Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019) -  - E-Book

Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019) E-Book

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Beschreibung

Die Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung 1919 eröffnete den deutschen evangelischen Landeskirchen erstmalig die Möglichkeit, sich eigenverantwortlich in der Gesellschaft und gegenüber der staatlichen Politik zu positionieren. Erste Umgestaltungen der Kirchen in Hessen und Nassau nach demokratischen Prinzipien kamen im Nationalsozialismus vorerst wieder zum Abbruch. Seit 1947 spielten viele der politischen und gesellschaftlichen Debatten in der EKHN eine große Rolle, z. B. die Diskussionen um die Wieder- und Atombewaffnung unter Kirchenpräsident Martin Niemöller, der Protest gegen den Bau der Startbahn West, der sowohl Helmut Hild als auch Helmut Spengler beschäftigte, oder die Frage nach dem Umgang mit dem Islam, der sich Peter Steinacker intensiv widmete. Anhand prägnanter Positionen kirchenleitender Persönlichkeiten zeigt der Band in sechs Beiträgen, wie die Politisierung der EKHN erfolgte und wie sie auf das Selbstverständnis innerhalb der EKHN zurückwirkte, eine der politischen Landeskirchen in Deutschland zu sein.

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Gisa Bauer / Sarah Jäger

100 Jahre Selbstbestimmung der Kirchen

Die Kirchenpräsidenten der EKHN und ihre Vorläufer seit 1918/1919

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Umschlagabbildung: Reflection of stained glass on the stone floor in church. © broek188. Adobe Stock-Illustration-ID 41782106.

 

Gefördert von der Scio-Stiftung für Kirchen- und Kirchenzeitgeschichte am Helmut-Hild-Haus der EKHN.

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

ISBN 978-3-7720-8696-0 (Print)

ISBN 978-3-7720-0214-4 (ePub)

Inhalt

GeleitwortEinleitung – Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert. Geschichte einer Selbstfindung1. Kirche im Staatskirchentum2. Die Debatten um das Verhältnis von Staat und Kirche im Februar 1919 und die Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Reichsverfassung)3. Politik und Kirche: Weichenstellungen am Beginn der Weimarer Republik4. Politik und „Politisierung“5. Die Vorläuferkirchen der EKHN und die EKHN im Spiegel ihrer kirchenleitenden Persönlichkeiten6. Die kirchenleitenden Personen und Kirchenpräsidenten in den Beiträgen des Bandes7. Die Selbstwahrnehmung der EKHN als „politische Landeskirche“ und das Paradigma der Wahrnehmungsgeschichte8. Politisierung in der Bundesrepublik von den 1950er bis in die 1980er Jahre: Martin Niemöller und Helmut Hild – die beiden „politischen“ Kirchenpräsidenten9. SchlussQuellen- und LiteraturverzeichnisHessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/19 bis 1947 – Die Vorläufer der Kirchenpräsidenten: „Männer der Mitte“?1. Hinführung: Politische Kirchen – politische Kirchenleiter? 2. Prälaten, Präsidenten, Superintendenten, Bischöfe –Landeskirchliche Leitungsstrukturen in Hessen, Nassau und Frankfurt am Main und die Entwicklung hin zur Evangelischen Kirche in Nassau-Hessen2.1. Vorgeschichte und Leitungsstrukturen der Landeskirchen unter dem Summepiskopat2.2. Neue Leitungsstrukturen nach Ende des landesherrlichen Kirchenregiments3. Kirchenleitende Persönlichkeiten in Hessen, Nassau, Frankfurt am Main und Nassau-Hessen3.1. Hessen: Prälat Wilhelm Diehl (1871-1944)3.2. August Kortheuer (1868-1963) – Landesbischof der Evangelischen Kirche in Nassau3.3. Wilhelm Bornemann (1858-1946) – Vorsitzender der Landeskirchenversammlung Frankfurt am Main3.4. Johannes Kübel (1873-1953) – Präsident des Landeskirchenrates Frankfurt am Main4. Die Evangelische Kirche in Nassau-Hessen und Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich4.1. Einleitendes4.2. Biogramm: Theologe, Nationalsozialist, Bischof ohne Macht4.3. Politisches Profil: liberal, nationalsozialistisch, mittig5. Kontinuität oder Neuanfang? Die „politische Kirche“ nach 1945Quellen- und LiteraturverzeichnisMartin Niemöller (1892-1984) – Bewahrung der Schöpfung1. Einleitung2. Biographie2.1. Vom U-Boot zur Kanzel2.2. Kirchenkampf und KZ2.3. Wiederaufbau nach dem Krieg2.4. Kirchenpräsident der EKHN3. Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung3.1. Westintegration und Wiederbewaffnung3.2. Atomrüstung und Pazifismus3.3. Ökumene und Versöhnung4. Martin Niemöller und die politische EKHNQuellen- und LiteraturverzeichnisWolfgang Sucker (1905–1968) – Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“1. Einleitung2. Biographische Skizze3. „Evangelische Selbstbesinnung“ oder: die Wirkungsbereiche Wolfgang Suckers3.1. Protestantismus und Kirche in der gegenwärtigen Zeit3.2. Bildung und Pädagogik als Aufgabenfeld evangelischer Selbstbesinnung3.3. Konfessionelle Selbstbesinnung4. Wolfgang Sucker und die Politik5. Sucker und die „politische EKHN“Quellen- und LiteraturverzeichnisHelmut Hild (1921-1999) – Der Ort der Kirche in der Gegenwart1. Biographische Skizze2. Die Gegenwart als Zeit des permanenten Umbruchs3. Die Stellung der Kirche zu Staat und Öffentlichkeit, Politik und Demokratie4. Aussöhnung mit Polen und der Sowjetunion5. Südafrika6. Pfarrvikare in der DKP7. Paragraph 218 – Leben bewahren8. Der Konflikt um den Bau der Startbahn West9. Eintreten gegen die Aufrüstungsspirale10. Hild und die politische EKHNQuellen- und LiteraturverzeichnisHelmut Spengler (*1931) – Sein Konzept der „Einladenden Kirche“: Der Primat der Empathie in politisch polarisierender Zeit1. Einleitung2. Biographie3. Helmut Spengler als Kirchenpräsident3.1. Das Konzept der „einladenden Kirche“3.2. Der Brückenbauer3.3. Der Theologe4. Wesentliche politische Themen während der Kirchenpräsidentschaft Helmut Spenglers4.1. Startbahn West4.2. Kirche und Kommunismus oder: Die Ost-West-Beziehungen im Wandel4.3. Friedensbewegung und Pazifismus4.4. Pfarrer und Vikare als Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP)4.5. Anti-Apartheidskampf4.6. Feminismus und Frauenemanzipation in der Kirche5. Spengler oder: Die politische Dimension des eigentlich Unpolitischen und die „politische EKHN“ – Versuch einer EinordnungQuellen- und LiteraturverzeichnisPeter Steinacker (1943–2015) – Kirche des Dialogs1. Einleitung2. Lebenslinien3. Was das eigene Leben trägt – theologische Splitter3.1. Die Bibel3.2. Theologie und Erfahrung4. Ekklesiologische Spurensuche5. Kirche des Dialogs6. Gesellschaftliche Begegnungen6.1. Mit Richard Wagner die eigene Gegenwart besser verstehen6.2. Die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften7. Begegnung mit anderen Religionen – ein positioneller Pluralismus7.1. Verleihung des Hessischen Kulturpreises 20097.2. Begegnungen mit dem Islam – auf dem Weg zur Konvivenz8. Peter Steinacker und die EKHN als „politische Landeskirche“Quellen- und LiteraturverzeichnisVerzeichnis der Autorinnen und ...

Geleitwort

des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Kirchenpräsident Dr. Dr. h. c. Volker Jung

Menschenrechte und Religionsfreiheit, Friedensethik und Antisemitismus – das waren Themen, die neben anderen auf der 7. Tagung der 12. Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) im Frühjahr 2019 intensiv diskutiert wurden. Diese Themen lassen darauf schließen, dass für die Synode klar ist: Das Evangelium von Jesus Christus hat immer auch eine politische Dimension, weil es um alle Bereiche unseres Lebens geht.

Die verschiedenen theologischen Ansichten über das Verhältnis von Religion und Politik, von Kirche und Staat, Gemeinde und Gesellschaft füllen nicht nur Bücher, sondern ganze Bibliotheken. Die Beziehung der Kirchen zur Politik wird umso kontroverser diskutiert, je intensiver Kirchen an politischen Debatten der Gegenwart teilnehmen, sich in öffentliche Diskurse einbringen und damit Gesellschaft mitgestalten. Im öffentlichen Diskurs Position beziehen bedeutet angreifbar werden. Das hat sich in der jüngsten Zeit zum Beispiel bei eindeutigen kirchlichen Voten zur Flüchtlings- und Migrationspolitik gezeigt.

Wenn Kirche in politischen Fragen das Wort ergreift, darf sie allerdings nicht parteipolitisch agieren oder sich parteipolitisch vereinnahmen lassen. Es geht darum, eine christliche Perspektive in die Meinungsbildung einer pluralen Gesellschaft einzubringen. Deshalb muss erkennbar sein, wie das im Evangelium begründete Verständnis des Menschen und der Welt die Argumentation trägt. Es muss zudem Raum dafür bleiben, dass es auch bei gemeinsamer christlicher Sicht unterschiedliche politische Optionen geben kann. Die Balance zwischen öffentlicher Positionierung und Profilierung und überparteilicher Gemeinschaft ist eine der dauerhaften Leitungsaufgaben auf allen Ebenen der Kirche.

Die EKHN hat von ihrer Gründung an, geprägt von der starken Tradition der Bruderräte der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus und unter der Kirchenpräsidentschaft von Martin Niemöller ein ausgeprägtes Bewusstsein für öffentliche Theologie, diakonisch-gesellschaftspolitisches Engagement und reformorientierte Arbeit an den eigenen Kirchenstrukturen entwickelt.

Das vorliegende Buch zeigt eindrücklich, dass diese besonderen Anliegen in der EKHN zurückgehen bis zu der Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung. Durch diese Trennung wurden die Kirchen aus der Vormundschaft des Staates entlassen. Das war in den Kirchen zunächst mit großer Zukunftsangst verbunden. Die Erfahrungen, die in den Vorläuferlandeskirchen der EKHN während der verschiedenen politischen Systeme und Umbrüche gemacht wurden, flossen schließlich ein in eine Haltung, die gesellschaftspolitischen Herausforderungen und Veränderungen aktiv begegnete. Dabei standen auch im innerkirchlichen Diskurs immer wieder kontroverse Positionen gegeneinander.

Dieser Sammelband zeigt, dass und wie sich diese Haltung – mit zum Teil sehr unterschiedlichen Positionierungen – auch im Wirken der Kirchenpräsidenten der EKHN und ihrer Vorgänger widerspiegelt. Der Bogen reicht von dem hessischen Prälaten Wilhelm Diehl, dem nassauischen Landesbischof August Kortheuer, dem Landesbischof der nassauisch-hessischen Landeskirche Ernst Ludwig Dietrich über den ersten Kirchenpräsidenten der 1947 gegründeten EKHN Martin Niemöller bis hin zu dem bis 2008 amtierenden und 2015 verstorbenen Kirchenpräsidenten Peter Steinacker. Ihr jeweils individuelles Wirken ist immer verknüpft damit, wie die Kirche sich in den politischen Fragen ihrer Zeit engagierte und positionierte. Mit dieser Perspektive füllt das vorliegende Buch eine Lücke in der Wahrnehmung, Dokumentation und Forschung zur Geschichte der EKHN und ihrer Vorgängerlandeskirchen in Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Politik.

Ich danke allen, die zu diesem Werk beigetragen haben.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen anregenden Blick in die Vergangenheit, der dabei hilft, die Gegenwart mit ihren Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft und das eigene Handeln zu reflektieren. So trägt dieses Buch nicht nur dazu bei, den Bogen, der sich von 1919 bis in die Gegenwart spannt, in Erinnerung zu halten. Es führt ihn ebenso weiter, wie das durch Stellungnahmen, Resolutionen und kirchliches Engagement auf allen Ebenen und in den verschiedenen Gremien der EKHN geschieht. Es regt dazu an, immer wieder neu zu fragen, was im Sinne des Evangeliums gesagt und getan werden muss, damit gute Politik in der Verantwortung vor Gott und den Menschen gemacht werden kann.

Einleitung – Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert. Geschichte einer Selbstfindung

Gisa Bauer

1.Kirche im Staatskirchentum

Mit dem knappen und angesichts seiner historischen Bedeutung essenziellen Satz „Es besteht keine Staatskirche“ beendete die Weimarer Verfassung in Art. 137, Abs. 1 die Jahrhunderte währende institutionelle Verknüpfung von Kirche und Staat auf dem Gebiet des Deutschen Reichs. Am 31. Juli 1919 beschlossen, am 11. August unterzeichnet und am 14. August verkündet legte die erste demokratische Verfassung Deutschlands mit dem später so genannten „Kooperationsmodell“, dem Terminus technicus für den sprachlich unschöneren Begriff „hinkende Trennung“1, ein spezifisches Zusammenspiel von Staat und Kirche fest. Das beinhaltete zwar eine Reihe von verbindenden Elementen, löste aber rigoros das Staat-Kirche-Verhältnis auf, das in Bezug auf den Protestantismus knapp 400 Jahre zuvor begonnen hatte.

Bereits seit der Antike gab es das Staatskirchenwesen, für das die prinzipielle Übereinstimmung der religiösen Weltanschauung sowohl bei den weltlichen als auch bei den geistlichen Machthabern charakteristisch war. Die Zugehörigkeit zum Herrschaftsgebiet und die Religions- oder Kirchenmitgliedschaft waren damit weitgehend identisch. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen den Päpsten sowie den Königen und Kaisern des Heiligen Römischen Reichs um die Macht über die Kirche setzte sich im Mittelalter sukzessive das Verfügungsrecht weltlicher Herrscher über die Kirchen als Teil der Landeshoheit durch. Zwar war die Reichsgewalt auf den deutschen Gebieten zu schwach, um eine Nationalkirche wie beispielsweise in England oder Frankreich hervorzubringen, aber auch hier gab es schon vor der Reformation „Ansätze zu einem Landeskirchentum […] in denen sich der Zug zum Absolutismus zum Teil in einem recht energischen Landesherrlichen Kirchenregiment ankündigte“2. Landesherren verstanden sich durchaus als „Papst, Erzbischof, Bischof, Archidiakon und Dekan“3 in ihren Territorien, wie beispielsweise Rudolph IV. von Österreich im 14. Jahrhundert selbstbewusst proklamierte. Als Martin Luther im frühen 16. Jahrhundert das Vakuum im leitenden geistlichen Amt, das mit dem Wegfall der römischen Bischöfe und Hierarchen auf den reformatorischen Territorien entstanden war, kompensierte, griff er auf bereits bestehende Konstellationen und Regelungen zurück. Vor dem Hintergrund der grundlegenden reformatorischen Vorstellung des „allgemeinen Priestertums“ bzw. „Priestertums aller Gläubigen“ und in Akzeptanz des bereits bestehenden Rechts und der Pflicht der Landesherrn, die Herrschaft auch über die Kirche auszuüben, ebenso wie den Schutz derselben zu gewährleisten, wurde diesen die Kirchengewalt auf den jeweiligen Territorien in der Art eines „Notbischofs“ verliehen. Ein Landesherr wurde so zum „Summus Episcopus“, zum „obersten Bischof“ der Kirche auf seinem Territorium, und übernahm in Personalunion beide Funktionen, die weltliche und kirchliche Leitung seiner „Landeskirche“. Dieser so genannte Episkopalismus verband sich mit dem Territorialismus, bei dem die Kirche Teil der weltlichen Macht bzw. Teil der Staatsorganisation wurde. Die Leitung der Kirche war nun Hoheitspflicht des Staates und die „cura religionis“, die „Sorge für die Religion“, besonders im Bildungsbereich, lag in den Händen des weltlichen Herrschers. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde das Aufsichtsrecht der Landesherren festgehalten und später im Westfälischen Frieden von 1648 noch einmal vertieft bestätigt. Hier erfolgte auch die Festlegung der bereits 1555 avisierten Regelung, dass sich die Gläubigen am Status der Konfession, d.h. dem römischen Katholizismus oder dem lutherischen oder reformierten Glauben des Landesherrn zu richten hatten und andernfalls auswandern mussten. Bekannt wurde dieser Grundsatz seit Ende des 16. Jahrhunderts unter dem Schlagwort „cuius regio, eius religio“. In der Praxis kam es zwar hin und wieder zu Ausnahmen, aber das Prinzip des Staatskonfessionalismus als Vorläufer des Staatskirchentums wurde damit auf reformatorischen Gebieten mit neuer Grundlegung bestätigt. Es blieb für die evangelischen Kirchen, trotz mancher Entwicklungen im 19. Jahrhundert, die ihnen punktuell eigene Spielräume eröffneten, bis zum Ende der Monarchie und der Trennung von Staat und Kirche in der Verfassung der Weimarer Republik 1919 kirchenrechtlich in Kraft.

2.Die Debatten um das Verhältnis von Staat und Kirche im Februar 1919 und die Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Reichsverfassung)

Mit der Weimarer Verfassung fand eine Trennung beider gesellschaftlicher Sphären statt. Zwangsweise versetzte sie die evangelische Kirche bzw. die evangelischen Landeskirchen erstmals in die Lage, frei im Sinne ihrer Maßgaben und Ziele zu agieren, ohne einen anverwandten Staat an der Seite, ohne Reglements und den sich daraus ergebenden vorauseilenden Gehorsam, aber auch ohne den Schutz einer Staatskirche.

Das Verhältnis von Staat und Kirche wurde indirekt schon in der ersten Sitzung der verfassunggebenden Nationalversammlung am 6. Februar 1919 in Weimar aufgegriffen. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Friedrich Ebert, der in dieser ersten Sitzung zum ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt wurde, konstatierte in seiner Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung, „die alten gottgegebenen Abhängigkeiten“ seien für immer beseitigt.1 Mit der Wahl Eberts zum Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs kam die Souveränität des durch die Abgeordneten repräsentierten Volkes zum ersten Mal zum Ausdruck.

Eine der zentralen Gestalten im Blick auf die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche war der ehemalige Pfarrer Friedrich Naumann, der als Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) Mitglied der Nationalversammlung war, der Partei, die von liberalen Protestanten bevorzugt wurde. Naumann starb im August 1919, war aber tonangebend im „Ausschuss zur Vorberatung des Entwurfs einer Verfassung für das Deutsche Reich“ und trat in der Frage des Staatskirchenverhältnisses als Vermittler zwischen den kirchenfreundlichen Parteien und der SPD auf. Naumann sah den Staat in einer Rolle, die man später als „Kulturstaatsprinzip“ bezeichnet hat: Der Staat habe den gesellschaftlichen Kräften und Vereinigungen in ihm einen möglichst großen Freiraum zu geben. Naumanns Formel war „Selbständigkeit innerhalb der Staatshoheit“. Die Kirchen sollten ohne staatliche Bevormundung ihre Kultusaufgaben im weitesten, d.h. auch im sozialen und pädagogischen Sinne erfüllen können. Naumann sparte jedoch nicht mit Kritik an der Kirche und monierte besonders, dass sie das Jahr 1848 und dadurch ein Einüben in Demokratie versäumt habe.

Vonseiten anderer Mitglieder des Verfassungsausschusses, etwa aus der Deutschen Volkspartei (DVP), wurde an die besondere Rolle der Kirchen erinnert, die nicht mit anderen Organisationen auf eine Stufe gestellt werden sollten. Eine entsprechende Auffassung vertrat auch der als Gutachter hinzugezogene evangelische Kirchenhistoriker und Wissenschaftsorganisator Adolf von Harnack. Die römisch-katholische Deutsche Zentrumspartei strebte wie auch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) eine bevorrechtigte Stellung der Kirchen an. Die SPD zeigte sich, jedenfalls in großen Teilen, entgegenkommend und wollte einen innenpolitischen Konflikt um das Problemfeld vermeiden. Sie verzichtete zugunsten einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche auf weiterführende Maßnahmen. Das gab im Verfassungsausschuss letztlich den Ausschlag dafür, dass den Kirchen ein besonderer Körperschaftsstatus zugebilligt wurde, den aber auch andere Weltanschauungsgemeinschaften für sich in Anspruch nehmen konnten. Die Kirchen erhielten das Besteuerungsrecht. Im Gegenzug sollten nach dem Wunsch der SPD alle Staatsleistungen eingestellt werden. Das ging zwar in den Art. 173 der Weimarer Reichsverfassung ein, wurde aber nie, wie gefordert, durch ein eigenes Gesetz geregelt. De facto leisteten die deutschen Länder in der Weimarer Zeit oft beträchtliche Zuschüsse an die Kirche.

In der Frage des Körperschaftsstatus zeigte sich, dass hier für die Kirchen erhebliche Möglichkeiten lagen. Die Trennung von Staat und Kirche wurde nicht radikal vollzogen. Vielmehr wurden Staat und Kirche in ein Verhältnis gebracht, das schon bald als „hinkende Trennung“ bezeichnet wurde. Zwar war der Staat gegenüber den Kirchen neutral, doch entsprachen die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Besteuerungs- und Selbstverwaltungsrechte nicht der Vorstellung einer rein privatrechtlichen Stellung der Kirchen. Vor allem blieb es bei einer vielfältigen Verflechtung von Staat und Kirche, u.a. durch den Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten.

Die wesentlichen Bestimmungen zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung knüpften an die Verfassung der Frankfurter Paulskirche von 1848/49 an und fanden später Aufnahme im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und sogar in der ersten Verfassung der DDR von 1949. Wichtige Bestimmungen der Weimarer Verfassung sind in den Artikeln 135 bis 141 die uneingeschränkte Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Recht auf negative Religionsfreiheit, d.h. das Recht auf Austritt aus einer Religionsgemeinschaft, der schon erwähnte Körperschaftsstatus der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, ebenso die in Aussicht genommene Ablösung der Staatsleistungen, die Garantie der Sonntags- und Feiertagsruhe, das Recht auf freie Religionsausübung im Heer, in Krankenhäusern und in Gefängnissen.

Die nächsten Verfassungsartikel befassten sich mit dem Schulwesen. Daraus resultierten in den folgenden Jahren die meisten Konflikte zwischen Staat und Kirche, obwohl im Juli 1919 mit knapper Mehrheit ein Kompromiss verabschiedet wurde, der drei Typen von Volksschulen und die Ausarbeitung eines Reichsschulgesetzes vorsah. Letzteres sollte die Fragen genauer regeln. Es wurde aber nie verabschiedet und blieb in der gesamten Weimarer Zeit auf der politischen Agenda.

Mit Art. 137, Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung als Rüstzeug, in dem jeder Religionsgemeinschaft zugestanden wurde, ihre Angelegenheiten innerhalb der allgemeinen Gesetze selbständig zu ordnen und zu verwalten und ihre Ämter selbst zu benennen und zu verleihen, begannen die evangelischen Landeskirchen mit ihrer eigenen Neuorganisation. Dabei spielten zwei Fragen eine besondere Rolle: zum ersten die nach „Unionen“, die die evangelischen Kirchen angesichts der neuen, teilweise als Bedrohung empfundenen Situation stärken sollten, und zum zweiten die nach der Leitung der Kirchen nach dem Wegfall des Summepiskopats auf Grund der Absetzung der jeweiligen Landesfürsten.

3.Politik und Kirche: Weichenstellungen am Beginn der Weimarer Republik

Es wird sich im Folgenden zeigen, dass die Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, entgegen manchem zeitgenössischen Empfinden nicht zum Niedergang des Protestantismus führte. Im Allgemeinen verstellt der Umstand, dass sich die damalige Mehrheit evangelischer Christen im deutschnationalen Sektor des Parteien- und Milieuspektrums finden ließ und dementsprechende Berührungsängste mit der Weimarer Demokratie hatte, den Blick auf den kirchlichen Nutzen der Freiheit vom Staat. In der Tat waren die Art und Weise des Kriegsendes samt der existenziellen Notlage sowie der Beginn der Demokratie in einer Revolution, die Assoziationen zu zeitgleich verlaufenden extrem gewaltsamen, antichristlich agierenden politischen Umwälzungen in anderen Staaten weckte, weiterhin die Neuerungen der Weimarer Verfassung bis hin zu Details wie das erstmalig garantierte Recht auf Kirchenaustritt, das sofort die ersten großen Kirchenaustrittswellen nach sich zog, und der generell grassierende Kulturpessimismus, bei dem das Schlechte noch schlechter geredet und die Welt im Chaos ohne Gottesfurcht und Vaterlandsliebe gesehen wurde – all das war nicht dazu angetan, die (ehemaligen) Anhänger der Monarchie in den Kirchen für die neuen Verhältnisse zu begeistern. Nichtsdestoweniger nutzten die evangelischen Kirchen, wenn auch zunächst schwerfällig und ängstlich, so doch zunehmend geschickt, die neuen Spielräume. Dazu gehörte auch die Möglichkeit, Politik zu betreiben und zur Politik Stellung zu nehmen.

Bereits im Vorfeld der Wahlen zur Nationalversammlung loteten die Kirchen aus, welche Parteien zu ihrem Vorteil agieren würden. Es zeigte sich, dass sich vor allem die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die von Friedrich Naumann geprägte Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) auf die Seite der evangelischen Kirche stellten bzw. deren Interessen aufnahmen. Die neu gegründete DNVP war schon ihrem Namen nach national und wollte die politischen Veränderungen in Grenzen halten. Den Versailler Vertrag lehnte sie radikal ab. Dass sie Jahre später eng an die Nationalsozialisten heranrücken sollte, war zu dieser Zeit noch nicht erkennbar. Die reformfreudige DDP war die Partei der liberalen Protestanten, die in sie eintraten oder für sie Wahlwerbung machten. Die SPD dagegen fand unter engagierten Christen und Theologen bis auf die kleine Gruppe der religiösen Sozialisten fast keinen Zuspruch. Durch das Frauenwahlrecht erschloss sich den Kirchen eine neue und vorwiegend konservative Klientel, zumal viele Frauen durch Stellungnahmen kirchlicher Frauenvereine in ihrem Wahlverhalten beeinflusst wurden.

Auf den Versuch, eine evangelische Partei nach dem Vorbild der katholischen Zentrumspartei zu gründen, verzichtete man weithin. Entsprechende Anläufe waren schon im Kaiserreich gescheitert. Dezidiert evangelische Parteien erreichten in der Zeit der Weimarer Republik kaum mehr als 1 % der Wählerstimmen und blieben kurzlebige Erscheinungen wie die 1928 gegründete Deutsche Reformationspartei. Auch Brückenschläge zur Zentrumspartei verliefen im Sand, obwohl es durchaus Stimmen im Zentrum gab, die dafür plädierten, sich verstärkt protestantischen Wählern zu öffnen. Erst die Gründung der CDU nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte eine enge Zusammenarbeit christlicher Politiker der beiden großen Konfessionen.

Hauptsächlich über die DNVP und teilweise die DDP agierten Vertreter der evangelischen Kirche, die sich nicht direkt an die Parteien band oder ihre offizielle politische Neutralität aufgab. Obwohl sich die Kirche angesichts der weltpolitischen und innerdeutschen Entwicklungen zu langsam von den politischen Vorstellungen des Kaiserreichs löste, fand relativ rasch ein Prozess der Politisierung der Kirche statt. An dieser Stelle setzt das vorliegende Buch ein.

4.Politik und „Politisierung“

Die folgenden Beiträge zeigen, wie drei deutsche Landeskirchen, die Vorläuferkirchen der EKHN, mit der neuen Situation umgingen, vor die sie die Weimarer Verfassung stellte, weiterhin wie die Evangelische Kirche Nassau-Hessen politisch im Nationalsozialismus agierte sowie die EKHN nach 1945. Es wird also diejenige der heutigen evangelischen Landeskirchen herausgegriffen, die sich selbst „seit jeher als eine streitbare fromme und politische Kirche“1 versteht, wie es auf der Homepage der EKHN unter der Darstellung ihrer Geschichte heißt. Das Grundmotiv der Politisierung einer Landeskirche, das diesen Band durchzieht, ist nicht nur, aber besonders ausgeprägt bei der EKHN zu finden. Sie steht an dieser Stelle paradigmatisch für den Umgang von evangelischen Landeskirchen mit Politik und für eine grundätzliche landeskirchliche Haltung zur Politik. In den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Bandes, die jeweils mehreren kirchenleitenden Personen oder einem Kirchenpräsidenten zugeordnet sind, werden die spezifischen politischen Attitüden von links bis rechts, von progressiv bis konservativ, dezidiert mit tagespolitischen Ereignissen beschäftigt oder eher mit den kirchenpolitischen Gemengelagen in Folge gesellschaftlicher Veränderungen befasst, behandelt und erörtert. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass politisches Handeln keineswegs nur das staatliche Vorgehen umfasst, sondern sich auf ganz verschiedene Lebenszusammenhänge bezieht und unterschiedliche Träger hat.2 Somit ist das öffentliche Agieren kirchenleitender Gremien und Persönlichkeiten gleichermaßen „Politik der Kirche“ als auch innerkirchliche „Kirchenpolitik“. Beide Aspekte, die im Grundverständnis von Theologie und Kirche eng verbunden sind mit Moral und Ethik, betreffen zentral politisches Handeln.

„Politisierung“ meint das zunehmende Interesse von Kirchenmitgliedern und Kirchenleitungen an den öffentlichen Angelegenheiten, an politischen Entscheidungen, an der Staats- und Parteienpolitik, aber auch „eine gewachsene politische Teilhabe jenseits der Partizipationsmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie – also etwa in Gestalt von Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Hausbesetzungen o.ä.“3 Letzteres betrifft besonders die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat aber auch in der ersten Hälfte Relevanz. In der aktuellen historischen und kirchenhistorischen Forschung ist es unstrittig, dass die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt war von einer zunehmenden Politisierung der evangelischen Kirche. Was allerdings bisher noch nicht erschöpfend analysiert wurde ist der Zusammenhang der Vorstellung von „Politisierung“ mit spezifisch linkspolitischen oder progressivem politischen Handeln und der damit verbundenen, meist nur indirekt erschließbaren Konklusion, dass konservative oder staatskonforme Politik keine Formen von „Politisierung“ evoziere.

Die Konnotation von „Politisierung“ als „linke Politik“ findet sich schon in den 1950er Jahren und zieht sich durch die gesamten 1960er und 1970er Jahre bis in gegenwärtige rückblickende Bewertungen dieser Zeit. Der Historiker Stephan Linck konstatiert in seiner zweibändigen Untersuchung über den Umgang der Landeskirchen Schleswig-Holstein und Hamburg nach 1945 mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit, dass „Politisierung“ „spätestens ab 1968 zur festen Chiffre für linksprotestantische Strömungen [wurde], die innerhalb der Evangelischen Kirche vermehrt auftraten“, und dass in Reaktion darauf „eine konservative Gegenbewegung innerhalb der Kirche [entstand], die sich gegen eine ,Politisierung der Kirche‘ wandte, sie aber gleichwohl selbst betrieb.“4 An anderer Stelle verweist Linck darauf, dass die Vorstellung von Politik als „regierungskritisches Handeln“, bei der die eigene Nähe zu Parteien wie der CDU oder zur Regierungspolitik nicht als politisches Agieren wahrgenommen wurde, „tief in vordemokratischem Denken“ wurzelte,5 und, das wäre zu ergänzen, paradoxerweise den dadurch repräsentierten Formen von Politik das „Politische“ abspricht.

Die polarisierende Wahrnehmung einer „linken“, d.h. politisierenden oder politischen Kirche, und einer Kirche, die sich „nur“ „auf ihren Verkündigungsauftrag besinnt“, d.h. einer vermeintlich unpolitischen Kirche, zieht sich bis heute durch die Debatten. „Als zeitgenössischer Kampfbegriff“ besaß der Terminus „Politisierung“, wie Sven-Daniel Gettys, Autor eines Beitrags zu den Politisierungsdiskursen in protestantischen Zeitschriften um 1967/68 beschreibt, „ein außerordentlich hohes Konfliktpotenzial“ 6. Seine ursprüngliche Bedeutung, so Gettys weiter, weiche „von seiner heutigen Verwendungsweise ab, insofern diese überhaupt reflektiert wird.“7 Besonders Letzteres ist auch innerhalb der zeithistorischen Kirchengeschichtsforschung nicht unproblematisch. Das fehlende Bewusstsein davon, dass das In-eins-Setzen von „Politisierung“ und „linker Politik“ eine Position ist, die eine Haltung in der Auseinandersetzung um die Politisierung der Kirche in den 1960er und 1970er Jahren darstellte, signalisiert weitgehendes Fehlen einer wissenschaftlich angezeigten Distanz zum behandelten Sujet.

In diesem Band wird der Begriff des Politischen und damit der Politisierung im oben genannten Verständnis jenseits des politischen Inhaltes, d.h. unabhängig von linker oder rechter bzw. konservativer Politik verwendet.

Auf die einzelnen Politisierungsschübe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen werden. Meist wird bei Betrachtungen der Zunahme politischen Interesses und politischer Partizipation des Protestantismus die „longue durée“, die „lange Dauer“, die sich von der Trennung von Staat und Kirche 1918/19 an erstreckt, nahezu gänzlich vernachlässigt, der Zusammenhang von Politisierungsprozessen vor 1933 und nach 1945 kaum beachtet. Zu stark werden noch in kirchenhistorischen Studien der Nationalsozialismus und seine Implikationen für die evangelische Kirche in Deutschland als Zäsur verstanden.8 Es ist richtig, dass die evangelischen Kirchen durch die Einführung einer nationalsozialistisch gleichgeschalteten Reichskirche dem Staat derartig bei- und untergeordnet wurden, dass sich ihr autonomer politischer Aktionsradius nahezu gänzlich auflöste. Trotzdem bietet sich der Blick auf die langfristigen Entwicklungslinien bei der Frage nach der kirchlichen Politisierung an, denn mit dem Auseinandergehen von Staat und Kirche setzte die eigenständige Beschäftigung der Kirche mit Politik ein. Sie begann zwangsläufig 1918/19, da die Kirche seit diesem Zeitpunkt gezwungen war, eine eigenständige Haltung zur Politik an den Tag zu legen sowie staatsunabhängiges, in diesem Sinne autonomes politisches Handeln zu definieren und zu entwickeln.

Gemäß diesen Überlegungen spannt die Anlage dieses Bandes den Bogen der Betrachtung von der Trennung von Staat und Kirche mit der Weimarer Verfassung 1919 bis zum Wirken des vorletzten Kirchenpräsidenten der EKHN am Beginn des 21. Jahrhunderts unter Einbeziehung der Zeit zwischen 1933 und 1945. Durch die diachrone Reihung der Beiträge in diesem Band entsteht ein Bild, das erkennen lässt, wie sich die EKHN seit 1919 „idealtypisch“ politisierte und wie ihre kirchenleitenden Persönlichkeiten in den Politisierungsprozessen agierten und auf die Herausforderungen der verschiedenen politischen Systeme reagierten.

5.Die Vorläuferkirchen der EKHN und die EKHN im Spiegel ihrer kirchenleitenden Persönlichkeiten

Die durch die kirchenleitenden Persönlichkeiten repräsentierten politischen Haltungen und Praktiken waren natürlich persönlich-individuell geprägt. Sie bilden aber zugleich Frömmigkeitsstile, Mentalitäts- und Milieuprägungen und damit aufs engste gekoppelt politische Positionen der Mitglieder bzw. von Gruppen der Mitglieder der jeweiligen Landeskirchen ab. Die im Fokus der Betrachtung stehenden Kirchenpräsidenten und ihre Vorgänger im Leitungsamt, bisher allesamt Männer, werden nicht als Einzelpersonen unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses auf die Landeskirche betrachtet, sondern als gewählte Repräsentanten mindestens eines Lagers, wenn nicht der gesamten Landeskirche. Dies gilt insbesondere für die Zeit seit 1947, da die EKHN auf Grund der Erfahrungen im Nationalsozialismus in ihre Strukturen „bruderrätliche“ Elemente einfügte, von denen demokratisierende Effekte ausgingen. Der Landesbischof – in der EKHN bewusst „Kirchenpräsident“ betitelt – wurde in der Kirchenleitung in ein kollegiales Gremium eingebunden. Der Kirchenleitung stand bis 2010 das „Leitende Geistliche Amt“ als Organ zur Seite, das eine gewisse geistliche Kontrollfunktion gegenüber der Kirchenleitung hatte.

Die Mitglieder der Kirchenleitung wiederum werden grundsätzlich von der Kirchensynode gewählt und beauftragt. Der Synode steht ein Präses vor, der in vielen Fällen eine ebenso große Öffentlichkeitswirksamkeit wie der Kirchenpräsident ausstrahlt. Seit den 1970er Jahren kam in Form weiterer demokratischer Ausdifferenzierungen die Bildung von dauerhaften Ausschüssen der Synode hinzu, die eine kontinuierliche synodale Arbeit gewährleisten und das System der „checks and balances“ in der EKHN verstetigen.

Aber auch in den hierarchischen und patriarchalischen Vorläuferkirchen der EKHN in der Weimarer Republik waren die kirchenleitenden Personen von den Landeskirchentagen gewählte Vertreter ihrer Kirchen, die Positionen und Haltungen ihrer Kirchen eher repräsentierten, als dass sie sie formten.

Vor diesem Hintergrund versteht der vorliegende Band die kirchenleitenden Personen und Kirchenpräsidenten als Spiegel der Politisierungsprozesse in der gesamten Landeskirche. Die methodische Anlage dieses Bandes ist somit an dem grundlegenden Strukturprinzip der heutigen Landeskirche orientiert, gemäß dem die Leitung der Landeskirche von den Gemeinden geprägt wird.

6.Die kirchenleitenden Personen und Kirchenpräsidenten in den Beiträgen des Bandes

In dem Aufsatz von Julia Csehan und Malte Dücker wird der Fokus auf „Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/19 bis 1947 – Die Vorläufer der Kirchenpräsidenten“ gelegt und zwar diejenigen der drei Vorläuferlandeskirchen der EKHN in der Zeit der Weimarer Republik, die Evangelische Landeskirche von Hessen, die Evangelische Landeskirche von Nassau und die Evangelische Landeskirche von Frankfurt am Main, sowie der Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen im Nationalsozialismus. Im Hinblick auf die kirchenleitenden Persönlichkeiten in der Weimarer Republik gehen Csehan und Dücker der Frage nach, ob es „Männer der Mitte“ waren. Erörtert wird das Wirken von Wilhelm Diehl, der von 1923 bis 1934 der Evangelischen Landeskirche von Hessen als Prälat vorstand, und von August Kortheuer, dem Landesbischof der Evangelischen Landeskirche von Nassau in der Zeit von 1925 bis 1933. Beispielhaft für die Evangelische Landeskirche von Frankfurt am Main, die eine „verwaltungstechnisch vielfältige Situation“ aufwies, stellen Csehan und Dücker das Engagement des Präsidenten der Landeskirchenversammlung Wilhelm Bornemann von 1925 bis 1933 dar und das des seit 1925 nebenamtlichen und seit 1932 hauptamtlichen Kirchenrats und Vorsitzenden des Frankfurter Landeskirchenrats Johannes Kübel. So verschieden die politischen und kirchenpolitischen – von den theologischen ganz zu schweigen – Haltungen der Genannten auch waren, so deutlich wird, dass bereits in den Anfangsjahren der Weimarer Republik die Landeskirchen politisch agierten. Nicht zuletzt wurde über die kollegial aufgestellten „Geistlichen Leitungen“ versucht, Befugnisse der kirchenleitenden Einzelpersonen einzuschränken und demokratische Strukturen einzuführen. Mit den politisch motivierten direkten Eingriffen der Nationalsozialisten in die Kirche und dem Beginn des Aufbaus einer Reichskirche wurden diese Organisationsformen wieder zunichte gemacht.

Ein Ergebnis der Gleichschaltung war die Fusion der drei Landeskirchen zur Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen Ende 1933, Anfang 1934. Überlegungen zu einer solchen Vereinigung gab es bereits seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Sie wurden jedoch erst durch die nationalsozialistische Kirchenpolitik des aus Hessen stammenden Rechtswalters der Deutschen Evangelischen Kirche, August Jäger, mit Unterstützung der Deutschen Christen umgesetzt. Im Anschluss an die Fusion wurde Ernst Ludwig Dietrich als Landesbischof der neu gegründeten Landeskirche installiert. Er verlor allerdings mit der direkten Unterstellung der Landeskirche unter die Deutsche Evangelische Kirche schon ein Jahr später weitgehend seine Amtsbefugnisse, ebenso wie der Kirche die Souveränität und die politischen Handlungsspielräume massiv beschnitten wurden.

Nachdem die Kirche nach Kriegsende unter alliierter Kontrolle wieder in ihre ursprünglichen Teile zerfallen war, beschloss der gemeinsame Kirchentag im September 1947 den Zusammenschluss unter dem Namen Evangelische Kirche von Hessen und Nassau. Gleichzeitig wählte der Kirchentag den ehemaligen KZ-Häftling und „persönlichen Gefangenen“ Adolf Hitlers, den aus Westfalen stammenden Pastor Martin Niemöller, zum ersten Kirchenpräsidenten.

In Jan Schuberts Beitrag „Martin Niemöller (1892-1984) – Bewahrung der Schöpfung“ steht das Leben und Wirken Niemöllers im Mittelpunkt, der wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen das politische Profil nicht nur der EKHN, sondern der evangelischen Kirchen in Deutschland überhaupt prägte. Für Niemöller war das Fazit aus seinen Erlebnissen und Erkenntnissen im Kirchenkampf, dass die Kirche im Nationalsozialismus versagt habe, weil sie sich nicht in die Politik eingemischt, sondern „geschwiegen“ habe. Das grenzte ihn scharf ab von anderen ehemaligen Mitstreitern aus den Reihen der Bekennenden Kirche, die argumentierten, die Kirche habe versagt, weil sie „zu politisch“ geworden sei, wie das Beispiel der Deutschen Christen gezeigt habe.

Mit Niemöller erhielt die EKHN eine der profiliertesten, politisch engagiertesten kirchlichen Führungspersonen der Nachkriegszeit als Kirchenleiter, mit einer derartigen Wirkung, dass sie in Folge immer wieder auch als „Niemöller-Kirche“ bezeichnet wurde. Die historische Zäsur für die EKHN im Jahr 1947 ergab sich nicht nur aus dem endgültigen Zusammenschluss der drei Vorgängerkirchen, sondern auch durch die theologisch-politische Prägung Niemöllers, der sowohl 1945 am „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ maßgeblich beteiligt war als auch 1947 am „Darmstädter Wort“. Er setzte sich in den folgenden Jahren national wie international für Versöhnung und Ökumene, für Frieden, gegen atomare Aufrüstung und für die Bewahrung der Schöpfung ein – oft und öffentlichkeitswirksam auch gegen Widerstand der politischen Führung der Bundesrepublik.

Als Niemöller 1964 seinen vorzeitigen Rücktritt als Kirchenpräsident einreichte, folgte ihm sein Stellvertreter Wolfgang Sucker im Amt. In dem Aufsatz „Wolfgang Sucker (1905-1968) – Kirche herausgefordert zur ,Evangelischen Selbstbesinnung‘“ schildert Gisa Bauer das Aktionsspektrum und die theologischen Hintergründe des in der EKHN eher als unpolitisch erinnerten Kirchenpräsidenten Wolfgang Sucker, der sich intensiv mit der säkularen Welt auseinander- und seine Kirche zu ihr ins Verhältnis setzen wollte. Im Diskurs mit dem Katholizismus seiner Zeit, der durch das Zweite Vatikanische Konzil selbst ein neues Verhältnis zur „Welt“ entwickelte, rief Sucker zur „Reformation in der Gegenwart“ und zur „evangelischen Selbstbesinnung“ auf. Der innerevangelischen Zersplitterung könne, so Sucker, nur ein „evangelisches Konzil“ wehren – die EKD sah er dazu nicht in der Lage. Obwohl Sucker im Verhältnis zu Niemöller kaum als politisch aktiver Kirchenpräsident galt, sah er den gesamten „Dienst der Christen“ als „politischen Dienst“ an und erweiterte damit das Verständnis von Politik.

Nach Suckers unerwartetem, frühem Tod 1968 wurde Helmut Hild zum Kirchenpräsidenten der EKHN gewählt. Wie Ute Dieckhoff in der Untersuchung „Helmut Hild (1921-1999) – Der Ort der Kirche in der Gegenwart“ ausführt, sah Hild die Kirche in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Kontext vor zwei wesentliche Aufgaben gestellt: Zum einen der angsterfüllten und bedrohten Welt Hoffnung zu geben und zum anderen eine zeitbezogene Ethik zu erstellen, die Orientierung für die wissenschaftlich-technische Welt biete. Für Hild schlug sich christliche Nächstenliebe unter anderem in dem Bemühen um die Gesellschaft und in politischer Verantwortung nieder. Ähnlich wie sein Amtsvorgänger Sucker sah er in politischem Engagement keine private Beschäftigung, sondern eine Christenpflicht. Eine spezielle Rolle im öffentlichen politischen Diskurs spielten für Hild die Medien mit ihrer Darstellung extremer, polarisierender Positionen. Hild war einer der profiliertesten Vertreter des Protestantismus in den 1980er Jahren. Er engagierte sich in der Versöhnung Westdeutschlands mit Polen und der Sowjetunion – auch an diesem Punkt ähnelte er Niemöller – und vertrat Willy Brandts Ostpolitik. Er lehnte die Aufrüstungsspirale im Kalten Krieg ab und bezog Stellung in den Debatten um die Reform der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch („§ 218“), um die Bekämpfung des Rassismus – in seine Amtszeit fiel die Unterstützung des Antirassismusprogramms und des „Sonderfonds“ des ÖRK –, um Pfarrvikare in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und um den Bau der „Startbahn West“ des Frankfurter Flughafens.

Die drei letztgenannten Themen bestimmten ebenfalls wesentlich die Amtszeit des auf Hild folgenden Kirchenpräsidenten, des ehemaligen Stellvertretenden Kirchenpräsidenten Helmut Spengler. Der Beitrag von Gisa Bauer und Anette Neff„Helmut Spengler (*1931) – Sein Konzept der ,Einladenden Kirche‘: Der Primat der Empathie in politisch polarisierender Zeit“ widmet sich dem Engagement des pietistisch sozialisierten und häufig als „Pietist“ bezeichneten Kirchenpräsidenten seit 1985. Spengler entzog sich politischen und kirchenpolitischen Festschreibungen, da sein Augenmerk dem individuellen Menschen galt. Das schlug sich in der Schwerpunktsetzung seines Wirkens auf Seelsorge, Verkündigung und Psychologie nieder. Theologe zu sein bedeutete für Spengler im Kern „Menschen zu verstehen“, und Politik hatte ebenso wie Kirche – die eine „einladende Kirche“ sein sollte – für ihn eine dienende Funktion für den Menschen. Spengler war stets eine moderierende, abwägende Stimme in den politischen Polarisierungen der 1980er und frühen 1990er Jahre. Konkret zeigten sich diese politischen Frontstellungen für den Kirchenpräsidenten im Anti-Apartheitskampf, in der Problematik der DKP-Pfarrer und -Vikare, bei den Kontroversen um den Bau der „Startbahn West“ – die Themenfelder, mit denen sich bereits Helmut Hild auf seine Art auseinandergesetzt hatte – sowie in der Ablehnung der Aufrüstung und dem Ausgleich zwischen Ost- und West, in der Friedensbewegung und bei der Implementierung von Zielen der Frauenbewegung in der Kirche.

Der Aufsatz basiert im Wesentlichen auf einem mehrteiligen, umfangreichen Zeitzeugeninterview von Anette Neff mit dem ehemaligen Kirchenpräsidenten in den Jahren 2002/03. Im Gegensatz zu der opulenten Forschungsliteratur über Martin Niemöller und der (punktuell) bestehenden Literaturgrundlage zu Wolfgang Sucker und Helmut Hild gibt es zu Spengler noch keine wissenschaftlichen Studien, so dass das Manuskript des Zeitzeugengesprächs vorerst die wesentliche Basis historiographischer Forschung zu Leben und Wirken dieses Kirchenpräsidenten ist. Ebenfalls eine erste Annäherung an Leben und Wirken eines Kirchenpräsidenten stellt der Aufsatz zu Peter Steinacker dar, dem Nachfolger von Helmut Spengler. Zu weiteren Untersuchungen der beiden Kirchenpräsidenten sei an dieser Stelle ausdrücklich aufgerufen.

In dem Untersuchungsbeitrag „Peter Steinacker (1943-2015) – Kirche des Dialogs“ nähert sich Sarah Jäger unter systematisch-theologischen, weniger kirchenhistorischen Gesichtspunkten dem Wirken des vorletzten Kirchenpräsidenten der EKHN. Dieses Vorgehen nimmt methodisch den Kern von Steinackers Engagement als Kirchenpräsident auf: sein theologisches Wirken. Weiterhin ergibt sich die Konzentration auf Steinackers systematisch-theologische Arbeit aus dem Umstand, dass seine Kirchenpräsidentschaft auf Grund der großen Nähe zur Gegenwart unter historischen Gesichtspunkten im Hinblick auf ihre Wirkungen momentan noch schwer einzuordnen ist.

Deutlich tritt in dem Beitrag hervor, dass im Zentrum von Steinackers theologischem Ansatz die Klärung der ekklesiologischen Frage nach dem Grund der Kirche steht – in seiner Amtszeit wurde der Slogan „Evangelisch aus gutem Grund“ entwickelt –, nach ihrem Verhältnis zur Welt und wie die Kirche „ins gesellschaftliche Handeln kommen könnte“. Darüber hinaus war ein zentrales Element von Steinackers theologischer Beschäftigung der Islam, als Religion an sich und als gelebte Religion neben dem Christentum in Deutschland. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich Steinacker intensiv u.a. mit dem sogenannten „Kruzifix-Urteil“ in Bayern 1995, mit der Vierten EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft, mit Fragen des Umgangs mit dem Islam, mit tagesaktuellen ethischen Problemfeldern und mit den innerkirchlichen Debatten um Homosexualität. Als dezidiert politisch wurde Steinacker eher nicht wahrgenommen und so sah er sich selbst nicht. Aber wie seine Vorgänger betrachtete auch er politisches Engagement als gesellschaftliche Teilhabe, als Verantwortungsübernahme für die Fragen der Zeit und damit als Herausforderung für Kirche und Christentum.

7.Die Selbstwahrnehmung der EKHN als „politische Landeskirche“ und das Paradigma der Wahrnehmungsgeschichte

Die Selbstwahrnehmung innerhalb der EKHN, eine dezidiert oder im besonderen Maße „politische Landeskirche“ zu sein, ist Bestandteil der Identität der hessen-nassauischen Kirche. Der Themenbereich der Selbstcharakterisierung berührt eine in der Geschichtswissenschaft noch sehr junge und bisher kaum profilierte historiographische Perspektive: die Wahrnehmungsgeschichte als Teil der Kulturgeschichte, die sich aus einer sinnlich verstandenen Wahrnehmungsgeschichte entwickelte, wie sie teilweise in der Kunstgeschichte praktiziert wird. Wahrnehmungsgeschichtsschreibung fokussiert darauf, was von Menschen und Personengruppen wahrgenommen wird, was Zeitgenossen beobachten und wie sie die Beobachtung deuten, was empfunden wird und inwieweit Wahrnehmungen und deren Verarbeitung Auswirkungen auf die Ebene der Ereignisse haben.1 Wahrnehmungsgeschichte ist ganz und gar subjektiv, d.h. Geschichte der Deutungen und der individuellen Inanspruchnahmen der Welt durch den Wahrnehmenden. Sie fokussiert nicht und sie basiert nicht auf den Realien, Fakten oder „Tatsachen“, sondern auf deren Wahrnehmungen. Demnach ist Wahrnehmungsgeschichte keine Mentalitätsgeschichte, keine Rezeptionsgeschichte, keine Ideen- oder Begriffsgeschichte, sondern prägender Vorlauf derselben – eine eigene Gattung innerhalb der Gliederung historiographischer Zugriffe, Paradigmen oder Methoden.

Das Phänomen der EKHN als „politische Landeskirche“ lässt sich in einer dezidiert als Wahrnehmungsgeschichtsschreibung angelegten Betrachtung prototypisch auffangen. Das kann an dieser Stelle noch nicht geleistet, aber es soll darauf hingewiesen werden. Dazu bedürfte es weiterer Forschung, bei der die zielführende Fragestellung nicht ist, welche politischen Haltungen in der EKHN und speziell von ihrer Kirchenleitung präsentiert werden, sondern wie diese wahrgenommen und in die eigene Identität integriert werden.

8.Politisierung in der Bundesrepublik von den 1950er bis in die 1980er Jahre: Martin Niemöller und Helmut Hild – die beiden „politischen“ Kirchenpräsidenten

Jenseits einer Wahrnehmungsgeschichte ist auffällig, dass es gerade die beiden „politischen Kirchenpräsidenten“ der EKHN, Martin Niemöller und Helmut Hild, waren, die jeweils über 15 Jahre in ihren Kirchenleitungspositionen wirkten. Im Sinne der eingangs dargestellten Funktion der Kirchenpräsidenten als Spiegel der gesamten Landeskirche und deren Haltungen, politischen Positionen und frömmigkeitsspezifischen Festlegungen kann es durchaus als ein Ausdruck der politischen oder „politisierenden“ Mentalität(en) innerhalb der EKHN gewertet werden, dass sich die Landeskirche für eine vergleichsweise lange Zeit für Vertreter eines ausdrücklich politischen Agierens der Kirche als Kirchenpräsidenten entschied.

Darüber hinaus haben Niemöller und Hild jeweils zwei Schübe der Politisierung in der Bundesrepublik begleitet und sogar vorantrieben. Die Politisierungsperioden im Protestantismus in Westdeutschland nach 1945 bis in die 1980er Jahre lassen sich mit Detlef Siegfried, Zeithistoriker an der Universität Kopenhagen, in vier Phasen einteilen:1

Die „Inkubationszeit einer demokratischen politischen Kultur“2 in den 1950er Jahren, mit ersten Diskursfeldern der Zivilgesellschaft im Zeichen des Antikommunismus. Von einer „eigentlichen“ Politisierung kann hier noch keine Rede sein, da sie eher „von oben“, d.h. kirchenamtlich verordnet, erfolgte.

Der erste Politisierungsschub innerhalb der Kirchen war der Durchbruch von „Zeitkritik“ und von Reformen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre.

Der folgende Politisierungsschub in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren war ein Engagement- und gleichzeitig Polarisierungsschub. Bis 1960 hatten sich 30 % der Bundesbürger als politisch interessiert beschrieben, 1973 waren es 50 %,3 1983 57 %.4 Dieses sprunghaft gestiegene Interesse an Politik und die damit einhergehende politische Partizipation zeigte sich nicht zuletzt in den Kirchen.

Der Ausbau partizipatorischer Demokratie in den 1970er und 1980er Jahren und die gleichzeitige partielle „Rücknahme des Demokratisierungsversprechens“5. Ausschlaggebend waren für diesen vierten Politisierungsschub die sogenannten „neuen sozialen Bewegungen“, die auch in die Kirchen Einzug hielten oder sich teilweise aus ihnen heraus entwickelten.

Bei der Übertragung dieser Politisierungsphasen auf die Amtszeiten der Kirchenpräsidenten der EKHN fällt ins Auge, dass in die Zeit des Wirkens von Martin Niemöller der erste und zweite Politisierungsschub fallen. Da sein Nachfolger Wolfgang Sucker lediglich vier Jahre Kirchenpräsident war, kommt dessen Schaffen, auch wenn es in eine der politisch am meisten aufgeladenen Epochen der Bundesrepublik fällt, keine weitreichendes Gewicht zu – im Gegensatz zu dem von Helmut Hild, der die folgenden beiden Politisierungsschübe in seiner Amtszeit erlebte. Die vierte Politisierungsphase betraf zu einem Teil auch noch die Kirchenpräsidentschaft von Helmut Spengler. Die zweite Hälfte der 1980er Jahre stand bereits im Schatten des politischen Ereignisses der 1980er und 1990er Jahre, das aber weniger für Westdeutschland als für Ostdeutschland einen enormen Politisierungsschub bedeutete: dem Ende der DDR und des gesamten Ostblocks sowie der deutschen Wiedervereinigung. Somit erlebten Niemöller und Hild als „politische Kirchenpräsidenten“ alle markanten Umbrüche der Politisierung in Westdeutschland und gestalteten diese aktiv mit. Das war ein wesentlicher Faktor für die Prägung der EKHN als „politische Landeskirche“.

9.Schluss

„Politisierung“ bedeutete für die evangelischen Kirchen in Westdeutschland die Entwicklung eigener, durchaus divergierender Haltungen zu politischen, gesellschaftlichen, sozialen und ethischen Fragestellungen und damit eine Zunahme der Kontroversen. Dieser Umstand gerät immer wieder in die innerkirchliche Kritik, die Politisierung und Pluralismus als eminente Gefahr für die Kirche identifiziert. Darüber hinaus wird Politik in, mit und durch die Kirche immer wieder als Missachtung der „eigentlichen“, der Verkündigungsaufgabe von Kirche angeprangert. Eine solche Perspektive auf politische Teilhabe verstellt den Blick auf mögliche Implikationen eines gegenteiligen Verhaltens: der sektiererische, selbstgettoisierende Rückzug aus der Gesellschaft. Die in diesem Band dargestellten kirchenleitenden Persönlichkeiten, die zu einem wesentlichen Teil die Identität der EKHN abbilden, hätten das auf je eigene Weise als ein Verfehlen der Aufgaben von Kirche und Kirchenleitung bezeichnet.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Die Geschichte der EKHN, www.ekhn.de/ueber-uns/geschichte.html (15.3.2019).

Gajek, Eva Maria / Lorke, Christoph (Hg.): Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945. Frankfurt am Main 2016.

Gettys, Sven-Daniel: Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967/68), in: Fitschen, Klaus / Hermle, Siegfried / Kunter, Katharina / Lepp, Claudia / Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 221-242.

Honecker, Martin: Politik und Christentum, in: TRE 27 (1997), 6-22.

Kundrus, Birthe / Steinbacher, Sybille (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2013.

Linck, Stephan: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Bd. 1: 1945-1965. 2., korr. Aufl. Kiel 2014.

Linck, Stephan: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Bd. 2: 1965-1985. Kiel 2016.

Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar am 6. Februar 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Bd. 326. Stenografische Berichte. Berlin 1920, 1-3.

Siegfried, Detlef: Politisierungsschübe in der Bundesrepublik 1945 bis 1980, in: Fitschen, Klaus / Hermle, Siegfried / Kunter, Katharina / Lepp, Claudia / Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 31-50.

Zippelius, Reinhold: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1997.

Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/19 bis 1947 – Die Vorläufer der Kirchenpräsidenten: „Männer der Mitte“?

Julia Csehan / Malte Dücker

1.Hinführung: Politische Kirchen – politische Kirchenleiter? 

„Seit jeher eine streitbare fromme und politische Kirche“1 – dieses Selbstverständnis formuliert die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau im Rahmen der historischen Übersicht, mit der auf der kircheneigenen Homepage die Geschichte der Landeskirche vorgestellt wird. Es sind dabei vor allem die zwei kurzen Worte am Beginn dieser Selbstverortung, die eine historische Dimension eröffnen, die sie für diesen Aufsatz relevant werden lassen. Die Zeitangabe „seit jeher“ beschreibt im Falle der EKHN mindestens ihre Geschichte seit 1947. Auch die historische Darstellung auf der landeskirchlichen Website beginnt mit der Gründung auf der Synode in Friedberg, verschweigt dabei aber nicht, dass jene Gründung im Wesentlichen eine Bestätigung der „umstrittene[n] Vereinigung“ von drei Landeskirchen gewesen ist, „die schon 1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten erfolgt war“2. Eine Übersicht über kirchenleitende Persönlichkeiten in Hessen und Nassau würde dementsprechend zu kurz greifen, würde man die Darstellung erst mit der Kirchenpräsidentschaft Martin Niemöllers ab 1947 beginnen lassen.

Die Struktur, Verfasstheit und territoriale Gliederung der EKHN ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist vielmehr Ergebnis politischer Entscheidungen, gesellschaftlicher Strukturen und komplexer historischer Entwicklungen, die nicht erst mit der Vereinigung der Evangelischen Landeskirchen von Hessen, Nassau und Frankfurt am Main zur dem Führerprinzip verpflichteten Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen im Herbst 1933 begannen, sondern weit in die Kirchengeschichte der einzelnen Territorien zurückreichen.

Im Folgenden wird es darum gehen, die „Vorgeschichte“ der EKHN und ihrer Kirchenleitungen zu erzählen. Auch wenn es für die bessere Nachvollziehbarkeit mancher Zusammenhänge notwendig ist, den Blick gelegentlich noch etwas weiter in die Vergangenheit zu richten, soll diese Vorgeschichte mit der vielleicht folgenreichsten Zäsur für die Leitungsstrukturen der evangelischen Landeskirchen im 20. Jahrhundert beginnen, die freilich in unmittelbarem Zusammenhang mit den politischen Umbrüchen dieser Zeit steht: Als am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal von Versailles der Erste Weltkrieg und somit der Kriegszustand durch die Unterzeichnung des Versailler Vertrages offiziell als beendet galt, veränderten sich nicht nur die topographischen Bedingungen des ehemaligen Deutschen Kaiserreichs, sondern bald auch seine Verfassung. Mit der Einführung der Weimarer Verfassung am 11. August 1919 wurde aus dem wilhelminischen Reich mit seinen zentralistischen, auf den Kaiser fokussierten Strukturen eine föderative Republik, in welcher unterschiedliche Demokratiemodelle zusammenwirkten. Dazu gehörte etwa das Nebeneinander von plebiszitären Strukturen wie Volksentscheiden auf der einen Seite und repräsentativen Elementen wie dem Amt des Reichspräsidenten auf der anderen Seite.3 Bereits im Jahr zuvor, am 9. November 1918, endete mit der Novemberrevolution die Herrschaft Wilhelms II., des damit letzten Kaisers des Deutschen Reiches.4 Auch den übrigen Landesfürsten erging es nicht anders. Das Ende der Monarchie in Deutschland bedeutete für die evangelischen Landeskirchen vor allen Dingen das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments, das sich nach der Reformationszeit entwickelt und formal bis ins Kaiserreich Bestand hatte5. Im Kontext dieses Summepiskopats war die Leitungsgewalt der evangelischen Landeskirchen dem jeweiligen Fürsten zugeteilt gewesen, der diese – grob gesagt – in Kooperation mit Konsistorien und Superintendenten ausführte. Die weitgehende Trennung von Kirche und Staat durch die Weimarer Verfassung6 stellte die Kirchen nun vor die Aufgabe, sich selbstständig zu verwalten. Auch wenn dabei durchaus an Entwicklungen aus dem 19. Jahrhundert angeknüpft werden konnte7, schuf diese Aufforderung für die Landeskirchen die Notwendigkeit, ihre eigenen Strukturen staatsunabhängig zu reformieren und Persönlichkeiten zu finden, die die Leitungsfunktion der Landesherren übernehmen konnten.8

Für den Bereich der Vorgängerkirchen der EKHN sollen einige dieser Amtsträger im Folgenden vorgestellt werden. Die dabei nicht zu umgehende Fokussierung auf wenige Einzelpersonen ist nicht unproblematisch, läuft sie doch Gefahr, den verkürzenden Eindruck zu erwecken, die „hessische“ Kirchengeschichte zwischen 1918 und 1947 sei zentralistisch allein von den hier vorgestellten Männern gestaltet worden. Das Spektrum kirchenpolitisch relevanter Akteure war auch damals bedeutend vielfältiger und könnte von der einzelnen Gemeindeebene über die Synoden bis hin zu außerkirchlichen Einflussfaktoren diskutiert werden. Angesichts der facettenreichen Leitungsstrukturen der einzelnen Landeskirchen9 kann dieser Beitrag aber nicht einmal all die Amtsträger ausführlich vorstellen, die innerhalb des knapp 30 Jahre währenden Untersuchungszeitraums in einer wie auch immer gestalteten Funktion kirchenleitende Tätigkeiten ausführten. Trotz dieser zwangsläufigen Verkürzung versucht die getroffene Auswahl die Leitungsstrukturen der EKHN-Vorgängerkirchen möglichst repräsentativ zu beleuchten und dabei auf Grundlage dieser Einzelbiographien das Verhältnis der Landeskirchen zu dem, was man „politisch“ nennen kann, beispielhaft zu diskutieren. Dabei wird es abschließend auch darum gehen, Kontinuitäten und Umbrüche im Hinblick auf die sich nach 1947 unter einem Kirchenpräsidenten Martin Niemöller als „politische Kirche“ entwickelnde EKHN anzudeuten.

Als Repräsentanten des Politischen in den sich nach 1919 vom Summepiskopat mehr oder weniger emanzipierenden Landeskirchen werden also folgende, ganz unterschiedliche Amtstitel führende, kirchenleitende Persönlichkeiten vorgestellt: Für die Landeskirche in Hessen wird der ab 1923 mit der Amtsbezeichnung „Prälat“ in Darmstadt tätige Wilhelm Diehl (1871-1944) ausgewählt. Für Nassau gilt die Aufmerksamkeit dem ab 1925 als „Landesbischof“ in Wiesbaden residierenden August Kortheuer (1868-1963). Für die verwaltungstechnisch vielfältige Situation der Frankfurter Landeskirche fällt die Auswahl besonders schwer. Es seien beispielhaft Wilhelm Bornemann (1858-1946) und Johannes Kübel (1873-1953) hervorgehoben. Erster war seit 1905 „Senior“ des lutherischen Predigerministeriums10 und bekleidete ab 1925 das Amt des Präsidenten der Landeskirchenversammlung, vertrat also die Frankfurter Landeskirche nach außen. Zweiter wurde zwar erst 1932 zum hauptamtlichen Landeskirchenrat berufen, übte aber bereits zuvor entscheidenden Einfluss auf die Leitung der Kirche aus. Abschließend wird für die 1933 aus den drei erstgenannten Kirchen hervorgegangene Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich (1897-1974) und sein schwieriges Verhältnis zur Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten vorgestellt.

Für all diese Amtsträger gilt es zu untersuchen, wie sie ihre jeweiligen Landeskirchen durch die für „den deutschen Protestantismus“11 „schwierigste Epoche seit der Reformation“12 leiteten. Dabei soll jeweils ein politisches Profil entwickelt werden, das ihr kirchenleitendes Handeln pointiert zu charakterisieren versucht. Schließlich gilt es in diesem Zusammenhang auch zu prüfen, inwieweit sich das Selbstverständnis der EKHN als „seit jeher […] politische Kirche“13 auch auf ihre Vorgängerkirchen übertragen lässt.

Will man sich dafür also mit der politischen Situation der Landeskirchen nach 1918/19 befassen, ist es zentral auch die mentalitätsgeschichtliche Dimension dieser Zeit zu berücksichtigen. Das Selbstverständnis protestantischer Eliten kann nach Kriegsende als massiv erschüttert betrachtet werden. Hatte im Kaiserreich die Nähe protestantischer Theologen zum preußischen Herrscherhaus die gesellschaftliche und kulturelle Prägung des Reiches stark beeinflusst14, wurde die Trennung von „Thron und Altar“ nun zum politischen Problem. Im Gegensatz zum politischen Katholizismus, der sich auf die Vertretung seiner Interessen durch die Zentrumspartei verlassen konnte, gab es keine parteipolitische Gruppierung, die die Anliegen der protestantischen Kirchen wirksam politisch einbringen und umsetzen konnte.15 Der zuvorderst unternommene Versuch, sich dem Zentrum anzuschließen und sich in einer überkonfessionellen Christlichen Volkspartei zusammenzufinden, war gescheitert. Auch die Idee, durch die Gründung einer Evangelischen Volkspartei politisch an Einfluss zu gewinnen, blieb erfolglos. Anders als den Katholiken gelang es den Protestanten nicht, eine eigene Interessensvertretung zu etablieren, was „dem deutschen Protestantismus“ – so bereits Klaus Scholder – „den Weg in die neue Zeit wesentlich erschwert“16 habe.

Bevor nun der Umgang der einzelnen „hessischen“ Kirchenleiter mit diesen politischen Herausforderungen beschrieben werden kann, sollen im folgenden Kapitel zunächst die historischen Entwicklungen der drei Landeskirchen Hessen, Nassau und Frankfurt am Main zwischen 1918 bis zu ihrer Vereinigung 1933 und ihre neuen Verfassungsstrukturen grob skizziert werden. Dabei gilt es insbesondere die Titel und Bedeutung der verschiedenen Leitungsämter in den Blick zu nehmen.

2.Prälaten, Präsidenten, Superintendenten, Bischöfe –Landeskirchliche Leitungsstrukturen in Hessen, Nassau und Frankfurt am Main und die Entwicklung hin zur Evangelischen Kirche in Nassau-Hessen

2.1.Vorgeschichte und Leitungsstrukturen der Landeskirchen unter dem Summepiskopat

Wie bereits erwähnt verteilte sich das Gebiet der heutigen EKHN bis 1933 auf die Evangelische Landeskirche in Hessen, die Evangelische Landeskirche in Nassau und die Evangelische Kirche in Frankfurt am Main. Um diese territoriale Gliederung nachzuvollziehen, ist – angesichts der ja auch im Summepiskopat erkennbaren, engen Verbindung von Kirche und Staat – erneut der Blick in die politische Geschichte des vorausgegangenen Jahrhunderts hilfreich.1 Die Grenzen der Kirchen stehen dabei in enger Beziehung zur politischen Gliederung einzelner Staatsgebilde. Für die Struktur der Gebiete, die heute dem Bundesland Hessen zugehörig sind, kommt vor allem dem Jahr 1866 eine besondere Bedeutung zu. Der preußisch-österreichische Krieg hatte die territoriale Ordnung, die dort seit dem Wiener Kongress herrschte, erheblich verändert: Kurhessen, das Herzogtum Nassau, die Landgrafschaft Hessen-Homburg und die Freie Stadt Frankfurt am Main verloren nach der Niederlage an der Seite Österreichs ihre Unabhängigkeit und wurden zu einem Teil des preußischen Staatsgebiets, das zwei Jahre später den Provinznamen Hessen-Nassau tragen sollte. Nur das Fürstentum Waldeck-Pyrmont, das im Krieg auf der Seite Preußens gestanden hatte, und das Großherzogtum Hessen, dessen Fürst in Darmstadt residierte, konnten ihre Unabhängigkeit bewahren. Im Falle von Hessen-Darmstadt ist dies weniger dem Schlachtenglück – auch das Großherzogtum Hessen zählte zu den nominellen Verlierern des Krieges – als vielmehr einer weitsichtigen Heiratspolitik zuzuschreiben. Marie von Hessen-Darmstadt, Schwester des regierenden Großherzogs, war zugleich Zarin des Russischen Reichs. Der politische Druck Russlands ließ Preußen schließlich von einer Annexion absehen.2 Auch nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 blieben die preußische Provinz Hessen-Nassau und das Großherzogtum Hessen als politische Einheiten innerhalb des geeinten Deutschlands bestehen und selbst Kriegsende und Novemberrevolution 1918/19 konnten diesen Verwaltungsstrukturen nichts anhaben. Als Teil des Freistaats Preußen bzw. als Volksstaat Hessen wurden sie in die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik überführt und gerieten erst durch die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten auch territorial wieder in Bewegung.3

Kirchenpolitisch lassen sich zunächst äquivalente Territorialgrenzen erkennen: Die Evangelische Kirche in Hessen war letztlich die Landeskirche des von Preußen unabhängig gebliebenen Großherzogtums Hessen als Nachfolger der ehemaligen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt. Das landesherrliche Kirchenregiment oblag dort bis zum Ende der Monarchie dem Großherzog, zuletzt Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein, der heute vor allem für sein Engagement als Förderer der Darmstädter Künstlerkolonie bekannt sein dürfte. Sie machte die hessische Residenzstadt zu einem überregional bedeutenden Zentrum für die Kunst des Jugendstils.4

Trotz der Annexion des Herzogtums Nassau im Jahr 1866 durch das preußische Militär blieb die Evangelische Landeskirche in Nassau selbstständig und wurde – wenngleich mit dem preußischen König als Summus Episcopus verbunden – nicht in die Evangelische Kirche der altpreußischen Union aufgenommen. Dementsprechend bewahrte sich auch die evangelische Kirche der ehemals Freien Stadt Frankfurt am Main trotz politischer Annexion durch Preußen ihre landeskirchliche Unabhängigkeit.

Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle die – territorial ebenfalls unter preußischer Verwaltung stehenden – Landeskirchen Hessen-Kassel und Waldeck, die zwar heute die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck bilden, aber immer wieder von auch im südlichen Hessen geführten Debatten über die Gründung einer potenziell gesamthessischen Kirche berührt waren. Über diese Fusionsbestrebungen wird im Laufe dieses Beitrags noch zu berichten sein.

Alle drei „(süd-)hessischen“ Landeskirchen gaben sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts presbyterial-synodale Kirchenverfassungen.5 Zwar war der Landesherr an die Vorgaben dieser Verfassungen gebunden, doch blieb das landesherrliche Kirchenregiment formal weiterbestehen. Der Großherzog von Hessen bzw. der König von Preußen verfügte über das Recht, Kirchengesetze zu verkünden und Verordnungen zu erlassen, die Synode einzuberufen sowie Pfarrstellen und Lehrstühle der Predigerseminare zu besetzen.6 In der administrativen Praxis übernahmen diese Aufgaben freilich dem Fürsten unterstehende Behörden wie das Oberkonsistorium in der hessischen Landeskirche, sowie die königlich preußischen Konsistorien in Nassau und Frankfurt am Main. Das ranghöchste Amt innerhalb der hessischen Kirchenverwaltung hatte – selbstverständlich dem Großherzog unterstellt – der Präsident des Oberkonsistoriums inne. Zudem gab es das Amt eines Prälaten – ein Titel der nach 1922 innerhalb der hessischen Kirche noch Karriere machen sollten, dem im 19. Jahrhundert allerdings noch keine vergleichbare Bedeutung zukam. In Nassau gab es bereits seit 1810 das Amt des Generalsuperintendenten. Es darf als eine Besonderheit der nassauischen Landeskirche gelten, dass die hier tätigen Generalsuperintendenten ab 1827 vom Herzog den Titel Landesbischof verliehen bekamen, möglicherweise um einen repräsentativen Gegenpol zum neu gegründeten katholischen Bistum Limburg zu schaffen.7 An der Spitze der Geistlichkeit des preußischen Konsistorialbezirks Nassau stand wiederum ein vom Konsistorium gewählter und vom König ernannter Generalsuperintendent.8 In Frankfurt gestaltete sich die Kirchenorganisation ungleich komplexer, denn lange vor der Annexion Preußens, genauer gesagt bis zum 26. Juli 1728, wurde das gesamte Kirchenwesen Frankfurts durch den Rat der Stadt Frankfurt am Main geleitet.9 Eben jener Rat bestand jedoch ausschließlich aus lutherischen Mitglieder, obwohl es im Stadtgebiet bereits ein Nebeneinander von lutherischen und reformierten Gemeinden gab. Schließlich wurde am 26. Juli 1728 erstmals eine Kirchenbehörde errichtet, das Konsistorium, welches aus weltlichen und geistlichen Mitgliedern bestand. Erst am 8. Februar 1820 kam zu dem bereits bestehenden Konsistorium „für die religiösen, kirchlichen, Schul- und Erziehungsangelegenheiten der protestantisch-lutherischen Gemeinden“ das evangelisch-reformierte Konsistorium hinzu.10 Als nun die Freie Reichsstadt Frankfurt von Preußen annektiert wurde, änderte sich im März 1882 die Bezeichnung in „Königliches Konsistorium“.11 Nach dem gescheiterten Versuch, die lutherischen Gemeinden und Dörfer dem unierten Konsistorium in Wiesbaden zu unterstellen, wurde schlussendlich die konfessionelle und administrative Selbstständigkeit der Frankfurter Gemeinden anerkannt. Die alte Kirchenverfassung Frankfurts blieb bestehen; ausschließlich das Kirchenregiment wurde von der neuen Landesregierung ausgeübt. Der Vorsitzende des Konsistoriums wurde fortan vom Landesherrn ernannt.12 Schließlich gab die erste Kirchengemeinde- und Synodalordnung von 1899 der evangelischen Kirche Frankfurts eine Struktur nach preußischem Vorbild.13 Eine Folge dieser neuen Ordnung war die Errichtung eines gemeinsamen Konsistoriums.

2.2.Neue Leitungsstrukturen nach Ende des landesherrlichen Kirchenregiments

2.2.1.Hessen-Darmstadt

Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments traf die Landeskirchen also nicht gänzlich unvorbereitet. In Darmstadt übernahm nach der Novemberrevolution zunächst das bestehende Großherzogliche Oberkonsistorium die Aufgaben des abgesetzten Fürsten und entschied, diese Funktion übergangsmäßig gemeinsam mit dem Landessynodalausschuss auszuführen.1 1919 ging das landesherrliche Kirchenregiment formal auf die Landessynode über. Es dauerte allerdings immerhin bis zum 1. Juni 1922, bis der verfassungsgebende hessische Kirchentag eine den neuen Umständen angepasste Kirchenverfassung verabschieden konnte.2 Im 4. Paragraphen wird darin verkündet: „Als Körperschaft öffentlichen Rechts ordnet und verwaltet die Evangelische Landeskirche in Hessen ihre Angelegenheiten selbstständig.“3 Diese neue Selbstständigkeit hat sich nun in einer heute leider etwas unübersichtlichen erscheinenden Organisation der Kirchenleitung niedergeschlagen. Zentrales kirchenleitendes Organ blieb die Synode, die weiterhin unter dem Namen Landeskirchentag zusammentrat. Als deren permanente Vertretung fungierte der Landeskirchenausschuss. Weiterhin gab es die Kirchenregierung. Die Nachfolge des Großherzoglichen Oberkonsistoriums übernahm das Landeskirchenamt in Darmstadt.4 Die „geistliche Leitung“ übernahm laut Kirchenverfassung das Kollegium der Superintendenten, das unter dem Vorsitz des Prälaten tätig sein sollte.5 Insbesondere dieses oberste, von einer Einzelperson besetzte, kirchliche Leitungsamt steht im Folgenden im Fokus des Interesses. Der „Prälat“ ist in der Kirchengeschichte eine schon immer „schillernde“6 Amtsbezeichnung gewesen und war auch in der hessischen Kirchenverfassung – so bemerkte schon Heinrich Steitz – „eher angedeutet als klar umrissen“7. Dort ist formuliert, dass der Prälat „in steter persönlicher Fühlung mit den lebendigen und tätigen Gliedern der Landeskirche auf allen Gebieten der kirchlichen Arbeit […] führend und fördernd tätig sein“8 solle. Für die konkrete Verwaltungsorganisation bedeutete dies, dass mit dem Prälatenamt in Personalunion zugleich die Präsidentschaft über die Kirchenregierung und das Landeskirchenamt verbunden war.9 Angesichts dieser umfassenden Vorstandsfunktionen scheint die Einrichtung dieses höchsten Amts vor allem auch dem nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments nicht mehr eindeutig ausgefüllten Repräsentationsbedürfnis des landeskirchlichen Protestantismus in Hessen geschuldet zu sein.

Im Juni 1923 wählte der Landeskirchentag den am hessischen Predigerseminar in Friedberg tätigen Professor Wilhelm Diehl zum Prälaten, der dieses Amt bis zum fusionsbedingten Ende der hessischen Landeskirche im Jahr 1934 ausführen sollte. Diehl war bereits zuvor als Präsident des verfassungsgebenden Kirchentags und des Landessynodalausschusses tätig gewesen und prägte auf diese Weise die hessische Landeskirche als zentrale kirchenleitende Persönlichkeit – von ihrer Verfassungsgebung bis zu ihrer Auflösung – wie kein anderer.10

2.2.2.Nassau

Nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments fanden in den Landeskirchen von Nassau und Frankfurt am Main parallele Entwicklungen zu der in Hessen-Darmstadt statt. Anders als dort waren Nassau und Frankfurt bis 1918 aber als Konsistorialbezirke der preußischen Provinz Hessen-Nassau direkt dem preußischen Kultusministerium zugeteilt.1