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Ophelia Evans ist jung, schön und frech. Als sie dazu auserkoren wird, einen verräterischen Agenten durch die Zeit zu jagen, helfen ihr ihre Fähigkeiten nicht weiter. Sie und ihre Kollegin landen in Polaria: Einem unbekannten, altertümlichen Königreich. Schnell spitzen sich die Ereignisse zu und sie weiß nicht, wem sie noch glauben soll. Carter, ihrem Verlobten in London? Oder doch dem überraschend sympathischen Alexej, den sie eigentlich zurückbringen soll? In einem Kampf auf Leben und Tod muss sich Ophelia entscheiden.
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Finja Hardies veröffentlichte mit siebzehn Jahren Polaria-Zwischen den Welten, den ersten Teil ihrer Reihe.
Bereits im Kindesalter dachte sie sich Geschichten aus und begann mit vierzehn Jahren das Schreiben. Ab da folgte eine lange Reihe von unbeendeter Romane, bis sie Polaria schließlich beendete.
Neben dem Schreiben flüchtet sie sich gerne mit Musik und einem guten Buch in ihre Fantasiewelten.
„Ich werde dir beistehen“
-Genesis 31:3
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Die Welt war ein Ort voller Überraschungen. Und doch erlebten die meisten Menschen kaum eine davon. Geheimnisse, die direkt vor ihren Augen lagen, blieben verborgen und wurden nie entdeckt.
Und darauf war mein ganzer Beruf gebaut.
Immer wieder überraschte es mich, wie sehr etwas, das für mich der Normalität entsprach, für einen anderen Menschen nicht einmal im Bereich seiner Vorstellungskraft lag. Oder eben nur dort.
Ich sah mich von meinem Platz an der Bar aus um. Sah die unterschiedlichen Arten von Menschen, die auf verschiedene Weise ihr Interesse oder ihr Desinteresse ausdrückten.
»Evans, bist du bereit?«, erklang die Stimme meines Partners in meinem Ohr.
Ich sah nach oben zu dem braungelockten jungen Mann, dessen blaue Augen mich selbst aus dieser Entfernung anstrahlten.
Ich nickte einmal und warf mir mein taillenlanges rotes Haar über die Schulter, das ich heute Morgen mühevoll geglättet hatte.
Mit schwingenden Hüften und einem süffisanten Lächeln setzte ich mich in Bewegung und fixierte mein Ziel.
Bereits nach wenigen Schritten richtete sich Callum Reeds Blick auf mich. Oder eher auf meinen Körper. Das enganliegende Kleid überließ niemandem genug Spielraum für Fantasien.
Ich unterdrückte ein angeekeltes Schaudern.
Normalerweise war das nicht unbedingt mein Stil, aber für eine derartige Mission war es von Vorteil mich so in Szene zu setzen, dass mein Gegenüber nicht mehr richtig auf meine Worte achtete.
Als ich daran dachte, wie meine Cousine bei meinem Anblick die sonst glatte Stirn runzeln und mich missbilligend betrachten würde, wurde mein Lächeln breiter.
Ich ließ mich neben den deutlich älteren Mann sinken und nippte an meinem Glas. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn. Ein Teil von mir, hätte am liebsten die Flucht ergriffen, als ich seine Augen auf mir spürte. Aber ich gab mir alle Mühe, mir mein Missfallen nicht anmerken zu lassen und das schmale Lächeln aufrechtzuerhalten.
Meine Augen richteten sich für einen kurzen Moment auf die braune, wabernde Flüssigkeit in meinem Glas, bevor ich es zu meinen Lippen führte und den Whiskey hinunterwürgte.
Ich hasste den Geschmack, aber ich glaubte, etwas Hochprozentiges würde mir im Augenblick nicht unbedingt schaden.
Ich stellte das Glas mit einem lauten Knall auf dem Tisch ab. Dann wartete ich. Mein Blick wanderte wieder über die Menschen. Es war, als würden meine Augen magisch davon angezogen werden.
Einige der Leute saßen genauso gelangweilt da, wie ich mich fühlte. Die Mundwinkel waren nach unten gesackt, die Augen in weite Ferne gerichtet.
Wieder andere hatten ein breites Lächeln auf den Lippen und flirteten ohne Pause. Dafür waren solche Partys da. Zur Verkupplung reicher Menschen oder aber auch für illegale Geschäfte.
Nein, ich war keine Polizistin oder Detektivin.
Mein Beruf war offiziell gar nicht anerkannt. Viele Leute dachten, ich arbeitete in einem Buchladen, jedenfalls bestand meine und die Tarnung des CITs eben daraus.
Geschmacklos, wie ich fand. Vor allem, da sich anfangs viele gewundert hatten, dass ich mit der alten Mrs. McKane Bücher verkaufte in einem Buchladen, der nicht unbedingt so ansprechend wirkte. Aber das CIT hatte viele »Tarnungen«.
Und der Laden, in den ich einquartiert wurde, war eben der Buchladen. Und auch, wenn er auf mich beinahe heimelig wirkte, war ich froh, dass ich dort nicht allzu viel Zeit verbringen musste. Der Beruf als Agentin machte mir dann doch mehr Spaß. »Geheimagentin« war nicht die Bezeichnung, die ich gern wählte. Es klang wie der Wunschberuf eines Kindes, aber gewissermaßen war es genau das, denn beim CIT ‒ oder besser Campbells International Technology - ging es genau darum, und eigentlich war es ziemlich spannend.
»Sprich ihn an«, erklang Carters Stimme wieder in meinem Ohr.
Ich warf einen entnervten Blick nach oben und drehte mich dann mit einem aufgesetzten Lächeln zu dem Mann neben mir.
»Ich kenne Sie«, fing ich an.
Der Mann streckte die Brust raus, als hätte ich ihm damit ein Kompliment gegeben. Mit den wulstigen Fingern richtete er seine Krawatte.
Gedanklich seufzte ich. Wie gerne wäre ich jetzt zu Hause.
»Ach ja? Ich habe Sie hier noch nicht gesehen«, redete er.
... zu Hause mit einer Tasse Tee, Schokolade und einem guten Buch und ...
Ich lächelte. »Vielleicht bin ich Ihnen einfach nicht aufgefallen?«, Mit meinem Körper drehte ich mich nun ganz zu ihm und streckte mein Dekolletee heraus.
Er erwiderte mein Lächeln und bemühte sich nicht einmal, seinen Blick von meinen Brüsten abzuwenden.
Ich wäre so viel lieber zu Hause und würde mich nicht mit solchen Leuten herumschlagen. Meine einzige Aufgabe heute war es ihn herauszulocken, und wie ich seine Blicke deutete, würde das gar nicht so schwer sein.
Ich unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen. Wieso hatte ich den Whiskey so schnell ausgetrunken? Ich hätte ihn jetzt gebraucht.
»Ich denke nicht, dass ich Sie übersehen könnte«, antwortete er und sah mir für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen, bevor er seinen Blick wieder senkte.
Ich verengte die Augen, aber selbst, wenn ich ihn mörderisch angelächelt hätte, hätte er es wahrscheinlich nicht gesehen.
»Und doch haben Sie mich nicht bemerkt.« Ich hoffte inständig, dass er mir nicht anhörte, wie ungern ich hier sein wollte.
»Wie ist ihr Name?« fragte er.
»Laura«, log ich, »Laura Blake.«
»Ah!«, sagte er erfreut und seine Mundwinkel hoben sich noch weiter. »Jetzt erinnere ich mich an Sie. Ihr Name kommt mir bekannt vor.«
Ich zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn einen Moment perplex an, dann zwang ich mir wieder ein Lächeln auf. Er kannte mich also ...
Dabei existierte Laura Blake gar nicht. Den Namen hatte ich mir vor wenigen Sekunden ausgedacht.
»Sie schmeicheln mir«, sagte ich und schob mir eine Haarsträhne hinters Ohr, während ich ihn schüchtern anlächelte und meine Augen flatternd senkte.
Er lachte auf und legte seine Hand auf meine.
Mit dem Daumen strich er über meinen Handrücken.
Ich unterdrückte den Drang, angewidert meine Hand unter seiner hervorzuziehen. Wie ich es in dieser Situation schaffte zu lächeln, wusste ich nicht.
Ich rückte einen Schritt näher zu ihm. Reiche Männer interessierte es offenbar nicht, wenn ihr Gegenüber knapp dreißig Jahre jünger war. Ich war vor ein paar Tagen erst zwanzig geworden, der Mann vorher mir kratzte an der Fünfzig.
»Wie kommt es, dass so ein junges Ding wie Sie Interesse an mir haben?«, fragte er und entblößte seine gebleachten Zähne.
»Sie sind ein ehrgeiziger Mann. Sie wissen, was sie wollen«, ich machte eine kurze Pause, in der ich ein Würgen unterdrückte. »Das gefällt mir.« Genauso wie die Vorstellung, meinen Mageninhalt in eine Toilette zu entleeren.
Er lachte auf. Wie schnell man einen reichen Mann, der den Großteil seines Vermögens geerbt hatte, doch herumkriegen kann! Die Tatsache, dass er in illegalen Waffenhandel, Diebstahl von Geheimtechnologien sowie Mord verwickelt war, hatte mich darauf schließen lassen, dass ihn ein paar billige Komplimente nicht direkt einlullen würden. Zumindest nicht ohne Skepsis. Aber jeder konnte sich mal irren, auch wenn das bei mir eher selten vorkam.
»Ich mag ihr Selbstbewusstsein, Laura.«
Ich lächelte verschmitzt und sah ihn mit einem Augenaufschlag an. »Davon hab ich noch viel mehr.«
Sein Lachen verstummte und sein Grinsen wurde zu einem zufriedenen Lächeln. Jetzt hatte ich ihn.
»Das würde ich liebend gerne sehen.«
Ich setzte ein schüchternes Lächeln auf und hoffte, dass meine Wangen sich röteten. »Aber doch nicht vor den Leuten.«
Er lachte wieder und strich mir nun eine Haarsträhne hinters Ohr. Am liebsten wäre ich zurückgewichen. »Dann sollten wir hinausgehen.«
Wieder sah ich schüchtern zu ihm auf und nickte vorsichtig. Dabei sah ich mich demonstrativ einmal um. Das schien ihn noch mehr anzustacheln und er bot mir die Hand an, die ich vorsichtig ergriff. Dann ließ ich mich von ihm auf die Füße ziehen.
Mit meiner freien Hand zog ich mein Kleid etwas herunter. Wie es gerade saß, war es doch etwas zu viel des Guten.
Auf dem Weg nach draußen flüsterte er mir ins Ohr: »Deine Schüchternheit ist ganz schön antörnend.«
Ich sah zu ihm auf und lächelte gespielt beschämt. Eigentlich hoffte ich nur, dass er einen Schritt zulegte, damit Carter kam und seinen Job machen konnte. Und wir danach in Ruhe in unsere kleine Wohnung verschwinden und wenigstens den Rest des Abends genießen konnten.
Endlich erreichten wir die Tür und ich warf noch einen Blick zu Carter zurück. Er nickte mir zu und stieß sich von dem Geländer ab. Dann folgte ich Callum in den Flur.
Je weiter wir liefen, desto mehr Paare sahen wir, die das Gleiche vorhatten wie Callum und Laura.
Er legte eine Hand auf meinen Rücken und führte mich um eine Ecke, wo deutlich weniger los war.
Ein kleines gewinnendes Lächelnd breitete sich auf meinen Lippen aus. Perfekt.
»Ich bin direkt hinter euch«, hörte ich nun endlich Carters Stimme in meinem Ohr. Das war gut, jetzt musste ich nur warten, bis er endlich stehen blieb.
Wenige Schritte später geschah genau das, und ich gab zu, die Wucht, mit der er mich gegen die Wand drückte und anfing meinen Hals zu küssen, hatte ich nicht erwartet.
Ich verzog das Gesicht. So nah wollte ich ihn nicht bei mir haben. Und ein bisschen hatte ich gehofft, dass ich das auch nicht musste.
Ich sah Carter gerade um die Ecke kommen, als er mit seiner Hand tiefer ging. Ich riss die Augen auf und räusperte mich.
»Ich hatte sie schon den ganzen Abend im Blick«, sagte er und bog meinen Kopf nach hinten.
Ja klar.
Das war meine Chance. Langsam hoben sich meine Mundwinkel zu einem Grinsen. »Wir Sie auch.«
Er hielt inne und sah mich fragend an. »Wir?«
Bevor er reagieren konnte, lächelte ich süßlich und rammte mein Knie in seine Magengegend. Oder vielleicht auch etwas tiefer.
»Ups!«, sagte ich und hob die Augenbrauen, als er in die Knie sank. Carter kam mit unserem Team angelaufen und warf ihn auf den Boden.
»Du Hure!« schrie Callum mich an.
Ich hob die Hände. »Dann will ich mein Geld.«
Er schwieg einen Moment, Carter schmunzelte.
»Wir werden Sie mitnehmen, und wenn Sie bereit sind, uns unsere Technologien zurückzugeben, werden wir Sie an die Polizei übergeben.«
»Was?«, Callum Reed wand sich und versuchte sich zu befreien, aber Carters Griff war unerbittlich. »Ich will einen Anwalt!«, er knurrte.
»Wenn ich zur Polizei komme, werde ich Anzeige gegen Sie erstatten.«
Carter verdrehte die Augen in meine Richtung, ich zuckte nur teilnahmslos die Schultern.
»Das wird Ihnen nichts bringen. Falls Sie es vergessen haben: Sie haben offiziell nicht existierende Dinge von einer offiziell nicht existierenden Organisation gestohlen«, erklärte ich ihm sachlich.
Er knurrte und ließ sich von zwei meiner Kollegen abführen. Sie nickten mir im Vorbeigehen einmal zu, was ich kurz erwiderte.
Als wir endlich allein in dem Gang standen, zog mich Carter sofort an sich.
Ich schmiegte mich an ihn und fühlte, wie er mir einen Kuss auf den Haaransatz gab.
Das mit uns war schnell gegangen und wurde unter Kollegen auch nicht gerne gesehen.
Aber es war nun mal passiert und ging so schnell, dass wir uns auch recht schnell verlobt hatten, und da konnte dann auch niemand mehr etwas sagen.
Ich drehte den Kopf und sah auf meine Hand, an der ein schlichter Goldring glänzte. Er wies keine besondere Details auf, aber er war perfekt.
Ich fühlte Carters Brustkorb vibrieren, als er anfing zu lachen. »Hat es dir Spaß gemacht, Ophelia?«, fragte er spöttisch.
Ich schnaubte und löste mich so weit von ihm, dass ich ihm in die tiefblauen Augen schauen konnte. Sie erinnerten mich jedes Mal an einen unendlichen Ozean.
»Und wie!«, erwiderte ich mit dem gleichen Spott in der Stimme. »Es war so schön, von ihm angefasst zu werden. So schön, dass ich zu Hause erst einmal duschen gehen werde.« Ich wog den Kopf zur Seite. »Oder dreimal.«
Er grinste breit und strich mir noch einmal über die Haare, bevor er sich wieder von mir löste.
Mein Blick fiel auf seine muskulösen Arme, die durch das schwarze Langarmshirt nur noch mehr zur Geltung kamen.
»Hör auf zu sabbern«, wies mich mein Verlobter zurecht.
Ich grinste verschmitzt. »Nein.«
Er verdrehte die Augen.
»Ich will nach Hause«, meckerte ich und hakte mich bei ihm unter, während ich ihn in die Richtung zog, aus der wir eben gekommen waren.
Er presste die Lippen zusammen.
»Was?« fragte ich. In meinem Kopf läuteten die Alarmglocken. Ich musste endlich schlafen. Ich war seit Stunden auf den Beinen.
Sein besorgter Blick wurde von einem amüsierten Grinsen abgelöst.
Ich schlug ihm auf den Arm und verengte die Augen. »Idiot!«
Er lachte auf und legte einen Arm um meine Schultern. Dann drückte er mich liebevoll an sich.
»Ich mach doch nur Spaß«, sagte er und strich sanft über meine nackte Schulter. Sofort breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus.
»Dazu fehlt dir der Humor«, konterte ich und sah ihm einen Moment in die Augen. Er hielt meinen Blick fest, bis ich das Gefühl hatte darin zu versinken. Er lächelte mich sanft an.
»Wenn wir zu Hause sind, werde ich baden. Du solltest aufpassen, dass ich nicht einschlafe und einfach ertrinke.«
Er lachte auf. »Ich denke, bevor du sterben würdest, würdest du aufwachen und dich selbst zurück an die Oberfläche holen.«
Ich schüttelte den Kopf und sah ihn bedeutend an. »Nein. Ich bin so müde, sobald ich die Augen zu mache, werde ich einen komaähnlichen Schlaf gleiten.«
Er schüttelte grinsend den Kopf. »Du bist verrückt.«
Ich zeigte auf seine Mundwinkel. »Und du solltest aufpassen, dass dir Mundwinkel nicht abfallen, sooft, wie du sie hebst.«
Wieder lachte er auf, diesmal warf er aber sogar den Kopf in den Nacken. Seit ich ihn kannte, war er ein Mensch, der viele Witze machte, der viel lachte, und das mochte ich an ihm. Sobald er den Raum betrat, war es, als würde sich der Raum aufhellen, egal wie trüb die Stimmung vorher war.
Es störte mich eigentlich überhaupt nicht, sein Lachen zu hören. Aber das war auch nur bei ihm der Fall. Gegen andere Menschen, die viel lachten, hatte ich irgendwie etwas.
»Du liebst mein Lachen«, sagte er nur und sah mich wissend an.
»Wie kommst du denn darauf? Es verfolgt mich bis in meine Träume.« Ich hob trotzig das Kinn.
»Wunderschöne Träume.«
Ich schüttelte den Kopf. »Albträume.«
»Ach, Ophelia«, sagte er beinahe verzweifelt, trotzdem war noch immer ein Lachen in seiner Stimme zu hören. »Du bist doch froh, dass du mich hast.«
Jetzt war ich es, die ihn liebevoll anlächelte.
»Sonst hätte ich nicht ja gesagt. Außerdem sagt Lizzy - und ich zitiere -, wenn ich dich nicht hätte, würde irgendwann eine Regenwolke über meinem Kopf schweben.«
Er sah mich erstaunt an und ich konnte es ihm nicht verübeln. Meine Cousine, die gleichzeitig auch meine beste Freundin war, war ihm gegenüber anfangs nicht besonders offen gewesen.
Und vor allem wegen unserer frühen Verlobung hatte sie ihn am Anfang wirklich nicht leiden können. Jetzt hatte sie sich wenigstens soweit im Griff, dass sie ihn nicht mit mörderischen Blicken durchbohrte.
»Im Ernst? Das hat Lizzy gesagt?«
Ich nickte stolz und drückte mich ein wenig enger an ihn. »Mit diesen Worten.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann konnte ich sie ja doch noch überzeugen.«
Ich wog den Kopf unschlüssig hin und her.
»Soweit würde ich jetzt nicht gehen. Aber sie will dich nicht mehr mit ihren Chirurgen-Messern aufschlitzen.« Während ich das sagte, gestikulierte ich wild mit meinen Händen.
Er neigte den Kopf und seine Mundwinkel zuckten schon wieder. »Jetzt versteh ich das mit der Regenwolke.«
Ich schlug ihm spielerisch gegen den Arm und hätte am liebsten meine Lippen auf seine gepresst.
»Halt die Klappe!«
»Kommt drauf an, was du dafür tun würdest.«
Er wackelte mit den Augenbrauen.
Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm, dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und bog seinen Kopf ein wenig herunter. Unser enormer Größenunterschied war tatsächlich eine Sache, die so manchmal zu einem Störfaktor wurde. Er meinte, ich wäre außergewöhnlich klein. Ich dagegen meinte, er wäre mit drei Metern Körpergröße auf die Welt gekommen.
Endlich legte er seine Lippen auf meine und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich lächelte in den Kuss hinein, als das Kribbeln in meinem Bauch einsetzte.
»Tut mir leid!«, rief ich über die Schulter einem Mann in einem grauen Mantel zu, den ich versehentlich angerempelt hatte. Er reagierte gar nicht.
»Was war das?«, hörte ich Carter am anderen Ende der Leitung lachend fragen.
Ich verdrehte die Augen und drückte mir das Handy an die andere Seite und quetschte es zwischen Schulter und Wange, um mein Portmonee in meiner Tasche zu suchen. Dabei fielen mir meine roten Locken ins Gesicht, die ich schwungvoll über die Schulter warf.
»Verdammt!«, fluchte ich.
»Was ist?«, hörte ich Carter wieder fragen.
Ich reagierte nicht, sondern durchwühlte meine Tasche weiter.
»Phia?« fragte er wieder.
»Hör auf mich so zu nennen!« fuhr ich ihn an.
Ich hasste diesen Spitznamen, nur Lizzy durfte mich so nennen, weil sie eh nicht darauf hörte, wenn ich es ihr verbot. »Ich finde mein Portmonee nicht«, murmelte ich in den Hörer.
»Das glaub ich, es liegt hier auf dem Esstisch.«
Ich hielt einen Moment inne. »Na toll. Dann muss ich nochmal nach Hause, bevor ich zur Arbeit gehe.«
»Ist etwas Wichtiges drin? Sonst nehme ich es einfach mit.«
»Oh ja. Das wäre nett, meine Zugangskarte ist drinnen.« Ohne sie kam ich nicht mal in den hinteren Teil der Bücherei, um in den eigentlich Arbeitstrakt zu gelangen.
»Alles klar, ich gebe sie dir später.«
»Danke!« Ich lief über den großen Parkplatz des Krankenhauses und steuerte geradewegs auf den Haupteingang zu. »Ich muss jetzt auflegen, ich bin gleich da.«
Ich hörte ihn schnauben, gefolgt von seinem Lachen, was mir sofort wieder ein warmes Gefühl bescherte. »Ich versteh immer noch nicht, wieso ihr euch zweimal die Woche trefft, um in der Krankenhaus-Cafeteria zu essen.«
»So was nennt sich Routine. Und Familie«, konterte ich.
Wieder schnaubte er. »Alles klar. Dann sehen wir uns später.«
Ich lächelte in mich hinein und zog meine beigefarbene Jacke enger um mich. Es war zwar Sommer, aber der Wind war doch sehr kühl.
»Bis dann!«, erwiderte ich, dann legte ich auf und steckte mein Handy in meine Jackentasche.
Ich lief in das Innere des riesigen Krankenhauses und geradewegs auf den Aufzug zu. Einige Ärzte und Schwestern standen mit mir davor und stiegen in den Aufzug ein. Dann drückte ich die Nummer der Etage, in die ich wollte. Ich sah mich um und betrachtete die weißen Kittel. Mein Blick wanderte weiter zu dem Display über den Türen.
Ungeduldig tippte ich mit dem Fuß auf und ab und wartete, bis die Türen endlich wieder aufgingen, dann marschierte ich direkt auf den Empfang zu.
Dort stand eine ältere Krankenschwester mit leicht ergrautem Haar, die mich freundlich anlächelte. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten.
Ich vermutete, das zeugte von dem Stress, den sie in ihrem Job haben musste.
Ich lächelte sie freundlich an. »Wissen Sie, wo Dr. Evans ist?«
Sie erwiderte mein Lächeln. »Einen Moment bitte.«
Ich nickte und wartete, bis sie ihre Unterlagen durchsucht hat. Mit meinen Augen verfolgte ich, wie sie auf der Tastatur tippte und auf der Maus klickte, dann irgendwann hob sie den Kopf wieder. »Sie ist gerade im OP.«
Ich nickte. »Wissen Sie vielleicht, wie lange es dauern wird?« Sie schien nun gar nicht mehr so freundlich, sondern eher genervt von mir.
Am liebsten hätte ich sie in Ruhe gelassen, aber ich war auch nicht besonders geduldig.
»Sie ist bereits einige Stunden drin. Sie sollte demnächst herauskommen«, antwortete sie und drehte sich demonstrativ weg, so dass ich gar keine Chance hatte, noch eine Frage zu stellen.
Ich verdrehte die Augen, wandte mich wieder um und steuerte auf den Wartebereich zu.
Manchmal verfluchte ich, dass meine Cousine so ein Wunderkind und eine gute, gefragte Unfallchirurgin war. Mir persönlich hatte es ja noch nie Freude bereitet, zerteilte Körperteile oder aufgeplatzte Bäuche zu sehen. Meiner Cousine, die gerade einmal siebenundzwanzig und bereits Oberärztin war, schien es geradezu Spaß zu machen. Jedenfalls vermutete ich das, so oft, wie sie ihre Zeit hier verbrachte.
Früher war ich immer ein wenig neidisch gewesen, wie schnell sie das Assistenzarztprogramm und alles andere hinter sich gebracht hatte. So wie ich das gehört hatte, fing man in dem Alter normalerweise gerade erst als Assistenzarzt an.
Ich ließ mich auf einen der freien Stühle sinken und stellte meine Tasche neben mir ab. Mit den Händen rieb ich mir über die Beine und sah mich um. Was sollte ich tun, solange ich wartete? Denn auch wenn die Schwester eben sagte, dass Lizzy wohl bald käme, wusste ich aus Erfahrung, dass es wahrscheinlich noch eine Stunde dauern würde.
Ich beobachtete die Leute, die mit mir hier saßen.
Etwas weiter von mir entfernt saß eine junge Frau mit lockigem Haar und rot verquollenen Augen.
Augenblicklich fragte ich mich, was ihre Geschichte war, auf wen sie wartete und was dazu geführt hatte, dass sie hier saß. Die glasigen Augen verzweifelt auf den Boden gerichtet, die Hände im Schoß verschränkt. Ihr Fuß wippte nervös auf und ab.
Mein Blick wanderte weiter zu einem alten Ehepaar, das sich gegenseitig an den Händen hielt, als wäre es die einzige Stütze, die sie hätten und die sie dort halten könnte, wo sie waren. Der Mann hatte die Stirn sorgenvoll gefurcht, die Frau weinte. Warteten sie auf ein Kind? Ihr Kind oder ihr Enkelkind?
Wieder sah ich weiter und bemerkte eine Familie. Einen Mann mit drei Kindern, aber keine Mutter.
Schnell wandte ich den Blick ab, als mir klar wurde, dass die Kinder nach diesem Tag vielleicht keine Mutter mehr haben würden.
Ich senkte die Augen auf meine Hände.
Vielleicht war es genug für heute mit dem Leute-Beobachten.
Aus dem Augenwinkel sah ich einen Tisch voller Magazine und schnappte mir eines über eine Nieren-Transplantation.
Ich verzog das Gesicht. Wieso legte man so was hierher, wenn überall Leute saßen, die um Familienmitglieder und Freunde bangen mussten?
Ich schlug die bereits abgegriffene Zeitschrift auf und verzog sofort wieder das Gesicht, als mir eine Leber ins Gesicht sprang.
»lu«, machte ich und blätterte sofort weiter, nur um ein noch viel blutigeres Bild zu entdecken. Ich schlug die Zeitschrift wieder zu und ließ sie auf meinen Schoß sinken. Dann atmete ich einmal tief durch und legte sie beiseite.
Angewidert schüttelte ich den Kopf.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Leute um mich herum, diesmal auf die Ärzte und Schwestern, die an mir vorbeiliefen. Manche hatten ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen, weil sie Angehörigen frohe Neuigkeiten über ihre Geliebten überbringen konnten. Anderen sah ich an ihrem angespannten Gesichtsausdruck an, dass sie dem Tod begegnet und nun im Begriff waren, mit ihrer Nachricht diesen Tag zum Schlimmsten eines Angehörigen zu machen. Und wieder andere rannten vorbei, um zu einem Notfall zu eilen.
Ich stieß die Luft aus. Jedes Mal, wenn ich hier saß, wurde mir erst richtig bewusst, was für ein Gefühlschaos hier herrschte. Manche erlebten den schönsten Tag ihres Lebens, andere den Schlimmsten.
Endlich sah ich Lizzy auf mich zukommen. Ihre braunen Haare waren in einem strengen Zopf zusammengebunden und ihre gertenschlanke Figur sah sogar in der OP-Kleidung fabelhaft aus.
Ich würde wahrscheinlich einfach nur dick darin aussehen, weil es meine Kurven unvorteilhaft betonen würde. Egal, wie viel ich auch trainierte, ich bekam Muskeln, aber mein Knochenbau ließ einfach nicht zu, dass ich jemals eine Figur wie meine Cousine haben könnte.
Sie funkelte mich aus ihren grünen Augen an, die so ziemlich das Einzige waren, das auf unsere Verwandtschaft hindeuteten. Sie hatte Locken, die manchmal wild von ihrem Kopf abstanden und ihre Haut strahlte jedes Mal in einem blassen Braunton. Unsere Augen waren wirklich das Einzige, was an uns einigermaßen gleich war, und die meisten Menschen bemerkten das nicht einmal.
»Wartest du schon lange?«, fragte sie mich mit ihrer tiefen Stimme, die man wegen ihrer zierlichen Figur eigentlich gar nicht bei ihr erwartete.
Ich winkte ab. »Erst seit gestern.«
Sie verdrehte die Augen, aber ich schaffte es tatsächlich, ihr ein Grinsen zu entlocken. »Dann geht es ja.«
Ich erhob mich von meinem Platz und griff mir meine Tasche. Mit einem letzten Blick auf die wildgelockte Frau, setzte ich mich in Bewegung.
»Lass uns was essen, ich verhungere«, sagte ich über die Schulter zu meiner Cousine.
»Na, das wollen wir ja nicht.« Den Spott in ihrer Stimme ignorierte ich.
Wir liefen nebeneinander her zu dem Fahrstuhl, aus dem ich eben erst ausgestiegen war. Zwei weitere Ärzte standen mit uns im Fahrstuhl, als sich die Türen schlossen. Lizzy grüßte sie mit einem Kopfnicken.
Einen Moment standen wir schweigend da und starrten die Türen an.
»Was hast du operiert?« fragte ich meine Cousine irgendwann in die Stille hinein.
Sie sah mich schräg von der Seite an. »Einen zerfetzten Darm.«
Ich bemühte mich beeindruckt zu nicken, aber das angewiderte Zusammenziehen der Augenbrauen konnte ich mir nicht verkneifen.
»Klingt toll.«
Einer der beiden Ärzte schmunzelte, Lizzy verdrehte nur die Augen.
Die Türen gingen auf und gaben den Blick auf eine überfüllte Cafeteria frei. Im Stillen seufzte ich.
Vielleicht hätten wir einfach woanders hingehen sollen.
»Manchmal frage ich mich, wieso du das tust«, gestand ich, als wir uns an der Theke anstellten.
»Operieren?«, fragte Lizzy und schnappte sich ein Tablett.
Ich nickte und fing an zu grinsen. »Genießt du es, Menschen zu retten oder sie aufzuschlitzen?«
Mir fiel es schwer nicht loszulachen, als ich sah, wie Lizzy inne hielt und die Ärzte, die vor ihr standen sich ein wenig irritiert zu uns umdrehten, aber ich schaffte es.
»Ich meine, bist du aufgewacht und hast dir gedacht: ,Heute würde ich gerne Innereien sehen’?«
Lizzys Augen weiteten sich und sie sah sich um.
Auf ihren Wangen breitete sich ein roter Schimmer aus. Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten und lachte los. »Ich mach doch nur Spaß!«
Sie verengte die Augen. »Sehr witzig.«
»Nicht wahr?«
Sie reagierte gar nicht mehr drauf, sondern schnappte sich eine Portion Pfannkuchen und stellte mir ebenfalls einen aufs Tablett.
»Danke.«
Sie nickte und befüllte unsere beiden Tabletts. Ich brauchte sie nur immer weiterzuschieben. Jedes Mal, wenn ich hier war, aßen wir das Gleiche.
Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis wir mit voll beladenen Tabletts an einem kleinen Tisch saßen.
Schweigend aßen wir unsere Pfannkuchen.
Genießerisch schloss ich die Augen und ließ mir den Sirup auf der Zunge zergehen. Wenn man das Wort, Cafeteria’ hörte, dachte man eigentlich an fades Essen. Zumindest ging es mir so. Aber dieses Essen, vor allem die Pfannkuchen, waren unglaublich gut. Wie eine Droge für meine Geschmacksknospen und ...
»Du kannst die Augen wieder aufmachen«, sagte Lizzy trocken.
Ich grinste und schob mir eine weitere Gabel mit den köstlichen Pfannkuchen in den Mund.
Sie beobachtete mich kopfschüttelnd.
»Manchmal weiß ich echt nicht, was ich mit dir machen soll?«
»Weil ich so perfekt bin?«, witzelte ich.
»Weil du unausstehlich bist«, erwiderte sie.
Wenn man sie nicht kannte, würde man denken, dass sie mich beleidigte, aber ich wusste, dass sie genauso Späße machte wie ich eben. Irgendwie war das zur Routine geworden.
»Unausstehlich perfekt?«, wiederholte ich und hob die Augenbrauen.
Sie gab sich seufzend geschlagen und schnitt ein weiteres Stück ihres Pfannkuchens ab. »Nein, heute diskutiere ich nicht mit dir«, sagte sie kauend und zeigte mit ihrer Gabel auf mich.
Ich blickte sie grinsend an und aß ein weiteres Stück meines unglaublich leckeren Pfannkuchens.
Dann kaute ich auf und runzelte die Stirn. »Wie lange musst du heute arbeiten?«
Sie sah seufzend auf die Uhr. »Noch ewig. Sie konnten mich für eine halbe Stunde entbehren, weil ich seit Stunden auf den Beinen bin. Aber danach muss ich weiter und bin hoffentlich morgen früh draußen.«
Ich verzog das Gesicht. Das klang grausam.
»Und ich dachte, mein Job wäre anstrengend.«
Lizzys Mundwinkel zuckten, als sie mich ansah.
»Du kämpfst um dein eigenes Leben, ich nur um das anderer.« Sie hob die Augenbrauen, nur um sie sofort wieder sinken zu lassen.
Ich wog den Kopf und schürzte die Lippen.
»Gut.«
Die Narben an meinem Körper zeigten deutlich, wie oft ich schon zusammengeflickt wurde, nach einem ... Unfall. Und wie oft sie es war, die mich wieder zusammengenäht hatte, wollte ich lieber für mich behalten.
Lizzy mochte es dementsprechend aber nicht besonders, dass ich mein Geld immer noch damit verdiente, aber irgendwann hatte sie es aufgegeben, mir damit in den Ohren zu liegen.
Meine Cousine betrachtete mich einen Moment stirnrunzelnd, während sie ihre Pfannkuchen weiter kaute, dann schluckte sie herunter und sagte: »Hast du dir noch ein Ohrloch stechen lassen?«
Stolz grinste ich und strich mir die Haare beiseite, damit sie mein mit Goldohrringen geschmücktes Ohr sah. An meinem Ohrläppchen baumelten mittlerweile drei Kreolen und dazu kam nun ein Helix, ebenfalls mit einem goldenen Ohrring geschmückt. An meinem linken Ohr baumelten drei weitere ähnliche Ohrringe.
Die Falten auf Lizzys Stirn vertieften sich.
»Schön«, sagte sie wenig überzeugend.
Mein Grinsen wurde nur noch breiter. Es war nicht so, dass sie Schmuck nicht schön fand, die Perlen an ihren Ohren bewiesen das Gegenteil.
Aber sie sorgte sich, dass sie mich irgendwann wiedersah und ich dann nur noch ein wandelndes Piercing sein könnte.
»Nicht wahr?«
Sie verdrehte lächelnd die Augen. »Es sieht wirklich schön aus.«
Erfreut sah ich sie an. »Danke.«
Ich musste zugeben, dass ich es toll fand, wenn sie mir Komplimente für etwas machte, von dem sie zuerst gar nicht so begeistert gewesen war. Sie war wie meine große Schwester, und eigentlich waren wir auch so aufgewachsen. Wie Schwestern. Und sie war die Einzige, der ich es erlaubte mir zu sagen, wenn ich etwas falsch machte. Gut, Carter manchmal, aber auch wirklich nur, wenn es offensichtlich war, dass es meine Schuld war.
Wahrscheinlich sagte das ziemlich viel Negatives über meinen Charakter aus, aber so sehr störte mich das auch nicht. Vor allem nicht, wenn ich damit beschäftigt war die Welt zu retten.
Ich sah mich um und blickte zwischen den Ärzten, die um mich herum saßen, hin und her.
Mein Blick fiel auf einen attraktiven Typen mit blondem Haar.
Grinsend drehte ich mich wieder zu Lizzy. »Der ist hübsch, den solltest du dir schnappen.«
Lizzy verschluckte sich an ihrem Essen und hustete, bis ihr Tränen in die Augen stiegen. Eine feine Röte bildete sich auf ihren Wangen, was mich zum Lachen brachte.
»Wo kam das her?«, fragte sie und räusperte sich. Ihre Augen huschten hinter mich.
Triumphierend grinste ich. Hatte ich etwa ins Schwarze getroffen?
»Wieso grinst du heute so viel? Normalerweise weißt du doch gar nicht, wie das geht«, lenkte sie ab.
Augenverdrehend lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Bedeutungsvoll sah ich sie an. »Man kann es dir nicht recht machen. Erst bist du genervt, wenn die Mundwinkel nach unten zeigen und jetzt«, ich deutete auf meine Mundwinkel, die ich extra hob, »wo sie nach oben zeigen, ist es auch wieder schlecht. Vielleicht sollte ich sie mir festtackern lassen.« Ich zog eine Grimasse, die sie zum Lachen brachte und dazu veranlasste, mich mit einer Serviette abzuwerfen.
»Hör auf damit, du Dramaqueen!«, murrte sie.
Ich blinzelte unschuldig. »Womit soll ich aufhören? Mit Lachen oder mit Reden?«
Sie verengte die grünen Augen. »Am liebsten beides.«
Ich ließ meine Kinnlade herunterklappen und sah sie gespielt schockiert an.
»Mach den Mund zu«, lachte sie und legte das Besteck beiseite. Ihr Blick richtete sich auf die riesige Uhr und ihr Gesicht verfinsterte sich wieder.
Ich folgte ihrem Blick und wurde nun selber wieder ernst. »Du musst jetzt schon gehen?« Wir hatten kaum miteinander geredet. Nur ein wenig herumgealbert.
»Ja, die halbe Stunde ist vorbei«, erwiderte sie und schnappte sich ihren weißen Arztkittel, den sie eben irgendwann im Laufe des Essens über ihren Stuhl gehangen hatte. Eine halbe Stunde war sicher nicht vorbei, aber ich kannte sie. Sie wollte bloß schnell wieder Leute zusammenflicken.
Sie stand auf und zog sich den Kittel über.
Ich blickte sie stumm an.
»Zieh nicht so ein Gesicht«, wies sie mich zurecht, während sie das Besteck wieder auf ihr Tablett legte.
»Soll ich es mitnehmen?«, fragte sie, ohne aufzublicken und griff noch im selben Atemzug nach meinem Tablett.
Ich fuhr fort sie stumm anzusehen und zu warten. Worauf wusste ich nicht.
Irgendwann blickte sie endlich wieder auf und legte den Kopf schräg. Sie sah mich an, wie eine Mutter es bei ihrem herumbockenden Kind tun würde.
»Zieh nicht so ein Gesicht.«
Meine Augenbraue wanderte nach oben, ohne dass ich den Rest meines Gesichtes verzog. Das musste ganz schön komisch aussehen. »Jetzt ist das also auch nicht gut?«
Sie seufzte und warf mir ein Lächeln zu.
Ich erwiderte es. »Wir sehen uns.«
Sie nickte mir im Vorbeigehen noch einmal zu.
Dann eilte sie auch schon davon, beladen mit beiden Tabletts.
Seufzend sah ich auf die Uhr und hätte mir am liebsten noch eine Portion Pfannkuchen geholt.
Aber es wurde Zeit, dass auch ich mich langsam zur Arbeit machte.
Als ich durch die Türen der Bücherei kam, nickte ich der älteren Empfangsdame zu, die mich nur mit einem missbilligenden Blick strafte und demonstrativ auf meine Hand sah.
Ich hob abwehrend die Hände. »Ich warte, bis mir meine Karte gebracht wird«, erklärte ich mich und zog mein Handy aus meiner Hosentasche. Ich hatte Carter angerufen, bevor ich losgefahren war.
Er meinte, er würde sich beeilen.
Als ich keine Nachricht sah, seufzte ich und sah wieder auf. Die Bücherei war voller dunkler Bücherregale, die aufgereiht hintereinander standen und mit Büchern befüllt waren. Ein Großteil von ihnen sah bereits abgegriffen aus. Der Einband war teils zerknickt und die Bücher, die in naher Entfernung zu mir standen, hatten gelbliche Seiten.
Ungeduldig wippte ich mit dem Fuß auf dem Boden und sah noch einmal auf die Uhrzeit, aber nicht einmal daran änderte sich etwas.
Es war immer noch 17:23 Uhr.
»Könnten sie aufhören, so herum zu hüpfen, Ms.
Evans«, wies mich Mrs. McKane zurecht und sah mich über ihre Brille hinweg mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete. Und mir nicht wenig Angst einjagte.
»Entschuldigung«, murmelte ich und verlagerte mein Gewicht. Dann sah ich noch einmal aufs Handy.
17:24 Uhr.
Ich seufzte still, damit ich nicht schon wieder angemeckert wurde. Ich öffnete Carters Chat und schrieb ihm eine Nachricht:
Wo steckst du? Ich kann nicht rein ohne die Karte.
Ich wartete einen Augenblick und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er meine Nachricht las.
Ungeduldig starrte ich das kleine Feld an, dass anzeigte, dass er gerade schrieb.
Ich fühlte, wie mich die alte Dame beobachtete und sah auf. Ihr Blick lag immer noch missbilligend auf mir.
Unauffällig richtete ich mein Top, damit ich nicht zu viel Haut zeigte. Dann senkte ich meine Augen wieder auf das Handydisplay.
Sorry. Ich komme jetzt.
Ich schaltete mein Handy aus und ging wieder zu dem Empfangstresen. Die Augen der Frau dahinter verfolgten mich, wie ein Adler seine Beute, die er gleich fressen würde.
Wenn ich behaupten würde, ich hätte keine Angst vor ihr, wäre das eine Lüge. Seitdem ich das erste Mal hier herein gekommen war, hatte mir Mrs. McKane Furcht eingeflößt.
»Carter wird gleich da sein«, sagte ich, als mir die Stille unangenehm wurde.
»Aha«, sagte sie mit kratziger Stimme und sah mich unbeeindruckt an. Dann sah sie wieder auf den Tresen, wo ein aufgeschlagenes Notizbuch lag.
Was darin stand, konnte ich nicht erkennen. Ich hatte auch keine Möglichkeit meine Neugier zu stillen, denn in dem Moment kam Carter aus dem kleinen Raum hinter der Theke hervor.
Er lächelte entschuldigend.
Ich wollte um die Theke herum gehen, aber Mrs.
McKane stellte sich mir in den Weg.
»Die Karte«, sagte sie und verengte die Augen.
Ich sah sie einen Moment verwirrt an, dann stöhnte ich entnervt und streckte Carter die Hand entgegen, damit er mir meine Karte reichte und mich die Frau endlich durchließ.
Er kramte sie hervor und reichte sie mir dann.
Ich hob sie demonstrativ an und zeigte sie freudlos. Es war ja nicht so, als würde ich hier nicht seit zwei Jahren arbeiten.
Ich meinte einen selbstgefälligen Ausdruck hinter ihrer Brille zu sehen. Dann ging sie zur Seite.
Ich presste die Lippen zusammen und ließ mich von Carter in den kleinen Raum ziehen. Von außen sah er aus wie eine einfache Abstellkammer.
Jede Menge Kartons standen herum und im hinteren Teil stand ein kleines Regal. Dahinter verbarg sich eine Tür.
Carter schob es beiseite und gab den Blick auf eine Tür frei, die man auf den ersten Blick gar nicht unbedingt bemerkt hätte. Er hielt seine Karte vor den kleinen Sensor am Rand und, kaum einen Moment später, öffnete sie sich nach innen. Ich hielt meine auch davor. Schon wieder wollte ich nicht angemotzt werden, weil ich nicht im System als anwesend stand.
Als wir drinnen waren, ging die Tür hinter uns zu und wir folgten einem engen Flur, der nur spärlich beleuchtet war. Nach einigen Metern führte eine lange Wendeltreppe nach unten, die mich immer ein wenig an die Treppe eines Märchenschlosses erinnerte. Nur eben nicht aus Stein, sondern aus Holz.
Aber ich hasste sie. Vor allem wenn ich sie wieder hochgehen musste.
Ich stöhnte auf der Hälfte der Treppe genervt auf. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich auch ohne das tägliche Training Oberschenkelmuskeln bekommen hätte.
Carter sah mich über die Schulter hinweg an, aber seine Augen strahlten nicht so, wie sie es sonst taten.
Sofort fühlte ich, wie sich mein Magen beunruhigt zusammenzog und ich zog die Augenbrauen zusammen. »Was ist passiert?«
Er ließ die Schultern sinken, schwieg aber so lange, bis ich mir nicht mehr sicher war, ob er überhaupt noch antworten würde. »Mein Dad wird es dir gleich erklären.«
Ich riss die Augen auf und sah skeptisch auf seinen Rücken. »Dein Dad ist in der Stadt?«
Carters Vater - David Oliver - leitete das CIT, und eigentlich hielt er sich so gut wie nie in London auf. Sein Wohnsitz war in New York. Seit ich hier angefangen hatte, hatte ich ihn genau einmal gesehen, und zwar, als Carter mich ihm vorgestellt hatte. Ich hatte schrecklich Angst gehabt vor dem Treffen, und Lizzy hatte ganze Arbeit leisten müssen, um mich überhaupt dahin zu bekommen.
Letztendlich war er zwar kühl und distanziert gewesen, aber dennoch freundlich. Soweit man es von ihm erwarten konnte.
Carter nickte und wirkte selbst wenig begeistert.
Aber er schwieg, bis wir den Rest des Weges hinter uns gebracht hatten.
Die Steinwände waren kühl, als ich sie berührte.
Je tiefer wir gingen, desto kälter wurde es.
Mittlerweile stellten sich mir die Härchen auf, und ich rieb mir über die Arme. Nicht einmal meine Jacke wärmte mich wirklich.
Endlich kamen wir an einer Tür an. Carter hielt wieder seine Karte an den Sensor, so dass die Tür zur Seite aufschwang und den Blick auf einen belebten Flur warf. Leute in schwarzer Kleidung, Anzügen oder einfach normaler Kleidung liefen an uns vorbei und unterhielten sich wild, so dass ein wildes Stimmengewirr entstand.
Ich trat hinter Carter ein und wurde sofort von der angenehmen Wärme empfangen. Wären hier unten keine Heizungen, würde es genauso kalt sein, wie in den Fluren, da war es egal, ob es Sommer war.
Ich lief neben Carter her an den Leuten vorbei.
Einige grüßten uns, andere waren so vertieft in ihre Gespräche, dass sie uns gar nicht bemerkten.
Sobald wir an unserem Ziel angekommen waren, wurde ich nervös. Vor allem, als ich Carters Vater durch die Scheibe sah, der mit grimmiger, kalter Miene vor sich auf den Tisch schaute. Er hatte die gleichen blauen Augen wie sein Sohn, auch wenn sie bei weitem nicht so eine Wärme ausstrahlten.
Carter lächelte mich noch einmal an und zwinkerte mir aufmunternd zu, bevor er die Tür öffnete. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, aber ich setzte ein Lächeln auf und straffte die Schultern. Manchmal befürchtete ich, dass sie meine Angst riechen konnten.
Als wir eintraten, sah ich noch zwei weitere Gesichter. Ein Mann Mitte fünfzig, dessen blonde Haare bereits fast ganz aus grauen Strähnen bestanden und der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und ernster Miene dastand.
Ethan Williams war der Leiter des CIT hier in London. Er war immer recht ernst, trotzdem hatte er hier für jeden ein offenes Ohr.
Ich nickte ihm einmal zu, während ich eintrat, was er erwiderte. Dann sah ich die dritte Person im Raum an.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und wandte mich der lächelnden jungen Frau zu, die ungefähr in meinem Alter sein musste.
Die Frau trug die schwarze Einsatzkleidung, die eigentlich nur den Mitgliedern hier in London vorbehalten war, aber ich hatte sie hier noch nie gesehen.
Sie hatte helles blondes Haar, das sie zusammengeflochten und hochgesteckt trug, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel. Ihre hellbraunen Augen funkelten mich freundlich an.
Ich konnte mich nicht zu einem Lächeln überwinden. Ihre Art nervte mich schon jetzt.
Carters Vater zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er von seinem Platz am Kopfende des Tisches aufstand. »Schön, dass du da bist, Ophelia«, sagte er.
Ich nickte ihm zu und richtete mich ein Stück weiter auf.
Seine Hand deutete auf die blonde glückliche Frau. »Das ist Alina Pawlowa. Sie kommt vom Stützpunkt in Russland.«
Die Falten auf meiner Stirn wurden tiefer und ich sah verwirrt zu Carter, der seinen Kiefer so fest aufeinander gepresst hatte, dass ich Angst hatte, seine Zähne würden durchbrechen. Er erwiderte meinen Blick und was ich darin sah, beunruhigte mich noch mehr.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Alina Pawlowa mit einer hellen Stimme, aber es war überraschenderweise kein Akzept zu hören.
Vielleicht ganz minimal, aber auch nur, wenn man richtig hinhörte. Wow.
Sie erhob sich und hielt mir die Hand entgegen.
Ich ergriff sie und sah sie skeptisch an.
Als ich ihre Hand wieder los ließ, ging sie um den Tisch herum und stellte sich zu uns. Sie war nicht viel größer als ich, vielleicht eine Handbreit, und ich fragte mich immer noch, was sie hier tat.
»Wieso ist sie hier?«, fragte ich in den Raum hinein und bekam dafür einen warnenden Blick von Carter, den ich ignorierte.
Ethan bedachte mich mit dem gleichen Blick, nur dass er eine einschüchternde Wirkung auf mich hatte. Dann antwortete er: »Deswegen sind Sie hier, Ophelia.«
Seine Tonlage machte unmissverständlich deutlich, dass ich die Klappe halten und warten sollte, bis mir die Umstehenden von sich aus erklärten, was Sache war.
Ich lächelte mit zusammengepressten Lippen und nickte entschuldigend, bevor ich den Kopf senkte.
Carters Vater räusperte sich. »Nun, da wir vollzählig sind, können wir auf das Thema zurückkommen, das einige von uns«, sein Blick traf auf mich und er verengte für den Bruchteil einer Sekunde seine Augen, bevor er fortfuhr, »so brennend interessiert.« Verlegen senkte ich den Blick.
Ich spürte Carters Hand auf meiner Schulter, als er an mir vorbeiging und sich auf einen der Stühle setzte. Besorgt betrachtete ich ihn. Er sah aus, als hätte ihm der Tag jegliche Kraft geraubt.
Mr. Oliver zeigte auf Alina und deutete ihr so an, dass sie nun das Wort ergreifen konnte. Sie lächelte dankend und drehte sich schwungvoll zu mir um. Wieder strahlte sie bis über beide Ohren.
Kaum merklich verzog ich das Gesicht.
Grinsekuchen.
»Es geht um Alexej Malverra.«
Ich runzelte die Stirn. Wenn das nicht aufhörte, würde ich bald Falten haben. »Ist der nicht tot?«
Sie lächelte nachsichtig. Schon wieder. »Das dachten wir auch.« Sie wog den Kopf hin und her und lachte auf. »Jedenfalls, bis er wieder aufgetaucht ist.«
Ein wenig überfordert sah ich sie an und hoffte, dass sie bald weitersprach. Dass ein Verräter, Killer und Dieb plötzlich wieder auferstand, war nicht unbedingt eine Nachricht, die sie zum Lachen bringen sollte.
Beunruhigt sah ich zu Ethan, dessen Miene immer noch keine Regung aufwies.
»Er stahl den Tempus thoracem laneum oder kurz: den TTL.« Sie wartete einen Augenblick, bis ich ihre Worte verarbeitet hatte. Der TTL, dessen Namen ich absolut schrecklich fand, war so etwas wie eine Zeitmaschine. Eigentlich war es eine Zeitmaschine, aber ich fand, dass es komisch klang, wenn ich sagte, dass es wirklich eine war, die funktionierte. Und wenn sie wirklich von Alexej Malverra gestohlen wurde, wurde sie wahrscheinlich auch von ihm benutzt. Und damit hatten wir noch genau zwei weitere TTL. Und die waren beide noch nicht getestet worden.
»Im selben Moment, in dem wir ihn entdeckten, benutzte er ihn. Glücklicherweise konnten wir erkennen, wo er hin wollte. Und zwar nach Russland, in das Jahr 1915.«
Ich räusperte mich und sah auf Carter hinab.
»Und wieso bin ich dann hier?«
Carter sah mich unzufrieden an, antwortete aber nicht. Stattdessen kam Ethan einige Schritte auf mich zu. »Du sollst ihn finden. Mit Ms. Pawlowa zusammen.«
Ungläubig sah ich ihn an und deutete mit der Hand auf mich. »Ich?«, ich lachte auf und wurde sofort wieder ernst. »Nein.«
»Ophelia!«, ermahnte mich Carter. Als er mich ansah, sagte sein Blick mehr als tausend Worte, unter anderem, dass ich mich besser zusammenreißen sollte.
Ich räusperte mich und sah Carters Vater und Ethan an, die beide gar nicht mehr so erfreut zu sein schienen. Alina ging einen Schritt beiseite.
»Ich meine, mit dem Thema Zeitreisen habe ich nicht viel Erfahrungen«, erklärte ich sachlich. Was sie hier vorschlugen war völliger Unsinn. Ich würde wahrscheinlich in der Zeit verloren gehen.
»Deswegen nimmst du Alina Pawlowa mit, sie kennt sich damit aus«, erwiderte Carters Dad und wirkte dabei so, als würde ich an seinen Nerven zerren. Aber ganz egal, wie sehr mich seine Anwesenheit ängstigte, ich ließ mich nicht einfach in die Zeit schießen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Den Blick, den Carter mir zuwarf, ignorierte ich gekonnt. Mir war bewusst, dass es Konsequenzen haben konnte, wenn ich so mit meinen Vorgesetzten sprach. »Warum soll ich das machen?«, fragte ich nun doch irgendwann.
»Du bist die Beste, die wir haben«, sagte Ethan zähneknirschend. Man sah, dass ihm die Worte nicht schmeckten. Komplimente hatte er noch nie gerne verteilt.
Geschmeichelt sah ich ihn an.
»Tust du es?«, fragte Carter.
Ich zuckte die Schultern, obwohl es mir alles andere als gleichgültig war, einfach mal eben in die Vergangenheit zu wechseln. Wobei ich mir vorstellen konnte, dass Russland in 1915 ganz spannend sein konnte. »Ja.«
Ethan atmete erleichtert auf und sah Mr. Oliver an, der zufrieden nickte. Er wandte sich an Alina.
»Können wir, wo wir nun jemanden haben, dann morgen mit den Tests fortfahren?« Carters Dad war verärgert, das merkte man.
Trotzdem nickte Alina freundlich. »Das sollte kein Problem mehr darstellen.«
»Gut«, sagte er und nickte knapp. Dann blickte er wieder zu mir. »Worüber wir hier in diesem Raum geredet haben, bleibt auch in diesem Raum.
Verstanden?«
Ich nickte artig. »Natürlich.«
Wieder nickte er, warf mir aber noch einen prüfenden Blick zu, bevor er sich in Bewegung setzte. »Kommst du einen Moment mit hinaus?«, fragte er dann an seinen Sohn gewandt. Dieser nickte und erhob sich sofort.
Carter lächelte mich aufmunternd an, dann folgte er seinem Vater. Einen Augenblick sah ich ihnen hinterher, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder den beiden Übriggebliebenen in dem Raum widmete.
Nach einem Moment des Schweigens, räusperte sich Alina und lächelte schon wieder. »Ich werde noch einige Anrufe machen.«
Ethan nickte und gab ihr so das ,Okay’ zu verschwinden, was sie auch sofort tat. Aber auch dabei schien ihr Lächeln nicht einen Moment zu wanken.
Ich verdrehte die Augen, als sie draußen war, musste dann aber lächeln. »Ich bin also die Beste?«
Übertreib es nicht.« Warnte er mich und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Aber als er an mir vorbeiging, sah ich das Zucken seiner Mundwinkel.
Ich schüttelte amüsiert den Kopf.
Ethan wirkte manchmal wie ein harter Granit-Klumpen, der einen Teddybären beherbergte.
Ich drehte den Kopf zur Seite und beobachtete, wie Carter sich durch die Haare fuhr, so dass seine Locken noch wilder von seinem Kopf abstanden als ohnehin schon.
Mein Lächeln schwand und ich seufzte schwer.
Liebend gerne wäre ich jetzt zu ihm gegangen und hätte ihn umarmt oder wäre mit ihm nach Hause gefahren.
Aber ich hatte jetzt noch eine ganze Nacht vor mir, und ich kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er jetzt am liebsten alleine sein würde.
Schweigend eilte ich zur Hintertür hinaus, damit ich Carter und seinen Vater nicht störte, und folgte dem Gang bis zur kleinen Umkleidekabine. Außer mir waren noch andere Personen dort, die ich allerdings nicht groß beachtete. Meine Gedanken verweilten bei der Zeitreise.
Wollte ich wirklich in die Vergangenheit reisen?
Würde sich dadurch nicht auch mein Zukunft verändern?
Vor einer Woche war ich das erste Mal dabei gewesen, als der TTL getestet wurde. Seitdem ging es nur noch um ein einziges Thema. Der damit zusammenhängende Name verfolgte mich bis in meine Träume.
Zeitreisen und Alexej Malverra.
Jetzt lag ich schon wieder wach und starrte die Decke an. Carter neben mir schlief tief und fest.
Das wusste ich, weil ich sein leises Schnarchen neben mir hörte.
Einerseits nervte mich das ständige Geräusch, andererseits war es genau das, was mich gerade beruhigte.
Mit einem leisen Seufzen drehte ich mich auf die Seite und rollte mich unter der Decke zusammen, nur um sie im nächsten Moment von mir zu treten, so dass mich nur noch Carters T-Shirt vor den Monstern unter unserem Bett schützte.
Es war gruselig, wenn ich so darüber nachdachte. Ich starrte Carter an. Ich schaffte es nicht, meinen Blick zu lösen. Er sah so ruhig aus, wenn er schlief.
Die letzte Woche hatte ihm schwer zugesetzt.
Sein Gesicht hatte fahl gewirkt und die Schatten unter seinen Augen wurden jeden Tag dunkler. Er hatte nicht mehr so viele Witze gemacht und wirkte immer so abwesend.
Ich hatte ihn ein paar Mal gefragt, ob er darüber reden wollte, aber er war nie auf mein Angebot eingegangen, sondern war das Thema umgangen, deswegen hatte ich es irgendwann gelassen.
Leise schob ich mich ein Stückchen näher an Carter und verzog das Gesicht, als das Bett knarzte. Dann rückte ich noch enger an ihn heran, bis ich meinen Kopf auf seine Brust betten und einen Arm über seinen muskulösen Bauch legen konnte.
Ich schloss die Augen und lauschte seinem Herzschlag. Dann fühlte ich plötzlich, wie sich ein Arm um meine Taille schlang.
Ich drehte meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen konnte, ohne dass ich meinen Kopf heben musste und lächelte ihn an.
»Alles gut?«, fragte er verschlafen.
»Ja, alles gut«, erwiderte ich leise, »Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.« Er bekam so schon zu wenig Schlaf.
Carter lächelte sanft und strich über meine Taille, dann gab er mir einen Kuss auf den Kopf.
»Ich wäre sowieso wach geworden«, log er.
Ich kicherte und drückte mich noch enger an ihn. Wir schwiegen. Und ich genoss die Stille, genoss es, wie sein Herz im immer gleichen Rhythmus schlug, wie sich seine Brust gleichmäßig hob und senkte. Es beruhigte mich irgendwie, und nach einer Weile wurde ich schläfrig. Ich hatte Mühe, meine Augen offen zu halten. Als Carter sich bewegte, zuckte ich zusammen.
Er lachte leise, was seinen Brustkorb zum Beben brachte. »Tut mir leid.«
Ich brummte nur zur Antwort.
Vorsichtig strich er mir durchs Haar und fuhr mit dieser Bewegung einen Moment fort. Mein Blick fiel auf seinen Nachttisch.
Es war erst 3:05 Uhr. Wir hatten noch genug Zeit. Ich war erst vor ein paar Stunden nach Hause gekommen, und Carter hatte heute ohnehin frei.
»Ich will nicht, dass du das machst«, sagte er irgendwann in die Stille hinein.
Einen Moment wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte, dann sagte ich: »Jetzt hab ich zugestimmt.«
Ich musste zugeben, dass ich mich mit jedem Tag, mit dem wir der Zeitreise ein wenig näher kamen, etwas unwohler fühlte und an meiner Entscheidung zweifelte.
»Wenn du wirklich nicht willst, kann ich mit meinem Vater reden, dann musst du es nicht tun.«
Ich setzte mich auf und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Aber ich möchte es machen.«
Ich wartete einen Augenblick und leckte mir über die Lippen. »Meine Zweifel sind zwar groß«, ich lachte auf, »also sehr, sehr groß. Aber ich hab den Job angenommen, damit ich Leuten helfen kann und etwas Neues erleben kann.«
Während ich geredet hatte, hatte er sich auf die Ellenbogen gestützt und schaute mich unglücklich und verärgert an.
Ich schüttelte den Kopf und rückte noch etwas beiseite. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Was?« Nun setzte auch er sich ganz auf.
»Du bist sauer.«
Er verengte die Augen, das sah ich sogar durch das spärliche Licht in unserem Schlafzimmer.
»Natürlich bin ich sauer.«
Langsam kochte die Wut in mir hoch. Ruckartig stand ich aus dem Bett auf und schnappte mir meine Decke, die ich, wenn ich recht überlegte, eigentlich gar nicht brauchte.
»Wo gehst du hin?«, fragte er aufgebracht.
An der Tür drehte ich mich noch einmal zu ihm um und atmete tief durch, bevor ich antwortete.
Wenn ich ihn jetzt anschreien würde, würde ich wahrscheinlich Dinge zu ihm sagen, die ich schon im nächsten Moment bereuen würde. Aber ich wollte nicht, dass er sich einbildete, er könnte für mich Entscheidungen treffen.
»Du hast kein Recht, wütend auf meine Entscheidungen zu sein.«
Er stand nun ebenfalls auf und lief mir hinterher. Humorlos lachte er auf. »Wir werden heiraten. Natürlich habe ich ein Recht darauf wütend zu sein, wenn du dein Leben in Gefahr bringst.«
Ich stieß ungläubig die Luft aus. »Nur weil wir heiraten, heißt es nicht, dass ich nicht immer noch meine eigenen Entscheidungen treffen kann.
Außerdem bringe ich mein Leben jeden Tag in Gefahr! Genau wie du!«, fuhr ich ihn an.
Er schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht zu vergleichen ist.«
Ich presste die Lippen aufeinander und sah ihn einen Moment einfach nur an, dann atmete ich die Luft aus, die ich unbewusst angehalten hatte. »Ich werde auf dem Sofa schlafen. Lass uns morgen darüber reden.«
Ohne auf seine Antwort zu warten, drehte ich mich um und lief aus unserem Schlafzimmer in das winzige Wohnzimmer. Er kam mir nicht hinterher.
Mir war nach Heulen zumute. Im nächsten Moment verwarf ich den Gedanken aber schon wieder und strich mir, genervt von mir selbst, die Haare aus dem Gesicht.
Wir mussten einfach nur schlafen. Morgen würde es schon wieder anders aussehen.
Es sah nicht anders aus als letzte Nacht. Ich hatte kaum ein Auge zugetan. Irgendwann war ich endlich eingeschlafen, war aber bald darauf wieder aufgewacht und hatte mich gefühlt, als hätte ich fünf Tage ohne Pause durchgearbeitet.
Und dementsprechend sah ich nun auch aus.
Meine Augen waren geschwollen und meine Haare hatte ich zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Außerdem war meine Haut blass - noch blasser als sonst - und wirkte, als würde sie jeden Moment auseinanderfallen.
Seit ich nun hier war, um bei den Tests des TTL dabei zu sein, warfen mir Alina Pawlowa, sowie der ältere Herr - Mr. Rubikow -, der für die Tests und die Entwicklung der Zeitreisemaschine verantwortlich war, immer wieder Blicke zu, die ich aber ignorierte. Heute nervte mich Alina noch mehr mit ihrem Lächeln. Denn heute Morgen hatte ich nicht einmal Zeit gehabt, mir einen Kaffee zu besorgen.
»Bis jetzt sind die Tests alle positiv ausgefallen.
Wenn es so weitergeht, können wir in ein paar Tagen loslegen«, sagte Alina lächelnd an mich gewandt.
Ich quittierte das nur mit einem entnervten Blick in ihre Richtung. Mein Kopf pochte und ihr fröhlicher Ausdruck schien das alles nur noch schlimmer zu machen.
Ihr Lächeln schwand ein wenig und sie räusperte sich. Mit der einen Hand strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die aus ihrem aufwendig geflochtenen Zopf herausgefallen war.
Wann hatte sie nur jeden Morgen die Zeit, ihre Haare in solche Frisuren zu flechten?
Der Wissenschaftler richtete seine Brille auf der Nase und sah zu mir. Er kam ebenfalls aus Russland und hatte an dem gestohlenen TTL gearbeitet. Dementsprechend gehörte er zu den wenigen Wissenschaftlern, die Erfolg beim Thema Zeitreisen hatten. »Es stehen noch zwei Tests aus.
Letzterer beinhaltet, einen Menschen durch die Zeit zu schicken«, sagte er mit russischem Akzent.
»Damit wir nicht irgendwo verloren gehen oder durch die Wurmlöcher zerfetzt werden, schon klar«, nickte ich unbeeindruckt. Dieses Gespräch hatte ich in der letzten Woche jeden einzelnen Tag geführt und ich wusste genau, wie die Reihenfolge war. Jetzt wurde erst noch ein Affe durch die Zeit geschickt - armes Ding - und wenn er danach keine extremen Schäden aufwies, hatte ein Mensch das Glück als Testobjekt zu fungieren.
Alina räusperte sich und senkte den Kopf. Der Wissenschaftler nickte grimmig und drehte sich von mir weg, um wieder auf seinen Monitor zu starren. Ich wusste, dass er mich nicht leiden konnte, aber das interessierte mich eigentlich auch nicht. Heute noch weniger als sonst. Er musste mich nur in die Zeit schießen und irgendwann wiederholen.
Mit verschränkten Armen lehnte ich mich an den Tisch und sah mich um. Der Raum, in dem wir uns befanden, war eher eine riesige Halle.
Eigentlich war es eine der Trainingshallen, die für dieses Experiment umfunktioniert wurde. In der Mitte stand der TTL, drum herum das Zubehör.
Die meisten dieser Dinge waren mir ein Buch mit sieben Siegeln.
Alina wandte sich wieder an mich. »Möchtest du ein wenig trainieren?«
»Nein«, sagte ich ohne Umschweife, wog im nächsten Moment aber den Kopf hin und her.
Vielleicht war das keine schlechte Idee. Vielleicht würde sie dann nicht die ganze Zeit lächeln? Ich meine, wer lächelte schon, wenn er verprügelt wurde?
Also stieß ich mich ab und ließ die Arme zu meinen Seiten fallen. »In Ordnung.«
Sie grinste erfreut und deutete mit dem Kopf in Richtung der riesigen Tür. Dahinter würde sich ein weiterer Trainingsraum befinden.
Alina lief schnurstracks darauf zu und öffnete sie. Sie ließ mir den Vortritt, um einzutreten. Ich zögerte keine Sekunde.
Ich sah mich um. Der Boden war mit unzähligen Matten ausgelegt, was meinen Blick aber anzog - oder was ihn eher nicht anzog -, war die ungewöhnliche Leere hier drinnen. Nicht ein Mensch war hier. Dabei war hier sonst immer eine Gruppe von Leuten, um diese Uhrzeit meistens welche, die sich gerade in ihrer Ausbildung befanden. Doch jetzt war es unheimlich still.
»Wir müssen trainieren«, ergriff Alina das Wort.
»Deswegen bat ich darum, dass wir, die an dem Einsatz teilnehmen, den Raum für uns haben.«
Ich nickte und trat wortlos ein. Jetzt hatte ich wirklich das Bedürfnis, meine Power an etwas auszulassen oder vorzugsweise an jemandem.
Und ein wenig war ich gespannt, wie sie in Russland kämpfen lernten und ob sie besser oder schlechter war als ich, denn ich hatte viel darüber gehört, wie besonders das Training dort war. Aber vor der grinsenden Alina Pawlowa wollte ich das nicht offenbaren.
Sie folgte mir in den Raum und streifte auf dem Weg ihre Schuhe ab. Mit gerunzelter Stirn sah ich auf ihre Füße und dann in ihr Gesicht.
»Es ist sauberer so.«
Schulterzuckend seufzte ich und streifte meine Schuhe ebenfalls ab, dann stellte ich mich in die Mitte einer Matte und sah sie auffordernd an. Wie sehr wünschte ich mir gerade, dass es Carter war, der nun vor mir stehen würde. Er hatte es verdient, wie er sich gestern verhalten hatte.
Der Ärger schien mir dir Haut schon wieder zu verbrennen. Ich musste die Hände zu Fäusten ballen. Mein Herz raste, und je länger ich an Carter dachte, desto mehr mischte sich meine Wut mit Verzweiflung und Trauer. Ich war verletzt nach dem, was er gestern gesagt hatte. Noch nie hatte er mir vorher das Gefühl gegeben, dass meine Entscheidungen wertlos waren, aber heute Nacht...