schien nachzudenken.
„Zeigen Sie mir trotzdem noch den Film?“, fragte sie frei heraus. Keine Antwort. Fast amüsiert schien er sie zu mustern. Das machte sie wütend: „Ich habe Sie was gefragt Mister …“
„Nennen Sie mich einfach Tom“, sagte er, und verschwörerisch zwinkerte er ihr zu. „Das ist besser, als der Name, der auf dem Klingelschild steht. Wissen Sie, wenn ich irgendein Tom bin, könnten Sie diese Geschichte getrost jedem erzählen, ohne dass Sie oder wir in Schwierigkeiten geraten oder, dass man uns für verrückt hält. Ich für meinen Teil habe nicht vor, jemand anderem außer Ihnen nur ein Sterbenswörtchen von dieser Begebenheit zu erzählen. Und Sie werden auch die Einzige sein, die jemals diesen Film sehen wird.“
Cora nickte. Dieses Treffen betraf nur sie … und Mister Tom. Warum auch Öl ins Feuer gießen? Es würde nur wieder Unfrieden geben, wenn die Welt von diesem Treffen wüsste und von dieser blutverschmierten Kamera.
Reumütig schaute sie ihn an: „Entschuldigen Sie bitte meine Direktheit. Das war wohl alles etwas zu viel in letzter Zeit.“
Kumpelhaft hielt er ihr einen Teller mit zwei Riesensandwiches hin: „Cheddar, Salat und Meerrettich.“ Wieder zwinkerte er ihr zu. Er konnte tatsächlich nett sein.
„Danke … Tom“, sagte sie und langte zu. Es schmeckte köstlich. Mit jedem Bissen konnte Cora spüren, wie sich ihre Gemütslage beruhigte. Schließlich leckte sie sich die Finger ab; aber direkt bot er ihr das zweite Sandwich an.
„Möchten Sie nichts essen?“, fragte sie schuldbewusst, weil sie immer noch Appetit verspürte.
„Nein“, sagte er und schüttelte lachend den Kopf. „Stärken Sie sich mal schön. Sie sind ja ganz ausgehungert. Und dann erzählen Sie mir in aller Ruhe, wie es soweit kommen konnte, dass ich Ihre Freunde auf meiner Expedition mitten im Nirgendwo getroffen habe. Nur, um alle Unklarheiten zu beseitigen und um sicher zu sein, dass wir dieselbe Sprache sprechen.“
Cora warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kamera.
„Dafür ist immer noch Zeit“, sagte er kumpelhaft. „Uns stört hier keiner für die nächsten beiden Tage. Die Großeltern haben gerufen, und der Rest der Familie ist ihrem Ruf gefolgt.“ Dann beugte er sich zu ihr. „Wissen Sie, mich würde auch interessieren, wie Sie dazu stehen. Denn dann kann ich meine Erlebnisse besser einordnen … und meine Beziehung zu Ihnen.“
„Ob Freund oder Feind“, sagte Cora frei heraus. Das Essen hatte sie gestärkt. Ihr Verstand war wieder messerscharf.
„Erzählen Sie mir ihre Geschichte“, sagte er nur.
„Damit Sie erfahren, ob ich genauso verrückt bin wie sie?“
„Erzählen Sie“, sagte er stoisch.
In sich versunken schaute Cora für einige Sekunden durch das große Fenster in seinem Arbeitszimmer hinaus in den schwarzen Himmel. Dann zog sie die Stirn kraus.
„Es kommt viel zu viel Gewalt darin vor. Dabei wollten wir nur unseren Frieden. Die ganze Zeit.“
„Glauben Sie mir, liebe Cora, ich weiß genau, was Sie meinen“, sagte er mitfühlend, streckte zwei Finger aus und berührte sie sanft. „Peace on Earth.“
„Ja, genau“, sagte Cora und ein kleiner Schauer lief über ihren Rücken. „Aber es gab keinen Frieden. Die Lage spitzte sich zu. Das war im letzten Sommer, als wir alle noch in der Nähe von Frisco wohnten. Im Hinterland, vielleicht zwei Meilen entfernt von dem kleinen Dörfchen, wo jetzt kaum noch einer wohnen will, weil sich keiner traut. Das Geisterdorf. Vielleicht haben Sie davon gehört in den Nachrichten. Aber sie haben es zu einem Geisterdorf gemacht. Nicht wir.“
„Ja, das ist mir zu Ohren gekommen“, sagte er, öffnete zischend eine Flasche Cola und reichte sie herüber. „Und auch darum würde mich Ihre Version ganz besonders interessieren.“
Cora nickte dankbar und nahm einen kleinen Schluck. Tom hatte recht. Er hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren. Sie würde die Vergangenheit mit ihm teilen.
„Warum musste es soweit kommen?“ Fast anklagend sah sie ihn an. „Wir waren glücklich.“
„Lassen Sie Ihren Gefühlen freien Lauf. Es bleibt unter uns“, sagte er gutmütig, schnappte sich eine Decke vom Sofa und legte sie über Coras Schulter.
Dankbar lächelte sie ihn an und fühlte, wie der weiche Stoff sie wie ein Schutzmantel umhüllte.
„Wissen sie“, sagte Cora eingehüllt in ihre Decke, „wir waren wie eine große Familie. Wir brauchten die anderen Menschen nicht. Wir hatten uns, und die Kinder hatten ihr Baumhaus … und ihre Mutproben.“ Noch einmal blickte sie in die Nacht. „Und deswegen ist es nicht nur meine, sondern auch Charlies Geschichte, obwohl ich mir manchmal wünsche, er könnte sich nicht erinnern.“
Spätsommer 1968
Keine Nacht war wie die andere. Der Sommer 1968 machte da keine Ausnahme. Im Gegenteil. Die Nächte waren so einzigartig wie nie zuvor.
Natürlich gab es die trockenen Nächte oder die verregneten; helle, dunkle, warme oder kühlere Nachtstunden. Es gab stürmische Nächte und solche, in denen sich kein Lüftchen regte. Aber allein diese Umstände machten eine Nacht nicht einzigartig. Da musste man schon genauer hinschauen. Denn es gab auch Nächte in denen der würzige Duft der Bäume und Felder sich über den Norden Kaliforniens legte, als hätte die Natur ein duftendes Süppchen zubereitet in das man schnuppernd und träumend versinken konnte. Und jetzt kam man der Sache schon näher. Das ganz Besondere nämlich war, dass jede Nacht ihre ganz persönliche Geschichte schrieb, für Junge, für Alte, für Frauen und Männer und für fünf Jungen in einem Baumhaus, die gar nicht erwarten konnten, was die Nacht ihnen zu bieten hatte. Auch, wenn es die letzte war, die sie unbeschwert und gedankenlos verbringen würden.
Stoßweise saugte Charlie die würzige Luft durch seine Nasenflügel und biss die Zähne zusammen. Wenn er nicht blinzelte und seinen Kopf ganz ruhig hielt, dann konnte er den kleinen Stern sehen, der durch das Astloch schimmerte. Aber immer wieder kniff er die Augen zu, und wenn er sie wieder öffnete, weil der Schmerz nachließ, war der Stern nicht mehr im Astloch; aber er würde ihn wiederfinden, das wäre ja gelacht. Er musste nur auf seinen Stern achten, nicht auf seine Schmerzen, dann würde er gewinnen.
"Es ist zu groß“, hörte er Zack sagen, und was Zack sagte, traf meistens zu.
„Nein, ist es nicht“, entgegnete Mo und klang nicht weniger überzeugt.
Vorsichtig hob Charlie den Kopf und schaute auf seinen rechten Fuß. Er hielt ihn ganz still, denn immer wieder stach Mo mit einer tintengetränkten Nadel in seine Fußsohle. Mo war ein Künstler, aber diese Aufgabe schien seine gesamte Konzentration zu erfordern. Bei jedem Stich fuhr seine Zungenspitze ein Stück heraus, wie eine Schlange, die vorsichtig die Umgebung erkundete, bevor sie zubiss. Neben Mo kniete Zack, und seine gerunzelte Stirn verriet, dass er immer noch Bedenken hatte.
„Zu groß“, wiederholte Zack skeptisch.
„Es ist genauso groß wie deins!“, antwortete Mo genervt und schob seine Zunge aus dem Mund. Mittlerweile standen die Schweißperlen auf seiner Stirn.
„Aber Charlies Fuß ist kleiner“, sagte Zack. „In der Proportion ist es größer als meins.“
Mo rollte mit den Augen und ließ die Nadel sinken.
„Propo… was? Ich kann’s nicht mehr kleiner machen. Übrigens bin ich schon so weit wie bei keinem von euch, mich eingeschlossen.“ Zum Beweis rieb er mit einem Lappen über Charlies Fuß, der daraufhin kurz zuckte.
„Tut nicht weh. Kitzelt nur“, sagte Charlie schnell und schaute sich triumphierend um im Kreis seiner Freunde. „Ist ‘ne leichte Mutprobe.“
„Na, gut“, sagte Mo anerkennend und wollte seine Nadel für ein paar weitere Stiche ansetzen, da legte Zack ihm die Hand auf die Schulter. „Lass gut sein, Mo.“
Noch einmal strich Mo kontrollierend über sein Kunstwerk. Dann nickte er anerkennend und ließ seine Nadel in ein kleines Holzschälchen fallen. Flink wie ein Wiesel zog Charlie seinen Fuß bis fast unters Kinn. Das war kinderleicht; Charlie war biegsam wie ein Weidenzweig. Fasziniert begutachtete er das kleine Kreuz, das soeben in seiner Haut verewigt worden war. Immer wieder hatte Mo mit seinem Lappen über die Haut gewischt, und darum war es die einzig saubere Stelle unter seinem Fuß. Wahrscheinlich hätte er sonst nichts erkannt. Den ganzen Sommer lief er barfuß durch die Gegend und lebte in Bäumen. Im Laufe der Zeit waren die Erde und das dunkle Grün der Rinde unter seine Haut gedrungen, und jede Tätowierung wäre hoffnungslos verloren gewesen im Dunkel. Aber jetzt glänzte seine neue Errungenschaft frisch poliert im Mondlicht. Ganz fertig war die Umrandung noch nicht, aber weiter als bei allen anderen. Das hatte Mo gesagt, oder nicht? Erwartungsvoll schaute er wieder in die Runde und auf seine vier Freunde. Charlies Augen leuchteten stolz; alle schienen ihn mehr oder weniger als Sieger zu akzeptieren. Wenigstens gab es keine Einwände. Selbst Ben, der Stärkste von allen, enthielt sich eines kritischen Kommentars und zählte lieber seine Klimmzüge, die er bei jeder Gelegenheit an seinem Spezialast vollführte.
„Vierundvierzig, fünfundvierzig …“, presste er angestrengt heraus und kontrollierte bei jedem Zug seinen angespannten Bizeps.
„Du kannst auch tausend machen, Ben“, sagte Mo seelenruhig. „Charlie hat trotzdem gewonnen.“
Missmutig ließ Ben sich auf die Bretter fallen, und Charlie war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob er überhaupt gewinnen wollte. Vielleicht würde sein großer Freund dann nicht mehr mit ihm toben, und wenn er seine Hände um Bens Faust legte, vielleicht würde er ihn dann nicht mehr in die Luft stemmen und ihn dort oben verhungern lassen, wie er sagte, was bestimmt nicht lange dauern würde bei so einer halben Portion. Aber Charlie wäre nicht verhungert, vorher hätte er sich totgelacht, denn immer, wenn Ben mit ihm rumbalgte, putzte er irgendwann mit dem Finger über seine Zähne, nur um zu verdeutlichen, dass er ihn gleich verspeisen würde. Dann prustete Charlie immer los. Er konnte einfach nicht mehr aufhören zu lachen, obwohl ein kleiner Schauer über seinen Rücken lief. Jedenfalls würde er auf diese Rituale nicht verzichten wollen, niemals. Sehnsüchtig schaute er in Bens Richtung, und als hätte dieser seine Gedanken gelesen, bleckte er grinsend die Zähne und hob drohend seinen Zahnbürstenfinger. Augenblicklich waren Charlies Sorgen wie weggeblasen, wie weggeputzt. Er war einfach viel zu sensibel. Das war schon immer so.
„Ok, Kontrolle“, sagte er, wieder voll in seinem Element und streckte seinen Fuß aus.
Nacheinander versammelten sich fünf mehr oder weniger dreckige Füße mit fünf mehr oder weniger vollendeten Kreuzen auf der Mitte des grob gezimmerten Holzbodens.
„O …“, sagte Charlie erstaunt, als er unter Mos Fuß schaute. Da war nicht viel von einem Kreuz zu erkennen. Eigentlich nur ein kleiner und ein großer Strich im rechten Winkel.
„Es liegt nicht in meiner Natur, mir selbst Schmerzen zuzufügen“, kommentierte Mo sein kümmerliches Kunstwerk.
„Macht doch nix, Dickerchen“, hänselte Zack ihn. „Wir suchen ja nicht den größten Loser, sondern wir haben einen Gewinner.“ Wie eine Trophäe hob er Charlies Fuß in die Höhe und setzte eine feierliche Miene auf. „Ich verkünde das Ergebnis der ersten Mann-oder-Milchbubi-Mutprobe des Sommers 1968. Erster und alleiniger Sieger ist unser kleiner Cha-Cha. Mit nie da gewesener Tapferkeit hat er den unerträglichen Schmerzen und der drohenden Gefahr standgehalten und seine Freunde auf die Plätze verwiesen.“ Noch ein Stückchen weiter hob er den Siegerfuß und schaute jetzt vielsagend auf das große Astloch. „Ihm gebührt der erste Preis, den wir unter Einsatz unseres Lebens erbeutet und der Schatzkammer zugeführt haben. So war es doch Charlie?“
Charlie nickte. Natürlich war es so, und Zack war ein brillanter Redner. Trotzdem wackelte Charlie unruhig mit den Zehen, denn alle Blicke waren jetzt auf das Astloch gerichtet und auf Ben, der mit unerträglicher Langsamkeit eine eingerollte Zeitschrift aus den Tiefen des Baums beförderte. In Zeitlupentempo und anscheinend nur widerwillig überreichte er den Preis an den Sieger. Ehrfurchtsvoll nahm Charlie das Schriftstück entgegen, sog den Duft des Papiers ein und dachte voller Genugtuung an die letzte Nacht. Natürlich freute er sich, obwohl er wusste, was ihn erwartete. Er hatte es selbst gestohlen. Gestern Abend waren sie über den Zaun geklettert. Sie hatten ihr Grundstück verlassen; zum ersten Mal, seit sie hier wohnten, hatten sie das Gesetz gebrochen und eine magische Grenze überschritten. Lautlos wie ein Rudel Wölfe waren sie durch die Felder in das Dorf geschlichen bis zum Schreibwaren & Spielzeugladen. Und er, der kleine Cha-Cha war ihr Anführer gewesen, denn nur er kannte den Weg. Ohne ihn wären seine Freunde verloren gewesen. Darum war er auch derjenige, der durch das Kellerost kletterte und nur seinen Instinkten folgend den Weg nach oben fand. Schließlich stand er schwer atmend im Inneren des Ladens und fühlte sich wie in einem verbotenen Paradies, mit all seinen Schätzen, deren Umrisse sich in den Schränken und Regalen abzeichneten. Aber Charlie widerstand den Versuchungen; denn das eigentliche Objekt seiner Begierde lag vorne in der Auslage, direkt im Fenster. Hinter der Scheibe knieten seine Komplizen auf dem Gehsteig und drückten sich die Nasen platt. Von außen pochten ihre Finger gegen das Glas und zeigten hektisch hierhin und dorthin, auf all die unendlich begehrenswerten Dinge, die dieses Königreich zu bieten hatte. Aber Charlie nahm nur das eine Heft; seine Trophäe, die er jetzt eine Nacht später als Gewinner der ersten Mann-oder-Milchbubi-Mutprobe wieder in den Händen hielt. O ja, diesen Preis hatte er sich wirklich verdient, und langsam rollte er das Comic auf.
„Batman!“, sagte er feierlich. Seine Augen glänzten und verschmolzen mit dem schwarzen Ritter, der ihn mit wehendem Umhang direkt vom Titelbild in eine lebensgefährliche Welt zog.
Auch die anderen hatten sich um ihn geschart. Ja, es war nur ein Comic, aber es war Batman, und jedes kleinste Detail, jeder Muskel wurde respektvoll gewürdigt.
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir das gemacht haben“, sagte Mo, beugte sich ganz nah über das Heft und strich fast zärtlich über die Konturen des Super-helden. „Wie haben wir das hingekriegt? Sind wir wirklich über diesen Zaun geklettert?
„Ja, wir haben es getan“, sagte Charlie, und durch die Blätter konnte er die Umrisse des großen Weidezauns erkennen; die magische Grenze, die ihr Grundstück umgab. Am liebsten hätte er Mo an die Hand genommen und wäre dorthin gerannt, um es wieder zu tun, um hinüber zu klettern auf die andere Seite. Aber was für einen Sinn hätte das gehabt. Mo reichten die zehn Hektar, die sie eingezäunt hatten, zum Leben. Sie mussten ihm reichen, und damit hatte er sich abgefunden. Nicht mal im Traum würde er daran denken, sein kleines Königreich zu verlassen. Da musste man ihm schon, wie gestern Nacht, einen kleinen Arschtritt verpassen. Denn, wie er sagen würde, lag es einfach nicht in seiner Natur, die Außenwelt zu erkunden. Mos Forscher-drang endete am Zaun, und diese Tatsache machte Charlie traurig. Aber das würde er ihm jetzt nicht sagen, denn schließlich hatte Mo sich gestern überreden lassen, obwohl er sich mindestens einen halben Liter vergorenes Kokoswasser einverleibt hatte, bevor er diese nutzlose Idee auch irgendwann richtig gut fand. Wie auch immer, man hätte Mo einiges nachsagen können; dass er zu dick war, zu langsam und vielleicht zu faul; dass er seine Bilder mehr liebte, als das echte Leben; aber ein Feigling war Mo mit Sicherheit nicht. Da war sich Charlie sicher und hatte keine Lust mehr an irgendeinen doofen Zaun zu denken. Mit einem Mal fühlte Charlie sich irgendwie einsam und verlassen.
„Ich leih’s euch, wenn ich’s gelesen hab … zehn mal gelesen hab“, sagte er, zog das Heft an sich und presste Batman an seine Brust. Die Härchen in seinem Nacken sträubten sich. War es mit einem Mal kälter geworden, oder lag es an seinen Freunden? Wie sie ihn jetzt anschauten, gierig, neidisch und mitleidlos wie Tiere. Plötzlich wurde er wieder unsicher. Nicht nur Ben, sie alle waren stärker als er; sie könnten ihn berauben, und Batman wäre für immer verloren in den Fängen dieser … Raubtiere. Fuck! Immer diese Gedanken. Charlie hätte sich ohrfeigen können. Er war der Feigling. Dabei waren sie Freunde. Seit er denken konnte waren sie eine Gemeinschaft. Trotzdem, manchmal hatte er Angst vor ihnen … und sie vielleicht auch vor ihm. Charlies Herz pochte vom Bauch bis in den Unterkiefer, und Batman zitterte an seiner Brust. Wann würde das endlich aufhören?
„Beim Tätowieren gerade, woran hast du gedacht?“, fragte Mo gutmütig und riss Charlie aus seiner Panikattacke zurück auf den Holzboden.
Erleichtert atmete er aus. Hatten sie nicht gerade erst mit einer tintengetränkten Nadel bewiesen, dass sie zusammen gehörten. Jetzt war die Tinte unter ihren Füßen noch nicht mal getrocknet, und schon zweifelte Charlie an ihrer Loyalität. Aber vielleicht war gerade das der Punkt: Charlie hatte keine Angst vor ihnen, sondern Angst sie zu verlieren. Der Zusammenhalt jedenfalls war gefährdet, und Mos Frage nur zu berechtigt, denn während ihrer Mutprobe hatte Charlie nicht nur nur an einen Stern im Astloch gedacht.
„Dass wir vielleicht hier weg müssen. Daran habe ich gedacht“, antwortete er. „Und dass es dort, wo wir hingehen zu kalt ist für manche von uns.“ Es war die Wahrheit und vor allem ein neues Thema, das sie alle zu bewegen schien; das sie wieder vereinte.
„Ich geh nirgendwo hin“, sagte Ben und zog seine Stirn in Falten.
„Hm, wenn Cora zurück kommt, werden wir mehr wissen. Aber stimmt, die Lage scheint ernst zu sein“, sagte Zack und saugte an seinem Strohhalm, der in einer grünen Kokosnuss steckte.
„Warum?“, fragte Charlie und bemühte sich, cool zu bleiben.
„Mein Dad macht keine Rauchkringel mehr“, antwortete Zack und zog im selben Moment ruckartig seinen nackten Fuß ein, was aber nicht an den veränderten Rauchgewohnheiten seines Vaters lag, sondern daran, dass der blonde Lockenkopf eines kleinen Mädchens über der Bretterkante erschien.
Auch Mo riss erschrocken die Augen auf und mit einer Schnelligkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, schleuderte er sein Holzschälchen samt Nadel und Faden ins Astloch.
Vollkommen unbeeindruckt von der allgemeinen Hektik, die ihr Erscheinen ausgelöst hatte, setzte sich das Mädchen neben Charlie, platzierte ihre Puppe auf der anderen Seite und strich ihr fürsorglich über den Kopf.
„Hab ich dir doch gesagt, dass hier noch Platz für uns ist“, sagte sie seelenruhig und richtete die kleine Schleife im Puppenhaar.
„Abigail, was machst du hier?“, fragte Mo entrüstet.
„Ich guck von hier oben, ob Tante Cora kommt“, antwortete Abbie und schien sehr zufrieden zu sein mit ihrem neuen Aussichtspunkt.
„Sie ist nicht deine Tante“, mischte Charlie sich ein. Vielleicht klang es etwas zu scharf.
„Sie ist aber auch nicht deine Mom, obwohl du das gerne hättest“, konterte das Mädchen und fixierte das Comic in seinem Schoß. „Und Batman ist auch nicht dein Papa.“
Das hatte gesessen. Charlie war nicht in der Lage, auch nur ein weiteres Wort herauszubringen.
„Aber ich bin dein Bruder“, fauchte Mo. „Und ich sage dir …“
„Dann sag ich allen, woher du deine blauen Finger hast“, unterbrach ihn die Kleine, und trotzig grinste sie ihren Bruder an.
„Wenn du das tust“, entgegnete Mo mit pochenden Schläfen, packte sich Charlies Fuß und schwenkte ihn in Abbies Richtung, „dann mach ich dir so ein Kreuz mitten auf die Stirn.“
Abbie schrie auf. Mit beiden Händen hielt sie sich und ihrer Puppe die Augen zu. Gleichzeitig versuchte sie, sich hinter Charlies Rücken zu verstecken. „Das würde er nicht tun, oder Charlie? Das würde er nicht tun!“
Charlie befreite seinen Fuß aus Mos Klammergriff und zog nachdenklich die Knie an. „Nein, würde er nicht“, sagte er abwesend.
Nur langsam traute Abbie sich, die Augen wieder zu öffnen. Als sie sah, dass keine Kreuze mehr vor ihrer Nase schwebten, durfte auch ihre Puppe wieder sehen. Mo schaute sie immer noch an, mit zu Schlitzen verengten Augen; aber mehr noch beunruhigte sie die Tatsache, dass Charlie keine Notiz mehr von ihr nahm. Kurzerhand verfrachtete sie ihre Lieblingspuppe in seinen Schoß.
„Tut mir leid wegen gerade“, sagte sie.
„Schon gut“, sagte Charlie, aber das klang nicht sehr überzeugend.
Darum wandte Abbie sich an die Sterne: „Es tut mir leid Eltern von Charlie. Es tut mir lei-heid!“, schallte es in den Nachthimmel.
„Das war mal ‘ne richtig schöne Männerrunde hier“, stöhnte Ben und hielt sich genervt die Ohren zu.
„Ja, und mit einem Mal sitzen hier zwei Mädchen“, sagte Abbie und hielt die Hand ihrer Puppe. „Und vom Dorf her kommt noch eins.“
Ruckartig drehten die Jungen ihre Köpfe und schauten konzentriert hinaus in die Mondnacht. Abbie hatte recht: Hinter ihrem Zaun war tatsächlich die Silhouette eines Mädchens auszumachen.
„Es ist nicht Tante Cora“, stellte Abbie fest.
„Ist es ein Mädchen aus dem Dorf?“ Die Frage kam aus einer dunklen Ecke, so voller Melodie und Sanftmut, dass man nicht sicher sein konnte, ob es eine Jungenstimme war. Auch als Charlie sah, wie Jonas aus dem Schatten in das Mondlicht eintauchte, und wie er sich ohne eine Antwort abzuwarten in die höheren Äste schwang, hätte er ihn durchaus für ein Mädchen halten können. Okay, keiner von ihnen hatte kurze Haare; sie wuchsen strubbelig und frei über die Ohren und von dort wohin sie wollten. Aber Jonas Haar fiel schwarzglänzend bis weit über die Schultern, bis über die Gitarre, die über seinem Rücken hing. Seine Gesichtszüge waren fein und ebenmäßig. Bläulich schimmerten die Adern unter seiner Haut, und seine Augen waren schwarz und tief wie ein Moorsee im Schnee.
Jonas redete nicht viel. Er stand über den Dingen, die sich Nacht für Nacht und mit erstaunlicher Regelmäßigkeit im Baumhaus abspielten. Mit einem überlegenen Lächeln quittierte er die typischen Jungengespräche; Klimmzüge und übertrieben große Muskeln interessierten ihn genauso wenig wie Batman. Die Mutproben machte er mit, aber mit den Gedanken war er woanders. Nur, wenn es um Mädchen ging, und dieses Thema tauchte immer öfter auf in ihrer Runde, dann erwachten seine Lebensgeister. Dann übernahm er die Regie und seine Begeisterung kannte im wahrsten Sinne des Wortes keine Grenzen. Im Moment wollte er vor allem in Erfahrung bringen, wer dieses Mädchen war und woher sie kam. Charlie würde ihm bei dieser Frage helfen, natürlich würde er das. Aber jetzt turnte Jonas liebestoll in den Ästen rum, warum sollte er ihn mit einer Antwort aus dem Gleichgewicht bringen? Warum sollte er das tun?
Freihändig stand er in der Baumkrone auf Zweigen, die so dünn waren, dass sie ihn auf und ab wiegten bei jedem Atemzug. Schützend hielt er seine Hand über die Augen, als würde der Mond ihn blenden.
„Sie ist wunderschön. Kenne ich sie?“, erklang Jonas Frage erneut, und Charlie konnte nicht mehr so tun, als hätte er ihn überhört. Nur er kannte die Antwort. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Selbst Abbies Puppe schaute ihn an.
„Ja, du kennst sie!“, rief Charlie hoch in den Baum. “Sie war gestern schon da und vorgestern und die Nacht davor.“
„Und …?“, fragte Jonas fordernd.
„Sie mag deine Lieder. Dich mag sie glaub ich auch. Gestern hat sie dir zugewunken.“ Jetzt musste Charlie doch grinsen, und auch Abigail kicherte in ihr Fäustchen, obwohl sie sich nicht mehr ganz so wohl fühlte, seit sie wusste, dass dieser Ort wimmelte von nackten Füßen mit unheilvollen Zeichen.
Jonas schwang seine Gitarre herum und strich mit der Rückhand über die straff gespannten Sehnen. Das klang schon gut, aber ein paar Saiten mussten noch gestimmt werden.
„Welches Stück?“, fragte Jonas. Seine Finger drehten und zupften am Instrument.
„Spiel unser Lied“, antwortete Charlie ohne Umschweife. „Dazu hat sie ihre Hüften bewegt, gestern.“
Ein erstauntes Raunen ging durch die versammelte Gemeinde, und Jonas konnte seine Begeisterung kaum noch bremsen. Hektisch drehte er an den Schrauben und brachte seine sechs Saiten in die richtige Tonlage. Das dauerte etwas länger, weil er sich immer wieder vergewissern musste, ob sie noch da war.
„Wie habe ich gespielt? Laut oder leise?“
„Schön hast du gespielt“, antwortete Charlie, und wie jeden Abend war er sich nicht sicher, ob seine Antworten noch lustig oder schon traurig klangen. Eins war allerdings sicher: Jonas konnte sich nicht erinnern. Nicht an gestern, nicht an vorgestern und bestimmt nicht an den Tag davor. Keiner von ihnen konnte sich erinnern, was außerhalb des Zauns passierte. Außer Charlie. Wenn ein Batmanheft plötzlich im Astloch lag, musste Charlie erklären, wie es dorthin gekommen war. Wenn Mo und die anderen heimlich mit ihm ins Dorf geschlichen waren, musste er haarklein berichten, wie sie das bewerkstelligt hatten; und wenn sich jemand auf den ersten Blick in ein Mädchen jenseits des Zauns verliebte, musste er jeden verfluchten Abend Rede und Antwort stehen. Mittlerweile war es die fünfte Nacht, in der Jonas breitbeinig in den Baumwipfeln stand und ein Lied über den Zaun schicken würde, als wäre es das erste Mal. Charlie hatte schon befürchtet, dass sie sich langweilen könnte, weil nicht mehr passierte, weil sie sich nicht näher kamen. Er hatte sich geirrt. Sie war wieder dort. Heute trug sie einen Minirock, und nur Charlie wusste, dass sie gestern eine enge Jeans anhatte. O man, sie war wirklich sexy und ihr Haar genauso lang und schwarz wie das von Jonas … nur ein bisschen lockiger. Neugierig war sie auch. Aber über den Zaun würde sie nicht klettern. Diese Grenze konnte sie nicht übertreten. Ihr Duft allerdings scherte sich einen Teufel um irgendwelche Grenzen. Er wehte einfach frech herüber, mit einer Mischung aus Wrigleys Spearmint, Parfum und der Neugier eines Teenagers.
Dann hörte Charlie die Gitarre. Jonas schickte ihr ein Lied zurück. Jedes Wort hätte Charlie mitsingen können; aber selbst der Kauz im Nachbarbaum hielt den Schnabel, als er Jonas Stimme hörte.
No milk today, my love has gone away …
Jonas sang das ganze Lied, und Charlie dachte daran, dass sie vielleicht von hier weg mussten. Er dachte an das Mädchen und daran, dass Jonas sie wahrscheinlich nie küssen würde. Für ihn war es immer das erste Mal, und das war zu früh für einen Kuss.
Morgen würde Daisy kommen. Sie würde Jonas Erinnerung mitnehmen und auslöschen. Daisy war die Sonne.
Als offizielle Vertreterin der Bewohner der alten Miller-Farm solle sich Fräulein Cora Schmidt bitte am Freitag den 27.9.1968 um 5 p.m. einfinden, für ein gemeinsames Kennenlernen und auf ein fruchtbares Gespräch in zwangloser Runde.
So oder ähnlich stand es in der amtlichen Einladung, die allein aufgrund ihrer Wortwahl eher an eine Vorladung erinnerte, eine Frechheit. Und nur in einer kleinen Fußnote unter Tagesordnungspunkt drei wurde verklausuliert auf die Allgemeine Schulpflicht für Minderjährige hingewiesen. Aber nur darum ging es ihnen. Das Dorf wollte die Kontrolle über jeden seiner Bürger, und wenn die Erwachsenen sich dieser Kontrolle entzogen, dann schnappte man sich die Kinder.
Selbstverständlich hatte Cora den Brief nicht zerrissen, obwohl es ihr in den Fingern juckte. Aber die angedeuteten Forderungen mussten aus dem Weg geräumt werden. Letztendlich ging es um nicht mehr und nicht weniger, als den Verbleib ihrer Mandanten auf einem Grundstück, wo sie sich nach jahrelanger Suche endlich zuhause fühlten. Angekommen. Cora arbeitete für die Gemeinschaft, aber sie lebte auch mit ihnen. Darum ging es auch um sie.
Gut vorbereitet und pünktlich um Fünf war sie erschienen; immer noch in der Hoffnung, dass sie zwei oder drei Stunden später ihren Job gemacht hätte und mit guten Nachrichten nach Hause fahren würde. Was für ein fataler Fehler. Anfängerfehler! Sie hatte die Hartnäckigkeit, aber auch die Vorgehensweise der Dorfbewohner unterschätzt. Jetzt war es zu spät. In jeder Hinsicht war es zu spät. Seit sechs Stunden befand sie sich in den Fängen des Dorfrats, und erst kurz vor Mitternacht war man zum Kern der Sache, zum eigentlichen Grund für ihre Vorladung übergegangen. Einige Stunden vorher, und unter Tagesordnungspunkt eins, war Cora in den Genuss einer nicht enden wollenden Stadtführung gelangt (Stadtführung, was für eine schamlose Übertreibung bei 4737 Einwohnern). Jedenfalls hatte sie gelernt, dass neben einer Kirche und einer Arztpraxis auch zwei Feuerwehrautos das Überleben des Dorfes sicherten. Die Hauptstraße würde in absehbarer Zeit geteert und die Straßenbeleuchtung erneuert werden; damit endlich auch die letzte Gaslaterne dem Fortschritt weichen würde; einem unbändigen Willen, der dieses Dorf seit seiner ersten urkundlichen Erwähnung 1798 täglich ein Stück weiter gebracht hat, bis zur heutigen Blüte. So der Bürgermeister in seiner abschließenden Rede, bevor er sich einen heimlichen aber genau darum viel zu offensichtlichen Schluck aus seinem Flachmann gönnte; und bevor es im Village Candlelight Restaurant zum Essen ging. Das war Tagesordnungspunkt zwei, und der gestaltete sich wesentlich delikater, als Cora anfangs befürchtete. Von der Aufmachung her war das Candlelight eher ein Diner. Rückbank an Rückbank in einer roten Reihe, wie es tausende gab an der Westküste. Die Speisekarte war einfallsreicher. Tatsache war: In das Truthahnfleisch, mit seiner feurigen Chilisauce, einer fein nuancierten Gewürzmischung und einem Hauch Schokolade, hätte Cora sich reinlegen können. Dieses formidable Gericht, wie ihr Vater es bestimmt genannt hätte, schmeckte einfach nach mehr. Darum entschied Cora sich auch noch für einen Cheese-cake, der ihre Meinung über das kleine Dörfchen und seine Bewohner definitiv nicht verschlechterte. Im Nachhinein, darüber war sie sich im Klaren, musste sie erkennen, dass alles nur Taktik war.
Denn zu vorgerückter Stunde, wie der Pastor süffisant bemerkte, und nachdem sie vom Restaurant in die Bürgerhalle umgezogen waren, änderte sich der Ton. Erschöpft und viel zu satt stand sie vor den Dorfobersten, die an einer langen Tafel ihren Platz eingenommen hatten. Ihr hatte man keinen Stuhl angeboten, und sie würde bestimmt nicht darum bitten. Wenigstens würde sie nicht frieren. Die Ölheizung bollerte und heizte dem Saal trotz seiner Größe und seiner hohen Decken gehörig ein. Man wollte sie weichkochen. Nein, sie war bereits gar. Ihr Jäckchen würde sie ausziehen müssen. Ein Zeichen von Schwäche, okay, aber wenn sie hier einen Hitzschlag bekommen würde, wäre keinem gedient. Sie hatte einen Auftrag, und den würde sie erledigen, genau wie den Bürgermeister.
Vom Licht geblendet blinzelte sie in die beiden Strahler, die extra auf sie gerichtet waren. Denn eigentlich sollten sie, da war sich Cora sicher, das große Plakat an der Rückwand anstrahlen, das eine gruselige Blutmond-Party am 5 und 6. Oktober ankündigte.
Während sie wie ein Opferlamm vor der Schlachtbank stand, und der Bürgermeister mit glasigen Augen seine Anklagepunkte vortrug, glitt Coras Blick über die Namensschildchen, die fein säuberlich vor jedem Sitzplatz standen.
Frank Dobber - Sheriff
Bill Baljan - Bürgermeister
Pastor Gilbert
Dr. Doris Turner
Samuel Rose - Kaufmann
Verwahrlosung … Aufsichtspflicht … Kindeswohl. Die Wortschwaden des Bürgermeisters mischten sich mit den Namensschildchen und rauschten durch ihren Kopf. Zu heiß. Es war viel zu heiß; und diese Litanei machte alles nur noch schlimmer. Kurzerhand zog Cora ihre Jacke aus und legte sie auf einen kleinen Tisch, auf dem gleich mehrere Geschenke arrangiert waren. Die waren für sie bestimmt und für die Gemeinschaft. Da war sich Cora erneut sicher und öffnete einen Knopf ihrer Bluse, bevor sie hier ersticken würde.
„Nun liebes Fräulein Cora, was sagen Sie zu diesen Sachverhalten“, fragte der Bürgermeister schließlich. „Mich würde Ihre ehrliche Meinung interessieren. Nicht nur als Vertreterin ihrer Kommune, sondern auch als …“, seine glasigen Augen glitten über ihr Gesicht und tiefer in ihr Decollete. „Sondern auch als …“
„Ich glaube Bill, Fräulein Cora weiß genau, was sie zu sagen hat“, mischte sich mit rauchiger Stimme der Sheriff ein. “Sie ist Juristin, und sie ist erwachsen.“
Es waren die ersten vernünftigen Worte, die Cora an diesem Abend hörte. Dieser Sheriff, auf welcher Seite er auch stehen mochte, hatte zumindest nicht vor, dieses Verhör vollends aus dem Ruder laufen zu lassen. Er hatte ihr einen Ball zugespielt, und dankbar nahm sie ihn auf.
„In der Tat weiß Fräulein Cora das“, sagte sie resolut und fügte hinzu: „Im Gegensatz zu einem Kind.“ Cora trat einen Schritt nach vorne. Sie war in ihrem Element; und wenn hier jemand glaubte, er hätte leichtes Spiel, dann hatte er sich geschnitten. Geschlagene sechs Stunden hatte sie Zeit gehabt, sich jedes Gesicht, jede Regung und Meinung einzuprägen. Sie wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Natürlich auch, weil sie Erkundigungen eingeholt hatte. Sie kannte die Menschen hinter den Namensschildern besser als der Pastor seine Kirche oder der Bürgermeister seinen Schnapsvorrat. Und wenn es sein musste, würde sie all ihre Karten ausspielen.
„Erst einmal, meine sehr geehrten Damen und Herren, sollten wir uns nämlich darüber im Klaren sein, dass wir hier über junge Menschen reden und nicht über Straftatbestände. Über Kinder, die von ihren Eltern geliebt werden, die umsorgt werden, mehr als es in anderen Familien üblich ist. Es geht um Töchter und Söhne, die zuhause in ihrer gewohnten Umgebung eine liebevolle und qualifizierte Beschulung erfahren. Und, ja: auch um schadhafte Einflüsse von ihnen fern zu halten. Das ist kein Unrecht. Aber der Reihe nach.“
Überrascht hob sie eine Augenbraue, als hätte sie den kleinen Tisch mit den Geschenken jetzt erst wahrgenommen.
„So viele kleine Aufmerksamkeiten“, sagte sie, nahm verzückt ein Büchlein vom Stapel und ließ einige Seiten durch die Finger gleiten. „Ich sehe gar keine Bilder.“
„Das ist wahr, mein Kind“, hallte die sanfte Stimme des Pastors ihr, wie ein Wiegenlied vor dem Einschlafen, entgegen. Aber Cora war hellwach, und sie würde aufpassen müssen. Sie kannte diese Tonlage; aus unzähligen Verhandlungen war ihr dieses einlullende Manöver bekannt, und die Härchen in ihrem Nacken richteten sich warnend auf.
„Es handelt sich hier um ein Gesangbuch für den öffentlichen Kirchgang“, erklärte die Stimme sanft.
Cora blätterte jetzt suchend ein paar einzelne Seiten um. „Wo sind denn die Beatles? Rock n Roll?“
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie der Sheriff und Frau Doktor sich verstohlen angrinsten. Der Pastor lächelte auch … sanftmütig, gnädig. Und wenn das Wort Scheinheiligkeit nicht schon existieren würde, dann wäre es hier und jetzt geboren.
Cora klappte das Buch zu und legte es zurück auf den Stapel. „Um an etwas zu glauben, Pastor Gilbert, benötigen wir keine Kirche, sondern allein unsere Gemeinschaft. Und: die Zeiten der Zwangsmissionierung sind endgültig vorbei. Gott sei Dank.“
„Es ist sehr bedauerlich“, sagte die Stimme jetzt noch leiser, „dass ich mich wiederholen muss, aber diese Bücher werden für euren Kirchgang bestimmt sein.“
Nur kurz presste Cora die Lippen aufeinander; und statt einer unüberlegten Antwort nahm sie ein gestärktes, fein gebügeltes Oberhemd von einem zweiten Stapel. Eine feierliche Kleiderspende, wie fürsorglich; aber wussten sie denn nicht, dass Hippies lieber nackt rumliefen als so einen steifen Kragen zu tragen?
Wie eine weiße Fahne schwenkte sie den Stoff durch die Luft. Dabei war ihr nach Friedensangeboten beileibe nicht zumute. „Sie können die Menschen nicht in irgendwelche Sonntagshemden stecken und mit dem Gesangbuch in der Hand in ihr Gotteshaus zwingen. Das wissen Sie doch.“ Mit zwei Handgriffen faltete sie das Hemd wieder auf den Stapel. Noch einmal strich sie über den blütenweißen Stoff. „War das Ihr Hausmädchen?“ Jetzt, zum ersten Mal schaute sie dem Pastor direkt in die Augen. „Ich meine, hat sie dieses Sonntagshemd gebügelt … zusammen mit ihrem Minirock?“