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Das in deutsch-polnischer Zusammenarbeit entstandene Lehrbuch bietet eine moderne Literaturgeschichte der polnischen Literatur fur Studierende. Anhand exemplarischer Analysen und Interpretationen wird die Entwicklung der polnischen Literatur von der Romantik (1822-1863) bis zur Moderne (1890-1918) - erweitert um Bezuge zu fruheren und späteren Werken - verständlich erläutert. Die Gliederung erfolgt nicht nach Epochen, sondern nach zentralen Phänomenen und Grundbegriffen der polnischen Kultur. Im Mittelpunkt stehen die Wechselwirkungen zwischen literarischen und gesellschaftlichen Prozessen, die letztlich ein Verständnis fur die polnische Kultur und Mentalität ermöglichen. Mit diesem Band wird eine Lucke auf dem deutschsprachigen Buchmarkt geschlossen und an die neuesten Trends der Literaturgeschichtsschreibung angeknupft.
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Seitenzahl: 868
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Anna Artwińska unter Mitarbeit von Agata Roćko
Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert
Grundbegriffe – Autor:innen – Textinterpretationen
Prof. Dr. Anna Artwińska ist Inhaberin des Lehrstuhls für slawische Literaturwissenschaft und Kulturstudien an der Universität Leipzig und lehrt dort westslawische Literaturen und Kulturen. Abbildung: © Anke Steinberg (Universität Leipzig)
DOI: https://10.24053/9783381104727
© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 2627-0323
ISBN 978-3-381-10471-0 (Print)
ISBN 978-3-381-10473-4 (ePub)
Der vorliegende Band Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert. Grundbegriffe – Autor:innen – Textinterpretationen geht auf das Projekt „Literatura polska bez granic / Polnische Literatur ohne Grenzen“ zurück, welches dank der finanziellen Unterstützung der Narodowa Agencja Wymiany Akademickiej (NAWA) von Oktober 2020 bis Oktober 2021 am Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau und am Institut für Slavistik der Universität Leipzig unter der Leitung von Agata RoćkoRoćko, Agata durchgeführt wurde. Im Rahmen dieses Projektes haben die Warschauer Wissenschaftler:innen Grażyna BorkowskaBorkowska, Grażyna, Wojciech KaliszewskiKaliszewski, Wojciech, Grzegorz MarzecMarzec, Grzegorz, Krzysztof MrowcewiczMrowcewicz, Krzysztof, Anna NasiłowskaNasiłowska, Anna, Magdalena Rembowska-PłuciennikRembowska-Płuciennik, Magdalena, Magdalena RudkowskaRudkowska, Magdalena, Mikołaj SokołowskiSokołowski, Mikołaj und Katarzyna Stańczak-WiśliczStańczak-Wiślicz, Katarzyna Essays zur polnischen Literatur verfasst, welche von den Studierenden der Leipziger Slawistik unter der Leitung der Übersetzerin Antje Ritter-MillerRitter-Miller, Antje ins Deutsche übersetzt wurden. Unser Dank gilt allen Verfasser:innen für das Eingehen auf die Bedürfnisse und das Curriculum der Leipziger Slawistik. Den Studierenden Adrian AlkeAlke, Adrian, Katrin GrodzkiGrodzki, Katrin, Claudia HempelHempel, Claudia, Saskia KrügerKrüger, Saskia, Laura LoewLoew, Laura, Mateusz ŁugowskiŁugowski, Mateusz, Anne-Marie OttoOtto, Anne-Marie, Katarzyna PierzyńskaPierzyńska, Katarzyna, Margarete RößlerRößler, Margarete, Justyna SeebörgerSeebörger, Justyna, Domenika SzczepekSzczepek, Domenika, Constanze SeehaferSeehafer, Constanze, Lilli SharmaSharma, Lilli, Sarah SzydlowskiSzydlowski, Sarah und Benjamin VogelVogel, Benjamin danken wir für ihre Übersetzungsarbeiten, die zum großen Teil außerhalb der regulären Lehrveranstaltungen geleistet wurden. Die gute Zusammenarbeit wäre ohne die professionelle Koordination von Agnieszka ZawadzkaZawadzka, Agnieszka (Institut für Slavistik) nicht möglich gewesen. Sie hat in jeder Phase des Projekts den Überblick behalten und darüber hinaus im Rahmen ihrer Übersetzungsseminare einige Übersetzungen fachlich betreut. Auch der Lehrbeauftragte für Polnisch im Wintersemester 2020/2021, Paweł BielawskiBielawski, Paweł, hat durch die fachliche Betreuung einer studentischen Arbeitsgruppe zur Fertigstellung der Übersetzungen beigetragen. Die Übersetzerin Antje Ritter-MillerMiller, Nancy, die u. a. Artur DomosławskisDomosławski, ArturRyszard KapuścińskiKapuściński, Ryszard. Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters (2014), Weibskram (2012) von Sylwia ChutnikChutnik, Sylwia und Fünf Jahre KZ (2020) von Stanisław GrzesiukGrzesiuk, Stanisław übersetzt hat, hat die studentischen Arbeiten gründlich und professionell Korrektur gelesen und darüber hinaus fehlende Teile selbst aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt. Wir danken ihr für ihre sachkundigen Anmerkungen, Ergänzungen und Korrekturen.
Ein Teil der in diesem Band enthaltenen Kapitel wurde bereits im Wintersemester 2020/2021 mit Leipziger Studierenden diskutiert. Die Warschauer Polnisch-Lektorinnen Paulina ChechłaczChechłacz, Paulina und Marzena SuskaSuska, Marzena führten in Leipzig anspruchsvolle Seminare durch, in denen sie die Aufsätze mit den Studierenden sprachlich und kulturell erarbeiteten. Dies war ein wichtiger Meilenstein des Projekts und wir sind den Kolleginnen für alle didaktischen Impulse sehr dankbar. Ein weiterer Teil der Essays Roćko, Agatawurde während des Forums der polnischen Sprache und Kultur in Leipzig (September 2021) in Form von Vorträgen präsentiert. Wir sind sehr dankbar, dass die Warschauer Kolleg:innen Grażyna BorkowskaBorkowska, Grażyna, Wojciech KaliszewskiKaliszewski, Wojciech, Grzegorz MarzecMarzec, Grzegorz, Magdalena Rembowska-PłuciennikRembowska-Płuciennik, Magdalena, Agata Roćko undMikołaj SokołowskiSokołowski, Mikołaj die Einladung zum Forum angenommen und mit uns über die polnische Literatur und ihre Vermittlung diskutiert haben. Einen inhaltlichen Beitrag zum Programm des Forums leisteten zudem Wissenschaftler:innen, Künstler:innen und Partner:innen aus Polen und Deutschland: Marta DzidoDzido, Marta, Alfred GallGall, Alfred, Gerhard GnauckGnauck, Gerhard, Bernd KarwenKarwen, Bernd, Karolina Leszko, Marzanna KielarKielar, Marzanna, Peter Oliver Loew, Renate SchmidgallSchmidgall, Renate, Constanze SeehaferSeehafer, Constanze und Agnieszka ZawadzkaZawadzka, Agnieszka. Das Forum wurde (digital) in Kooperation mit dem Polnischen Institut Berlin – Filiale Leipzig durchgeführt. Allen beteiligten Personen und Institutionen sei für die inhaltliche und institutionelle Zusammenarbeit herzlich gedankt.
Das Endergebnis des Projekts „Polnische Literatur ohne Grenzen“ war ein digitaler Reader mit Essays zur polnischen Literatur. An seiner Fertigstellung war Katrin GrodzkiGrodzki, Katrin maßgeblich beteiligt. Wir danken ihr für das sehr gute Lektorat und ihre klugen Anmerkungen zur polnischen Literatur. Das Layout wurde von Lucie Titscher und Samuel WagnerWagner, Samuel, die graphische Gestaltung von Franziska BeckerBecker, Franziska übernommen. Vom Wintersemester 2021 bis zum Wintersemester 2022 wurde der Reader als Lektüre in den Lehrveranstaltungen des Instituts für Slavistik eingesetzt. Dank der Anregungen der Studierenden konnte der Reader weiterentwickelt werden. Die Diskussionen mit den Studierenden haben uns auch darin bestärkt, den Reader zu einem Handbuch der polnischen Literaturgeschichte auszubauen.
Am Institut für Slavistik in Leipzig wird seit einiger Zeit die Problematik der Literaturgeschichtsschreibung als Schwerpunkt in der Lehre verfolgt. Den Auftakt bildete die von Anna ArtwińskaArtwińska, Anna und Matteo ColombiColombi, Matteo konzipierte Lehrveranstaltung „Welche Geschichte erzählt Literaturgeschichte? Herausforderungen einer transnationalen Literaturgeschichtsschreibung am Beispiel der slawischen Literaturen“, die bereits zweimal im Masterstudiengang durchgeführt wurde. Dieses Format bot eine gute Gelegenheit, unser Interesse an poststrukturalistischen Literaturgeschichten zu vertiefen und die Studierenden in die Lehre einzubeziehen. Im Mai 2021 haben Artwińska und Colombi im Rahmen der Konferenz „Le Crépuscule des paradigmes? Les canons culturels en Europe centrale: transgressions et réhabilitations depuis la fin du XXe siècle” an der Sorbonne Université einen Vortrag zu diesem Thema gehalten. Dabei wurde auch die Problematik der Literaturvermittlung angesprochen, die uns umso gravierender erscheint, je mehr wir feststellen, dass unsere Studierenden den Sinn einer Literaturgeschichte nicht mehr kennen und weder mit dem Kanon der studierten Literaturen noch mit den Debatten um den Kanon als solchen vertraut sind. (Die bearbeite Version des Vortrags erschien 2024 in der Zeitschrift der Karlsuniversität in Prag Slovo a smysl.) Der vorliegende Band kann dieses Problem nicht lösen, aber er versteht sich als ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Literaturgeschichte, die den Kanon gleichzeitig vermittelt und herausfordert. Matteo Colombi sei an dieser Stelle für die anregenden Gespräche gedankt.
Die Konzeption des Bandes und die darin vorgenommene Gliederung in drei thematische Blöcke: Romantische Paradigmen, Gesellschaftliche Schichten und ethnische Strukturen sowie Emanzipationen geht auf zahlreiche Diskussionen am Leipziger Institut für Slavistik zurück. Sie betrafen grundlegende Probleme der Literaturgeschichtsschreibung und der Didaktik der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum. Diese Einteilung spiegelt die Grundidee dieses Handbuchs wider, das versucht, Grundbegriffe und zentrale Probleme der polnischen Kultur als Mentalitätsgeschichte zu erzählen, und zwar so, dass sie auch für ein allgemein interessiertes Lesepublikum verständlich werden. Zu diesem Zweck verknüpfen die Autor:innen des Bandes die Literatur des langen 19. Jahrhunderts mit der Kultur- und Sozialgeschichte Polens und zeigen die Wirkung und Rezeption von Themen und Topoi auch in den nachfolgenden Jahrzehnten auf (vgl. Kap. 2 von Anna ArtwińskaArtwińska, Anna). Treibende Kraft war in dieser Phase Iris BauerBauer, Iris vom Institut für Slavistik in Leipzig, die nicht nur alle Texte des Readers inhaltlich redigierte, sondern auch die Didaktisierung vornahm. Dank ihrer klugen Anregungen nahmen die Aufsätze die Form von Lehrbuchkapiteln an. Darüber hinaus hat sie viele konstruktive Impulse für die Weiterentwicklung des Readers zu einem Lehrbuch gegeben und umgesetzt. Die endgültige Fassung des Titels entstand im Austausch mit der Hamburger Kollegin Anja TippnerTippner, Anja. Für all diese Mühe und den intellektuellen Input möchten wir uns herzlich bedanken. Das erste Kapitel des Bandes von Maria JanionJanion, Maria erschien bereits 1998 als Vorwort zum Band Polnische Romantik in der Reihe „Polnische Bibliothek“ (Suhrkamp) und wird nun mit Genehmigung des Übersetzers Hans-Peter Hoelscher-ObermaierHoelscher-Obermaier, Hans-Peter veröffentlicht. Iris Bauer und Anna SobieskaSobieska, Anna von der Polnischen Akademie in Warschau sind die Autorinnen, die nicht am Projekt „Literatura polska bez granic“ beteiligt waren und ihre Beiträge nachträglich für den Band Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert – Grundbegriffe – Autor:innen – Textinterpretationen verfasst haben. Der Studentin Anne-Marie OttoOtto, Anne-Marie sei für die Fertigstellung der Übersetzung des Beitrags von Anna Sobieska gedankt. Die Kapitel von Anna Artwińska wurden teilweise während des Forums im September 2021 vorgestellt und für den Band grundlegend überarbeitet. Das abschließende Lektorat der Beiträge übernahm Lucie Titscher mit der Unterstützung von Richard WeißWeiß, Richard. Für ihre sorgfältigen Korrekturen, inhaltlichen Anregungen und die sehr gute Koordination sind wir ihr ebenfalls zu großem Dank verpflichtet. Der Zeitstrahl, der als didaktische Hilfe gedacht ist, wurde von Pedro StoichitaStoichita, Pedro gestaltet. Wir gehen davon aus, dass diese Visualisierung ihren Zweck erfüllt und den Studierenden hilft, sich einen Überblick über die polnische Literaturgeschichte zu verschaffen. Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag danken wir für die Aufnahme unseres Bandes in die Reihe „narr Studienbücher – Literatur- und Kulturwissenschaft“.
Obwohl der Band im Hinblick auf die Seminarpläne der Leipziger Polonistik konzipiert wurde, ist seine Anwendung nicht auf Leipzig beschränkt. Seine intendierten Leser:innen sind Studierende und alle anderen Interessierten, die nur über geringe Vorkenntnisse der polnischen Literatur verfügen. Sie erhalten Einblick in den Kanon der polnischen Literatur von der Romantik bis zur Zwischenkriegszeit: Sie lesen Interpretationen literarischer Klassiker wie Adam MickiewiczMickiewicz, Adam, Juliusz SłowackiSłowacki, Juliusz oder Stanisław WyspiańskiWyspiański, Stanisław; darüber hinaus werden ihnen Themen und Probleme wie die Spezifik der polnischen Intelligenz als gesellschaftliche Schicht oder die Entstehung des polnischen Opfernarrativs im 19. Jahrhundert erläutert. Obwohl der Schwerpunkt des Bandes auf Werken, Themen und Problemen der polnischen Kultur von 1822 bis 1939 liegt, werden punktuell auch frühere und spätere Phänomene besprochen, die für das Verständnis der behandelten Problematik notwendig sind. Die Kapitel streben deshalb keine chronologische Anordnung des Materials an, sondern es geht im Sinne einer poststrukturalistischen Literaturgeschichtsschreibung eher um einen problemorientierten Ansatz und eine solche Kartographierung der polnischen Literatur, in der es auf die Querverbindungen und Verflechtungen zwischen Werken, Autor:innen, Motiven, Themen und Problemen ankommt.
Die meisten Kapitel sind essayistisch geschrieben und lassen als solche nicht nur den Schreibstil, sondern auch die Meinung der Verfasserin bzw. des Verfassers erkennen. Dies begründet sich durch die Tradition der polnischen Literaturgeschichtsschreibung und sollte nicht als Hindernis für den Erkenntnisgewinn angesehen werden.
Im Band wird mit Doppelpunkt gegendert. Im Falle von nationaler, ethnischer bzw. ethnisch-religiöser Zugehörigkeit gendern wir nicht, wenn es die Gruppe betrifft, sondern nur, wenn es um Einzelpersonen geht (z. B. „Ukrainer bildeten die drittgrößte Bevölkerungsgruppe im Doppelstaat Polen-Litauen“ vs. „Der Text wurde unter Ukrainer:innen kontrovers diskutiert“). Im Falle jüdischer Personen wird die Formulierung ‚Jüdinnen und Juden‘ verwendet.
Zur besseren Orientierung im Buch sind zentrale Begriffe und Schlagwörter durch Fettdruck hervorgehoben. Außerdem sind manche Abschnitte in Infokästen gefasst und mit Icons versehen, die unterschiedliche Funktionen haben. Es handelt sich dabei um Abschnitte,
die kurze Definitionen der verwendeten Termini bieten,
in denen näher auf Personen eingegangen wird, von denen im Kapitel die Rede ist,
die wichtige Informationen zu den im Kapitel besprochenen literarischen Werken und Phänomenen vertiefen,
in denen der jeweilige kulturhistorische Hintergrund erläutert wird.
Der Titel dieses Kapitels bezieht sich auf Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs berühmte Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ aus dem Jahre 1789. Angelehnt an Schillers Titelfrage werden im Folgenden die Rolle und die Funktion der polnischen Literaturgeschichte im Rahmen einer ausländischen Polonistik bzw. Slawistik erklärt. Das Kapitel erläutert den Begriff der Literaturgeschichte sowie dessen Bedeutungsfeld und führt in die Diskussion über die Methoden der Literaturgeschichtsschreibung ein. Die Rolle der Literaturgeschichte als Genre und die Problematik des literarischen Kanons als Konstrukt werden erörtert. Im Mittelpunkt steht die Frage, warum eine vertiefte Auseinandersetzung mit literarischen Texten ohne Kenntnis der jeweiligen Literaturgeschichte und ihres Kanons nicht möglich ist und wie literaturgeschichtliches Denken erlernt werden kann. Darüber hinaus wird der vorliegende Band im Hinblick auf das Studium der Slawistik oder verwandter Studienrichtungen kurz vorgestellt.
Unter Literaturgeschichte versteht man im Allgemeinen die zeitliche Entwicklung einer Nationalliteratur.
[…] Literary history is a kind of writing, that draws on specialized historical literary studies to construct a synthesis, and produces the impression of a plausible ‚totality‘ in its representation of given literature and literary development. (JuvanJuvan, Marko 2006, 17)
Im Falle der polnischen Literatur beginnt diese Entwicklung im Mittelalter (10.–15. Jahrhundert). Der älteste poetische Text der polnischen Literatur ist das Marienlied BogurodzicaBogurodzica[MuttergottesMuttergottesBogurodzica] aus dem 13. Jahrhundert. Eine vollständige Geschichte der polnischen Literatur müsste jedoch noch etwas früher beginnen: Vor Bogurodzica entwickelte sich die polnische Literatur in lateinischer Sprache, der lingua franca der damaligen Zeit. Nach dem Mittelalter folgten weitere Epochen: Renaissance, Barock, Aufklärung, Romantik, Positivismus, Junges Polen, Literatur der Zwischenkriegszeit und – ab 1945 – eine weit verstandene Gegenwart (siehe den Epochenüberblick am Ende dieses Buches).
Literarische Epoche
Eine literarische Epoche ist ein Periodisierungsabschnitt in der Literaturgeschichte. In einer Epoche formiert sich die literarische und kulturelle Produktion nach bestimmten ideologischen und ästhetischen Mustern, die ihr spezifisch sind. Ein wichtiges Kriterium zur Konstruktion einer Epoche ist die Festlegung ihres Beginns und ihres Endes – der sogenannten Epochenschwellen. In diesem Begriff ist der etymologische Ursprung des aus dem Griechischen stammenden Terminus Epoche erkennbar. Bevor die Epoche zur Bezeichnung eines Zeitraums wurde, beschrieb sie einen Halt- oder Fixpunkt in der Geschichte (vgl. JappJapp, Uwe et al. 2002, 16).
Epochen werden durch historische Ereignisse, philosophische Konzepte und anthropologische Modelle geprägt, die über ihre Besonderheiten entscheiden. Die polnische Romantik (1822–1863) wurde beispielsweise von der Französischen Revolution, der Naturphilosophie Friedrich Wilhelm SchellingsSchelling, Friedrich Wilhelm und dem Ideal der transzendenten Liebe beeinflusst. Als Initialereignisse einer Epoche können u. a. historisch relevante Momente, ästhetische Neuerungen oder poetologische Positionierungen einer Schule fungieren, die das bisher geltende Paradigma verändern und die Grundlage für eine Weiterentwicklung schaffen.
Die zeit-räumliche Individuation einer Epoche erfordert vorrangig Selektionskriterien bezüglich desjenigen, was Teil ist. Bevor wir Grenzen ziehen, müssen wir die Identität bestimmen. (AchermannAchermann, Eric 2002, 22)
So gilt das Debüt des Nationaldichters Adam MickiewiczMickiewicz, Adam im Jahr 1822, das das klassische Paradigma der Aufklärung sprengte, als Beginn der polnischen Romantik. Das Ende der romantischen Epoche markiert die Niederschlagung des Januaraufstands (1863/64), der die Grenzen des romantischen Geschichtsverständnisses aufzeigte. Das Epochenkonzept ist ein praktikables Werkzeug für die Vergegenwärtigung und Rekonstruktion der literarischen Vergangenheit. Es wird eingesetzt, um „[…] der Gegenwart die Zusammenhänge historischer Verläufe interpretierend einsichtig zu machen“ (BrennerBrenner, Peter 2011, X). Die Einteilung der Literaturgeschichte in Epochen etablierte sich als Praxis im 19. Jahrhundert, die Benennung der jeweiligen Epochen erfolgt meistens post factum.
Die meisten Texte der polnischen Literaturgeschichte sind in polnischer Sprache verfasst, es gibt jedoch auch Ausnahmen von dieser Regel: Zur Geschichte der polnischen Literatur gehört auch die lateinische Literatur des Mittelalters und der Renaissance sowie die kulturelle Produktion der auf dem polnischen Territorium lebenden Minderheiten (siehe Kap. 12 zur jiddischen Literatur). Ein wichtiger Teil sind zudem Werke, die außerhalb Polens entstanden sind (und weiterhin entstehen), wie beispielsweise epische und dramatische Texte von Witold GombrowiczGombrowicz, Witold (1904–1969) in Argentinien oder die Prosa von Natasza GoerkeGoerke, Natasza (geb. 1960) in Deutschland. Sie werden unter dem Begriff polnische (E-)Migrationsliteratur zusammengefasst. Während die Emigration die Unfreiwilligkeit des Lebens im Exil impliziert, versteht sich die Migration als Akt freier Zirkulation zwischen den Kulturen. Polnische Autor:innen, die einen Sprachwechsel vollzogen haben und in der Sprache des Ankunftslandes bzw. der Ankunftsländer schreiben, können im transnationalen Kontext oder/und als Teil mehrerer Literaturgeschichten verortet werden. Ein markantes Beispiel hierfür wäre das Werk von Joseph ConradConrad, Joseph vs. Józef KorzeniowskiKorzeniowski, JózefConrad, Joseph (1857–1924), der polnischsprachig aufgewachsen ist und auf Englisch schrieb. Als Teil der englischsprachigen Literaturgeschichte stellt Conrad bzw. seine polnisch-ukrainische Identität auch im Kontext der Literaturen Ostmitteleuropas einen Untersuchungsgegenstand dar. Die Debatten um die Transnationalität verschränken sich heutzutage mit dem Postulat der Erweiterung des Begriffs der Literaturgeschichte um andere digitale Medien, da die Literatur als kulturelles kollektives Speichermedium im 21. Jahrhundert ihren singulären Status verloren hat. Auch diese neuen Medien können in einer historischen Perspektive untersucht werden.
Eine Literaturgeschichtsschreibung versucht eine Ordnung und einen Sinnzusammenhang zwischen den Texten einer Literatur herzustellen, was durch unterschiedliche Verfahren und aus unterschiedlicher Perspektivierung erfolgen kann. Aus diesem Grund müssen Literaturgeschichten immer in ihrem zeitlich-ideologischen Kontext gelesen werden. Eine Literaturgeschichte, die der Nobelpreisträger Czesław MiłoszMiłosz, Czesław (1911–2004) im Jahr 1969 im Exil für seine amerikanischen Student:innen geschrieben hat, unterscheidet sich von einer Darstellung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Volksrepublik Polen die marxistische Ideologie untermauern sollte. Eine Literaturgeschichte ist somit nichts Gegebenes und keine essentialistische Größe. Sie entsteht als Produkt der interpretativen Arbeit von Literaturhistoriker:innen, die in ihr ihre Vision und ihr Verständnis der literarischen Vergangenheit artikulieren. Mit der Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-EgelhaafWagner-Egelhaaf, Martina kann man deswegen von Literaturgeschichte als einer „operativen Fiktion“ sprechen (Wagner-Egelhaaf 2014). Der konstruierte Charakter einer Literaturgeschichte bedeutet jedoch nicht, dass sie völlig beliebig ist. Im Gegenteil: Sie hat den Anspruch, die ‚wichtigsten‘ und ästhetisch anspruchsvollsten Autor:innen und Werke darzustellen und zu besprechen – ihre „operative“ Funktion ist der „fiktionalen“ übergeordnet. Die Frage, die sich dabei stellt, ist die, nach welchen Kriterien die ‚wichtigsten‘ Werke ausgewählt werden. Wer entscheidet darüber, welche Texte hohe ästhetische Qualität haben und welche nicht? Wie kommt es dazu, dass in den meisten europäischen Literaturgeschichten vom 10. bis 20. Jahrhundert kaum Autorinnen verzeichnet sind? Warum verändert sich der Konsens über eine Epoche von Generation zu Generation? Diese komplexen Fragen und die mit ihnen verbundenen Mechanismen hängen eng mit dem Konzept des Kanons und der Wertebildung (WinkoWinko, Simone 1997) zusammen.
Literaturkanon
Ein Literaturkanon (griechisch kanon – Regel, Maßstab, Richtschnur) ist ein Korpus von literarischen Texten, die eine bestimmte Trägergruppe „für wertvoll hält und an deren Überlieferung sie interessiert ist“ (WinkoWinko, Simone 1997, 585). Der Begriff Kanon hat einen religiösen Ursprung; er bezeichnete zuerst eine durch das Judentum und das Christentum verbindlich festgelegte Zusammenstellung heiliger Schriften. Diese kanonisierten Schriften wurden zum Maßstab der Religionsausübung erklärt.
Ein Kanon wird durch Bildungsinstitute, kulturelle Institutionen, Verlage aber auch Lektürelisten an den Universitäten und Schulen festgelegt. In einer Gesellschaft übernimmt er eine Orientierungsfunktion und gibt Auskunft darüber, welche Texte lesenswert sind (man merkt das an Reihen, die in etwa so lauten wie „Die 100 besten Werke der spanischen Literatur“ oder anhand der Vermarktungsstrategien bestimmter Autor:innen). Ein Kanon ist Produkt seiner Zeit und hat als solcher einen konstruierten Charakter. Vergleicht man die Auffassungen vom Kanon aus verschiedenen Zeitabschnitten, erfährt man viel über die jeweiligen politischen und kuturellen Erwartungen, die an die Literatur herangetragen werden. Die normativen Kriterien der Kanonisierung sind nämlich nur teilweise verbindlich, teilweise werden sie aufs Neue von einer Trägergruppe zur anderen ausgehandelt. Simone WinkoWinko, Simone legt dar, dass ein literarischer Text an sich weder wertvoll noch wertlos ist, erst nachdem er auf einen Wertmaßstab bezogen wird, kann sein Wert ermittelt werden (Winko 1997, 585). Dass die Wertmaßstäbe sich im Laufe der Zeit verändern, zeigte in aller Deutlichkeit die Kanondebatte in den USA. Sie begann 1981 mit der Publikation des Buches English Literature: Opening Up the Canon von Houston A. BakerBaker, Houston Alfred und Leslie FiedlerFiedler, Leslie und stand im Kontext der Freiheitsbewegungen von Afroamerikaner:innen, Frauen, Schwulen, Lesben und anderen unterrepräsentierten Gruppen. Infolge dieser Debatte wurde der Kanon an den Universitäten um neue Traditionen erweitert und neu perspektiviert (vgl. FludernikFludernik, Monika 2007, 51).
Kanondebatte in Polen
Obwohl es in Polen keine vergleichbar intensive und verhängnisvolle Kanondebatte wie in den USA gab, ließen sich nach der politischen Wende 1989 trotzdem markante Verschiebungen im Kanon beobachten. Dies betraf vor allem die Bewertung der zeitgenössischen Literatur von Frauen, die anfangs noch abwertend als ‚Menstruationsliteratur‘ bezeichnet wurde, sowie die Literatur von bisher wenig beachteten ethnisch-kulturellen Minderheiten. Durch die Impulse seitens der Cultural Studies wurden auch einige kanonische Texte von Autor:innen neu gelesen und interpretiert. Darüber hinaus erweiterte man den polnischen Kanon nach 1989 um die Unterhaltungsliteratur.
Die Frage nach dem Kanon stellt sich besonders intensiv im Kontext der ausländischen Polonistik. Es geht dabei primär darum, welche Texte man mit den Studierenden im Ausland überhaupt diskutieren soll und wie realistisch es ist, ihnen ein kanonisches Wissen über die polnische Literatur beizubringen, die sie nicht aus der Schule kennen und häufig an den Universitäten zum ersten Mal – und nicht selten nur in der Übersetzung – lesen (vgl. WilczekWilczek, Piotr 2020). Vor diesem Hintergrund ist die Kanondebatte vor allem ein Gegenstand der Literaturdidaktik, der die Frage nach dem Jonglieren zwischen der Vermittlung des Kanons und seiner Dekonstruktion sowie danach „[…] was man überhaupt unterrichten soll“ (ShalcrossShalcross, Bożena 2014, 278) impliziert. Nicht zufällig verzeichnen die Lektürelisten der ausländischen Polonistik selten all diejenigen kanonischen Werke der polnischen Literatur, die in den Pflichtprogrammen der polonistischen akademischen Ausbildung in Polen vorgesehen sind. Diese Tatsache lässt sich zum Teil auf die Modalitäten des sehr kurzen B.A.-Studiums zurückführen, ergibt sich aber vor allem aus dem Verständnis des Kanons und seiner Rolle im Literaturunterricht. Meine Erfahrungen als Dozentin zeigen, dass die Problematik der Dekonstruktion des Kanons und seiner Erweiterung auf reges Interesse der Studierenden stößt, weil sie paradigmatisch die Machtverhältnisse in der literarischen Kommunikation offenlegt und sich für Inklusion in der Academia einsetzt. Die aktive Beschäftigung mit dem Kanon stellt dagegen eine Herausforderung dar, weil man nicht gewöhnt ist, sich auch mit solchen literarischen Texten zu befassen, die man außerhalb des Unterrichts wahrscheinlich nicht lesen würde. Das Argument aus den alten Zeiten: „Das sollte man aber kennen“ scheint nicht mehr zu greifen bzw. ist nicht mit dem politisch-gesellschaftlichen Umfeld der Studierenden in Deutschland zu korrelieren. Solange das fragmentierte Wissen nicht als Problem – und zwar für die intellektuelle Entwicklung eines Subjekts – begriffen wird, scheint das Desinteresse gegenüber dem Kanon schwer lösbar zu sein. Vielen Berichten nach wird bereits in der Schule ein selektives Bild der Vergangenheit vermittelt (ArtwińskaArtwińska, Anna/ColombiColombi, Matteo 2023). Hinzu kommt, dass auch eine punktuelle Beschäftigung mit Literatur auf einem hohen Niveau erfolgen und intellektuell erfüllend sein kann, sodass man erstmal verstehen muss, warum man dennoch systematisch lesen soll und nicht nur das, was ‚interessant‘ ist.
Auch in der Forschung ist die generelle Abkehr von einer systematischen Literaturvermittlung und die Vernachlässigung großer Überblicksdarstellungen kein neues Phänomen (vgl. WerbergerWerberger, Annette 2012). Bereits die Russischen Formalisten haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die bisherigen literaturhistorischen Traditionen des Faches kritisiert. Sie griffen jene Literaturgeschichten an, die durch das additive Verfahren nach einer Vollständigkeit des präsentierten Materials strebten und auf eine Auflistung statt Problematisierung der literarischen Vergangenheit setzten. Oft wird in diesem Zusammenhang das Urteil von Roman JakobsonJakobson, Roman zitiert, der die traditionellen Literaturhistoriker mit Polizisten verglich, die in Annahme einen Dieb zu finden gleich ein ganzes Haus zu verhaften versuchen (vgl. Jakobson 1987, 185). Für die Eigengesetzlichkeit der Literatur sprach sich Jurij TynjanovTynjanov, Jurij in seiner Studie zur literarischen Evolution (1927) aus, indem er die Entwicklung der Literatur nur aus einer inneren Notwendigkeit herleiten wollte, ohne dabei äußere (psychologische, philosophische, politische etc.) Einflüsse zu berücksichtigen. Sein Konzept der literarischen Evolution wurde später durch die Strukturalist:innen in Ostmitteleuropa (u. a. Jan MukařovskýMukařovský, Jan, Felix VodičkaVodička, Felix, Janusz SławińskiSławiński, Janusz, Aleksandar FlakerFlaker, Aleksandar und Peter ZajacZajac, Peter) aufgenommen.
Die Skepsis des Russischen Formalismus gegenüber der Literaturgeschichtsschreibung griffen neben dem Strukturalismus auch andere Forschungsrichtungen in den 1970er Jahren neu auf. „Literaturgeschichte ist in unserer Zeit mehr und mehr, aber keineswegs unverdient in Verruf gekommen“, stellte 1974 Hans Robert JaußJauß, Hans Robert in seinem Essay mit dem bezeichnenden Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft fest, in dem er anstelle einer national-positivistischen eine rezeptionsästhetische Perspektive auf die Welt der Texte postulierte. Jauß interessierte die Wirkung und die Aufnahme, die ein literarischer Text im Laufe der Zeit bei seinem Publikum findet; er verstand somit die Leser:innen als ausschlaggebend im Prozess der literarischen Kommunikation. Die Literatur war für ihn nicht die Projektionsfläche für nationale Diskurse, sondern ein Medium, das durch die Rezeption sein Wirkungspotential entfalten kann (vgl. Jauß 1974, 144). Wie viele anderen Zeitgenoss:innen teilte auch Jauß die These über das Ende der grand récits, der ‚großen Erzählungen‘ (Jean François LyotardLyotard, Jean François) in der Zeit der Postmoderne. Dieses diagnostizierte Ende der großen, sinnstiftenden Erzählungen in der heterogenen Gegenwart führte zur Hinterfragung des Sinns und der Möglichkeit einer traditionellen Literaturgeschichte, insbesondere einer solchen, die sich an nationalen Koordinaten orientiert. Als Konsequenz forderte man aber nicht die Abschaffung der Literaturgeschichte als Gattung, sondern ihre Redefinierung. Die Rezeptionsästhetik war eine von vielen anderen möglichen Antworten auf die Frage, wie eine neue Literaturgeschichte auszusehen hat. Die intellektuelle Atmosphäre der damaligen internationalen Debatten rund um diese Thematik fasst der Band The Attack on Literature and Other Essaysvon 1973 zusammen, der u. a. das bekannte Essay The Fall of Literary History von René WellekWellek, René beinhaltet. In der polnischen Literaturwissenschaft wurde die kritische Perspektive auf die Literaturgeschichte in dieser Zeit u. a. durch die Stimmen von Michał GłowińskiGłowiński, Michał, Maria JanionJanion, Maria, Henryk MarkiewiczMarkiewicz, Henryk, Janusz SławińskiSławiński, Janusz und Jerzy ZiomekZiomek, Jerzy postuliert – also von Forscher:innen, die sich vorher wie Sławiński und Głowiński als Strukturalisten verstanden, oder wie Janion, Markiewicz und Ziomek marxistische Positionen vertreten hatten. Sie alle gaben sich nicht mit der Feststellung der Krise zufrieden, sondern versuchten die Aufgaben einer Literaturgeschichte neu zu bestimmen.
Probleme der Literaturgeschichtsschreibung
Zur Skepsis gegenüber der Literaturgeschichtsschreibung kommt heute noch der Zweifel hinzu, ob sich eine Literaturgeschichte, die wie die polnische die Zeit vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert umfasst und aus unzähligen Strömungen, Gattungen, Autor:innen und Texten besteht, überhaupt noch kohärent erzählen lässt. Eine Literaturgeschichte von BogurodzicaBogurodzica bis zur Nobelpreisträgerin Olga TokarczukTokarczuk, Olga (2019) in Form einer Überblicksvorlesung oder in einem Band? Das Handbuch von Anna NasiłowskaNasiłowska, Anna: Historia literatury polskiej (2019, [Geschichte der polnischen Literatur]), das im Mittelalter beginnt und im Jahr 1980 endet, würde diese Frage bejahen. Es ist aber eher die Ausnahme als die Regel.
Um die in den 1970er Jahren entstandene Kritik an der tradierten Literaturgeschichtsschreibung zu verstehen, muss man zunächst einen Schritt zurückgehen und sich mit früheren literaturgeschichtlichen Konzeptualisierungen befassen. Die negative Bezugsebene bildeten für die Kritiker:innen die im Kontext der nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen entstandenen Literaturgeschichten aus dem 19. Jahrhundert, die in der Literatur ‚einen individuellen Charakter einer Nation‘ zu finden glaubten und eine Parallele zwischen der Entwicklung einer Nation und der Literaturentwicklung sahen.
All of the most important literary histories in the nineteenth century were narratives, and they traced the phases or sometimes the birth and/or death of a suprapersonal entity. This entity might be a genre, such as poetry; the ‚spirit‘ of an age, such as classicism or romanticism; or the character or ‚mind‘ of a race, region, people, or nation as reflected in its literature. (PerkinsPerkins, David 1992, 2)
Demnach sollte die Literatur über die Wissensvermittlung hinaus bei der ‚nationalen Identitätsfindung‘ behilflich sein und diese aktiv fördern und rekonstruieren. Da man bis zu diesem Zeitpunkt unter Literaturgeschichte eine Art Enzyklopädie oder bibliographische Zusammenstellung verstand, die sich eher für das Aufzeichnen und Sammeln von Fakten als für deren Interpretation interessierte, gab der nationale Ansatz zweifelsohne eine neue Richtung vor.
Als Gründungsvater dieser neuen philosophischen Ausrichtung gilt der deutsche GelehrteJohann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried (1744–1803). In seinen Schriften Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) befasste er sich mit der Entstehung der Nationen und Völker und stellte die These auf, dass die Menschheit in Form von divergierenden Geschlechtern und Landarten, d. h. Identitäten existiert, die historisch, geographisch und sprachlich determiniert sind.
Nach HerderHerder, Johann Gottfried ist die Aufgabe des Menschen, den Ursprung des jeweiligen Geschlechts zu finden und seine historische, kulturelle und auch sprachliche Besonderheit zu bestimmen. Die Zugehörigkeit zu einer Nation wird demnach per Geburt bestimmt; der Ort, seine Geschichte und seine Landschaft würden eine Bindung unter den dort lebenden Individuen schaffen. Diese zeigt sich in der Vaterlandsliebe und dem Stolz auf die eigene Zugehörigkeit und Herkunft. In der polnischen Literatur wurde Herders Idee durch den Philosophen und Publizisten Maurycy MochnackiMochnacki, Maurycy (1803–1834) weiterentwickelt. Seine Studie O literaturze polskiejO literaturze polskiej w wieku XIX w wieku XIX[Über die polnische Literatur im 19. JahrhundertÜber die polnische Literatur im 19. JahrhundertO literaturze polskiej w wieku XIX] aus dem Jahr 1830 erklärte die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts – in Anlehnung an HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Begriffe des Nationalgeistes und des nationalen Ursprungs – zum „Gewissen der polnischen Nation“ und sah in ihr die Garantie für das Überleben „des polnischen Volkes“. Die Literatur der Romantik würde nach Mochnacki den Prozess „des Bewusstwerdens des Nationalgeistes“ unterstützen, denn anders als die fremde, „französische“ Aufklärung knüpft die Romantik an vorchristliche Traditionen und das Mittelalter an, also an die Zeiten der Entstehung des „polnischen Geistes“, und setzt sich darüber hinaus aktiv für seine Weiterentwicklung ein.
MochnackisMochnacki, Maurycy Nationstheorie
Wie für die Romantik allgemein typisch, führte auch MochnackiMochnacki, Maurycy seine Nationstheorie auf die gemeinsame Abstammung, Sprache, Landschaft, Tradition und Religion zurück (vgl. Mochnacki 2000).
In der Literaturgeschichtsschreibung hatte das nationale Prinzip nicht nur für die Wahl der Thematik, sondern auch für die Anordnung des Materials und für die Schreibweise Folgen. Mit den Worten des Literaturhistorikers Stefan SawickiSawicki, Stefan:
Die gleichen Gründe, die die Nationalliteratur in den Vordergrund rückten, […] legten auch einen Aspekt der Literaturbetrachtung nahe. Es war der nationale Aspekt. Man begann sich für alles zu interessieren, was in der literarischen Tradition vertraut und heimisch war, während man zu dem, was man als mehr oder weniger explizite Kopie fremder Vorbilder ansah, nur zögerlich Stellung bezog, bis hin zur völligen Ignoranz gegenüber der polnischen Literatur in lateinischer Sprache. (SawickiSawicki, Stefan 1967, 32)
Ein Beispiel für eine so verstandene Literaturgeschichte wäre Michał WiszniewskisWiszniewski, MichałHistorya literatury polskiej(1840–1857, [Geschichte der polnischen Literatur]), eine mehrbändige Überblicksgeschichte, die eine Verbindung zwischen der Zeit vor der Christianisierung Polens und der Gegenwart des Autors herstellte. Die „polnisch-slawische Literatur“ wurde als Quelle des polnischen nationalen Charakters verstanden, der sich im Laufe der Zeit durch fremde Einflüsse veränderte und lediglich in der Volkskultur in einer reinen Form erhalten blieb. Die romantische Hinwendung zur Volkskultur und Folklore wurde in dem Kontext als eine Rückkehr zum ‚Ursprung‘ verstanden, dank der sich die polnische Nation weiterentwickeln kann. Das Bedürfnis nach einer Literaturgeschichte, die nicht nur bibliographisches Wissen zusammenstellt, sah Wiszniewski als Folge der Verschränkung von Nation und Text:
Erst um 1820, als die Zeit der polnischen Literatur kam […], wurde das Bedürfnis nach einer Literaturgeschichte immer stärker empfunden. Denn um diese Zeit erschien die polnisch-slawische Muse, deren einheimische Züge und die Düsternis, die sich über ihr Gesicht ergoss, alle in ihren Bann zog […].
Dopiero około 1820 roku, kiedy czasy literatury polskiej spełniły się […] coraz mocniej potrzeba historii literatury czuć się dawała. Pojawiła się albowiem około tego czasu Muza polsko-słowiańska, której rodzime rysy i rozlana po twarzy posępność wszystkich zachwyciła […]. (WiszniewskiWiszniewski, Michał 1840, IIf.)
Die Wahrnehmung der Romantik als höchster Entwicklungsstufe der polnischen Literaturgeschichte hielt sich noch lange nach WiszniewskiWiszniewski, Michał, auch wenn man später nicht mehr das Endstadium der Literatur in ihr sah.
Neben dem nationalen Paradigma betraf die Kritik auch das positivistische, d. h. jenes Paradigma, das die biographisch-psychologischen Aspekte bei dem Prozess des Schreibens einer Literaturgeschichte in den Vordergrund rückte und den literarischen Verfahren und der Eigengesetzlichkeit der Literatur wenig Aufmerksamkeit schenkte. (Das Adjektiv ‚positivistisch‘ bezieht sich zum einen auf die Epoche des Positivismus, zum anderen beschreibt es abwertend einen bestimmten Stil des wissenschaftlichen Arbeitens, in dem eine eigenständige und kritische wissenschaftliche Herangehensweise zugunsten von als naiv eingestuften Erklärungen aufgegeben wird.) Nach Henryk MarkiewiczMarkiewicz, Henryk blieb das positivistische Paradigma in der polnischen Literaturgeschichtsschreibung bis zum Zweiten Weltkrieg sehr präsent. Eine neue Phase leitete erst die Historia literatury polskiej [Geschichte der polnischen Literatur] von Julian KrzyżanowskiKrzyżanowski, Julian aus dem Jahr 1939 ein, die einen wissenschaftlichen Anspruch erhob und auf moralisch-patriotische Bewertungen der literarischen Texte verzichtete (Markiewicz 1985, 184f., vgl. auch MajMaj, Joanna 2021, 39ff.). Deswegen galt sie auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg als ein Standardwerk.
Julian KrzyżanowskiKrzyżanowski, Julian distanziert sich von der These der Einzigartigkeit der polnischen Literatur in Europa und in der Welt und geht mit offener Ironie mit der Überzeugung um, dass sie diese Stellung ihrem Hauptmerkmal, der Liebe zum Vaterland, verdanke […]. Er sagt, in solchen Urteilen stecke zu viel Pathos […]. Statt vom Patriotismus spricht er lieber vom kollektiven Leben, das in unserer Literatur über das individuelle Leben gestellt werde. (SkrendoSkrendo, Andrzej 2019, 139f.)
Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, die die Literaturgeschichtsschreibung mit sich bringt, kann nicht auf eine Literaturgeschichte verzichtet werden. „[…] [W]e cannot write literary history with intellectual conviction, but we must read it“ (PerkinsPerkins, David 1992, 17). Die historische Perspektive auf Literatur ermöglicht die Zusammenhänge zwischen Strömungen, Texten und Autor:innen zu begreifen und Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu verfolgen. Die Dekonstruktion des Kanons als eine politische Aufgabe kann nur gelingen, wenn man versteht, wie, warum und von wem der jeweilige Kanon so und nicht anders konstruiert wurde. Auch die Versuche, die Literaturgeschichte zu zensieren oder aus politischen Gründen umzuschreiben – was übrigens nicht nur im Stalinismus passierte – erschließen sich nur dann, wenn man die zeitlichen, historischen und kulturellen Hintergründe kennt. Diese Art von Wissen ist mit einem hohen Lesepensum verbunden, erfordert Zeit und intellektuelle Kraft – damit ist sie nicht einfach in den studentischen Alltag zu integrieren. Doch es lohnt sich.
Nutzen literaturhistorischer Kategorien
Ein Denken in literaturhistorischen Kategorien bietet Orientierung und ist ein Mittel gegen das fragmentarische und zerstückelte Wissen: Es emanzipiert. Man studiert eine Literaturgeschichte nicht nur, um sich Wissen über Texte und Autor:innen anzueignen. Literarische Texte können durch die Erschließung literaturgeschichtlicher Kontexte tiefer gelesen und verstanden werden.
Es ist ein befriedigendes Gefühl, wenn man beispielsweise erklären kann, auf welche romantischen Denkfiguren der Titel des Romans der zeitgenössischen Autorin Dorota MasłowskaMasłowska, DorotaWojna polsko-ruska podWojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną flagą biało-czerwoną (2002, [Schneeweiß und RussenrotSchneeweiß und RussenrotWojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną]) anspielt. Oder warum die polnischen Modernist:innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Idee der sozialen Solidarität aufgaben, die für eine Generation zuvor noch zentral gewesen war. Auch die Verbindungslinien innerhalb einer Epoche, z. B. die Entwicklungsstufen der Epik im Positivismus von der Novelle über den Tendenzroman zum ‚Roman des reifen Realismus‘, erschließen sich erst, wenn man die Epik dieser Zeit systematisch studiert. Anhand literarischer Texte kann man auch die Mentalitäts- und Sozialgeschichte einer Nation rekonstruieren und ihre kulturellen Eigenheiten kennenlernen. Und da niemand alle Texte einer Nationalliteratur gelesen haben kann – diese Vollständigkeit ist nicht zu erreichen –, erweist sich eine Literaturgeschichte als gute Abhilfe.
Für das Studium der Polonistik wäre es optimal, wenn die polnische Literaturgeschichte nicht der erste und einzige Untersuchungsgegenstand wäre. Sie steht nämlich in Beziehung zu den anderen europäischen Literaturen; manchmal formuliert sie dieselben Fragen, manchmal gibt sie auf dieselben Fragen andere Antworten als die deutsche, die ukrainische oder die französische Literatur (geschweige denn die Antike als Wiege der europäischen Zivilisation). Hat man sich in der Schule z. B. mit dem Konzept des Nationaldichters anhand der Weimarer Klassik befasst, so ist es einfacher, dieses Konzept auf die polnische Literatur und die Figur von Adam MickiewiczMickiewicz, Adam zu übertragen. Diejenigen, die mal im Theater Samuel BeckettsBeckett, SamuelDrama En attendant GodotEn attendant Godot (1952, [Warten auf GodotWarten auf GodotEn attendant Godot]) gesehen haben, werden die Stücke von Tadeusz RóżewiczRóżewicz, Tadeusz und Sławomir MrożekMrożek, Sławomir, die wie Becketts Stück zum Theater des Absurden gehören, besser verstehen können. Denn das, was Walter SchamschulaSchamschula, Walter über die tschechische Literatur als europäische Literatur schreibt, ist auch auf die polnische übertragbar:
Was die europäischen Hochkulturen seit dem Mittelalter hervorgebracht haben, ist auch bei ihnen [den böhmischen Ländern] vorhanden. Hier finden sich seit der Romantik alle Epochen der Kunstgeschichte im weitesten Sinne vertreten, und diese enge Bindung wirkt bis in die Gegenwart hinein und über diese hinaus. (SchamschulaSchamschula, Walter 2001, 1)
Die polnische Literatur als Teil der europäischen Literatur zu begreifen bedeutet, sie in den Kontext anderer europäischer Literaturen zu stellen und in diesem zu interpretieren. Eine komparatistische Perspektive ermöglicht, das Singuläre und das Allgemeine im Verlauf der polnischen Literaturgeschichte zu erkennen, um dadurch einzelne Ereignisse besser einzuordnen. Dabei ist es jedoch illusorisch zu denken, dass man während eines dreijährigen Studiums der Slawistik noch nebenbei die Klassiker:innen der Weltliteratur lesen oder sich gründlich mit dem innerslawistischen Vergleich befassen kann. Das, was man jedoch trotz des Zeitmangels erreichen kann, ist, eine Sensibilisierung für diese Problematik zu entwickeln, z. B. im Rahmen eines Seminars zur Vergleichenden Literaturwissenschaft.
Komparatistische Perspektive der Literaturgeschichtsschreibung
Die Theoretiker:innen der neueren, poststrukturalistischen Literaturgeschichten – die trotz aller Krisen der Gattung weiter geschrieben werden – formulieren häufig das Postulat, die jeweilige nationale Literatur in den europäischen Kontext zu stellen und bei der Interpretation der Texte eine pluralistische Perspektive einzunehmen. In der Praxis wird das aber leider nicht so leicht umgesetzt. Ein gutes Beispiel für eine komparatistisch-pluralistische Perspektive auf die Literaturen Ost- und Ostmitteleuropas stellt die von Marcel Cornis-PopeCornis-Pope, Marcel und John NeubauerNeubauer, John herausgegebene History of the Literary Cultures of East-Central Europe(2004–2010) dar, in der ideologische und ästhetische Phänomene literatur- und kulturübergreifend diskutiert werden.
Die poststrukturalistischen Literaturgeschichten zeigen sich durch die Debatten über die Krise der Literaturgeschichtsschreibung gut informiert. Die meisten von ihnen werden als kollektive Monographien verfasst, um die Multiperspektivität und Vielstimmigkeit zu fördern und der Gefahr einer eindimensionalen Darstellung entgegenzuwirken (vgl. WerbergerWerberger, Annette 2012). Im polnischen Kontext fällt zudem die Vielfalt von experimentellen Darstellungsformaten auf, die eine Alternative zu den auf dem chronologischen Prinzip basierenden Literaturgeschichten anbietet. In der Monographie Nowe Historie Literatury[Neue Literaturgeschichten] von Joanna MajMaj, Joanna werden diese in drei Gruppen gegliedert: formy enumeracyjne [Aufzählungsformate], formy podmiotowe [subjektbasierte Formate] und formy performatywne [performative Formate] (vgl. Maj 2021). Während in der ersten Gruppe u. a. die Liste und das Alphabet als Ordnungsmuster dienen, geht es in der zweiten Gruppe um persönliche Zeugnisse wie Tagebücher und Gespräche, die eine Erzählung aus subjektiver Perspektive befürworten. Die dritte Gruppe umfasst solche Darstellungen, die die Geschichte der Literatur als performatives Aushandeln oder kommunikatives Spiel definieren, was beispielsweise ein literarischer Reiseführer im Hinblick auf den Umgang mit dem Raum tut (Maj 2021, 207f.). Die Formate aller drei Gruppen stehen in Opposition zu den klassischen Synthesen der polnischen Literatur und setzen bewusst auf Unvollständigkeit und Arbitrarität. Ihr primäres Ziel ist nicht die Vermittlung von Basiswissen, sondern eine Neuperspektivierung des Materials und die Entwicklung neuer Fragestellungen. Im Endeffekt tragen sie auch zur Revision des Kanons bei, indem sie z. B. regionale Geschichten in den Vordergrund rücken oder die Biographien von wenig bekannten Autor:innen rekonstruieren. Auch aus der Perspektive der ausländischen Polonistik sind sie eine wichtige Ergänzung zu den traditionellen Lehrwerken und erleichtern nicht selten den Einstieg in die Problematik der Literaturgeschichte. So konnte ich als Dozentin z. B. die Erfahrung machen, dass die Publikation 99 książek99 książek. Czyli mały kanon górnośląski. Czyli mały kanon górnośląski (2011, [99 Bücher. Oder ein kleiner Kanon Oberschlesiens99 Bücher. Oder ein kleiner Kanon Oberschlesiens99 książek. Czyli mały kanon górnośląski]) von Zbigniew KadłubekKadłubek, Zbigniew, die verschiedene Sprachen und Traditionen miteinander verbindet (Polnisch, Deutsch, Tschechisch, Jiddisch, Schlesisch), in einem Seminar eine interessante Diskussion über die Prozesse der Inklusion und Exklusion in der Literaturgeschichte auslöste. Die Studierenden erwarben dadurch wichtiges Wissen über „Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte“ (Werberger 2012), welches dennoch, aus meiner Perspektive, umso sinnvoller eingesetzt werden kann, je mehr man über die polnische Literaturgeschichte als solche Bescheid weiß.
Die Geschichte deutschsprachiger Literaturgeschichten Polens sowie die Anforderungen, die man an eine ‚optimale‘ Literaturgeschichte für das deutschsprachige Publikum im 21. Jahrhundert stellen muss, wurden schon mehrmals und ausführlich diskutiert (vgl. KośnyKośny, Witold 2014; RitzRitz, German 2005). Die vorliegende Sammelmonographie Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert. Grundbegriffe – Autor:innen – Textinterpretationen ist im Kontext dieser Debatten und der bisherigen Geschichten der polnischen Literatur zu verorten. Das, was sie bietet, ist keine literaturhistorische Synthese, sondern Interpretationen von ausgewählten literarischen Texten und ihre Kontextualisierung. Sie ist also keine Literaturgeschichte sensu stricto und versteht sich als ein Studienbuch, das sich der polnischen Literatur durch einen interpretativen Ansatz und den Fokus auf die Mentalitätsgeschichte Polens zu nähern versucht. Mit der Terminologie von Joanna MajMaj, Joanna wäre sie als eine neue, essayistische Literaturgeschichte zu bezeichnen (vgl. Maj 2021). Verfasst als eine kollektive Monographie, ist sie dabei per se divers und uneinheitlich, was sich schon in der unterschiedlichen Länge der einzelnen Kapitel und den Herangehensweisen an die behandelten Themen und Probleme zeigt. Dass sie den Fokus auf literarische Texte und nicht auf andere Medien legt, resultiert aus der pragmatischen Überzeugung, dass man zuerst diese für das deutschsprachige Publikum problematisieren muss. Aus diesem Grund arbeitet dieser Band mit inhaltlichen Zusammenfassungen und ausführlichen Zitaten aus den Primärtexten. Auch diejenigen, die diese nicht gelesen haben, können dadurch den Überlegungen gut folgen. Das Ziel war, die kanonischen Werke der polnischen Literatur so darzustellen und zueinander in Verbindung zu setzen, dass sie eine Erzählung über die Grundparadigmen, zentralen Mythen und Probleme der polnischen Kultur im langen 19. Jahrhundert ergeben. Das chronologische Prinzip rückte dementsprechend in den Hintergrund. Die polnische Kultur wurde dabei traditionell als die Kultur der polnischen Mehrheitsgesellschaft verstanden, wobei es gleichzeitig um eine kritische Darstellung dieser sowie ihrer Haltungen und Attitüden ging.
Die Formulierung ‚langes 19. Jahrhundert‘, die sich traditionell auf die Zeit von der Französischen Revolution (1789) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieg (1914) bezieht und sich u. a. durch die Arbeiten von Eric HobsbawmHobsbawm, Eric zu einer operativen Beschreibungskategorie entwickelte, wurde als Oberbegriff für jene Zeit in der polnischen Kultur gewählt, die mit der polnischen Romantik 1822 beginnt und mit dem Zweiten Weltkrieg endet. Epochengeschichtlich handelt es sich hier um die Perioden der Romantik (1822–1863), des Positivismus (1864–1890), des Jungen Polen (1890–1914) sowie der Zwischenkriegszeit (1918–1939). Die Ausweitung des Terminus auf die Zeit der Zwischenkriegszeit hat nicht die Absicht, die traditionelle Dauer des langen 19. Jahrhunderts zu hinterfragen, sondern eher auf gewisse Phänomene der Zwischenkriegszeit hinzuweisen, die im Kontext des langen 19. Jahrhunderts, vor allem der Moderne, zu verstehen sind. Denn obwohl der Beginn des 20. Jahrhunderts in der polnischen Kultur typischerweise auf das Jahr 1918 gesetzt wird (einen alternativen Vorschlag hat 1973 Tomasz BurekBurek, Tomasz unterbreitet, indem er das Jahr 1905 und nicht das Jahr 1918 zum Wendejahr erklärte), so hängen doch gewisse philosophische und ästhetische Ideen des Jungen Polen und der Zwischenkriegszeit eng zusammen. Um mit Anna NasiłowskaNasiłowska, Anna zu sprechen: „Wir haben in Polen ein Problem mit der Festlegung, was eigentlich die Moderne in der polnischen Kultur ist, wie sie begann und wie sie aussah“ (Nasiłowska 2019, 375). Die modernistischen Texte, die vor und nach 1918 entstanden sind, gemeinsam im Kontext des langen 19. Jahrhunderts zu betrachten, bedeutet nicht, den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf die kulturelle Produktion in Polen negieren zu wollen. Denn schon das Phänomen der Avantgarde, das übrigens keinen Eingang in dieses Buch gefunden hat, spricht eindeutig für die philosophisch-ästhetischen Unterschiede zwischen der Zeit vor und nach 1918. Das gleiche Prinzip gilt für die Heranziehung von Werken aus früheren und späteren Epochen (vgl. Kap. 8 zum Sarmatismus sowie Passagen zu Julian KawalecKawalec, Julian oder Czesław MiłoszMiłosz, Czesław). Sie wurden miteinbezogen, um ein besseres Verständnis der besprochenen Thematik zu gewährleisten und nicht um eine neue Periodisierung vorzuschlagen.
Im ersten Teil des Buches Romantische Paradigmenwird auf die über die Literatur hinausgehende Rolle der polnischen Romantik als im kollektiven Sinne identitätsstiftende Epoche eingegangen. Dies bedeutet nicht, dass die Texte aus der Epoche der Romantik lediglich in diesem Teil zu finden sind – im Gegenteil. Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert arbeitet mit den Epochenbegriffen, ist aber nicht chronologisch aufgebaut. Aus diesem Grund sind romantische Texte auch in den zwei weiteren Teilen Gesellschaftliche und ethnische Strukturen und Emanzipationen zu finden und vice versa: Die Beiträge aus dem ersten Teil gehen auch auf die Literatur der auf die Romantik folgenden Epochen ein. Um sich dabei nicht zu verlieren, wird empfohlen, auf den beigefügten Zeitstrahl zurückzugreifen und das vorliegende Studienbuch komplementär mit anderen Überblicksgeschichten zu lesen. Die bereits erwähnten Geschichten der polnischen Literatur von Czesław MiłoszMiłosz, Czesław und Anna NasiłowskaNasiłowska, Anna sollten dabei berücksichtigt werden, unter anderem deswegen, weil sie neben der chronologischen Perspektive auch subjektiv gefärbte, sehr aussagekräftige Interpretationen der literarischen Texte beinhalten, was gut mit dem Konzept des vorliegenden Bandes korrespondiert.
Während der erste Teil die Romantik als Beginn der modernen polnischen Kultur begreift, geht es in dem zweiten Teil Gesellschaftliche und ethnische Strukturen um einen Versuch, das polnische gesellschaftliche System anhand der literarischen Texte plausibel zu erklären. Eine zentrale Rolle kommt der aus dem Adel stammenden Intelligenz zu – aus diesem Grund erfolgt auch ein Exkurs zum Sarmatismus als Ideologie des Adels. Darüber hinaus werden die Darstellungen von Bauern und kulturell-ethnischen Minderheiten, die auf dem polnischen Gebiet lebten, diskutiert. Der dritte Teil Emanzipationen widmet sich der Überwindung von tradierten kulturellen Mustern und der emanzipatorischen Prozesse in der polnischen Kultur, die sowohl in der individuellen als auch in der kollektiven Perspektive zu verstehen sind. Keiner der drei Teile stellt eine geschlossene Einheit dar, sodass man sich vorstellen kann, sie perspektivisch um weitere Fragestellungen oder Textinterpretationen zu ergänzen. Alle drei Teile zusammen offerieren jedoch einen bestimmten Blick auf die polnische Literatur, der gerade für das nicht polnisch sozialisierte Publikum von Relevanz ist. Mit diesem Blick soll die Literatur des langen 19. Jahrhunderts als Medium gesellschaftlicher und politischer Prozesse begreifbar gemacht werden, das Auskunft über die Kondition und Lage der polnischen Kultur erteilt, ohne ihre Ästhetik determinieren zu wollen.
Die Auswahl der Primärtexte orientiert sich an den Seminarplänen der Leipziger Polonistik. Die Herausgeberinnen sind sich dessen bewusst, dass vieles dabei nicht berücksichtigt wurde bzw. durch die Lektüre von anderen Literaturgeschichten nachgeholt werden muss, wie beispielsweise die Prosa von Narcyza ŻmichowskaŻmichowska, Narcyza oder Wacław BerentBerent, Wacław. So wie wahrscheinlich an jedem anderen slawistischen Institut in Deutschland, muss auch in Leipzig die Entscheidung für die Lektüreliste an die vorhandenen curricularen Möglichkeiten angepasst werden. Obwohl das Buch Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert nicht das ganze Spektrum von Autor:innen, Themen und Werken abdeckt, so hat es doch den Anspruch, Grundbegriffe der polnischen Kultur von ca. 1822 bis 1918 bzw. 1939 erklärt und besprochen zu haben. Es soll den Studierenden und allen anderen Lesenden ermöglichen, die literaturhistorischen, kulturellen und mentalen Prozesse der polnischen Kultur verstehen und analysieren zu können. Die didaktischen Hinweise wie die Infokästen sollen den Lernprozess erleichtern und bei der Strukturierung des Wissens behilflich sein. Denn der vorliegende Band verzichtet weder auf den Begriff des Kanons noch auf die Rekonstruktion der literarischen Vergangenheit, auch wenn diese Prinzipien einem nicht chronologischen Ordungsmuster unterliegen und die jeweiligen Epochen nicht in ihrer Ganzheit besprochen werden. Man kann den Band entweder von A bis Z oder punktuell lesen. Wichtig ist, zu verstehen, O literaturze polskiej w wieku XIXnach welchen Informationen man sucht und was man erfahren möchte.
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Die Romantik wird gemeinhin als Beginn der modernen Kultur in Polen betrachtet, weil man davon ausgeht, dass die polnische Neuzeit mit dem Verlust der Unabhängigkeit Ende des 18. Jahrhunderts angebrochen sei und eben die Romantik diese neue und deprimierende Herausforderung angenommen habe. Sie bot dem Volk, das durch die Teilungsmächte Preußen, Österreich und Russland seiner staatlichen Existenz beraubt war, eine Zukunftsvision und sicherte das geistige Überleben der einzelnen Pol:innen wie der Nation insgesamt. Zugleich trug sie universellen Charakter, da es ihr um ‚Befreiung‘ in den unterschiedlichsten Bedeutungen des Wortes ging.
Die polnischen Romantiker zeigten sich nicht nur fasziniert von den großen Entwürfen der Menschheitsgeschichte aus der Feder eines VicoVico, Giambattista, HerderHerder, Johann Gottfried, HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich oder MicheletMichelet, Jules, ihr historisches Denken wurde zugleich zum Impuls für eine aktive Umgestaltung der Wirklichkeit. Sie widersetzten sich der hegelianischen Desakralisierung der Geschichte und erachteten deren moralische Dimension – den ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen – sowie das Engagement des Menschen auf der einen oder der anderen Seite dieser Barrikade als ihren Wesenskern. Die Geschichte war für sie zugleich Theophanie, Ort der Offenbarwerdung Gottes, und ein eigentümlicher Weg zur Erlösung des Menschen selbst; durch sie nämlich sollte er reif werden für die Wiederkunft des Messias.
Die polnischen Romantiker suchten eine Art Religionsgemeinschaft zu etablieren, in der ihre Dichtung zur Grundlage eines neuen, patriotischen Ritus werden sollte. Hauptziel war dabei die größtmögliche Wirkung auf den Rezipienten, um ihre Mission als Volks-Erwecker erfüllen zu können. Die Suche nach den hierfür geeigneten Mitteln verband sich mit der generellen Tendenz der Romantik, die Lyrik ,liedhaft‘ zu gestalten; auch war man überzeugt davon, dass die Wahrheit der Poesie durch ihre Nähe zum einfachen Volk, zur Gemeinschaft des Volkes, eben zum ,Lied‘, beglaubigt werde.
Dies galt auch für die politische Dichtung, die im Umfeld des Novemberaufstandes von 1830/31 besonders populär war; das in dieser Phase geradezu explodierende politische Leben führte zur endgültigen Herausbildung des romantischen Literaturkanons: einer liedhaften, dem Vorbild des griechischen Elegikers TyrtaiosTyrtaios verpflichteten patriotischen Kampfdichtung, welche die Identität von Literatur und Leben postulierte. Der Literaturhistoriker Kazimierz WykaWyka, Kazimierz hat eine aktive, dynamische Haltung, die sich deutlich vom „analytisch-romantischen Geist“ unterschied, „der in der europäischen Romantik vorherrschte“, als charakteristisch für die erste Romantikergeneration in Polen bezeichnet, die den Novemberaufstand auslöste (Wyka 1977, 221).
Was aber bedeutete der Volksaufstand für die Romantiker? Ihrer Ansicht nach waren Überzeugungen ebenso wichtig wie militärische Rüstung. Die Aufstände von 1830/31und1863/64 gegen Russland und 1846 beziehungsweise 1848 gegen Preußen und Österreich