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Ziele und Fragen der politischen Bildung sowie nach den damit verbundenen Inhalten, Kompetenzen und Prinzipien haben - häufig mit Fokus auf Demokratiebildung - an Aktualität (wieder)gewonnen. Polarisierung, Spaltung und Populismus werden in gesellschaftlichen Diskursen besorgt zur Kenntnis genommen und in den Wissenschaften aufgegriffen. Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung als Disziplinen (fremd- und zweit-)sprachlicher Bildung können an unterschiedlichen fachlichen Entwicklungslinien und kritisch geführten Wissenschaftsdiskursen anknüpfen, wie z.B. intercultural und global citizen education einschließlich Befähigung zum kritischen Denken, Bedeutung kritischer language awareness angesichts medialer und technologischer Entwicklungen, Kontroversen um Ziele der Kultur- einschließlich Wissens- und Wertevermittlung. Wie aber kann der Anspruch, politische Bildung zu vermitteln, in unseren Disziplinen gelingen? Der Band dokumentiert die überarbeiteten Stellungnahmen der Teilnehmer:innen der 45. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts.
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Seitenzahl: 419
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Claudia Riemer / Lars Schmelter / Karin Vogt (Hrsg.)
Politische Bildung im Fremd- und Zweitsprachenunterricht
Arbeitspapiere der 45. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381143023
© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 0175-7776
ISBN 978-3-381-14301-6 (Print)
ISBN 978-3-381-14303-0 (ePub)
Ziele und Fragen der politischen Bildung sowie nach den damit verbundenen Inhalten, Kompetenzen und Prinzipien haben – häufig mit Fokus auf Demokratiebildung – an Aktualität (wieder)gewonnen. Polarisierung, Spaltung und Populismus werden in gesellschaftlichen Diskursen besorgt zur Kenntnis genommen und in den Wissenschaften aufgegriffen. Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung als Disziplinen (fremd- und zweit-)sprachlicher Bildung können an unterschiedlichen fachlichen Entwicklungslinien und kritisch geführten Wissenschaftsdiskursen anknüpfen, wie z.B. intercultural und global citizen education einschließlich Befähigung zum kritischen Denken, Bedeutung kritischer language awareness angesichts medialer und technologischer Entwicklungen, Kontroversen um Ziele der Kultur- einschließlich Wissens- und Wertevermittlung. Wie aber kann der Anspruch, politische Bildung zu vermitteln, in unseren Disziplinen gelingen?
Anhand von Leitfragen haben die Teilnehmer:innen der 45. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts über politische Bildung durch und im Fremd- und Zweitsprachenunterricht diskutiert.
In bewährter Manier waren die Leitfragen vorab zugesandt worden und die Teilnehmer:innen hatten sich zu ihnen in einem Vorabstatement im Umfang von ca. acht Seiten schriftlich geäußert. Diese Statements lagen den Diskussionen vom 19. bis 21. Februar 2025 im Schloss Rauischholzhausen zugrunde. Die Leitfragen lauteten:
Welche Ziele, Gegenstände und Praxis politischer Bildung sind Ihrer Meinung nach für den Fremd‐/Zweitsprachenunterricht besonders bedeutsam und sollten stärker verankert werden? Konfligieren Ihrer Meinung nach Ziele politischer Bildung mit den Kompetenzzielen und ggf. Standards der Fremd‐/Zweitsprachenvermittlung?
Welche Konzepte und Ansätze der Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung sind aus Ihrer Sicht besonders geeignet, fachspezifische Beiträge zu den Zielen und Gegenständen politischer Bildung im Fremd‐/Zweitsprachenunterricht zu leisten?
Welche Forschungsfragen zum Beitrag des Fremd‐/Zweitsprachenunterrichts zur politischen Bildung sind aus disziplinärer und interdisziplinärer Sicht dringlich? Welche Forschungsansätze und Zugänge zum empirischen Feld wären Ihrer Meinung nach geeignet, diese Fragen zu bearbeiten?
Welche curricularen und hochschuldidaktischen Auswirkungen hätte eine Stärkung von Aspekten politischer Bildung in der Professionalisierung von Fremd /Zweitsprachenlehrer:innen?
Im Anschluss an die Konferenz haben die Teilnehmer:innen ihre Statements überarbeitet für die Veröffentlichung im vorliegenden Band. Deutlich wird ein weites Spektrum an Konzepten und Perspektiven auf politische Bildung im Fremd- und Zweitsprachenunterricht. Sie weisen auf Forschungsdesiderata ebenso hin wie auf Veränderungen, die möglicherweise in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Fremd- und Zweitsprachenlehrer:innen angegangen werden sollten.
Auch in diesem Jahr hat die entspannte und zugleich anregende Atmosphäre im und um das Schloss Rauischholzhausen dazu beigetragen, dass die Diskussionen einen so fruchtbaren Verlauf nehmen konnten. Die Veranstalter:innen und Teilnehmer:innen der Frühjahrskonferenz danken daher den Verantwortlichen vor Ort für die weiterhin gewährte Gastfreundschaft.
Bielefeld, Heidelberg und Wuppertal, im Sommer 2025
Claudia Riemer Lars Schmelter Karin Vogt
Für eine funktionierende Demokratie, die auf mündige Bürger:innen angewiesen ist, war und ist politische Bildung eine permanente Querschnittsaufgabe, insbesondere in der Schule. Angesichts zunehmender demokratiefeindlicher Tendenzen, die u.a. mit einer Infragestellung demokratischer Institutionen, der Forderung nach autoritären Staatsformen, der Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Unterdrückung von Meinungsvielfalt einhergehen, und angesichts der globalen Herausforderungen (Klimawandel, Migration, soziale Gerechtigkeit) kommt politischer Bildung eine besondere Bedeutung zu.
Ziel des Beitrags ist es herauszuarbeiten, welchen Beitrag der Fremdsprachenunterricht zur politischen Bildung leisten kann. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage nach den Schnittstellen zwischen politischer Bildung und Fremdsprachenunterricht.
Im Bereich der Schule dient die politische Bildung zur Herausbildung der „Fähigkeit, sich in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft angemessen zu orientieren, auf einer demokratischen Grundlage politische Fragen und Probleme kompetent zu beurteilen und sich in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren“ (Detjen et al. 2004, 9). Sie soll damit einen „wichtigen Beitrag zur stets neu zu schaffenden Demokratiefähigkeit junger Menschen“ (ebd.) leisten, für Sander (2007, 9) ist sie ein „unverzichtbarer Bestandteil einer demokratischen politischen Kultur“. Als Bildungsziel wird die Erreichung einer „politischen Mündigkeit“ der Schüler:innen postuliert (Detjen et al 2004, 9). Dies gilt sowohl für das eigenständige Unterrichtsfach „Politische Bildung“ (die Bezeichnungen in den Bundesländern sind sehr unterschiedlich wie z.B. „Gesellschaftslehre“, „Gemeinschaftskunde“, „Politik“) als auch für andere Unterrichtsfächer, bei denen gefordert wird, „im Rahmen ihrer fachlichen Möglichkeiten […] Verständnis für politische, gesellschaftliche, ökonomische und rechtliche Zusammenhänge zu wecken“ (ebd.). Wenn es um politische Bildung in anderen Fächern geht, spricht Sander (2007, 135) auch von „politischer Bildung als Unterrichtsprinzip“. Für Sander bedeutet das, „politische Bezüge fachbezogener Lerngegenstände in anderen Fächern als dem Politikunterricht mit zu reflektieren und sie Schülerinnen und Schülern für deren Urteilsbildung zugänglich zu machen“ (ebd., 135) oder anders formuliert: „die Mitreflexion der von der Sache her gegebenen politischen Aspekte eines Sach- oder Problemzusammenhangs in einem anderen Fach“ (ebd., 19). Das gilt auch für den Fremdsprachenunterricht.
Was macht aber den Gegenstand „Politische Bildung“ nun eigentlich aus? Ich konzentriere mich hierbei auf die Komplexität des Gegenstands sowie zwei Unterrichtsprinzipien.
Auffällig ist, dass der Gegenstand der politischen Bildung äußerst komplex ist, was an der Aufteilung in eine horizontale Achse („Breite“) und eine vertikale Achse („Tiefe“) deutlich wird (vgl. Sander 2007, 87-91). Auf der horizontalen Achse hat man es mit einem umfassenden Politikbegriff zu tun, der sich zum einen mit Politik im engeren Sinne befasst, die verstanden wird als „ein kollektiver, konflikthafter und demokratischer Prozess zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen“ (ebd.), bei dem inhaltsbezogene Aspekte (policy), institutionelle Aspekte (polity) und prozessuale Aspekte (politics) zu berücksichtigen sind. Zum anderen geht es um wirtschaftliche, soziale und rechtliche Fragen, wobei die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen im Fokus stehen (vgl. ebd., 10-11). Diese beträchtliche Komplexität in der „Breite“ wird durch eine Tiefendimension auf der vertikalen Achse noch zusätzlich erhöht, die Sander (2007, 178) als „Zonen des Politischen“ bezeichnet. Hier wird unterschieden zwischen drei Ebenen (vgl. Detjen et al. 2004, 11; vgl. Sander 2007, 179-187). Die erste ist die „Ebene der aktuellen politischen Ereignisse, Probleme und Konflikte“ (Detjen et al. 2004, 11), damit ist die „Oberfläche“ des politischen Alltagsgeschäfts gemeint, so wie sie von den Medien wahrgenommen und dargestellt wird und worauf sich die politischen Meinungen und Urteile der Bürger:innen i.d.R. beziehen (vgl. Sander 2007, 179). Die zweite ist die „Ebene mittel- und langfristiger Problemlagen“ (Detjen et al. 2004, 11), durch die die Oberflächenphänomene alltäglicher Politikereignisse verstehbar werden und der „Blick für weltpolitische sowie globale Zusammenhänge und Abhängigkeiten“ (ebd., 11) geöffnet wird. Die dritte ist die „Ebene grundlegender Vorstellungen vom Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft und in der Welt“ (Detjen et al. 2004, 11), sie „betrifft u.a. Menschenbilder, sozialwissenschaftliche Theorien sowie grundlegende Alternativen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung“.
Wesentlich für Politische Bildung sind darüber hinaus zwei Prinzipien („Beutelsbacher Konsens“, vgl. Wehling 1977, 179), die sich vor allem auf die Interaktion im Unterricht beziehen: das „Überwältigungsverbot“ und das „Kontroversitätsgebot“. Nach dem Überwältigungsverbot ist es nicht erlaubt, die Schüler:innen zu indoktrinieren, das heißt „[…] – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbstständigen Urteils‘ zu hindern“ (Wehling 1977, 179). Das Kontroversitätsgebot besagt, dass das, „[w]as in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, […] auch im Unterricht kontrovers erscheinen [muss]“ (Wehling 1977, 179). Zum Kontroversitätsgebot führt Detjens (2013, 327) aus, dass es verlangt, „Lerngegenstände so auszuwählen und zu strukturieren, dass die kontroverse Struktur des Politischen erkennbar wird“, das Prinzip wende „sich damit gegen die ‚Glättung‘ der Lerngegenstände hin zur Vermittlung einer geschönten, heilen Welt.“ Detjens (ebd.) weist mit Rückgriff auf Grammes (2005, 138) darauf hin, dass empirische Unterrichtsforschung gezeigt hat, dass
jedoch nicht wenige Lehrende einer solchen Versuchung zur Harmonisierung [unterliegen]. In der Praxis des Unterrichts kommt es dann zu einem unauffälligen Verschwinden von Kontroversität. So gibt es sublime Kommunikationsmuster der Überwältigung: Lehrende überhören Einwände, harmonisieren Gegensätze und appellieren an das Wahre, Schöne und Gute. Nicht auszuschließen ist auch eine gesinnungsethische Kommunikation der political correctness, die unbequeme Auffassungen skandalisiert. (Detjens 2013, 327; Hervorhebung im Original)
Für Detjen (2013, 328) gehört das Kontroversitätsprinzip „zum Kern der Berufsethik der in der schulischen politischen Bildung Tätigen“. Um dem Kontroversitätsprinzip gerecht zu werden, muss die Lehrkraft je nach Lerngruppe in verschiedene Rollen schlüpfen. Hierbei wird zwischen der argumentationshomogenen, der argumentationsheterogenen und der apathisch-indifferenten Lerngruppe unterschieden (vgl. Grammes 2005, 135). Bei einer argumentationshomogenen Lerngruppe, bei der die Lernenden schnell zu einem Konsens gelangen, bestehe die „Gefahr der politischen Einseitigkeit“ (Detjen 2013, 328), bei der Gegenpositionen nicht ernsthaft erörtert würden. Die Lehrkraft habe hierbei die Aufgabe, gegenzusteuern und im Sinne eines advocatus diaboli entgegengesetzte und eventuell tabuisierte Positionen zu vertreten. Das einseitige Argumentieren dient hier dem alleinigen Zweck, die Schüler:innen mit anderen Standpunkten zu konfrontieren. Bei einer argumentationsheterogenen Lerngruppe sind nach Detjen (2013, 328) die verschiedenen Standpunkte annähernd gleichmäßig repräsentiert, sodass die Lehrkraft hier die Rolle als Moderator einnehmen soll. Die Lehrkraft müsse jedoch darauf achten, sich nicht von einer Seite vereinnahmen zu lassen und bei einem hohen Grad an Polarisierung den „vermutlich dennoch unterschwellig vorhandenen Minimalkonsens unter den Lernenden bewusst zu machen“ (Detjen 2013, 328). Bei einer apathisch-indifferenten Lerngruppe, die sich von aktuellen politischen Kontroversen nicht berührt fühlt, soll die Lehrkraft dagegen die Rolle des Animateurs einnehmen, indem sie beispielsweise dramatische Konsequenzen einer bestimmten Position verdeutlicht, paradoxe Bezüge zu Bekanntem herstellt oder das Schweigen der Lerngruppe als eine Zustimmung zu einer provokanten These darstellt (vgl. Detjen 2013, 328).
Die Ausführungen haben versucht zu verdeutlichen, dass mit der politischen Bildung ein hoher Anspruch verbunden ist. Dieser zeigt sich einerseits in der Durchdringung eines gesellschaftlich relevanten Themas in seiner Komplexität, d.h. in seiner Breite und Tiefe, andererseits in der Lehrerrolle, wenn es darum geht, dem Überwältigungsverbot und dem Kontroversitätsgebot gerecht zu werden.
Will man diese Frage beantworten, ist es nötig, zunächst das Kompetenzmodell der politischen Bildung und die Kompetenzanforderungen im Einzelnen näher zu betrachten.
Das von Detjen et al. (2004, 13) vorgelegte Kompetenzmodell beinhaltet vier Bereiche: „konzeptuelles Deutungswissen“, „politische Urteilsfähigkeit“, „politische Handlungsfähigkeit“ und „methodische Fähigkeiten“, die „in ihren wechselseitigen Zusammenhängen gesehen werden“ müssen.
Beim konzeptuellen Deutungswissen geht es um „Wissen, das sich auf grundlegende Konzepte für das Verstehen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht bezieht“ (Detjen et al. 2004, 14), also nicht um Kenntnisse über Einzelphänomene, sondern um Deutungswissen, mit dem der „Sinngehalt und die innere Logik von Institutionen, Ordnungsmodellen und Denkweisen der Sozialwissenschaft“ (ebd.) erschlossen werden kann.
Die politische Urteilskompetenz bezieht sich auf Sachurteile und Werturteile. Bei einem Sachurteil geht es nach Detjen et al. (2004, 15) darum, sich einen Sachverhalt zu vergegenwärtigen (Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden), ihn strukturiert wiederzugeben und das Urteil auf eine politische Analyse (auf den Ebenen policy, polity und politics) zu gründen. Bei Werturteilen geht es darum, „die Maßstäbe zu verallgemeinern, dass sie dem Anspruch nach für alle Menschen gelten können“ (ebd.), was einer universalistischen Perspektive entspricht, die von der Vorstellung unveräußerlicher, allen Menschen zustehenden Rechten ausgeht (vgl. ebd.).
Mit der politischen Handlungsfähigkeit sind praktische Fähigkeiten gemeint, „die für die Teilnahme an der politischen Öffentlichkeit sowie für eine aktive, selbstbewusste Teilnahme am Wirtschaftsleben und für ein sicheres Auftreten in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen erforderlich ist“ (ebd., 17).
Für den Kompetenzbereich der „politischen Urteilsfähigkeit“ werden folgende neun Kompetenzerwartungen festgehalten:
Kompetenzerwartungen
die Bedeutung politischer Entscheidungen für das eigene Leben erkennen;
PUF 1
komplexe politische Sachverhalte strukturiert wiedergeben und dabei zentrale Aspekte identifizieren;
PUF 2
politische Phänomene unter verschiedenen Dimensionen betrachten, insbesondere unter dem Aspekt der jeweiligen inhaltlichen Ziele und Gegenstände (policy: Inhalt), dem Aspekt der institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen (polity: Form) sowie unter dem Aspekt der Machtverhältnisse und Durchsetzungschancen für unterschiedliche Positionen (politics: Prozess);
PUF 3
Folgen und Nebenfolgen politischer Entscheidungen reflektieren, also nach möglichen, insbesondere auch nach unbeabsichtigten Wirkungszusammenhängen fragen;
PUF 4
politische Entscheidungen und Entscheidungsalternativen in ihren Verflechtungen mit sozialen Systemen außerhalb des politischen Systems im engeren Sinn sehen, insbesondere mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld auf nationaler, europäischer und globaler Ebene;
PUF 5
aktuelle politische Kontroversen auf mögliche Zusammenhänge mit Problemlagen hin analysieren, die aller Voraussicht nach über die Tagesaktualität hinaus von einer mittel- und längerfristigen Bedeutung für politische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen sind;
PUF 6
die Beurteilung konkreter Gegenstände aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht im Zusammenhang mit grundlegenden Menschen- und Politikbildern, mit Theorien und Modellen des menschlichen Zusammenlebens sehen und die eigenen Vorstellungen hierzu in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen aus Geschichte und Gegenwart des politischen Denkens entwickeln;
PUF 7
politische Sachverhalte, Probleme und Entscheidungen in Beziehung setzen zu den Grundwerten demokratischer Systeme und kritisch reflektieren;
PUF 8
die Logiken und Mechanismen medialer Politikinszenierung entschlüsseln.
PUF 9
Abb. 1: Kompetenzerwartungen im Bereich der politischen Urteilsfähigkeit (vgl. (Detjen et al. 2004, 16)1
Für den Kompetenzbereich der „politischen Handlungsfähigkeit“ sind es folgende neun Kompetenzerwartungen:
Kompetenzerwartungen
eigene politische Meinungen und Urteile – auch aus einer Minderheitenposition heraus – sachlich und überzeugend vertreten;
PHF 1
in politischen Kontroversen konfliktfähig sein, aber auch Kompromisse schließen können;
PHF 2
Beiträge zu politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen für Medien realisieren, vom Leserbrief über die Website bis zu komplexeren Medienprodukten;
PHF 3
sich als Konsument im Hinblick auf eigene ökonomische Entscheidungen reflektiert verhalten;
PHF 4
sich im Sinne von Perspektivenwechseln in die Situation, Interessen und Denkweisen anderer Menschen versetzen:
PHF 5
mit kulturellen, sozialen und geschlechtsspezifischen Differenzen reflektiert umgehen, was Toleranz und Offenheit, aber auch kritische Auseinandersetzung einschließen kann;
PHF 6
eigene berufliche Perspektiven auch vor dem Hintergrund gesamtwirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen planen;
PHF 7
Möglichkeiten der Interessenwahrnehmung in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen kennen und seine Interessen vor allem in schulischen Zusammenhängen wahrnehmen;
PHF 8
sich in unterschiedlichen sozialen Situationen und in der Öffentlichkeit angemessen und wirkungsvoll verhalten.
PHF 9
Abb. 2: Kompetenzerwartungen im Bereich der politischen Handlungsfähigkeit (Detjen et al. 2004, 17)2
Kommen wir auf die Frage zurück, welche der Teilkompetenzen der politischen Bildung für den Fremdsprachenunterricht besonders bedeutsam sind.
Vorab müssen jedoch zwei Unterschiede zwischen dem Fach Politische Bildung und dem Fach einer Fremdsprache hervorgehoben werden. Erstens ist der Bezugspunkt des Fachs Politische Bildung die Bundesrepublik Deutschland, während der Fokus im Fremdsprachenunterricht auf den jeweiligen Zielsprachenländern liegt. Zweitens findet der Unterricht im Fach Politische Bildung auf Deutsch statt, während sich im Fremdsprachenunterricht dem Prinzip der funktionalen Einsprachigkeit folgend die Rezeption von Texten und die Produktion sprachlicher Äußerungen vorrangig in der Fremdsprache vollziehen.
Im Bereich der politischen Urteilsfähigkeit halte ich diejenigen Teilkompetenzen für den Fremdsprachenunterricht für bedeutsam, bei denen die Schüler:innen exemplarisch die Komplexität eines Themas durch den Einbezug politischer, wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Aspekte sowie ihre Wechselwirkungen untereinander erkennen können sollen (PUF 3, 4, 5). Der Fremdsprachenunterricht könnte dadurch im Bereich der Förderung von interkultureller kommunikativer Kompetenz gestärkt werden, weil das Zielsprachenland, in dem die Sprachkenntnisse zur Anwendung kommen sollen, als genauso komplex erkannt werden könnte wie das eigene Land. Die These lautet hier: Das Verstehen der Perspektive einer Person, die im Zielsprachenland sozialisiert wurde, auf einen bestimmten Sachverhalt gelingt Schüler:innen besser, wenn dies mit der Aneignung von Kenntnissen über den Sachverhalt im Zielsprachenland einhergeht, die unterschiedliche Aspekte (politische, wirtschaftliche, soziale, rechtliche) miteinbeziehen.
Ebenfalls aus dem Bereich der politischen Urteilsfähigkeit scheint mir diejenige Teilkompetenz für den Fremdsprachenunterricht bedeutsam, bei der die Schüler:innen exemplarisch die Kontroversität von Meinungen und Urteilen in Bezug auf ein Thema erkennen können sollen (PUF 6). Der Fremdsprachenunterricht könnte dadurch im Bereich der Förderung interkultureller Kompetenz gestärkt werden, weil das Zielsprachenland nicht als homogenes Gebilde wahrgenommen werden würde, sondern als genauso intrakulturell heterogen wie das eigene Land. Die These lautet hier: Das Bewusstsein, dass es zu einem bestimmten Sachverhalt im Zielsprachenland kontroverse Perspektiven gibt, hilft den Schüler:innen zu erkennen, dass Stereotype zu kurz greifen, um der intrakulturellen Realität gerecht zu werden.
Darüber hinaus scheint mir diejenige Teilkompetenz im Bereich der politischen Urteilsfähigkeit von Relevanz, die auf die Verflechtungen zwischen nationaler, europäischer und globaler Ebene verweist (PUF 5). Der Fremdsprachenunterricht könnte durch eine Öffnung der Themen, die die Verflechtung dieser verschiedenen Ebenen berücksichtigt, eine Tiefendimension erreichen, die für das Verstehen der Zusammenhänge notwendig erscheint.
Im Bereich der politischen Handlungsfähigkeit halte ich die Teilkompetenzen für bedeutsam, bei denen Schüler:innen „eigene politische Meinungen und Urteile – auch aus einer Minderheitenposition heraus – sachlich und überzeugend vertreten“ (PHF 1) und „in politischen Kontroversen konfliktfähig sein, aber auch Kompromisse schließen können“ (PHF 2) sollen. Der Fremdsprachenunterricht ist m.E. geeignet, diese Teilkompetenzen in der Fremdsprache zu entwickeln, was jedoch voraussetzt, dass a) die Lehrkräfte die Thematisierung von Problemen und Konflikten nicht vermeiden aus Angst, dies könne vom Fremdsprachenlernen abhalten, und b) im Unterricht plausible kommunikative Kontexte simuliert werden, die das Vertreten der eigenen politischen Meinung in der Fremdsprache nötig macht (z.B. eine Debatte zum Thema wie Migration mit spanischen Austauschschüler:innen).
Ebenso bedeutsam finde ich die Teilkompetenz, „sich im Sinne von Perspektivenwechseln in die Situation, Interessen und Denkweisen anderer Menschen [zu] versetzen“ (PHF 5). Der Fremdsprachenunterricht ist m.E. prädestiniert, diese Teilkompetenz zu entwickeln, vorausgesetzt, dass neben dem Erlernen fremdsprachlicher Kompetenzen der Unterricht auch zur Förderung interkultureller Kompetenzen genutzt wird, bei der die Einnahme fremder Perspektiven eine zentrale Komponente darstellt. Im Fremdsprachenunterricht ist diese Teilkompetenz jedoch insofern komplexer als im Fach Politische Bildung, als sich der Perspektivenwechsel in einem fremdsprachlichen und fremdkulturellen Kontext vollzieht.
Mein Fokus liegt hierbei auf dem Konzept des interkulturellen Lernens (vgl. Bredella 2025) und der interkulturellen kommunikativen Kompetenz (vgl. Freitag-Hild 2025).
Mit der Veränderung des Leitbildes des Fremdsprachenlernenden vom native speaker zum intercultural speaker ist deutlich geworden, dass sich Lernende im Fremdsprachunterricht nicht nur sprachliche und kommunikative Kompetenzen aneignen müssen, sondern auch interkulturelle Kompetenzen (Schmenk 2025, 204). In seinem Modell der interkulturellen kommunikativen Kompetenz unterscheidet Byram (1997) fünf miteinander verwobene Teilkompetenzen, die einen intercultural speaker ausmachen (vgl. Freitag-Hild 2025, 210-211). Hierbei muss die Bereitschaft, mit Neugier und Offenheit kultureller Fremdheit zu begegnen (attitudes), verbunden werden mit Wissen (knowledge) über „die Art und Weise, wie Geschichte, Geographie, Politik, gesellschaftliche Institutionen, Sozialisationsprozesse und soziale Unterschiede den Alltag und die Denk- und Wahrnehmungsweisen der Angehörigen der eigenen Kultur und der Kultur des Kommunikationspartners prägen“ (Freitag-Hild 2025, 210); dazu kommt „die Fähigkeit, fremdkulturelle Dokumente oder Ereignisse zu interpretieren bzw. zu verstehen, zu erklären und mit eigenkulturellen Dokumenten und Ereignissen in Beziehung zu setzen“ (ebd., 210) (skills ofinterpreting and relating) sowie „die Fähigkeit, sich neues Wissen über eine Kultur und ihre kulturellen Bedeutungen, Konzepte und Praktiken selbstständig zu erschließen (…) und zur Bewältigung realer Kommunikations- und Interaktionssituationen einzusetzen“ (ebd., 210) (skills ofdiscovery and interaction). Diese Verbindung aus affektiven, kognitiven und handlungsbezogenen Fähigkeiten soll beim Lernenden zu einer critical cultural awareness führen, die gestattet, „eigene kulturelle Werte und Normen zu relativieren und kritisch zu hinterfragen“ (ebd., 211).
Wenn im Fremdsprachenunterricht diese interkulturellen kommunikativen Teilkompetenzen gefördert werden, kann er einen Beitrag für die politische Bildung leisten, insbesondere für den Einbezug der europäischen und globalen Ebene (PUF 5). Beispielsweise können Schüler:innen im Spanischunterricht durch die Rezeption authentischer spanischsprachiger Dokumente einen mehrperspektivischen Zugang zu Sichtweisen auf ein europaweit relevantes Thema (z.B. Anbau, Transport, Verkauf und Konsum von Tomaten) bekommen, die in der Diskussion in Deutschland wenig bekannt sind; wenn die Schüler:innen aufgefordert werden, die internen Sinnbezüge dieser Sichtweisen unter Berücksichtigung des kulturellen Kontextes zu erschließen (discovery and interpreting), kann diese Kenntnis helfen, „sich als Konsument im Hinblick auf eigene ökonomische Entscheidungen reflektiert [zu] verhalten“ (PHF 4). Ein etwas anders gelagertes Beispiel stellt die Simulation von interkulturellen Begegnungssituationen im Fremdsprachenunterricht dar, z.B. in Form von Rollenspielen. Hierbei können die Schüler:innen aufgefordert werden, wechselseitig zum einen die Perspektive einer Person aus dem Zielsprachenland einzunehmen und zu versuchen, sich in ihre Situation, Interessen, Denkweise und Gefühle zu versetzen (PHF 5), zum anderen sollen sie ihre eigene Perspektive einnehmen und hierbei lernen, eigene Meinungen und Urteile sachlich und überzeugend zu vertreten (PHF 1).
Die Ausführungen zeigen, dass der Fremdsprachenunterricht einen Beitrag zur politischen Bildung leisten kann, vorausgesetzt, dass er neben dem sprachlichen Lernen die interkulturelle Dimension stärkt und diese exemplarisch so intensiviert, dass die angesprochenen Themen in ihrer Breite und Tiefe deutlich werden. Darüber hinaus müsste sich der Fremdsprachenunterricht ebenfalls an die Prinzipien des Überwältigungsverbots und des Kontroversitätsgebots halten. Dies würde bedeuten, dass er nicht länger eine „‘conflict-free’ zone“ sein dürfte (vgl. Levine 2020, 77). Fremdsprachenlehrkräfte dürften also nicht länger die Thematisierung von Problemen und Konflikten im Zusammenhang mit dem Zielsprachenland vermeiden unter dem Vorwand, eine solche Thematisierung würde die Schüler:innen vom Fremdsprachenlernen abhalten. Vielmehr müsste es darum gehen, einen konfliktfreien, im Grunde genommen apolitischen Fremdsprachenunterricht zu überwinden und die Schüler:innen zu befähigen, sich sprachlich und inhaltlich die Breite und Tiefe eines Themas aus den jeweiligen Zielsprachenländern zu erschließen und an der zielsprachlichen Gesellschaft teilzuhaben.
Welche Forschungsfragen zum Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur politischen Bildung sind dringlich? Welche Forschungsansätze und Zugänge sind dazu geeignet? Mein Fokus liegt hierbei auf dem Bereich der theoretisch-konzeptuellen Forschung und der Unterrichtsforschung.
Für den Bereich der theoretisch-konzeptuellen Forschung sind m.E. folgende Forschungsfragen von Bedeutung:
Wie können die Kompetenzerwartungen, die für das Fach Politische Bildung formuliert wurden, so heruntergebrochen werden, dass sie den Kompetenzerwartungen des Fremdsprachenunterrichts entsprechen?
Welche realitätsnahen Kommunikationssituationen, in denen die Fremdsprache rezeptiv und/oder produktiv gebraucht wird, sind geeignet, welche Teilkompetenzen der politischen Bildung zu fördern?
Welches fremdsprachliche Niveau ist nötig, um die einzelnen Teilkompetenzen der politischen Bildung rezeptiv bzw. produktiv zu realisieren?
Mit welchem Material und wie müsste eine Unterrichtsreihe im Französisch- bzw. Spanischunterricht konzipiert sein, um die für politische Bildung nötige Breite (politische, wirtschaftliche, soziale, rechtliche Aspekte) und Tiefe (von den Oberflächenphänomenen zu den tieferliegenden Zusammenhängen) zu erreichen, die für die Herausbildung einer politischen Urteilskompetenz nötig ist?
Im Bereich der Unterrichtsforschung scheinen mir folgende Forschungsfragen relevant:
Wie setzen Lehrkräfte die Prinzipien des Überwältigungsverbots und des Kontroversitätsgebots im Fremdsprachenunterricht um?
Welche Auswirkung auf die Motivation der Schüler:innen hat der Einsatz von Aufgaben im Fremdsprachenunterricht, die der Förderung politischer Bildung dienen.
Zur Bearbeitung der Forschungsfragen wäre es sinnvoll, mit Lehrkräften zu arbeiten, die neben dem Fach Politik eine Fremdsprache unterrichten.
Erkennt man die politische Urteilsfähigkeit als einen zentralen Bestandteil politischer Bildung an und versteht darunter, die gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes in ihrer Komplexität in Breite und Tiefe zu verstehen, so müsste geprüft werden, ob in der universitären Ausbildung die Kulturwissenschaft die Aufgabe übernehmen könnte, an einigen exemplarischen Themen zu zeigen, wie diese Komplexität in Bezug auf das jeweilige Zielsprachenland verdeutlicht werden kann. Im fremdsprachendidaktischen Teil der universitären Ausbildung müsste den Studierenden die Gelegenheit gegeben werden, theoriegeleitet eine exemplarische Unterrichtseinheit zu konzipieren, die die Schüler:innen mit der Komplexität eines Themas konfrontiert und sie zugleich unterstützt, sich dieses sprachlich und inhaltlich zu eigen zu machen.
Nicht zuletzt müsste sich eine Stärkung von Aspekten der politischen Bildung in der Ausbildung von Fremdsprachenlehrer:innen im Bereich der Hochschuldidaktik darin äußern, dass die Dozierenden im Sinne des Modell-Lernens in ihren Seminaren vorleben, wie die Prinzipien des Überwältigungsverbots und des Kontroversitätsgebots eingehalten werden können.
Bredella, Lothar (2025): „Interkulturelles Lernen“. In: Surkamp (Hrsg.), 212-215.
Byram, Michael (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence. Clevedon et al.: Multilingual Matters.
Detjen, Joachim/Kuhn, Hans-Werner/Massing, Peter/Richter, Dagmar/Sander, Georg/Weißeno, Georg (2004): Anforderungen an die Nationalen Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag.
Detjen, Joachim (2013): Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Grammes, Tilman (2005): „Kontroversität“. In: Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Bonn: Wochenschau Verlag, 126-145.
Freitag-Hild, Britta (2025): „Interkulturelles kommunikative Kompetenz“. In: Surkamp (Hrsg.), 209-212.
Levine, Glenn S. (2020): „A Human Ecological Language Pedagogy“. In: The Modern Language Journal, Vol. 104, Supplement.
Sander, Wolfgang (2007): Politik entdecken – Freiheit leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
Schmenk, Barbara (2025): „intercultural speaker“. In: Surkamp (Hrsg.), 204-205.
Surkamp, Carola (Hrsg.) (2025): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. 3., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler.
Wehling, Hans-Georg (1977): „Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch“. In: Schiele, Siegfried/Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Klett: Stuttgart, 173-184.
Die Frühjahrskonferenz 2025 findet in einer politisch angespannten Situation statt. Es hat den Anschein, als befände sich die nach dem 2. Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Weltordnung angesichts der aktuell zu beobachtenden Verschiebung der Machtzentren, eines zunehmend rücksichtslosen Nationalismus und der partiellen Aufkündigung der Unverletzlichkeit territorialer Grenzen in einem Prozess dramatischer Veränderungen. In dieser Situation ruhen auf Europa als eigenständiger politischer und wirtschaftlicher Macht nach außen wie nach innen große Hoffnungen. Gleichzeitig erstarken in Deutschland und Europa Parteien, die traditionelle europäische Grundwerte sowie liberale demokratische Systeme in Frage stellen, aushöhlen und beschneiden wollen.
Zeitgleich stellen mit Verweis auf den rasanten technologischen Fortschritt („Knopf im Ohr“) der Ministerpräsident des an der Grenze zu Frankreich gelegenen, traditionell französischbetonten Bundeslandes Baden-Württemberg (2024, vgl. news4teachers.de) und der Rektor der größten lehrerbildenden Universität Brandenburgs (2024, Interview im DLF Kultur) die Notwendigkeit des Unterrichts einer zweiten Fremdsprache und langfristig möglicherweise sogar der bislang unhinterfragten Fremdsprache Englisch in Frage.
Angesichts der angedeuteten aktuellen welt- und bildungspolitischen Situation konzentriere ich mich in meinem Statement auf einen traditionellen, auf den ersten Blick altmodisch erscheinenden Aspekt politischer Bildung: den Erwerb von Europakompetenz. Ich stelle die These auf, dass dieses traditionsreiche Ziel zugleich ein höchst aktuelles, relevantes und realistisches Ziel für den Fremdsprachenunterricht darstellt. Angesichts der besonderen Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen konkretisiere ich es im dritten und vierten Abschnitt anhand des Schulfaches Französisch, denke aber, dass Europakompetenz mit anderen Bezugs- und Schwerpunkten genauso relevant für die anderen, insbesondere für die ‚kleinen‘ in der Schule unterrichteten Fremd- und Nachbarsprachen ist. In diesem Beitrag stelle ich Vorüberlegungen zu diesem Ziel und einem zu entwickelnden Konzept an.
Die Schwierigkeit den Begriff „Europakompetenz“ zu definieren, beginnt mit der Schwierigkeit, die Entität Europa zu bestimmen. Je nach Perspektive – geschichtlich, geographisch, kulturell, demographisch, wirtschaftlich, politisch, juristisch – umfasst es unterschiedliche Räume, die weiteste Definition stammt von Wolfgang Schmale (2000, 14 wiedergegeben nach Schreckenberg/Marchetti 2023, 9): Er sieht Europa überall dort, „wo Menschen von Europa reden und schreiben, wo Menschen Europa imaginieren und visualisieren, wo Menschen in Verbindung mit dem Namen und dem Begriff Europa Sinn und Bedeutung konstruieren.“ Diese weite Definition schließt auch Menschen ein, die (noch) nicht in Europa leben.
Die bildungspolitische Grundlage für Europakompetenz wurde von den 1978 erstmals vorgelegten und inzwischen (1990, 2008, 2020) dreimal überarbeiteten Empfehlungen der KMK zur „Europabildung in der Schule“ gelegt. Europa wird dort als vielfältiger Kontinent verstanden, der durch „ein gemeinsames historisches Erbe, gemeinsame kulturelle Traditionen und gemeinsame Werte sowie Strukturen der gemeinsamen Problemlösung“ (KMK 2020, 2) gekennzeichnet ist. In Anerkennung der Verflechtungen mit anderen Teilen der Welt und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer weltweiten Zusammenarbeit liegt der Fokus auf dem Prozess des weiteren Zusammenwachsens Europas mit dem zentralen Ziel einer dauerhaften Friedenssicherung. Dabei kommt den Bürger:innen große Verantwortung zu:
Damit übernimmt jede und jeder selbst Verantwortung für Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit sowie sozial gerechte und zukunftsfähige Lebensbedingungen in Europa und in der Welt, auch durch politische Teilhabe auf europäischer Ebene. (KMK 2020, 2)
Der Erziehungs- und Bildungsauftrag richtet sich ebenfalls an jede:n Einzelne:n:
Nachfolgende Generationen für den Begründungzusammenhang von Frieden und demokratischem Zusammenleben in Europa zu sensibilisieren, durch anschauliche Vermittlung ihr Vertrauen in ein gemeinsames Europa zu stärken und sie so zur eigenen Teilhabe an dessen Weiterentwicklung zu befähigen, ist eine zentrale Aufgabe aller Europäerinnen und Europäer. (KMK 2020, 3)
Europäer:in zu sein bedeute dabei nicht, lokale oder nationale Zugehörigkeiten aufzugeben, denn alle Menschen könnten „gleichzeitig ihrer Verbundenheit sowohl zur Herkunftsregion als auch zu Europa Ausdruck geben“ (KMK 2020, 3).
Europabildung an Schulen habe zum Ziel die Ausbildung von „Europakompetenz“: „d.h. neben europabezogenen Kenntnissen vor allem interkulturelle Kompetenz, Partizipations- und Gestaltungskompetenz sowie Mehrsprachenkompetenz“ verbunden mit dem Ziel „das Bewusstsein einer europäischen Identität als Ergänzung zu den lokalen, regionalen und nationalen Identitäten zu ermöglichen“ (KMK 2020, 5). Die Schule solle dazu beitragen, „dass ein Bewusstsein europäischer Zusammengehörigkeit entsteht (‚In Vielfalt geeint‘)“ und gleichzeitig „Interesse und Akzeptanz gegenüber der Vielfalt von Sprachen und Kulturen“ geweckt und ausgebaut werde, um der Vorurteilsbildung entgegenzuwirken und „einen Beitrag zu Toleranz und Respekt gegenüber anderen Lebensweisen sowie zur Völkerverständigung“ zu leisten (KMK 2020, 6).
Europabildung wird von der KMK als „Querschnittsthema“ (KMK 2020, 7) ausgewiesen, das Aufgabe der gesamten Schulgemeinschaft wie der einzelnen Fächer ist. Für den Unterricht moderner Fremdsprachen wird angegeben: „Für die Erschließung der kulturellen Welt Europas und das Verständnis füreinander haben die Sprachen eine zentrale Bedeutung“ (KMK 2020, 7), „Dialog- und Kommunikationsfähigkeit sind Schlüsselqualifikationen über den Sprachenunterricht hinaus“ (KMK 2020, 8). Es folgen Angaben zum bilingualen Unterricht (vgl. ebd.).
Dass dem Fremdsprachenunterricht eine zentrale Bedeutung für den Erwerb von Europakompetenz zukommt, wird auch in den von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen „Informationen zur politischen Bildung“ betont (Kohlhaas/Kreußer 2020, 4): „Die primäre und langfristig wirksamste Vermittlung ‚europäischer Kompetenz‘ erfolgt im modernen Fremdsprachenunterricht.“ Begründet wird dies damit, dass „neben der Kulturbegegnung der Erwerb von Sprachkompetenz“ (ebd.) stattfinde und beides beim Aufbau interkultureller Kompetenz helfe.
Dass es schwierig ist, „Europakompetenz“ konkreter zu definieren, zeigt eine Befragung der Universität Saarbrücken (de Riz/Stark 2007). Selbst für die zehn befragten Expert:innen, die als Entscheidungsträger:innen in Bildung, Politik, Wirtschaft und Verwaltung täglich mit dem Thema „Das Saarland als Grenzregion“ befasst sind, sei der Begriff schwer zu fassen gewesen (vgl. de Riz/Stark 2007, 3 und 6). Aus den Interviews wurde schließlich folgende Definition erarbeitet:
Europakompetenz ist die Kombination von individuell verfügbaren oder erlernbaren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen und Haltungen, mittels derer Individuen in der Lage sind, in interkulturellen Situationen mit Europäern und Europäerinnen erfolgreich und angemessen zu interagieren. Dazu benötigen sie mindestens
eine offene Haltung gegenüber allen europäischen Kulturen,
ein klares europäisches Identitätsbewusstsein,
besondere Reflexionsfähigkeiten,
Wissen über politische, historische und kulturelle Zusammenhänge innerhalb Europas[,]
Kommunikationskompetenz und
Sprachkompetenz. (de Riz/Stark 2007, 5)
So umfasse Europakompetenz „harte Faktoren“ wie Wissen und Sprachkompetenz und „weiche Faktoren“ wie Mentalität, Bereitschaft zur Anpassung und Offenheit (ebd., 5). Trotz großer Nähe zur interkulturellen Kompetenz unterscheide sich Europakompetenz von ihr deutlich „durch die Einbeziehung von Wissen über Europa und vor allem durch ein spezielles Europabewusstsein“ (ebd., 6). Damit entspricht die in den Experteninterviews gewonnene Definition im Wesentlichen den in den KMK-Empfehlungen genannten Zielen.
Aus der Sozialkunde kommend unterscheiden Kohlhaas und Kreußer (vgl. 2020, 4) vier Dimensionen einer interkulturellen Europakompetenz: Raumverständnis, Geschichtsbewusstsein und Frieden, europäisches Bewusstsein und individuelle Möglichkeiten (vgl. auch Abschnitt 3).
Der Erziehungswissenschaftler Herzig (2007) entwirft eine entwicklungstheoretische Fundierung von Europakompetenz für den schulischen Kontext. Er geht davon aus, dass Europakompetenz im Kern auf individuelle Kompetenzaspekte rekurriere: den Kenntnis- und Erfahrungsstand eines Individuums, den Grad seiner intellektuellen Fähigkeiten und das Niveau seiner sozial-moralischen Entwicklung. Europakompetenz sei dadurch eingebettet in übergreifende Bildungs- und Erziehungsziele (Herzig 2007, 168) und konstitutiver Bestandteil einer Bildungsauffassung, die dem „Leitbild eines sachgerecht, selbstbestimmt, kreativ und verantwortlich handelnden Menschen“ folge (ebd., 153). Er betont, dass der Erwerb von Europakompetenz gerade deshalb „so aufwendig und zeitintensiv“ sei, weil es nicht darum gehe, lediglich Wissensbestände zu vermitteln, sondern „grundlegende Einstellungen und Werthaltungen zu entwickeln“ (ebd., 168).1
Der Romanist Schreckenberg und der Politikwissenschaftler Marchetti verfolgen aktuell das Ziel, eine „synkritische Europadidaktik“ zu entwickeln, „die die Einheit in Vielfalt Europas […] vermittelt und damit erfahr- und begreifbar“ mache (Schreckenberg/Marchetti 2023, 9). Eine erhöhte Europakompetenz bedeute keinen „Euronationalismus“, sondern im Gegenteil einen „Schritt zu gesteigerter Weltfähigkeit“ (ebd., 10). Daher umfasse Europadidaktik einerseits das Ansinnen, Europa ganzheitlich zu fassen, andererseits, unterschiedliche Deutungsmuster anzubieten (ebd., 11). Die zentralen beiden Aspekte seien das „Lernen und Lehren des Gegenstandsbereiches Europa“ und die Eröffnung „spezifische[r] europäische[r] Perspektiven auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche“, verbunden mit der Frage nach den Möglichkeiten „einer offenen europäischen Identität“ (ebd., Hervorhebung im Original).
Aus dieser knappen Literaturschau wird deutlich, dass es bislang noch kein ausgearbeitetes Konzept einer Europakompetenz in der Fremdsprachendidaktik gibt. Da ein „akzeptiertes Konzept zur Beschäftigung mit Europa in der Politikdidaktik bislang nicht in Sicht“ sei (Müller 2020), müsste es aus der Fremdsprachendidaktik heraus erarbeitet werden. Ein solches Vorhaben wird von der Bildungspolitik gestützt, die den Fremdsprachen bei der Förderung von Europakompetenz eine zentrale Rolle zuweist bzw. zuerkennt. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Überlegungen bestätigen die Relevanz und die Zukunftsbedeutung und bieten zugleich wichtige Anregungen für die Erarbeitung eines fächergruppenspezifischen Konzepts. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, die verschiedenen Schulfremdsprachen bei einer solchen theoretisch-konzeptionellen Erarbeitung ‚komplementär‘ zu denken, d.h. für die einzelnen Sprachen zu überlegen, welche spezifischen Ziele und Aspekte aus den Gegenständen, Traditionen und Möglichkeiten des jeweiligen Faches heraus besonders gut zu realisieren sind.
Dass eine verstärkte Förderung von Europakompetenz in der Schule sinnvoll ist, zeigen ebenfalls die Ergebnisse der jüngsten TUI Jugendstudie „Junges Europa 2023“ (vgl. TUI Stiftung 2024): So zeigen die befragten Jugendlichen zwischen 16 und 26 Jahren aus acht europäischen Ländern weiterhin eine hohe Identifikation mit Europa (erfragt als rein nationale, rein europäische bzw. hybride Identität), wobei sie in Deutschland etwas niedriger liegt als in Spanien, Italien und Griechenland. Allerdings ist in allen Ländern ein Trend in Richtung Stärkung der nationalen Identität beobachtbar (vgl. ebd., 66-68). Aufmerksam machen auch die Antworten auf die Frage, welches die wichtigsten Vorzüge der EU sind: Für knapp die Hälfte (49 %) aller Befragten sind es das freie Reisen innerhalb der EU (Deutschland 51 %), die EU-Freizügigkeit für Studium und Arbeit (42 % gesamt, in Deutschland 40 %), der Euro als gemeinsame Währung (38 % gesamt, in Deutschland 45 %) sowie die EU-Grundwerte: Frieden und Solidarität (35 % gesamt, in Deutschland 41 %), Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit (32 % gesamt, in Deutschland 38 %) (vgl. ebd., Unsere Projekte). Ein Ziel der Förderung von Europakompetenz sollte es m.E. sein, ein fundiertes Verständnis der zuletzt genannten, weniger ‚greifbaren‘ Grundwerte zu erreichen.
Alle in der Schule unterrichteten Fremdsprachen sind stark durch die Aktivitäten der europäischen Institutionen, insb. den Europarat und die Europäische Kommission, geprägt. Ingeborg Christ äußerte bereits 2006 die Hypothese, „dass die praktizierende Lehrkraft vielleicht stärker durch die Arbeit der europäischen Institutionen geprägt ist, als sie es selbst zuweilen wahrnimmt“ (Christ 2006, 481). Als Stichwörter nennt sie über die zahlreichen, mit EU-Geldern geförderten Austausch- und Begegnungsprogramme oder das „Europäische Sprachensiegel“ hinaus grundlegende Prägungen des Fremdsprachenunterrichts wie den Praxis- und Anwendungsbezug des Sprachenlernens, Mehrsprachenkonzepte, Frühbeginn, bilingualen Unterricht und natürlich die Stufung des Sprachenlernens anhand des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens mit dem Europäischen Portfolio der Sprachen (vgl. ebd.).
Französisch dürfte das schulische Fremdsprachenfach sein, in dem zusätzlich zum skizzierten europäischen Einfluss die Förderung durch bilaterale Abkommen zwischen Frankreich und Deutschland besonders groß und besonders gut sichtbar ist. Im Elysée-Vertrag von 1963, erneuert durch den Vertrag von Aachen von 2019, verpflichten sich die beiden Länder zu besonderen Bemühungen, damit junge Menschen beider Länder in Schule, Ausbildung, Berufsleben und Freizeit die Nachbarsprache lernen und sich begegnen können. Dieses Bemühen manifestiert sich u.a. in den zahlreichen Programmen des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW bzw. OFAJ), in der Möglichkeit zum gleichzeitigen Erwerb des deutschen und französischen Abiturs (AbiBac), in zweisprachigen Bildungsgängen von bilingualen Kindertageseinrichtungen bis zur deutsch-französischen Hochschule oder in Programmen zum Austausch von Lehrpersonen. Zuletzt fand das Bemühen Ausdruck in der gemeinsamen Erklärung „Strategien zur Förderung der Partnersprache“. Darin wird in „Anerkennung der historischen Errungenschaft einer tiefen Freundschaft zwischen unseren Ländern“ die „elementare Bedeutung von Sprache als Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis zwischen unseren beiden Ländern“ betont (vgl. KMK 2022, 1):
Die einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zeigen, dass Sprache und Kommunikation zwischen unseren Bürgerinnen und Bürgern unverzichtbar für Frieden und Versöhnung sind – zwischen unseren Ländern, aber auch für ein geeintes Europa. (ebd., 1)
Wesentliche Elemente der Europakompetenz sind somit bereits in den aufgeführten bildungspolitischen Rahmenbedingungen und Unterstützungsmaßnahmen für das Sprachenlernen angelegt. Ziele sind „gegenseitiges Verständnis“, das Nutzen von „Sprache und Kommunikation“ sowie die Erkenntnis, dass dies „unverzichtbar für Frieden und Versöhnung“ ist, d.h. sowohl für Frieden und Versöhnung zwischen den beiden Ländern als auch für ein „geeintes Europa“. Selbst die offiziellen Formulierungen (z.B. „historische Errungenschaft“) deuten darauf hin, dass das Erreichte, „die einzigartigen Beziehungen“, weder gegeben waren noch sind, sondern dass es sich um einen andauernden, oft mühseligen Prozess handelt, das „gegenseitige Verständnis“ zwischen den beiden Ländern (und ihren Bewohner:innen) immer wieder neu zu erreichen. Damit kann die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen in ihren Höhen und Tiefen sowohl als Gegenstand für die Förderung von Europakompetenz dienen als auch als Modell dafür, wie ein permanentes Aushandeln und ‚Immer-Wieder-Annähern‘ im Bewusstsein der jeweiligen Unterschiedlichkeit gelingen kann. Gerade in Zeiten der politischen Polarisierung zeigt dieses Beispiel, dass selbst entgegengesetzte politische Vorstellungen über Ziele und Wege nicht in Gegnerschaft enden müssen, sondern dass es immer wieder neu möglich ist, produktiv mit Konflikten umzugehen und kreative Lösungen zu finden. Diese Hoffnung erscheint mir ein wichtiger Aspekt der von Herzig (2007, 168) aufgeführten „grundlegenden Einstellungen und Werthaltungen“ zu sein.
Auch wenn der Fokus auf Frankreich nach wie vor dominiert, wurden im Französischunterricht mit Belgien, der Schweiz und Kanada immer auch andere frankophone Länder und Kulturen in den Blick genommen, zunehmend auch in Afrika und Asien. Zu Recht wird jedoch angemahnt, dass sich der Französischunterricht stärker mit der deutschen und französischen Kolonialgeschichte und ihren Auswirkungen auseinandersetzen müsse. Eine Reihe konkreter Anregungen hierzu gibt der Jahrgang 2023 von Generation Europa (OFAJ/DFJW 2024, 27-31).
Anregen möchte ich, für die Strukturierung des Ziels Europakompetenz die vier von Kohlhaas und Kreußler (2021, 4) unterschiedenen Dimensionen einzubeziehen. Die Dimension „Raumverständnis“ beinhaltet u.a. das Ziel, Einblick in die sich wandelnden Strukturen Europas zu geben. Die Dimension „Geschichtsbewusstsein und Frieden“ verfolgt das anhand der politischen Dokumente bereits entfaltete Ziel „Dauer und Wandel gemeinsamer europäischer Wertvorstellungen nachzuvollziehen, Krieg als grundlegende historische Erfahrung sowie Frieden als Gestaltungsaufgabe nachbarlichen Zusammenlebens in Europa zu verstehen“. Dazu gehöre die Bereitschaft, „sich in Kultur[en] und Mentalität[en] der Nachbarstaaten“ hineinzuversetzen. Zur Dimension „Europäisches Bewusstsein“ gehört, „Einblick in Verlauf und Stand des europäischen Integrationsprozesses“ zu gewinnen und sich z.B. mit Fragen wie „Welche ökonomischen und sozialen Spannungen wie Chancen existieren in den Beziehungen der Staaten Europas?“ oder „Welche gemeinsame Verantwortung haben die Menschen in Europa für die Welt?“ zu beschäftigen. Die vierte Dimension thematisiert die „Individuellen Möglichkeiten“: „Dabei gilt es, Europa als erweiterte Chance für die eigene Berufswahl und Lebensplanung zu erkennen“ (alle Zitate ebd.).
Dabei bieten bzw. böten die in ihrer Menge kaum zu erfassenden Initiativen, Materialien und Unterrichtsvorschläge zu deutsch-französischen Themen eine reiche Quelle1: insbesondere die vielen Texte (Romane, Kinderbücher, Comics, Filme, Bilder, Karikaturen …), die Themen der deutsch-französischen Geschichte aufgreifen und künstlerisch verarbeiten und zu denen teilweise Unterrichtsvorschläge erschienen sind, oder die unterrichtspraktischen Vorschläge in den Themenheften der Zeitschrift der Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer Französisch heute, z.B. zu den Themen 1. Weltkrieg (45/2014) oder Austausch und Begegnung (46/2015, 50/2019, 52/2021). Sendungen des deutsch-französischen Fernsehsenders ARTE (z.B. die inzwischen tägliche Nachrichtensendung „Arte Journal Junior“ oder das Magazin „Karambolage“) präsentieren aktuelle deutsche und französische Perspektiven auch auf Themen über Europa hinaus, es gibt zahlreiche deutsch-französische Schülerwettbewerbe (vgl. Caspari 2014) sowie die vielen Materialien des Institut Français oder des DFJW/OFAJ (z.B. die französisch-deutsch-polnische Kinder-Internetseite „Le grand méchant loup/Der böse Wolf“). Allerdings müssten viele dieser Materialien über das Deutsch-Französische hinaus vermutlich um eine explizit europäische Dimension erweitert werden. Und möglicherweise würde eine genauere Analyse der genannten Materialien zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis führen wie es Willems (2020) in ihrer Untersuchung für die Demokratie- und Europabildung gezogen hat:
Eine erste Recherche auf dem Lehr-Lernmittelmarkt hat gezeigt, dass das Angebot zunächst sehr umfangreich zu sein scheint, wenn man die Suche auf Interkulturelle Kompetenz und auf deutsch-französische Beziehungen ausdehnt. Dabei ist jedoch klar zu erkennen, dass weder die kostenfreien noch kostenpflichtigen Materialien in der Summe zufriedenstellende Lösungen zur Förderung der Demokratie- und Europabildung im Französischunterricht anbieten. (Willems 2020, 71)
Noch wichtiger als die Suche nach bzw. die Überarbeitung von geeigneten Materialien erscheint es mir, die einzelnen fremdsprachlichen Kompetenzbereiche auf ihr Potenzial zur Förderung von Europakompetenz zu untersuchen. Dabei ist für Französisch, das meist als 2./3. Fremdsprache unterrichtet wird, das im Vergleich zur 1. Fremdsprache Englisch i.d.R. deutlich geringere Kompetenzniveau in den sprachlich-funktionalen Kompetenzen zu berücksichtigen. So stellt sich m.E. die grundsätzliche Frage, ob sich die im Kontext der politischen Bildung anbietende, als Kritik und Weiterentwicklung des Konzepts der interkulturellen Kompetenz entworfene fremdsprachliche Diskursbewusstheit von Plikat (2017) auf den Niveaustufen A1 und A2 tatsächlich sinnvoll realisiert werden kann (zum Problem des Sprachniveaus für Ziele der politischen Bildung vgl. auch den Hinweis in Grünewald/Kräling/Lüning 2017, 46). Ich vermute daher, dass auf den unteren Kompetenzstufen das Ziel der Förderung von Europakompetenz zielführender mit der Kompetenz Sehverstehen sowie mehrsprachige Ansätze verbunden werden könnte.