»Poesie der Idee« - Friedrich Hebbel - E-Book

»Poesie der Idee« E-Book

Friedrich Hebbel

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Beschreibung

Mit einem Nachwort des Herausgebers. Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein«, schrieb Friedrich Hebbel 1835 auf das erste Blatt seines Tagebuchs, das dennoch weit mehr als ein Protokoll der eigenen Befindlichkeit ist. Entschieden subjektiv, humorvoll und erstaunlich weitsichtig erkundet Hebbel in seinen Notizen Welt und Kunst im Allgemeinen. Seine gestochen scharfen Denkbilder haben philosophisches Format und sind doch immer direkt ans unmittelbare Erleben geknüpft; damit bieten Hebbels Aufzeichnungen einzigartige Einblicke in die Alltagswelt des 19. Jahrhundert aus der Sicht eines unstillbaren Beobachters und unbestechlichen Denkers. – Christian Schärf unternimmt einen pointierten Streifzug durch eines der berühmtesten Tagebücher der Weltliteratur, das noch heute verblüffend originell und modern erscheint.

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Seitenzahl: 472

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Friedrich Hebbel

Poesie der Idee

Tagebuchaufzeichnungen

Herausgegeben von Christian Schärf

Fischer e-books

Erstes Tagebuch

Reflexionen über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst, nach Art eines Tagebuchs, von K. F. Hebbel

Angefangen den 23. März 1835

[Hamburg]

Ich fange dieses Heft nicht allein meinem künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß sein kann, daß ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein, und diejenigen Töne, welche mein Herz angibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren. Der Mensch ist anders, als ein Instrument, bei welchem alle Töne in ewigem Kreislauf, wenn auch in den seltsamsten Kombinationen, wiederkehren; das Gefühl, welches in seiner Brust einmal verklingt, ist für immer verklungen; ein gleicher Sonnenstrahl erzeugt in der psychischen nie, wie in der physischen, dieselben Blumen. So wird jede Stunde zur abgeschlossenen Welt, die ihren großen oder kleinen Anfang, ihr langweiliges Mittelstück und ihr ersehntes oder gefürchtetes Ende hat. Und wer kann gleichgültig so manche tausend Welten in sich versinken sehen und wünscht nicht, wenigstens das Göttliche, sei es Wonne oder Schmerz, welches sich durch sie hinzog, zu retten? Darum kann ich es immer entschuldigen, wenn ich täglich einige Minuten auf dieses Heft verwende.

[1]

1835   d. 23. März.

Mein bedeutendes poetisches Talent kommt mir auch bei dem Studio der Sprachen sehr zu Hülfe. Ich bringe nämlich die schwierigsten Punkte der Grammatik in Verse und erhaben klingt es, wenn sich meine Muse philologisch vernehmen läßt:

»Die Länder, Inseln und die Frauen

Als Feminina sind zu schauen!«

[2]

 

Ich sah mich selbst als alten Mann.

[7]

d. 29. März.

Die Dankbarkeit soll eine der schwersten Tugenden sein. Eine noch schwerere mögte sein, die Ansprüche auf Dank nicht zu übertreiben

[11]

 

Innere Lichtwelt eines Wahnsinnigen. Roman, in welchem sich alle früheren Ideen des Menschen spiegeln.

[12]

d. 1. Juli.

Byron ist eigentlich nichts weniger, als ein Genie. Dasjenige was einer eigenen Weltanschauung gleicht, ist eine bloße bizarre Richtung seiner Phantasie, die sich aus den Verhältnissen, in welchen er lebte, sehr wohl erklären läßt. Er wäre vermutlich kein so großer Dichter geworden, wenn er kein so großer Sünder gewesen wäre.

[35]

 

Ob Luther am Ende ein so strenger Orthodox war, als er gewesen zu sein scheint? Ich habe keine anderen Gründe für meine Meinung, als solche, die aus der Natur des menschlichen Geistes hergenommen sind, aber es will mir vorkommen, als ob der Genius niemals Knecht seines Zeitalters sein könne. Luther berücksichtigte vielleicht bloß sein Zeitalter, er setzte den Menschen, die bei dem Anblick der Unermeßlichkeit schwindelten, einen starken Pfeiler hin, damit sie sich daran festhalten mögten, wenn er gleich weit entfernt war, die Anbetung des Pfeilers zu verlangen. Eben aber, weil er die Notwendigkeit der positiven Religion eingesehen hatte, kämpfte er für willkürliche Dogmen, als ob es für den Himmel selbst gewesen wäre.

[36]

Spaziergang d. 6. Juli 1835.

Wenn man die Menschen am Abend ihr Butterbrot essen sieht, so kann die Bemühung, das Leben zu erklären, sehr lächerlich erscheinen. Butter und Brot erklären alles.

[38]

 

Das Ideal. Es gibt keins, als die verschwundene Realität der Vergangenheit.

[39]

d. 11. Juli.

Als ich heute morgen hörte, daß der Kronprinz von Preußen von der Stadt Hamburg mit Kanonenschüssen empfangen würde, lag mir doch wirklich die Frage nah: haben sie denn auf ihn geschossen?

[44]

 

Das ist das Unterscheidendste der jetzigen Zeit gegen die frühere, daß jetzt nur die Masse und ehemals nur der bedeutende Einzelne lebte.

[46]

 

Heute abend kam Elise endlich von ihrer Reise zurück. Es ist merkwürdig, wie die Frauen, die am Mann doch nur eben das lieben, was ihrer Natur gerade entgegengesetzt ist, ihn doch so gerne zu dem machen wollen, was sie selbst sind; sie sind Göttinnen, die nur seine Sünden vergöttern und ihm diese Sünden dennoch nie vergeben. Sie will mein Tagebuch sehen und ich hab es ihr versprochen. Sie wird sich wundern, daß ich nur wenig über sie niedergeschrieben habe; aber sie wird sich nicht mehr wundern, wenn sie sieht, daß ich über Alberti kein Wort niedergeschrieben.

[48]

 

Warum schrieb Christus nicht, wenn er die Evangelien wollte?

[73]

d. 27. Juli.

Der Hauptbeweis gegen das Dasein Gottes ist, daß uns das absolute Gefühl unserer Unsterblichkeit fehlt. Wir könnten es haben, denn das Christentum ist diktatorisch und verbietet den Selbstmord; was die Theologie höchstens anführen könnte, wäre: »die Wirkung der Sehnsucht würde den Menschen aufreiben.[«]

[74]

 

Religion ist die höchste Eitelkeit.

[79]

 

Aus den Wirkungen des Genies auf Gott zu schließen.

[81]

 

An die Redaktion | des Morgenblatts | in | Stuttgart.

Im Anschluß bin ich so frei, einer verehrlichen Redaktion einiger Gedichte zur gefälligen Benutzung für das Morgenblatt zu übersenden. Hiemit verbinde ich die Vorfrage, ob Sie mir verstatten wollen, eine Sendung dieser Art zu wiederholen, und ob Sie etwa auch von Erzählungen und anderen prosaischen Arbeiten aus meiner Feder Gebrauch machen können. Ich hoffe, daß Sie mich hierüber in einigen durch Buchhändler-Gelegenheit leicht an mich zu befördernden Zeilen, oder auch, wenn sich dieses mit Ihrem Geschäftsgange nicht vertragen sollte, durch eine kleine Anzeige im Morgenblatte selbst in Kenntnis setzen werden; für den Fall, daß Ihre Antwort meinen Wünschen gemäß ausfiele, werde ich dasselbe Honorar erwarten dürfen, was anderen Mitarbeitern zuteil wird.

Mit vorzügl. Hochachtung      ganz ergebenst

Angeschlossen: auf ein schl. Kind;       H.

Offenbarung; das Kind; Abendgang.

[92]

 

In dem Augenblick, wo wir uns ein Ideal bilden, entsteht in Gott der Gedanke, es zu schaffen.

[96]

Vorrede zum Roman

Gefühl, womit ich ihn schrieb: Novelle eine präzise Geschäftsreise, Roman-Publikum eine dicke Kaffeeschwester pp.

Der Roman ist die heilige Schrift des Lebens.

[98]

 

Das Komische ist die beständige Negation der Natur.

[99]

 

Wenn ich meinen Begriff der Kunst aussprechen soll, so mögte ich ihn auf die unbedingte Freiheit des Künstlers basieren und sagen: die Kunst soll das Leben in all seinen verschiedenartigen Gestaltungen ergreifen und darstellen. Mit dem bloßen Kopieren ist dies natürlich nicht abgetan, das Leben soll bei dem Künstler etwas anderes, als die Leichenkammer, wo es aufgeputzt und beigesetzt wird, finden. Wir wollen den Punkt sehen, von welchem es ausgeht, und den, wo es als einzelne Welle sich in das Meer allgemeiner Wirkung verliert. Daß diese Wirkung eine gedoppelte sein und sich sowohl nach innen, als nach außen kehren kann, ist selbstverständlich. Hier ist die Seite, von welcher aus sich eine Parallele zwischen den Erscheinungen des wirklichen Lebens und denen des in der Kunst fixierten ziehen läßt.

[110]

 

Aufgabe aller Kunst ist Darstellung des Lebens, d.h. Veranschaulichung des Unendlichen an der singulären Erscheinung. Dies erzielt sie durch Ergreifung der für eine Individualität oder einen Zustand derselben bedeutenden Momente.

[126]

1836

[Hamburg]

Erinnerungen aus der Kindheit

Bis in mein 14tes Jahr habe ich, obwohl ich Verse machte, keine Ahnung gehabt, daß ich für die Poesie bestimmt sein könne. Sie stand mir bis dahin als ein Ungeheures vor der Seele, und eher würde ich es meinen körperlichen Kräften zugemutet haben, eine Alp zu erklimmen, als meinen geistigen, mit einem Dichter zu wetteifern, obwohl mich beides reizte. Ich stand in einem Verhältnis zur Poesie, wie zu meinem Gott, von dem ich wußte, daß ich ihn in mich aufnehmen, aber ihn nicht erreichen könne. Deutlich erinnere ich mich übrigens noch der Stunde, in welcher ich die Poesie in ihrem eigentümlichsten Wesen und ihrer tiefsten Bedeutung zum erstenmal ahnte. Ich mußte meiner Mutter immer aus einem alten Abendsegenbuch den Abendsegen vorlesen, der gewöhnlich mit einem geistlichen Liede schloß. Da las ich eines Abends das Lied von Paul Gerhard, worin der schöne Vers:

»Die goldnen Sternlein prangen

Am blauen Himmelssaal«

vorkommt. Dies Lied, vorzüglich aber dieser Vers, ergriff mich gewaltig, ich wiederholte es zum Erstaunen meiner Mutter in tiefster Rührung gewiß 10 Mal. Damals stand der Naturgeist mit seiner Wünschelrute über meiner jugendlichen Seele, die Metall-Adern sprangen, und sie erwachte wenigstens aus einem Schlaf. 1 Jan: 1836.

[134]

d. 5. Jan: 36.

Ich halte es für die größte Pflicht eines Menschen, der überhaupt schreibt, daß er Materialien zu seiner Biographie liefere. Hat er keine geistigen Entdeckungen gemacht und keine fremde Länder erobert, so hat er doch gewiß auf mannigfache Weise geirrt und seine Irrtümer sind der Menschheit ebenso wichtig, wie des größten Mannes Wahrheiten. Darum werde ich von jetzt an dieses Buch zu einem Barometer bestimmen für den jetzigen Jahreszeitenwechsel meiner Seele und zugleich zuweilen den Blick rückwärts kehren, ob ich hie und da einen geistigen Wendepunkt entdecken kann.

[136]

 

Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuerfreiheit, nie Gedankenfreiheit zu erkämpfen suchen.

[140]

[Heidelberg]

»Ich saß (aufm Heidelberger Schloß) auf der Terrasse und las Goethes Achilleis; ein Gewitter zog herauf und kündigte sich, wie etwa eine beginnende Schlacht, durch abgemeßne, einzelne Donnerschläge an; der Wind erhub sich und rauschte vor mir in den Bäumen; Regenwolken ergossen in längeren und kürzeren Pausen kalte, dicke Tropfen; von unten schäumte der Neckar zu mir herauf; vor mir sah ich auf einer Bank einen schlafenden Knaben, den Donner, Regen und Wind nicht zu erwecken vermogten und in der Ferne, riesenhaft aufdämmernd, die Rheingebirge.[«] Brief an Brede, 26 Mai 36.

[152]

 

Heute sah ich den Tulpenbaum, himmelhoch, dick und voll mächtiger Äste. Es war mir merkwürdig, wie die Natur zuweilen in so ganz verschiednen Gefäßen, wie z.B. ein kräftiger Baumstamm und ein Blumenstengel, dieselben Säfte kochen läßt.

[153]

 

Das aus dem Wagen eines Schlachters gehobene schlafende Kalb.

[154]

d. 2 Juni 36.

Heute, Fronleichnamsfest, Prozession in der Jesuiten-Kirche. Die Kirche rings mit Laub und Blumen geschmückt, der Haupt-Altar mit tausend Lichtern, hinten durchs Fenster die Morgensonne. Die Gänge, wodurch die Prozession zog, mit Girlanden, von jungen Mädchen getragen, eingefaßt. Ergreifende Ankündigung der Prozession durch Pauken und Trompeten-Geschmetter. Fahnen. Dazwischen, von einem Knaben getragen, ein silberner Christus. Junge Mädchen, von einer erwachsenen Führerin begleitet, weiße Kleider, lächelnde Engelgesichter, gekränzt mit Rosen, rührender Kontrast zwischen dem frischsten Leben und dem vorangetragenen Tod. Knaben. Monstranz unter einem Thronhimmel. Merkwürdiges Pfaffengesicht, welches sich in die Monstranz zu verkriechen schien, wie etwa ein Hund in eine Heiligennische. Grober Unterteil des Gesichts:

Wachskerzen. Viel an den Jesus gedacht. Das alte, schwarze Weib, Gebetbuch und Rosenkranz in der Hand, einen hervorstehenden Zahn im Munde, immer geplappert, gebetet und geneigt.

[155]

 

Der Jüngling erwählt sich den Irrtum zum Liebchen, das ist schlimm; der Mann erwählt ihn zur Großmutter, das ist schlimmer.

[159]

 

Weil die Deutschen wissen, daß die wilden Tiere frei sind, fürchten sie, durch die Freiheit zu wilden Tieren zu werden.

[160]

 

In dunkler Nacht bei starkem Regen aus dem Fenster lugen.

[171]

 

Der Abend, als ich in Heidelberg ankam. Im Wirtshaus, wo dunkel und ernsthaft der Heiligenberg ins Fenster ragte, und ich ihn entzückt begrüßte. Der Spaziergang am Neckar, wo ich die ersten Felsen sah.

[177]

 

Oft sieht man in Heidelberg gravitätisch Pferde aus den Häusern schreiten, was prächtig aussieht.

[179]

 

Merkwürdiges Leben des Abends in der Hauptstraße: die erleuchteten Häuser, die Massen Spaziergänger draußen und drüber, als ob er dazugehörte, dunkelblau der Himmel.

[182]

d. 14 Juni.

Heute den König Otto von Griechenland gesehen. Hofbediente mit ihren immer gesenkten Häuptern sehen aus, als ob sie schon halb geköpft wären.

[183]

In der Nacht vom 27 auf d. 28 Juni.

Den Kaiserstuhl erstiegen. Weg übers Schloß, welches aussah, wie abends beim Zudämmern. Dann, in der Mitte des Bergs, der goldene Mond, hinter dem Berg, zwischen den Bäumen mit jedem Schritt hervorwachsend. Oben am Turm das Feuer, die Studenten rings herum. Beim Hinaufsteigen ruft einer: »fort, Köter!« »Gott verdamm mich, wer ist da?« ist die unerwartete Antwort. Der besoffene F. wars, der es sich auf der Treppe bequem gemacht. Oben die Studenten, alle gelagert, wie etwa eine Räuberbande. Bedeutende Helle, im Osten Röte, sonst der Himmel dunkelblau und die Bäume unter uns, die sich nicht unterscheiden ließen, eine grüne Fläche, wie eine Flur. Um ¾ auf 4 die Sonne, erst klein, wie ein Licht, schnell zunehmend. Kaiserstuhl über der Meeresfläche 1750 Fuß, der Turm 80 Fuß. Dem Aufgang der Sonne geht immer Wind vorher.

[192]

 

Ein Käfer, der durchs Licht angelockt, heut nacht um 1 Uhr an mein Fenster flog und possierlich daran herumtappte, erinnerte mich, wie lustig menschliche Bestrebungen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit dem höheren Geist sein müssen.

[215]

Aus einem Brief an Herrn K[irch]sp[ie]lschreiber Voß. Juli 1836

Heidelberg liegt ganz eigentümlich am Neckar, einem kleinen, muntern Fluß, zwischen 2 bedeutenden Bergreihen, harmlos und freundlich, wie es sich bei einer so gigantischen Umgebung geziemt; eine Brücke, schlank, wie der Bogen, den eine Schwalbe im Fliegen beschreibt, führt über den Neckar und endigt sich in einem wirklich imposanten Tor. ––– ––– Die N. 4 bezeichnet die prachtvollen Ruinen des Heidelberger Schlosses, welches, mit unendlicher Kühnheit, eine gewaltige Masse, an den Berg hinaufgebaut, stolz und majestätisch-ernsthaft, auf die Stadt herabschaut; man muß, wenn man es in seiner ganzen Bedeutung erfassen will, es des Abends im Mondschein, vom Karlsplatz aus, sehen; da hängt es, geheimnisvoll, wie ein Gespenst des Mittelalters, aber überwuchert von üppigster Vegetation der frischesten Gegenwart – ein Geist, der sich mit Laub und Blumen schmückt, herunter; in den auf Mauern und Türmen aufgeschossenen Bäumen säuselt der Nachtwind, und darüber, gleich einer goldenen Krone, funkelt der Sternenkranz.

[229]

 

Die Hirschteller im Vaterhause.

[267]

d. 6 August sonntags.

In Schwetzingen gewesen: auf dem Schloßhof Perspektive, wo Kaiserstuhl und Haardt sich grüßen. Sonnenuntergang, korrespondierend mit dem Sonnenaufgang aufm Kaiserstuhl [Königsstuhl]: violettblau der Himmel, schwärzlich-blau das kaum zuvor erleuchtete Gewässer des Teichs, an welchem ich bei einer alten, prächtigen Ulme stand, und in welchem die üppigsten Massen vegetabilischen Lebens sich spiegelten, Schwäne darin. Der Kristallbecher. Gedanken an Amerika, wo die Sonne eben aufging.

[268]

 

Im allgemeinen ist die Heidelberger Gegend, dem letzten Punkt des Begriffs nach, trist, wenigstens für mich, denn statt der himmelanstrebenden Berge, die früher die Phantasie auftürmte, drängte sie mir Zwerge entgegen. Eine Ebene, selbst die dithmarsische, hat etwas Unendliches.

[269]

 

Die Natur wiederholt ewig in weiterer Ausdehnung denselben Gedanken; darum ist der Tropfe ein Bild des Meeres.

[271]

 

Wie der Sternenhimmel die Menschenbrust weit machen kann, begreif ich nicht; mir löst er das Gefühl der Persönlichkeit auf, ich kann nicht denken, daß die Natur sich die Mühe geben sollte, mein armseliges Ich in seiner Gebrechlichkeit zu erhalten.

[272]

d. 31 August 1836.

Heute abend eine wunderbar-schöne Beleuchtung des Himmels: Anfangs einige blaßrote Wolken, dann plötzlich das schönste, mildeste Gelb, darauf das reinste Violett und dann ein immer mehr zudunkelndes Rot, alles sich im Neckar spiegelnd und auf den Ziegelhauser Äckern sich reflektierend.

[314]

 

Ein anderer kommt zum Arzt, sagt, er habe immer die gräßliche Neigung, in Blut zu wühlen; der Arzt versucht Aderlässe und alles mögliche, am Ende führt er ihn zu einem Schlachter und läßt ihn dort einen Hammel schlachten. Als der Mensch nach einem Jahr wieder zu ihm kommt, ist er – Schlachter.

[326]

 

Heute abend von Rendtorfs Zimmer am Neckar aus das imposanteste Gewitter beobachtet. Die Wolken türmten sich, anfangs ballenweise, später in ungeheuren schwarzen, festen Massen hinter dem Heiligenberg auf, dann, wie ein Heer, stiegen sie über das Haupt des Berges empor und ergossen sich nun in Strahlenformen im gewaltigsten, den ganzen Berg unsichtbar machenden, von Blitzen durchkreuzten Regen, der sich wie ein in der Luft befindliches Meer ausnahm; man sah einzelne Wolken fast, wie zusammenbrechend unter der Last, auseinanderfließen; der Neckar verlor seine gewöhnliche Wellenbewegung und trieb sein Wasser, wie in Rauch- oder Wolken-Figuren, und gleich nachher stieg in Höhenrauch die zur Erde gekommene Masse wieder als Wolkenknäul auf und lagerte sich abermals um den Berg.

[327]

 

Gegen Friedrich den Großen empört sich einmal seine Garde. Sie dringen in sein Zimmer und fodern mit Ungestüm eine neue Konstitution. Er dreht sich rasch um. »Gewehr präsentiert!« Es geschieht. »Rechtsum!« Es geschieht. »Marsch!« Sie marschieren ab.

[328]

 

Des Menschen Glück ist nicht an seine Kraft, sondern an seine Laune geknüpft.

[331]

 

In Mannheim ein Pastor mit 2 Frauen. Die eine war wahnsinnig und wurde geheilt.

[347]

[München]

Von Heidelberg abgereist bin ich den 12 Septbr 1836; in München angekommen den 29 Sept: 1836.

[363]

 

Dichtende und bildende Kunst treffen darin zusammen, daß beide gestalten, d.h. eine abgegrenzte Masse der Grundmaterie in bestimmten Verhältnissen, die durch die Natur gegeben sind, zur Anschauung bringen sollen, und wenn der Dichter eine Idee darstellt, so ist es ganz dieselbe Verfahrensweise, als ob der Maler oder Bildhauer die edlen oder schönen Umrisse eines Körpers gibt.

[371]

 

Bei dem Eintritt in die Glyptothek hatte ich das Gefühl, was ein Schnitter hat, wenn er das Ährenfeld betritt. Jede Bildsäule ein verschlossenes eigentümliches Leben, das sich mir entsiegeln soll: Aufgabe ohne Grenzen.

[372]

 

Die Ägypter, ein Volk, zum Stehenbleiben verdammt, den Tod verehrend, aber nicht als Grundstein eines neuen Lebens, wie der Christ, sondern als Schlußstein alles Lebens; selbst in der Kunst, die sonst alles entfesselt, was gebunden war, weil sie selbst erstickt, wenn sie sich in Grenzen einschließen soll, war für sie nur ein neues Band.

[374]

 

Den 16 zum erstenmal eine Madonna von Raffael gesehen.

[385]

d. 18 Oktbr 1836.

Zum erstenmal (in München und in meinem Leben) wegen Schiffens vor die Polizei geführt, durch die Gendarmerie, hatte aber die Satisfaktion, gleich nachher in derselben Gasse durch denselben Gendarmen einen andern wegen desselben Verbrechens abfassen zu sehen.

[391]

 

Der Himmel wende das Unglück in Gnaden ab, denn aus zwei Gründen mögt ich noch nicht gern sterben. Einmal der Mutter wegen; dann hab ich mich oft über des Lebens Ungerechtigkeit gegen mich beschwert, und mögte durch einige Hervorbringungen, denen ich mich gewachsen fühle, zeigen, daß ich vielleicht angemessenere Verhältnisse verdient.

[408]

 

Über Nacht hab ich geträumt, Napoleon zu sehen; ich fragte ihn, was er zum 2ten Teil von Heines Reisebildern sage.

[416]

 

Zu mir hat Welt und Leben nur durch die Kunst ein Organ.

[417]

 

Die Alten glaubten, zu sterben, wenn sie eine Göttin gesehen.    (Jean Paul)

[429]

d. 29 Novbr.

Ich bin körperlich nicht gar wohl und geistig noch weniger, die Cholera wütet in der Stadt, dennoch scheints mir unmöglich, daß ich sterben könne. Ob ein mystisches Gefühl im Menschen liegt, was ihm sagt, ob die ökonomisch-umsichtige Natur ihn schon in ihre Pläne verwendet hat, oder nicht?   Aus einem Brief an Elise.

[455]

 

Der Witz ist das einzige Ding, was um so weniger gefunden wird, je eifriger man es sucht.

[456]

 

Heut abend Schelling gehört. Leute der Art sind gewöhnlich Gewitter, statt Lichter, er nicht.

[465]

 

Zum Dank dafür, daß das Licht sie bescheint, werfen die Dinge Schatten. Die Menschen auch, besonders die Schüler großer Männer.

[469]

 

Vor einer hohen Freude zittert der Mensch fast so sehr, wie vor einem großen Schmerz; da mag er fürchten, die Traube des Lebens auf einmal zu pflücken und den dürren Stock in der Hand zu behalten.

[470]

 

Für einen Roman späterer Jahre eignete sich das bis jetzt noch nie abgerollte Bild eines hohen Mannes, wie z.B. Jean Pauls, der durch den Gang, den sein äußeres Leben nimmt, in seiner innersten Entwicklung gestört wird.

[471]

 

An der Muttergottes-Säule am Schrannenplatz sieht man jahraus, jahrein, eine arme Weibsperson mit einem kleinen Reisebündel und einem alten Regenschirm (vielleicht Gelübde, vielleicht stiller Wahnsinn) in Hitz und Regen und Kälte auf- und ab gehn. Die Gassenbuben vertreiben sie.   daselbst.

[474]

 

Als mein Vater am Sonnabend, abends um 6 Uhr, den 11 Nov. 1827 nachdem ich ihn am Freitag zuvor noch geärgert hatte, im Sterben lag, da fleht ich krampfhaft: nur noch 8 Tage, Gott; es war, wie ein plötzliches Erfassen der unendlichen Kräfte, ich kanns nur mit dem konvulsivischen Ergreifen eines Menschen am Arm, der in irgend einem ungeheuren Fall, Hülfe oder Rettung bringen kann, vergleichen. Mein Vater erholte sich sogleich; am nächstfolgenden Sonnabend, abends um 6 Uhr, starb er!

[483]

 

Gibts Ärgerlicheres, als einen vorübergehenden Briefboten, der einem nichts bringt?

[490]

 

Bevor B. die Menstruation gehabt, hat sie immer an fürchterlichen Schmerzen im Unterleib gelitten; wenn sie sich dann zum Vater ins Bett gelegt und dieser die Hand auf ihren Bauch gelegt, hats nachgelassen; bei der Mutter hats nicht geholfen.

[494]

 

Als die Totenfrau von der Witwe noch nicht bezahlt war, erzählte sie, bei der Leiche des Herrn Pastors hätte sie in der Nacht die Engel singen hören; als die Bezahlung zu gering ausfiel, fand sie für jenes Singen die natürliche Auflösung in einem Traum.

[499]

Aus einem Brief an E.[lise]

Meinen Ansichten über die Ehe wünsch ich keinen Beifall, am wenigsten unter dem weiblichen Geschlecht. Sie gehen überhaupt nicht auf die Ehe selbst, sondern auf mein Verhältnis zur Ehe. Mir wird alles Unveränderliche zur Schranke und alle Schranke zur Beschränkung. Die Ehe ist eine bürgerliche, physische und in unendlich vielen Fällen auch geistige, Notwendigkeit. Der Notwendigkeit ist die Menschheit unterordnet, jede aber ist mit Regalien verknüpft. Das Individuum darf sich der Notwendigkeit entziehen, wenn es Kraft hat, den Freibrief durch Aufopferung zu lösen, darin liegt seine Freiheit. Ich kann alles, nur das nicht, was ich muß.

[509]

 

Der Briefwechsel zwischen Goethe und Bettina ist in seiner letzten Wirkung schauerlich, ja furchtbar. Es ist das entsetzliche Schauspiel, wie ein Mensch den andern verschlingt und selbst Abscheu, wenn nicht vor der Speise, so doch vor dem Speisen, hat. Aber das Buch ist zugleich ein vollkommner Beweis für das bedeutendste Wort, was ich darin ausgesprochen finde; dafür nämlich, daß die Leidenschaft der Schlüssel zur Welt sei.

[510]

 

In Rouen starb vor einigen Tagen ein gewisser Leburier aus Verzweiflung über das Mißlingen seiner Versuche, dem in der letzten Zeit dort und in andern Teilen Frankreichs herrschenden starken Regenwetter Einhalt zu tun, ein Mißlingen, welches er den boshaften Gegenwirkungen seiner Feinde beimaß. Er hatte all sein Vermögen durch Experimente, wodurch er nach Belieben Regen und Sonnenschein bewirken zu können hoffte, verschleudert und starb in größter Dürftigkeit.   Bair. Landbötin, Dezbr.

[537]

d. 31 Dezbr 1836.

Am Schlusse dieses 1836sten Jahres mag ich mir sagen, daß das heranrückende 1837ste mehr, wie irgendein vorhergegangenes, Entscheidung für mich mit sich führen muß. Äußerlich handelt es sich um Begründung einer Existenz durch literärische Bestrebungen; auch innerlich kann dieser zwischen überflutender Fülle und gräßlicher Leere hin und her schwankende und gleich dem eines Trunkenbolds auf- und absteigende Zustand nicht lange mehr fortbestehen. Eine Erfahrung von Bedeutung glaube ich über mich selbst im letzten Jahr gemacht zu haben, nämlich die, daß es mir durchaus unmöglich ist, etwas zu schreiben, was sich nicht wirklich mit meinem geistigen Leben aufs innigste verkettet. Ebenfalls fühl ich mich jetzt – das war früher nicht der Fall – vom Innersten heraus zum Dichter bestimmt; irrt ich dennoch darin, so wäre mir mit dem Talent zugleich jede Fähigkeit, das in der Kunst Würdige und Gewichtige zu erkennen, versagt, denn das Zeugnis, mich redlich um den höchsten Maßstab bemüht und diesen streng an die Dokumente meines poetischen Schaffens gelegt zu haben, darf ich mir geben. Die Kunst ist das einzige Medium, wodurch Welt, Leben und Natur Eingang zu mir finden; ich habe in dieser ernsten Stunde nichts zu bitten und zu beten, als, daß es mir durch ein zu hartes Schicksal nicht unmöglich gemacht werden mögte, die Kräfte, die ich für sie in meiner Brust vermute, hervorzukehren!

[548]

1837

[München]

Die erste Bitte, mit der ich in diesem angefangenen neuen Jahr vor den Thron der ewigen Macht zu treten wage, ist die Bitte um einen Stoff zu einer größeren Darstellung. Für so mancherlei, das sich in mir regt, bedarf ich eines Gefäßes, wenn nicht alles, was sich mir aus dem Innersten losgerissen hat, zurücktreten und mich zerstören soll! Wenig positive Kenntnis, aber höhere Einsicht in meine eigene Natur und deren Zustände, bessere Übersicht vieler Dinge der Welt und des Lebens, tiefere Erkenntnis des Wesens der Kunst und größere Herrschaft über jenes Unbegreifliche, das ich unter dem Ausdruck Stil befassen mögte, hab ich doch gewonnen. Ich bin der Natur um tausend Schritt nähergekommen; ich hab sie im letzten Sommer vielleicht zum erstenmal – sonst war sie mir weniger Wein, als Becher, wie so vielen, – genossen, und dafür hat sie mir denn – so gewiß ists, daß nur Genuß zum Verständnis führt, – manches vertraut. An Schriftstellern, die auf mich gewirkt, muß ich zuerst Goethe nennen, den ich in Heidelberg durch Gravenhorsts Güte fast ununterbrochen gelesen habe; dann aber auch Börne und endlich Jean Paul. Ich habe mich mehr und mehr von der Wahrheit des all meinem Streben zum Grunde liegenden Prinzips, daß bei dem Menschen nie von äußerer Erleuchtung, sondern nur von innerem Tagen die Rede sein könne, überzeugt; mein Evangelium ist: alles Höchste, in welchem Gebiet es auch sei, erscheint nur, und wird selbst durch den geweihtesten Priester vergebens gerufen; man entdeckt nichts durch die Wissenschaft, sondern nur bei Gelegenheit der Wissenschaft; dies aber gibt der Wissenschaft noch Würde genug. An bedeutenden Persönlichkeiten hab ich kennengelernt: Gustav Schwab und Ludwig Uhland; sowie aus anderen Fächern Thibaut und Mittermeier; Schelling und Görres; an Städten Heidelberg, Straßburg und München; an Werken bildender Kunst: den Münster und die Antiken der Glyptothek. Etwas, doch nur wenig, bin ich auch in der mir in den Dithmarsischen Schmach- und Pein-Verhältnissen verlorengegangenen Fertigkeit, mich, wenn ich Menschen gegenüberstehe, selbst für einen Menschen zu halten, weitergekommen.

[552]

 

Das, was man üble Laune nennt, entspringt bei höheren Menschen nicht, wie bei so vielen, aus augenblicklichem Mangel an Genuß, sondern aus jenem Zustand innerer Leere, der ihnen unerträglicher ist, als Stillstand des Lebens selbst. Wenn sie ihre üble Laune ebensowenig, wie andere, in sich verschließen und sie die Nah- und Nächstgestellten empfinden lassen, so liegt der Grund allerdings teilweise in der durch solche Augenblicke gänzlicher Erschlaffung herbeigeführten Schwäche, hauptsächlich aber wohl in dem halb unbewußten Haschen der Seele nach irgend einer Art von Tätigkeit. Sie verwundet sich selbst, um nur zu erwachen.

[554]

 

Wie seltsam ists, daß man von Gestorbenen so selten träumt!

[578]

 

O, wie oft fleh ich aus tiefster Seele: o Gott, warum bin ich, wie ich bin! Das Entsetzlichste!

 

Zuweilen mein ich, eine reine weibliche Natur könne mich retten.

[583]

 

Beppi führt ein seltsames, sonderbares Traumleben. Heut nacht hat ihr geträumt, sie wäre mit einem andern Mädchen zum Tode verurteilt gewesen und sie hätten sich mitten aufm Wasser gegenseitig köpfen sollen. Die andere habe sie zuerst geköpft, es sei viel Blut geflossen, dennoch habe sie zu leben und zu denken nicht aufgehört. Nun habe sie mit einem breiten Messer die andere köpfen sollen, sie habe es aber nicht vermogt und sie in den Kopf gehauen, daß man das Gehirn habe liegen sehen können. Dann hätten sie beide angefangen, mit Inbrunst zu beten; viel Volks sei am Ufer des Wassers umhergestanden und habe mitgebetet und geweint. –

[587]

 

Einem Brauer in München träumt zur Zeit der Cholera, es käme einer der heiligen drei Könige mit einem Speer zu ihm und stäche ihn nieder. Einer Frau in seiner Nachbarschaft träumt in der nämlichen Nacht das nämliche, nämlich, daß zu jenem Brauer einer der Heil. Drei Könige gekommen und ihn niedergestochen. Diese Frau erzählt ihren Traum am Morgen der Tochter des Brauers, der Vater gleichfalls. In 3 Tagen stirbt er an der Cholera.   (Beppi)

[612]

 

In Oporto (Oporto) wird das Amt des Henkers von solchen Leuten verwaltet, die einst selbst zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt wurden.   (Bairische Landbötin)

[615]

 

Unter allen entsetzlichen Dingen das Entsetzlichste ist Musik, wenn sie erst erlernt wird!

[642]

 

Ich sehne mich nach einer Mondschein-Nacht in Rom.

[644]

 

Alles Dichten ist Offenbarung, in der Brust des Dichters hält die ganze Menschheit mit all ihrem Wohl und Weh ihren Reigen und jedes seiner Gedichte ist ein Evangelium, worin sich irgend ein Tiefstes, was eine Existenz, oder einen ihrer Zustände bedingt, ausspricht.   (Brief an Elise vom 14. März)

[645]

 

Unterschied zwischen Charakteren und Automaten.

[654]

 

Man wirft Napoleon Selbstsucht vor – was bleibt denn einem solchen Mann, außer Selbstsucht!

[700]

 

Es gibt Erscheinungen (regelmäßig wiederkehrende) in der Natur, die mich aus aller Gegenwart herausreißen und in Vergangenheit und Zukunft zugleich hineinstürzen. So erinnre ich mich z.B. im Frühling bei den ersten Blüten dessen, was ich über und durch sie in der Kindheit dachte und empfand, und meine zu ahnen, was ich über und durch sie im hohen Alter denken und empfinden werde.

[722]

 

Der erste Mensch legt aus Dankbarkeit und zum Opfer das Innerste der Frucht, den Kern, in die Erde, die sie hervorbrachte. Und die Erde treibt einen neuen Baum!

[729]

 

Heute (d. 26 Mai) hatt ich einmal recht wieder ein Kindergefühl. Die Kindheit sieht alles, wie hinter einem Flor, die Dinge beziehen sich noch nicht auf sie. So waren mir all die Menschen, die (bei der Militärmusik) ab- und zuströmten.

[730]

 

Der Mensch kann eigentlich sein Ich aus der Welt gar nicht wegdenken. So fest er mit Welt und Leben verwebt ist, ebenso fest, glaubt er, seien auch Leben und Welt mit ihm verwebt.

[731]

München d. 29 Mai 1837.

Ich habe heute einen Entschluß gefaßt, zu dessen Ausführung Gott mir Kraft verleihe. Ich habe bisher all mein Tun und Treiben zu einseitig auf Poesie bezogen; heut hab ich eingesehen, daß dieser Weg mich am Ende auf ein schales Nichts reduzieren muß. Es heißt, statt des Baums die Blüte pflegen; der Weg zum Dichter geht nur durch den Menschen. Ich werde von nun an arbeiten, arbeiten um der Arbeit und um des Nutzens willen, den sie als solche für mich als Menschen haben wird, oder kann!

[746]

 

Ich sah neulich im Traum einen Liebhaber um seine Geliebte bei ihren Eltern durch Violinspielen werben, und wunderte mich nicht im geringsten darüber, daß er auf zwei Geigen zugleich spielte.

[755]

 

Gestern abend beim Zubettgehen hatt’ ich ein Gefühl, wie es mir sein würde, wenn ich meinen Körper verlassen müßte. An diesen wohlgestalteten Leib fühlt der Mensch sich so mannigfach durch Leid und Freude, durch Bedürfnis und Gewohnheit, gefesselt, an diesem Leib, mit ihm und durch ihn hat sich das, was er sein Ich nennt, entwickelt, dieser Leib ist es, der ihn durch die nach allen Seiten aufgeschlossenen Sinne so innig mit der Natur verwebt, ja, das Ich gelangt nur durch den Leib zu einer Vorstellung seiner selbst, als eines von den Urkräften freigegebenen, selbständigen und eigentümlichen Wesens und die kühne Ahnung eines noch immer fortbestehenden Verhältnisses zwischen dem Quell alles Seins und der abgerissenen Erscheinung des Menschen geht weit weniger aus Eigenschaften des Geistes, als des Leibes hervor. Nun denke man sich den Tod: ein einziger Augenblick zerreißt alle diese Fäden und alles, was an sie geknüpft ist: das Auge erlischt, das Ohr wird verschlossen, der Leib sinkt abgenutzt ins Grab und die Elemente teilen sich in ihn: indes soll das Ich, das nur durch den Leib ein Bild von sich, nur durch die Sinne ein Bild von der Welt hatte, in neue Sphären, von denen es keine Vorstellung hat, zu neuer Tätigkeit, die es nicht begreift, eintreten: als eine reine Kraft kann es nur unter Verhältnissen und Beziehungen zu andern Kräften, nur wenn es Widerstand findet, wirken: eine unvollkommene Maschine ist kein Hindernis, sondern ein Bedingnis geistiger Tätigkeit, es gibt keine Vermittlung zwischen Gott und den Menschen, als das Fleisch: also ein neues, dem alten, verlassenen, analoges Medium ist nötig und (hier kann man schaudern vor dem Augenblick des Übergangs) es entsteht jedenfalls ein leerer, wüster, Zwischen-Raum, der kurz sein mag, der aber ein völliger Stillstand des Lebens, wahrer Tod, ist und eine zweite Geburt, mithin die Wiederholung des größten Wunders der Schöpfung, notwendig macht. (Fragen: ist eine Wirksamkeit des Geistes ohne Körper möglich? Zur Antwort müßten Physiologie und Psychologie, in letzter Entwickelung, führen. Wenn möglich: Zustand des Menschen, der nur in seinem Leib und durch ihn gelebt hat: Notwendigkeit höchster Ideen.)

[760]

 

Wer die Menschen kennenlernen will, der studiere ihre Entschuldigungsgründe.

[787]

 

In den Tuilerien wurde im Sommer auf gestreutem Salz eine Schlittenfahrt veranstaltet, während das Volk kaum noch wegen der ungeheuren Abgaben kaum noch Salz bezahlen konnte.   tutti frutti, T 3 S 128.

[819]

 

Nur, wer Gott liebt, liebt sich selbst.

[822]

 

Mit jedem Menschen verschwindet (er sei auch, wer er sei) ein Geheimnis aus der Welt, das vermöge seiner besonderen Konstruktion nur Er entdecken konnte und das nach ihm niemand wieder entdecken wird.

[902]

 

Die Welt will nicht Heil, sie will einen Heiland: das Vermitteln ist ihr sonderbarstes Bedürfnis.

[904]

 

Ein vertrockneter Lorbeer!

[905]

 

Ich träumte mich neulich ganz und gar in meine ängstliche Kindheit zurück, es war nichts zu essen da und ich zitterte vor meinem Vater, wie einst.

[937]

 

Ein Wunder ist leichter zu wiederholen, als zu erklären. So setzt der Künstler den Schöpfungsakt im höchsten Sinne fort, ohne ihn begreifen zu können.

[948]

1838

[München]

Selbst eine große Tat kommt dem Menschen, wie eine poetische Idee.

[974]

»Der Schmerz ist der geheime Gruß,

Durch den die Seelen sich verstehn.«

[1004]

 

Es wäre interessant, die Träume aller seiner Freunde und Bekannten, auch nur einer Nacht, in denen man selbst eine Rolle spielte, zu kennen. Da könnte es sich wirklich treffen, daß man in demselben Augenblick Hochzeit machte und begraben würde, den Konsular-Thron einer neu kreierten Republik besetzte und eine Galgenleiter bestiege, küßte und sich duellierte, der geistigen Funktionen, die man übte, gar nicht einmal zu gedenken. Dabei fällt mir ein, daß eigentlich jede bedeutende Idee in den Köpfen der verschiedenen Menschen, die sich ihrer bemächtigen, solch ein wahnsinniges Traumleben führt.

[1031]

 

Menschen-Natur und Menschen-Geschick: das sind die beiden Rätsel, die das Drama zu lösen sucht. Der Unterschied zwischen dem Drama der Alten und dem Drama der Neuern liegt darin: die Alten durchwandelten mit der Fackel der Poesie das Labyrinth des Schicksals; wir Neueren suchen die Menschen-Natur, in welcher Gestalt oder Verzerrung sie uns auch entgegentrete, auf gewisse ewige und unveränderliche Grundzüge zurückzuführen. So war den Alten Mittel, was uns Zweck ist, und umgekehrt. Für das Drama überhaupt ist es gleichgültig, welches dieser beiden Ziele verfolgt wird, wenn es nur mit Ernst und mit Würde geschieht, denn sie schließen sich gegenseitig ein. Das Fatum der Griechen hatte keine Physiognomie, es war den Göttern, die sie anbeteten und gestaltet hatten, selbst ein schauerliches Geheimnis; das moderne Schicksal ist die Silhouette Gottes, des Unbegreiflichen und Unerfaßbaren.

[1034]

 

Neulich sah ich im Traum Napoleon. Er ritt mir finster und bleich an einem stürmischen Herbst-Nachmittag schnell vorüber.

[1040]

d. 21 März.

Ich sah soeben von meinem Fenster aus der Abfahrt einer Leiche auf den Gottes-Acker zu. Der Priester sprach trocken seine Gebete, die Nachbarsleute standen trocken umher, Kinder unterbrachen für einen Augenblick ihr Spiel, ein Holzhacker, der auf der Straße seine Hantierung trieb, machte eine Pause. Aber kein Auge, das weinte, kein Gesicht, das die geringste Bekümmernis ausdrückte; wenn der Postwagen abfährt, sieht man mehr Gefühl. Das erschütterte mich schmerzlich; ich konnte nicht umhin, zu denken: welch ein Leben mag der arme Tote geführt haben.

[1050]

d. 24 März.

Über Nacht, im Traum, entschloß ich mich, für jemand zu sterben, auf die Weise ungefähr, wie man sich entschließt, für jemand einen Gang über die Straße zu machen. Es war, als ob ich nicht wüßte, was Sterben sei.

[1052]

 

Wir Menschen sind des Grauens und der Ahnung nun einmal fähig; es ist dem Dichter daher gewiß erlaubt, sich auch solcher Motive zu bedienen, die er nur diesen trüben Regionen abgewinnen kann. Aber, zweierlei muß er beobachten. Er darf hier, erstlich, weniger, wie jemals, ins rein Willkürliche verfallen, denn dann wird er abgeschmackt. Dies vermeidet er dadurch, daß er auf die Stimmen des Volks und der Sage horcht und nur aus denjenigen Elementen bildet, welche sie, die der Natur alles wirklich Schauerliche längst ablauschten, geheiligt haben. Er muß sich zweitens hüten, solche Phantasie-Gebilde zu erschaffen, die nur einen einzelnen Menschen, etwa den, welchen er, um sie nur überall in Tätigkeit zu setzen, in seinem Gedicht damit in Verbindung bringt, etwas angehen. Nur die Gestalt flößt Grauen ein, die mich selbst irgendwo verfolgen kann; nur den gespenstischen Kreis fürchte ich, vor dessen Wirbel ich nicht gesichert bin.

[1055]

 

Der Mensch kann plötzlich einen Tag, einen Moment erleben, der ihm seine ganze Vergangenheit aufklärt.

[1059]

 

Du mußt bedenken, daß eine Lüge dich nicht bloß eine Wahrheit kostet, sondern die Wahrheit überhaupt.

[1075]

 

Es gibt Momente, die nur den Samen der Freude ins Herz streuen, die der Gegenwart nichts bringen, als einen leisen Schmerz, und die im eigentlichsten Verstande erst unter dem Brennglase der Erinnerung in ihrer Bedeutung, ihrem Reichtum, aufgehen. Mancher dieser Momente mag mit einer Stunde, die uns erst jenseits des Grabes erwartet, korrespondieren.

[1084]

 

Gegen jede sog. neue Wahrheit bin ich mißtrauisch, die nicht in mir ein Gefühl erregt, als hätte ich ihre Existenz schon lange zuvor geahnt.

[1092]

 

Das Leben hat keinen anderen Zweck, als daß sich der Mensch in seinen Kräften, Mängeln und Bedürfnissen kennenlernen soll. Wenigstens ist dies der einzige Zweck, der immer erreicht wird, das Leben mag nun sein, wie es will.

[1093]

 

Heute, den 5 Mai, eine Sommerhose gekauft zu 4 fl.

[1094]

 

Die erste wahnsinnige Liebe, so spurlos sie gewöhnlich vorübergeht, und von so lächerlichen Erscheinungen sie begleitet wird, ist doch vielleicht das Ernsthafteste am ganzen Leben; wenigstens wird (und hierin liegt eben die bitterste Ironie) durch nichts jede Kraft des Menschen so aufs äußerste angespannt, als durch sie. Ich bin überzeugt, jeder könnte Werthers Leiden erleben, den Helden und den Künstler ausgenommen.

[1112]

 

Alle Gründe für die fortdauernde Notwendigkeit des Adels sind aus dem Interesse der Throne, keiner aus dem Interesse des Volks hergenommen. Eine sehr merkwürdige Erscheinung.

[1122]

 

Jenes kleine Kind aufm Schiff, welches Sauflieder sang.

[1151]

 

Es ist eins der wundersamsten Gefühle, sich plötzlich, nachdem eine lange Zeit verflossen ist, wieder in einem und demselben Zustand, in derselben Umgebung, derselben Tätigkeit oder Beschäftigung zu finden; es erregt im Anfang den Vorgeschmack zugleich des Todes und der Ewigkeit. Ich hatte es am letzten Pfingstsonntag, wo ich vormittags um 11 Uhr im Hofgarten in dem kleinen Neptunus-Tempel saß und den Wilhelm Meister las, und mich erinnerte, daß ich das nämliche Buch an der nämlichen Stelle vor einem Jahr gelesen und mit dem nämlichen Behagen die strömende Fülle des Frühlings, die mannigfachen Äußerungen menschlichen Lebens und den alles leitenden und lenkenden Geist des Goetheschen Meisterwerks in mich gesogen hatte.

[1185]

 

So viele Hoffnungen der Menschheit sind wie Lichtfunken in der Nacht: sie erleuchten nichts, als sich selbst. Und dennoch hat schon die Existenz des Lichts an sich etwas unendlich Beruhigendes.

[1200]

 

Ein fetter Bettler.

[1224]

 

»Solange er schläft, solange mag er noch leben«, sagen die Räuber, in deren Höhle sich während ihrer Abwesenheit ein Verirrter niedergelegt hat.

[1231]

 

Wenn der König von Spanien eine Mätresse verabschiedet, so muß sie ins Kloster. Nach ihm darf sie niemand besitzen.

[1241]

 

Erlebtes Gedicht. Ich sitze in stiller Nacht im Zimmer. Es ist schwül, ich öffne die Fenster. Ein rascher, kräftiger Regenguß, wie ein Strom erfrischenden Lebens, der unmittelbar vom Himmel kommt. Süße Kühle und die erfrischten Blumen des Gartens senden ihre Düfte herauf.

[1262]

Neues Tagebuch Angefangen d. 18ten Sept: 1838

München den 18ten Sept. 1838.

Sonntag, den 16ten d.M., als ich kaum zu Mittag gegessen hatte, erhielt ich einen Brief von meinem Bruder, worin er mir anzeigte, daß meine Mutter Antje Margaretha, geb. Schubart, in der Nacht vom 3ten auf den 4ten um 2 Uhr gestorben sei. Sie hat ein Alter von 51 Jahren 7 Monaten erreicht und ist, was ich für eine Gnade Gottes erkennen muß, nur 4 Tage krank gewesen, 4 Tage ganz leidlich, so daß sie noch selbst aufstehen konnte, den 5ten sehr bedeutend, mit Krämpfen geplagt, die ein Schlagfluß mit dem Leben zugleich (auf sanfte Weise, wie der Arzt sich aussprach) endete. Sie war eine gute Frau, deren Gutes und minder Gutes mir in meine eigne Natur versponnen scheint: mit ihr habe ich meinen Jähzorn, mein Aufbrausen gemein, und nicht weniger die Fähigkeit, schnell und ohne weiteres alles, es sei groß oder klein, wieder zu vergeben und zu vergessen. Obwohl sie mich niemals verstanden hat und bei ihrer Geistes- und Erfahrungsstufe verstehen konnte, so muß sie doch immer eine Ahnung meines innersten Wesens gehabt haben, denn sie war es, die mich fort und fort gegen die Anfeindungen meines Vaters, der (von seinem Gesichtspunkt aus mit Recht) in mir stets ein mißratenes, unbrauchbares, wohl gar böswilliges Geschöpf erblickte, mit Eifer in Schutz nahm, und lieber über sich selbst etwas Hartes, woran es wahrlich im eigentlichsten Sinne des Worts nicht fehlte, ergehen ließ, als daß sie mich preisgegeben hätte. Ihr allein verdanke ichs, daß ich nicht, wovon mein Vater jeden Winter, wie von einem Lieblingsplan sprach, den Bauernjungen spielen mußte, was mich vielleicht bei meiner Reizbarkeit schon in den zartesten Jahren bis auf den Grund zerstört haben würde; ihr allein, daß ich regelmäßig die Schule besuchen, und mich in reinlichen, wenn auch geflickten Kleidern öffentlich sehen lassen konnte. Gute, rastlos um deine Kinder bemühte Mutter, du warst eine Märtyrin und ich kann mir nicht das Zeugnis geben, daß ich für die Verbesserung deiner Lage immer soviel getan hätte, als in meinen freilich geringen Kräften stand! Die Möglichkeit deines so frühen Todes ist meinem Geist wohl zuweilen ein Gedanke, doch meinem Herzen nie ein Gefühl gewesen; ich hielt mich in Hinsicht deiner der Zukunft für versichert; ich legte an deine Zustände meinen Maßstab und tat oft nichts, weil ich nicht alles zu tun vermogte. Ich war nicht selten, als ich dir noch näher war, rauh und hart gegen dich; ach, das Herz ist zuweilen ebensogut wahnsinnig, wie der Geist, ich wühlte in deinen Wunden, weil ich sie nicht heilen konnte, deine Wunden waren ein Gegenstand meines Hasses, denn sie ließen mich meine Ohnmacht fühlen. Vergib mir das, was du jetzt in seinem Grunde wahrscheinlich tiefer durchschaust, als ich selbst, und vergib es mir auch, daß ich, verstrickt in die Verworrenheiten meines eigenen Ichs und ungläubig gegen jede Hoffnung, die mir Licht im Innern und einen freien Kreis nach außen verspricht, deinen Tod nicht beklagen, kaum empfinden kann. Diese Unempfindlichkeit ist mir ein neuer Beweis, daß der eigentliche, der vernichtende Tod die menschliche Natur so wenig als Vorstellung, noch als Gefühl zu erschüttern vermag, und daß er eben darum auch gar nicht möglich ist; denn alle Möglichkeiten sind in unserm tiefsten Innern vorgebildet und blitzen als Gestalten auf, wenn eine Begebenheit, ein Zufall, an die dunkle Region, wo sie schlummern, streift und rührt. Auch Klagen, auch Tränen werden dir nicht fehlen, wenn ich einmal wieder ich selbst bin, und ewig wird dein stilles freundliches Bild in aller mütterlichen Heiligkeit vor meiner Seele stehen, lindernd, beschwichtigend, aufmunternd und tröstend. Wenn ich an dich denke, an dein unausgesetztes Leiden, so wird mir jede Last, die mir das Schicksal auflegt, gegen die deinige leicht dünken; wenn ich mich deiner kümmerlichen Freuden erinnere, die dein Herz dennoch in sanfter Seligkeit auftauen ließen, so werd ich mich nie freudenleer dünken. So wirst du mir noch über das Grab hinaus Mutter sein; du wirst mir vergeben und ich dich nimmer, nimmer vergessen!

[1295]

Der Mensch sollte sich selbst immer als ein Experiment der Natur betrachten.

[1296]

 

Das Leben ist eine in siebenfaches Goldpapier eingewickelte Bittermandel.

[1300]

 

Meine Brustschmerzen nehmen nicht zu und nicht ab. Zu einem Arzt zu gehen und mich einer Kur zu unterwerfen, fehlt es mir an Geld. Ich weiß kaum selbst, ob ich gern oder ungern sterbe. Ich habe noch manches auf dem Herzen, was ich ausführen mögte, und doch ists mir oft, als sei es aus mit meiner Kraft. Jedenfalls mögte ich moralisch in anderer Gestalt den dunklen Schritt machen, aber ich fürchte, ich habe recht, wenn ich mir sage: du wirst auf Erden nicht mehr besser, als du bist. Meine Leidenschaftlichkeit ist mir über den Kopf gewachsen und sie wechselt in ihrem Begehren eigentlich nur mit den Gegenständen, sie selbst bleibt, was sie ist.

[1311]

d. 22sten Novbr.

Ein wahres Selbstmordwetter; trister feiner Regen, grauer, verschlossener Himmel. Ich befinde mich sehr unwohl, der Kopf ist mir eingenommen, auch hab ich Schnupfen; mein Hündchen hat in der letzten Nacht 6 Junge geworfen, die bis zum Morgen heulten und wimmerten; wohl 10mal stand ich auf, um sie, wenn sie vom Kissen heruntergerollt waren, der Mutter wieder unterzulegen, damit sie nicht erfrören. Dabei hab ich mich erkältet, und vor dem Lärm, den sie erhoben, konnte ich, obwohl todmüde, nicht schlafen; das, glaub ich, strapaziert den Körper mehr, als irgend etwas anderes. Wenn ich mich jetzt erschösse – ich mögte wissen, ob das Sünde wäre; ist doch an bösen Zuständen das das Schlimmste, daß man glaubt, es werde wohl nie wieder besser.

[1319]

 

Den Keim meines Unglücks kenne ich sehr wohl: es ist mein Dichter-Talent. Dieses ist zu groß, als daß ich es unterdrücken, zu klein, als daß es mich für die darauf zu verwendende Sorgfalt verhältnismäßig lohnen könnte. Doch muß ich noch hinzufügen, daß nur der schlimme Weg, den ich durchs Leben machen mußte, mich zu meinem Talent in ein so übles Verhältnis gestellt hat. Ich fühle es nur zu deutlich: die Handhaben, die Hebel, durch die sich meine Kräfte in Bewegung setzen lassen, sind zerbrochen, und ich bin viel reicher, als mir je gelingen wird, zu zeigen. Nur, wer sich in einem ähnlichen Fall befindet, vermag zu fühlen, was dies heißt. Es ist wahr, bei dem ewigen Gott, es ist wahr, ich weiß nichts so gewiß, als dies. Wie mir, mag einem Menschen sein, der um ein Bein gekommen ist; wenn er sitzt, oder liegt, wird er die vollste Gehkraft verspüren und vor keinem Ziel zurückschaudern, steht er aber auf, so ist er lahm und wird wohl gar ausgelacht. Ich bleibe dabei: die Sonne scheint dem Menschen nur einmal, in der Kindheit und der früheren Jugend. Erwarmt er da, so wird er nie wieder völlig kalt, und was in ihm liegt, wird frisch herausgetrieben, wird blühen und Früchte tragen. Tieck sagt in diesem Sinn irgendwo: nur wer Kind war, wird Mann; ich erbebte, als ich dies zum erstenmale las, nun hatte das Gespenst, das mich um mein Leben bestiehlt, einen Namen. Wie war nicht meine Kindheit finster und öde! Mein Vater haßte mich eigentlich, auch ich konnte ihn nicht lieben. Er, ein Sklav der Ehe, mit eisernen Fesseln an die Dürftigkeit, die bare Not geknüpft, außerstande, trotz des Aufbietens aller seiner Kräfte und der ungemessensten Anstrengung, auch nur einen Schritt weiterzukommen, haßte aber auch die Freude; zu seinem Herzen war ihr durch Disteln und Dornen der Zugang versperrt, nun konnte er sie auch auf den Gesichtern seiner Kinder nicht ausstehen, das frohe, brusterweiternde Lachen war ihm Frevel, Hohn gegen ihn selbst, Hang zum Spiel deutete auf Leichtsinn, auf Unbrauchbarkeit, Scheu vor grober Handarbeit auf angeborne Verderbnis, auf einen zweiten Sündenfall. Ich und mein Bruder hießen seine Wölfe; unser Appetit vertrieb den seinigen, selten durften wir ein Stück Brot verzehren, ohne anhören zu müssen, daß wir es nicht verdienten. Dennoch war mein Vater (wäre ich davon nicht innig überzeugt, so hätte ich so etwas nicht über ihn niedergeschrieben) ein herzensguter, treuer, wohlmeinender Mann; aber die Armut hatte die Stelle seiner Seele eingenommen. Ohne Glück keine Gesundheit, ohne Gesundheit kein Mensch!

[1323]

 

Ich weine jetzt fast nie aus Schmerz, kaum noch aus Zorn. Aber bei schöner Musik, oder wenn ich ein muntres Kind pp sehe, kommen mir so leicht Tränen ins Auge.

[1328]

 

Das Gebet des Herrn ist himmlisch. Es ist aus dem innersten Zustande des Menschen, aus seinem schwankenden Verhältnis zwischen eigener Kraft, die angestrengt sein will und zwischen einer höheren Macht, die durch erhobenes Gefühl herbeigezogen werden muß, geschöpft. Wie hoch, wie göttlich hoch steht der Mensch, wenn er betet: vergib uns, wie wir vergeben unsern Schuldigern; selbständig, frei, steht er der Gottheit gegenüber, und öffnet sich mit eigner Hand Himmel oder Hölle. Und wie herrlich ist es, daß diese stolzeste Empfindung nichts gebiert, als den reinsten Seufzer der Demut: führe uns nicht in Versuchung! Man kann sagen: wer dieses Gebet recht betet, wer es innig empfindet, und soweit es die menschliche Ohnmacht gestattet, den Foderungen desselben gemäß lebt, ist schon erhört, muß erhört werden. Das Amen geht unmittelbar aus dem Gebet selbst hervor; so ist es im höchsten Sinne ein Kunstwerk.

[1334]

 

Der Gedanke der Erbsünde ist der natürlichste, auf den der Mensch verfallen konnte. Wie oft tut der Mensch etwas, was er schon, indem und bevor er es tut, bereut; wie oft ruft er pfui, und spuckt ins Glas und leert es dennoch! Es ist übrigens von der höchsten Wichtigkeit, alles, was im Lauf der Zeit allgemeiner Glaube, unumstößlich scheinende Satzung geworden ist, auf das persönliche, individuelle Bedürfnis zurückzuführen; nur dadurch gelangt man zu einiger Freiheit der Erkenntnis. Man macht auf diesem Wege die merkwürdigsten Entdeckungen, z.B. daß Gottes Mantel aus dem Schlafrock des Menschen und aus dem Gespenster-Anzug seines Gewissens zusammengestückt ist.

[1335]

d. 25 Nov.

Der erste Frost, den ganzen Vormittag fror ich in meinem Zimmer, ohne die Ursach zu begreifen, als ich es gegen 11 verließ, blies mir ein scharfer Wind entgegen und ich sah die ersten Eiszacken. Ich ließ mir einheizen und genieße jetzt mit großer Behaglichkeit die erste Stubenwärme.

[1342]

 

Man altert nur von 25 bis 30, was sich bis dahin erhält, wird sich wohl auf immer erhalten.

[1343]

 

Es wird mir immer klarer, daß das Denken nicht, wie ich früher glaubte, eine allgemeine Gabe ist, sondern ein ganz besonderes Talent. Ich selbst besitze dies Talent nicht, aber ich besitze die Ahnung desselben, und daher kommt es, daß ich mir nie zu genügen vermag, wenn ich einen Aufsatz schreibe. Ich will gehen und kann bloß springen; ich will alles aufs Bestimmte, Zusammenhängende, Gegliederte, zurückführen und kann nur stückweise den Schleier zerreißen, der das Wahre verhüllt. Das echte Denken ist, wie jede schöpferische, ursprüngliche Kraft, produktiv; der denkt noch keineswegs, der durch eine Vernunft- oder Verstandes-Operation hie und da einen Irrtum matt macht, das geschieht durch bloßes Messen, Wägen und Vergleichen. Es hätte mir nicht so lange unklar bleiben sollen, daß das Denken ein Talent ist. In jedem Menschen ist übrigens ein Surrogat, welches in einer schnellen Wahrnehmung der Analogie und des Widerspruchs besteht; ich glaube, dies Surrogat gründet sich größtenteils auf das Gefühl und ist also eine höhere Art Instinkt. Jeder große Denker hat gewiß eine neue Denkmethode, obgleich er sich ihrer nicht bewußt sein mag.

[1348]

 

Heute abend ging ich gegen 7 Uhr in der grimmigen Kälte unter den Arkaden, dann in der Ludwigsstraße spazieren. Es war heller, scharfer Mondschein, der mich, wie es mir vorkam, die Kälte doppelt empfinden ließ; reiner blauer Himmel voll (vor Frost, denkt man unwillkürlich) zitternder Sterne. Auf einmal erscholl eine ängstliche Trommel, Menschen stürzten aus den Häusern und rannten hin und wider, ich lief selbst, ohne zu wissen, wohin, doch ahnte ich, daß irgendwo ein Feuer ausgebrochen sei, und dieser Gedanke war im ersten Augenblick gar nicht unangenehm. Ein Kamin brannte, der Residenz gegenüber, die Funken flogen, wie kleine geschwänzte Schlangen aus dem Schlot heraus und gewährten ein eindringliches Bild des Entstehens und Vergehens, auf einmal, in Anlaß der tätig gewordenen Spritzen, erlosch alles und eine dicke Rauchwolke, die sich gegen den hellen Himmel fast weiß ausnahm, quoll empor und sowie diese sich oben etwas zerteilte, bemerkte ich plötzlich einen klaren, freundlichen Stern, der fast neugierig auf die Brandstätte herabzuschauen schien.

[1349]

 

Man mögte zuweilen mit Jean Jacques die Kultur verfluchen. Sie entwickelt eigentlich nichts, als unsre Bedürfnisse, die in einer Welt, wo sie nicht befriedigt werden können, wahre Krankheiten sind. Mensch verlangt vom Menschen, was Mensch dem Menschen nicht gewähren kann oder will. Je tiefer wir in die Natur und ihren Reichtum eindringen, um so größere Ansprüche machen wir an sie. Ehmals waren die Erwachsenen, wie die Kinder; wie hoffnungslos sind die Zeiten, wo die Kinder, wie die Erwachsenen sind. Warum lernen wir so viel und so schnell!

[1357]

 

Du ahnst nicht, liebe Elise, wie unendlich gern ich das Weihnachtsfest bei Dir und in Hamburg zubrächte! Gerade dieses Fest wie jeden Tag gleichgültig und ungenossen an sich vorübergehen zu lassen, ist so schmerzlich. Das hat wohl jedem Kinde, und auch mir etwas gebracht; dann wurde von den blauen Hirsch-Tellern – so genannt, weil in ihrer Mitte ein Hirsch, den mein Vater gewöhnlich mit Kreide auf den Tisch nachzuzeichnen pflegte, gemalt war – gegessen, es gab einen Mehlbeutel, zuweilen wohl gar mit Rosinen oder Pflaumen gefüllt, später ward guter Tee getrunken, hauptsächlich der lieben Mutter wegen, die ohne Tee nur halb vergnügt sein konnte, bevor das Essen kam, sang der Vater in Gemeinschaft mit mir und meinem Bruder ein geistliches Lied, nachher mußte ich aus der ehrwürdigen dickbäuchigen Postille mit den vielen Holzschnitten, die mich so seltsam-fremdartig begrüßten, das Evangelium und eine Predigt vorlesen, darauf erschien der Nachtwächter mit seiner weitdröhnenden Knarre unter dem Fenster, sang einen Vers und erhielt durch mich oder meinen Bruder den schon längst bereitgehaltenen, nicht selten geborgten Schilling, wofür er ein fröhliches Fest anwünschte, die Eltern waren heiter, auch der Vater, den wir fast das ganze Jahr nicht heiter sahen, die dumpfen, erstickenden Gespräche über die Schwierigkeit, Brot herbeizuschaffen (lagen doch meistens zwei oder drei köstliche weiße breite Wecken im Schrank!) unterblieben, Scherz und Lachen waren erlaubt und wir Kinder deuchten uns im Himmel. Dazu am Weihnachtsabend der schöne Gedanke: diese Herrlichkeit dauert zwei volle Tage! Ich bin immer sehr traurig, wenn – was besonders im vorigen Jahr geschah – der Weihnacht mir nicht die geringste Freudenblume zuwirft; an wenig andre Feste mach ich ähnliche Prätensionen, von meinem Geburtstag weiß ich z.B. fast nie, wann er ist.

[1368]

 

Nicht, was der Mensch soll: was und wie ers vermag, zeige die Kunst.

[1388]

 

In vielen Menschen ist ihr bißchen Verstand eine kümmerliche Leuchte, die nichts, als ihre eigne Kläglichkeit bescheint.

[1397]

d. 13 Dezbr.

Gestern abend hatte ich bei heftigem Kopfschmerz in Görres Geschichtsstunde ein Gefühl, als ob mein Gehirn, die geistige Masse meines Wesens, sich in Dampf und Rauch auflöste und in alle Lüfte zerstreute.

[1398]

 

Die moderne Poesie der Deutschen saugt nicht an den Brüsten der Natur und des Lebens, sondern an einem Aussatzgeschwür.

[1399]

 

Der Mensch hält seinen Seufzer gern für das Echo der Welt.

[1400]

d. 31 Dezbr. Abends um halb 12 Uhr.