Porträt einer jungen Dame (eBook) - Henry James - E-Book

Porträt einer jungen Dame (eBook) E-Book

Henry James

4,2

Beschreibung

Isabel Archer, eine junge amerikanische Dame, begleitet ihre Tante nach dem Tod des Vaters nach England, wo sie rasch die Sympathien ihrer neuen Umgebung gewinnt, vor allem die ihres Vetters Ralph, der ihr ein Leben lang freundschaftlich verbunden bleibt. Außergewöhnlich attraktiv, charmant und dank einer unverhofften Erbschaft auch noch reich, kann sie es sich leisten, auf ausgedehnten Reisen durch Europa zunächst einmal ihre Freiheit zu genießen. In der weltgewandten, abgründigen Madame Merle glaubt Isabel eine mütterliche Freundin gefunden zu haben. Doch die führt sie geradewegs dem undurchsichtigen Gilbert Osmond zu, von dessen snobistischem Charme sich die naive Amerikanerin blenden lässt. Gegen alle wohlmeinenden Bedenken der Freunde gibt sie ihm das Jawort. Als sie mit dem wahren Gesicht Osmonds konfrontiert wird, muss Isabel sich allerdings eingestehen, dass sie an den Falschen geraten ist.

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Henry James

Porträt einer jungen Dame

 

Roman

 

 

Aus dem Englischen

von Gottfried Röckelein

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Überarbeitete Neuausgabe (Erste Auflage 2015)

© 1996, 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Die Originalausgabe erschien 1881 unter dem Titel The Portrait of a Lady.

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung eines Fotos von © Susan Fox / Trevillion Images

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

 

eISBN 978-3-86913-613-4

 

Inhalt

 

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

 

 

Teil 2

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

 

Der Autor

 

Teil 1

 

1

Wenn ganz bestimmte Umstände zusammentreffen, dann gibt es nur wenige Stunden im Leben, die angenehmer sind als die, welche jenem Zeremoniell gewidmet sind, das als Nachmittagstee bekannt ist. Und es gibt Umstände, in denen die Situation an sich, ob man sich nun am Tee gütlich tut oder nicht – was manche Men­schen selbstverständlich niemals tun –, zum Anlass eines Entzüc­kens wird. Die speziellen Umstände, die ich gerade jetzt vor Au­gen habe, da ich diese simple Geschichte darzulegen und zu ent­falten beginne, gaben einen vortrefflichen Rahmen für arglose Kurzweil ab. Die Utensilien für die kleine Festivität waren auf dem Rasen eines alten eng­lischen Landsitzes zurechtgelegt, zu einer Tageszeit, die ich als genau die Mitte eines großartigen Sommernachmittags bezeichnen würde. Ein Teil des Nachmittags war schon verstrichen, doch eine gute Spanne von ihm übrig geblieben, und das, was blieb, war von einmaliger und auserlesenster Beschaffenheit. Bis zur eigentlichen Abenddämmerung waren es noch etliche Stunden, doch hatte die Flut des sommerlichen Lichtes schon begonnen abzuebben; die Luft war mild geworden, und lang lagen die Schatten auf dem ebenmäßig weichen, dichten engli­schen Rasen­. Mählich nur, jedoch unaufhaltsam wurden sie immer länger, und die Szenerie vermittelte jene Ahnung kommender Muße­stunden, die vermutlich die hauptsächliche Quelle unserer Freude bei einem solchen Anblick und zu solcher Stunde ausmacht. Unter gewissen Gegebenheiten stellt die Zeitspanne zwischen fünf und acht Uhr eine kleine Ewigkeit dar, aber bei einem Anlass wie diesem konnte es sich dabei nur um eine Ewigkeit des Vergnügens handeln. Die mitwirkenden Personen gönnten sich dieses Vergnügen in aller Ruhe, und es handelte sich bei ihnen nicht um Angehörige jenes Geschlechts, von dem man gemeinhin erwartet, dass es bei besagtem Zeremoniell eine dienende oder eher dekorative Funktion übernimmt. Die Schatten auf dem tadellosen Rasen verliefen gerade und im Winkel zueinander. Es waren der Schatten eines alten Mannes, der in einem bequemen Korbsessel bei dem niedrigen Tischchen saß, auf dem der Tee serviert worden war, und jene von zwei jüngeren Männern, die vor dem alten Mann hin- und herschlender­ten und zwanglos miteinander plauderten. Der alte Mann hielt seine Tasse in der Hand; es war eine ­ungewöhnlich große Tasse, von anderem Dekor als das übrige Service und mit leuch­tenden Farben be­malt. Er nahm ihren Inhalt mit großer Behutsamkeit zu sich und hielt sie lange dicht vor dem Kinn, das Gesicht dem Haus zu­gewandt. Die Männer, die ihm Gesellschaft leisteten, hatten ih­ren Tee entweder schon genossen oder nahmen ihr Recht auf Teilhabe an dem exquisiten Genuss gleich­gültig zur Kenntnis. Sie rauchten Zigaretten und schlenderten dabei weiter auf und ab. Von Zeit zu Zeit betrachtete einer von ihnen beim Vorübergehen den alten Mann mit einer gewissen Aufmerksamkeit, welchselber wiederum, der Beobachtung nicht gewahr, den Blick auf die leuchtend rote Vorderfront seiner Behausung gerichtet hielt. Das Bauwerk, das sich jenseits des Rasens er­hob, war von einer architektonischen Beschaffenheit, die eine solche Wertschätzung belohnte, und war zugleich für dieses spezifisch englische Gemälde, das ich zu entwerfen trachte, das am meisten charakteristische Objekt.

Es stand auf einer flachen Anhöhe über dem Fluss, bei dem es sich um die Themse handelte, gut vierzig Meilen von London ent­fernt. Eine lange, gegiebelte Vorderfassade aus rotem Ziegel­stein, mit dessen Farbton Zeit und Witterung allerlei male­rischen Schabernack getrieben hatten, wodurch er jedoch nur umso besser und raffinierter zur Geltung kam, präsentierte sich zur Rasen­seite hin mit stellenweisem Efeubewuchs, mit dicht beieinanderste­henden Kaminen und mit von wuchernden Kletterpflanzen eingerahmten Fenstern. Das Gebäude hatte einen Namen und eine Geschichte. Der alte Herr, der gerade seinen Tee trank, hätte jedem Betrachter lie­bend gern davon erzählt: wie es unter Edward VI. erbaut worden war; wie es sich eine Nacht lang mit seiner Gastlichkeit der großen Köni­gin Eliza­beth zur Verfügung gestellt hatte (die ihren königli­chen Leib auf einem riesigen, prachtvollen und fürchterlich kan­tigen Bett ausgestreckt hatte, das noch immer die unangefochtene Zierde der Schlafgemächer bildete); wie es während der Cromwellschen Kriege beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen, verunstal­tet und dann, in der Restaurationszeit, renoviert und erheblich ver­größert worden war; wie es schließlich im achtzehnten Jahr­hundert Umbauten und Entstellungen durchgemacht hatte und an­schließend in die pflegliche Obhut eines lebensklugen und ge­witzten amerikanischen Bankiers übergegangen war, der es ursprünglich nur deshalb gekauft hatte, weil es (wegen gewisser Umstände, die zu kompliziert sind, um sie hier auszubreiten) als außerordentlich günstiges Angebot offeriert worden war. Be­gleitet von heftigem Murren über des Hauses Hässlichkeit, sein hohes Alter und all die damit verbundenen Unannehmlichkeiten hatte er es gekauft, und jetzt, nach immerhin zwanzig Jahren, war aus seinem Grummeln eine wahrhaft ästhetische Leidenschaft geworden, sodass er nunmehr alle Vorzüge und Eigentümlichkeiten kannte und einem Betrachter genau die Stelle zeigen konnte, von wo aus man sie alle zugleich in ihrem Zusammenwirken sah, und ihm genau die Stunde nennen konnte, in der die Schatten seiner verschiedenartigen Vorsprünge, die so weich auf das einladende, verwitterte Mauerwerk fielen, gerade die richtigen Abmessungen hatten. Zudem hätte er, wie schon angedeutet, die meisten Besit­zer und Be­wohner der Reihe nach aufzählen können (von denen meh­rere von allgemeiner Berühmtheit gewesen waren), und dies hin­wiederum im Ton unaufdringlicher Überzeugung, dass das jüng­ste Stadium seiner Bestimmung keineswegs das am wenigsten ehrwürdige sei. Die Frontseite des Hauses, welche jenen Teil des Rasens überblickte, dem gerade unser Interesse gilt, war nicht die Eingangsseite; diese befand sich in einer ganz anderen Rich­tung. Hier vorne regierte private Zurückgezogenheit vor allem, und der breite Rasenteppich, der die auf ihrem höchsten Punkt ebene Anhöhe bedeckte, erweckte den Eindruck, als sei er nichts anderes als die äußere Fortführung einer luxuriösen Innenausstattung. Die hohen, erhabenen, stillen Eichen und Buchen warfen einen schwarzen Schatten auf die Erde, undurchdringlich wie ein Samtvorhang, und der Ort, von dem gerade die Rede ist, war tatsächlich mit Attributen eines Innenraums deko­riert: mit Sitzpolstern und farbenprächtigen Teppichbrücken, mit Büchern und Zeitungen, die auf dem Gras lagen. Der Fluss be­fand sich in einiger Entfernung – dort, wo die sanft abfallende, grasbewachsene Böschung flach auslief, um genau zu sein. Nichts­destoweniger war es ein ganz entzückender Spaziergang hinunter zum Wasser.

Der alte Herr am Teetischchen war vor dreißig Jahren aus Ame­rika herübergekommen und hatte seinerzeit, ganz obenauf im Reisegepäck, sein amerikanisches Wesen mitgebracht, all das, was den Amerikaner ausmacht: äußere Erscheinung, Physiognomie, Charakter. Und er hatte es nicht nur mit her­übergebracht, ­son­dern auch tadellos in Schuss gehalten, sodass er, falls nötig, alles genauso wieder hätte zusammenpacken und mit größter Selbstverständlichkeit in das Land seiner Herkunft mitnehmen können. Im Augenblick sah es allerdings gar nicht danach aus, als hätte er vor, sich vom Ort seiner Wahl selbst zu verbannen. Die Zeit seiner großen Reisen war vorbei, und er genoss jetzt die Ruhe vor dem ganz großen Ausruhen. Er hatte ein schmales, glatt rasiertes Gesicht mit gleichmäßigen Zügen und einem Ausdruck von friedferti­ger Gelassenheit und pfiffiger Klugheit zugleich. Augenschein­lich handelte es sich um ein Gesicht mit einem begrenzten Reper­toire an Ausdrucksmöglichkeiten, sodass die Miene zufriedener Gewitztheit umso vortrefflicher zur Geltung kam. Sie schien mit­zuteilen, dass er zwar im Leben erfolgreich, dass dieser Erfolg aber kein uneingeschränkter oder Neid und Ärgernis erregender gewesen war, sondern ihm auch viel von der Gutartigkeit des Misslun­genen eignete. Ganz sicher hatte der alte Herr umfassende Erfahrungen im Umgang mit Menschen gemacht; dennoch spiegelte sich soeben eine fast bäuerliche Einfalt in dem schwachen Lächeln wider, das auf seinen großflächigen, eingefallenen Wangen spielte und seinem heiteren Blick zusätzlichen Glanz verlieh, als er schließlich langsam und mit Bedacht die große Teetasse auf dem Tischchen abstellte. Seine Kleidung war von schlichter Eleganz, ein sauber gebür­stetes Schwarz. Aber über seine Knie war eine zusammengelegte Stola gebreitet, und dicke, bestickte Hausschuhe umschlossen seine Füße. Ein hübscher Collie lag neben seinem Sessel im Gras und beobachtete das Gesicht seines Herrn mit fast der gleichen zärtlichen Zuneigung, mit der jener den noch imposanter gewordenen Anblick des Hauses in sich aufnahm, und ein kleiner, struppiger, lebhafter Terrier widmete den ande­ren Gentlemen sporadisch seine Aufmerksamkeit.

Von diesen war der eine ein bemerkenswert gut gebauter Mann von fünfunddreißig Jahren mit einem Gesicht, das so englisch war wie das des von mir soeben skizzierten alten Herrn unenglisch. Ein auffallend schönes Gesicht von frischem Teint, ­of­fen und ehrlich, mit festen, klar geschnittenen Zügen, lebhaften, grauen Augen und der prächtigen Zierde eines rötlich-braunen Bar­tes. Diese Person hatte das gewisse Aussehen eines vom Glück begünstigten, außergewöhnlichen, intelligenten Menschen – die Ausstrahlung eines heiter-ausgeglichenen Gemüts, durchdrungen von höchster Kultiviertheit, was sicher fast jeden Be­trachter auf der Stelle neidisch gemacht hätte. Der Mann war gestiefelt und gespornt, als sei er gerade nach langem Ritt aus dem Sattel gestiegen. Er trug einen weißen Hut, der ihm augenscheinlich zu groß war. Beide Hände hatte er auf dem Rüc­ken, und in einer von ihnen – in einer großen, weißen, wohlgeform­ten Faust – hielt er ein Paar zerknüllte, verschmutzte Hunds­­lederhandschuhe.

Sein Begleiter, welcher gemessenen Schrittes neben ihm auf dem Rasen spazierte, war ein Mensch von völlig anderer Erscheinung, der – obgleich unsere Neugierde auch durch ihn in erheblichem Maß geweckt worden wäre – in uns doch nicht den Wunsch hätte wach werden lassen, aufs Geratewohl mit ihm tauschen zu wollen. Groß, schlank, von unproportionierter Gestalt und schwächlicher Konstitution, hatte er ein hässliches, kränk­liches, geistreiches, reizvolles Gesicht, mit einem widerborstigen Schnurr- und Backenbart ausgestattet, aber keinesfalls geziert. Er sah klug und zugleich krank aus – eine nicht gerade sehr geglückte Kombination – und trug ein braunes Samtjackett. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt, und die Art und Weise, wie er das tat, verriet, dass es sich dabei um eine unausrottbare Angewohnheit handelte. Sein Gang war ein watschelndes Dahintrotten; der Mann war nicht sehr sicher auf den Beinen. Wie schon gesagt, ließ er jedes Mal, wenn er an dem alten Herrn im Sessel vorüberging, den Blick auf ihm ruhen, und in genau diesem Augen­blick, in dem man beide Gesichter zueinander in Beziehung setzen und miteinander vergleichen konnte, war leicht zu erkennen, dass es sich bei den zwei Männern um Vater und Sohn handelte. Schließ­lich fing der Vater doch noch den Blick seines Sohnes auf und erwiderte ihn mit einem freund­lichen Lächeln.

»Ich mache sehr gute Fortschritte«, sagte er.

»Du hast deinen Tee schon getrunken?«, fragte der Sohn.

»Ja, und er hat mir gut geschmeckt.«

»Soll ich dir noch etwas nachschenken?«

Der alte Mann überlegte in aller Ruhe. »Na – ich schätze, ich warte erst mal ein bisschen.« Beim Sprechen hörte man den ameri­kanischen Tonfall heraus.

»Ist dir kalt?«, erkundigte sich der Sohn.

Der Vater rieb sich bedächtig die Beine. »Na – ich weiß nicht so recht. Ich kann das erst sagen, wenn ich was fühle.«

»Du könntest ja jemanden mitfühlen lassen«, sagte der junge Mann lachend.

»Oh, ich hoffe doch, dass da immer jemand mit mir fühlt! Haben Sie etwa kein Mitgefühl mit mir, Lord Warburton?«

»Aber ja, unendlich viel«, reagierte der mit Lord ­Warburton angesprochene Gentleman prompt. »Was mich zu der Feststellung zwingt, dass Sie ein wunderbares Bild gemütlicher Geruhsamkeit abgeben.«

»Na – das trifft vermutlich auch zu; zum größten Teil jedenfalls.« Und dabei sah der alte Mann auf seine grüne Stola hinab und strich sie über den Knien glatt. »In Wahrheit habe ich es mir schon seit so vielen Jahren in meiner Geruhsamkeit eingerichtet, dass ich mich wahrscheinlich völlig daran gewöhnt habe und sie gar nicht mehr registriere.«

»Ja, das ist ja das Langweilige an der Geruhsamkeit«, sagte Lord Warburton. »Wir registrieren sie erst wieder, wenn uns etwas Ungemütliches dazwischenkommt.«

»Ich habe den Eindruck, wir sind ganz schön versnobt«, bemerkte sein Begleiter.

»Keine Frage – und wie wir versnobt sind!«, brummte Lord Warburton. Und dann verharrten die drei Männer eine Weile in Schweigen. Die beiden jüngeren standen da und sahen auf den dritten hinab, der alsbald doch nach mehr Tee verlangte. »Man könnte meinen, dass Sie mit dieser Stola nicht recht glücklich sind«, nahm Lord Warburton das Gespräch wieder auf, während sein Be­gleiter die Tasse des alten Mannes erneut füllte.

»Sei still, die Stola muss er haben!«, rief der Gentleman im Samtjackett. »Setz ihm keine Flausen in den Kopf!«

»Sie gehört meiner Frau«, sagte der alte Mann schlicht.

»Oh, wenn es aus sentimentalen Gründen ist –« Und Lord War­burton machte eine Geste der Entschuldigung.

»Wenn sie kommt, werde ich sie ihr wohl zurückgeben müssen«, fuhr der alte Mann fort.

»Du wirst, bitte sehr, nichts dergleichen tun. Du wirst damit schön deine armen, alten Beine zudecken.«

»Na – was fällt dir denn ein, meine Beine zu beschimpfen!«, sagte der alte Mann. »Die dürften noch genauso gut sein wie deine.«

»Ach – aber die meinen darfst du nach Herzens­lust beschimpfen«, erwiderte sein Sohn und schenkte ihm Tee nach.

»Tja – wir sind eben zwei Krüppel und zu nichts zu gebrau­chen. Viel Unterschied besteht da wohl nicht zwischen uns.«

»Recht herzlichen Dank für den Krüppel! Wie ist dein Tee?«

»Recht heiß.«

»Was ja allgemein als Vorzug gilt.«

»Oh, dann hat er reichlich Vorzüge«, knurrte der alte Mann gutmütig. »Er ist nämlich ein hervorragender Pfleger, Lord Warburton.«

»Stellt er sich denn nicht ein wenig arg tollpatschig an?«, fragte Seine Lordschaft.

»O nein, er ist überhaupt nicht tollpatschig, wenn man bedenkt, dass er ja selbst Invalide ist. Er gibt einen hervorragen­den Pfleger ab – für einen kranken Pfleger. Ich nenne ihn immer meine kranke Schwester, weil er selbst krank ist.«

»Jetzt reicht’s aber, Daddy!«, rief der hässliche junge Mann aus.

»Na – du bist aber doch krank! Ich wollte, du wärst es nicht. Aber das ist ja wohl nicht mehr zu ändern.«

»Ich kann’s ja mal versuchen! Das ist überhaupt die Idee«, sagte der junge Mann.

»Sind Sie je krank gewesen, Lord Warburton?«, fragte sein Va­ter.

Lord Warburton dachte kurz nach. »Ja, Sir, einmal war mir speiübel, im Persi­schen Golf.«

»Er macht sich über dich lustig, Daddy«, sagte der junge Mann. »Das sollte eine Art Scherz sein.«

»Tja – wo man heutzutage auch hinsieht: Scherze aller Art«, gab Daddy gelassen zurück. »Jedenfalls sehen Sie nicht so aus, als seien Sie je krank gewesen, Lord Warburton.«

»Er leidet unsäglich am Leben, wie er mir gerade gestanden hat. Und zwar in einem ganz fürchterlichen Ausmaß«, sagte Lord Warburtons Freund.

»Stimmt das, Sir?«, fragte der alte Mann ernst.

»Falls es stimmen sollte, dann hat mir Ihr Sohn keinerlei Trost gespendet. Als Gesprächspartner ist er schlichtweg ekel­haft – ein richtiger Zyniker. Er scheint an überhaupt nichts zu glauben.«

»Das sollte schon wieder ein Scherz sein«, sagte die des Zy­nis­mus beschuldigte Person.

»Das kommt daher, weil es so schlecht um seine Gesundheit ­be­stellt ist«, erklärte der Vater Lord Warburton. »Das beeinträch­tigt seinen Geist und verfälscht seine Wahrnehmung der Umwelt. Er bildet sich offenbar ein, nie eine Chance gehabt zu ha­ben. Aber das ist fast alles reine Theorie, wissen Sie. Seine Lebensgei­ster scheinen jedenfalls nicht darunter zu leiden. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals nicht gut gelaunt gesehen zu haben, etwa so, wie er im Moment ist. Mich muntert er oft genug auf.«

Der so beschriebene junge Mann sah Lord Warburton an und lachte. »War das jetzt eine flammende Lobrede, oder wurde ich ge­rade des sorglosen Lebenswandels gescholten? Hättest du es viel­leicht gern, dass ich meine Theorien in die Tat umsetze, ­Da­ddy?«

»Heiliger Bimbam, das gäbe eine schöne Bescherung!«, rief Lord Warburton aus.

»Ich hoffe, du fängst nicht damit an, solche Töne zu spucken«, sagte der alte Mann.

»Warburton spuckt viel schlimmere Töne. Er spielt andau­ernd den Angeödeten. Ich bin nicht im Mindesten angeödet. Dafür finde ich das Leben zu interessant.«

»Ach, zu interessant findest du es. Da solltest du aber etwas dagegen tun, hörst du!«

»Ich bin nie angeödet, wenn ich hierherkomme«, sagte Lord Warburton. »Hier kann man immer so ungewöhnlich gute Gespräche genießen.«

»Ist das schon wieder so eine Art Scherz?«, fragte der alte Mann. »Für Sie gibt es überhaupt keine Entschuldigung, irgendwie angeödet zu sein. Als ich in Ihrem Alter war, hatte ich von so etwas noch nicht einmal gehört.«

»Dann waren Sie vermutlich ein Spätentwickler.«

»Nein, ich habe mich sehr früh entwickelt. Genau das war ja der Grund. Im Alter von zwanzig war ich tatsächlich schon recht gut entwickelt. Ich habe wie ein Irrer geschuftet. Sie wären auch nicht angeödet, wenn Sie was zu tun hätten. Aber ihr jun­gen Männer seid ja allesamt nur Tagediebe. Ihr denkt zu viel an euer Vergnügen. Ihr seid zu verwöhnt und zu gleichgültig und zu reich.«

»Na, das sagt der Richtige!«, rief Lord Warburton. »Sie sind ja wohl kaum derjenige, der einen Mitmenschen des Reichtums beschuldigen dürfte!«

»Sie meinen, weil ich Bankier bin?«, fragte der alte Mann.

»Deswegen auch, wenn Sie so wollen; und weil Sie ja anscheinend über unbegrenzte Mittel verfügen – oder tun Sie das etwa nicht?«

»So reich ist er nun auch wieder nicht«, schaltete sich der andere junge Mann barmherzig ein. »Er hat Unsummen an Geld ver­schenkt.«

»Na gut, aber es dürfte ja wohl sein eigenes Geld gewesen sein«, sagte Lord Warburton, »was dann der beste Beweis für Reichtum wäre, oder? Man darf einem öffentlichen Wohltäter nicht gestatten, sich über die angebliche Vergnügungssucht an­derer auszulassen.«

»Daddy ist selbst sehr vergnügungssüchtig – süchtig danach, anderen Vergnügen zu bereiten.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich behaupte nicht, irgendetwas zur Belustigung meiner Zeitgenossen beigetragen zu haben.«

»Mein lieber Vater, nun bist du aber viel zu bescheiden!«

»Das soll wohl eine Art Scherz sein, Sir«, sagte Lord Warburton.

»Ihr jungen Männer besteht nur noch aus Scherzen. Wenn man euch die Scherze wegnimmt, habt ihr gar nichts mehr.«

»Glücklicherweise gibt es immer mehr zu scherzen«, bemerkte der hässliche junge Mann.

»Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Lage immer ernster wird. Das werdet ihr jungen Männer schon noch herausfinden.«

»›Der zunehmende Ernst der Lage‹: Das ist doch das Thema für Scherze.«

»Dabei wird es sich zwangsläufig wohl um makabre Scherze handeln«, sagte der alte Mann. »Nach meiner Überzeugung stehen uns große Umwälzungen bevor, und zwar nicht zum Besseren.«

»Da bin ich absolut Ihrer Meinung, Sir«, erklärte Lord Warburton. »Ganz bestimmt wird es große Umwälzungen geben, und es werden jede Menge absolut komische Dinge passieren. Und aus diesem Grund fällt es mir ja so schwer, Ihren Rat zu befolgen. Sie wissen wohl noch, dass Sie mir neulich sagten, ich solle mir ›einen Fix­punkt für mein Leben suchen‹, etwas ›zum Festhalten‹. Da zögert man dann schon, sich etwas zum Festhalten zu suchen, wenn einem das in der nächsten Sekunde gleich wieder entrissen werden kann.«

»Du solltest dir eine hübsche Frau zum Festhalten suchen«, sagte sein Begleiter. »Er bemüht sich nämlich im Augenblick sehr, sich zu verlieben«, fügte er als Erklärung an seinen Vater gewandt hinzu.

»Die hübschen Frauen können einem genauso schnell abhandenkommen!«, stellte Lord Warburton nachdrücklich fest.

»Nein, nein, die bleiben Fixpunkte«, mischte sich der alte Mann wieder ein. »Die werden von den sozialen und politischen ­Um­wälzungen, von denen ich gerade sprach, nicht betroffen sein.«

»Sie meinen, man wird die Frauen nicht abschaffen? Umso bes­ser! Dann werde ich sehen, dass ich baldmöglichst eine zu fassen kriege, die ich mir, wenn’s so weit ist, als Rettungsring um den Hals legen kann.«

»Die Frauen werden unsere Rettung sein«, sagte der alte Mann. »Das heißt, die besten von ihnen, denn ich sehe da sehr wohl Unterschiede. Machen Sie sich an eine Gute heran und heiraten Sie sie, und schon wird Ihr Leben viel interessanter.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen bei seinen Zuhö­rern, hervorgerufen vielleicht von der Empfindung der Großmut, die hinter dieser Rede steckte, denn weder für den Sohn noch für dessen Besucher war es ein Geheimnis, dass sein eigenes Expe­riment mit der Ehe nicht als geglückt bezeichnet werden konnte. Allerdings hatte er ja gesagt, er sehe sehr wohl Unterschiede, was man vielleicht als Eingeständnis eines persönlichen Irrtums werten durfte. Selbstverständlich wäre es für seine beiden Gesellschaf­ter unschicklich gewesen zu bemerken, dass die Dame seiner Wahl ganz offensichtlich nicht zu »den Besten« gehört hatte.

»Wenn ich also eine interessante Frau heirate, dann wird es erst richtig interessant: Ist das Ihre Rede?«, fragte Lord Warburton. »Eigentlich bin ich überhaupt nicht scharf aufs Hei­raten; das hat Ihr Sohn völlig falsch wiedergegeben. Aber ich weiß natürlich auch nicht, was eine interessante Frau alles mit mir anstellen würde.«

»Ich würde gerne einmal deine Vorstellung von einer interes­santen Frau zu Gesicht bekommen«, sagte sein Freund.

»Vorstellungen kann man nicht zu Gesicht bekommen, mein Guter, besonders solche höchst durchgeistigten wie die meinen nicht. Es wäre schon ein gewaltiger Fortschritt, wenn ich sie selbst zu Gesicht bekäme.«

»Na – Sie können sich ja verlieben, in wen immer Sie wollen. Aber in meine Nichte verlieben Sie sich gefälligst nicht«, sagte der alte Mann.

Sein Sohn brach in Gelächter aus. »Womöglich fasst er das gleich als Herausforderung auf! Mein lieber Vater, seit dreißig ­Jahren lebst du nun unter den Engländern und hast dir eine Menge von der Art angeeignet, wie sie reden. Aber die Dinge, über die sie nicht reden, hast du bis heute noch nicht begriffen!«

»Ich sage, was mir passt«, gab der alte Mann mit aller Gelas­senheit zurück.

»Ich habe nicht die Ehre, Ihre Nichte zu kennen«, sagte Lord Warburton. »Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich von ihr höre.«

»Sie ist eine Nichte meiner Frau. Mrs Touchett bringt sie nach England mit.«

Daraufhin erklärte der junge Mr Touchett: »Meine Mutter hat nämlich den Winter in Amerika verbracht, und wir erwarten sie demnächst zurück. Sie schreibt, sie habe eine Nichte entdeckt und sie eingeladen, mit ihr zusammen herüberzukommen.«

»Ah ja – sehr großzügig von ihr«, sagte Lord Warburton. »Ist die junge Dame interessant?«

»Wir wissen von ihr kaum mehr als du; meine Mutter hat keine Einzelheiten geschrieben. Sie verkehrt mit uns hauptsächlich per Telegramm, und ihre Telegramme sind reichlich rätselhaft. Im Allgemeinen heißt es ja, Frauen könnten gar keine Telegramme abfassen; doch meine Mutter beherrscht die Kunst der Würze in der Kürze meisterhaft. Amerika satt, Hitze grauenhaft, Rückkehr Eng­land mit Nichte, nächster Dampfer mit anständiger Kabin­e. So sehen die Botschaften aus, die wir von ihr kriegen, und das war bisher ihre letzte. Aber davor hat es noch eine ge­geben, in der, wenn ich mich recht erinnere, die Nichte zum ersten Mal erwähnt wurde. Hotel gewechselt, absolut schrecklich, Sekretär unver­schämt, Adresse hier. Tochter von Schwester mitgenommen, starb letztes Jahr, fahre nach Eu­ropa, zwei Schwestern, ziemlich selbstständig. Über diesen Text rätseln mein Vater und ich seit­dem quasi ununterbrochen, denn er scheint eine Unmenge von Deu­tungen zuzulassen.«

»Eine Sache darin ist sehr klar«, sagte der alte Mann. »Sie hat dem Hotelsekretär kräftig den Marsch geblasen.«

»Selbst da bin ich mir nicht sicher, denn schließlich wurde sie ja rausgeekelt. Zuerst dachten wir, es handelt sich bei der besagten Schwester vielleicht um die Schwester des Sekretärs. Aber die nachfolgende Erwähnung einer Nichte scheint zu bestätigen, dass hier auf eine meiner Tanten angespielt wird. Dann gab es die Frage, zu wem die beiden anderen Schwestern gehören. Wahr­scheinlich handelt es sich um zwei Töchter meiner verstorbenen Tante. Aber wer ist ziemlich selbstständig, und in welchem Sinn wird der Begriff hier gebraucht? Über diesen Punkt sind wir uns noch nicht einig. Wird die Formulierung eher auf die junge Dame bezogen, die von meiner Mutter ­adoptiert wurde, oder charakteri­siert sie auch die beiden Schwestern? Und: Wird sie in einem moralischen oder in einem finanziellen Sinn ­gebraucht? Bedeutet das, dass sie eine hübsche Erbschaft gemacht haben? Oder bedeu­tet es einfach, dass sie eben ganz gut allein zurechtkommen?«

»Was auch immer sonst es bedeuten mag, das wird es mit ziemlicher Sicherheit bedeuten«, bemerkte Mr Touchett.

»Es wird sich ja bald herausstellen«, sagte Lord Warburton. »Wann trifft Mrs Touchett ein?«

»Da tappen wir völlig im Dunkeln. Sobald sie eine anständige Kabine bekommen kann. Vielleicht wartet sie noch immer darauf. Vielleicht ist sie aber auch schon in England eingetroffen.«

»In diesem Fall hätte sie Ihnen doch wahrscheinlich ein Tele­gramm geschickt.«

»Sie telegrafiert niemals, wenn man es erwartet; immer nur dann, wenn man es nicht tut«, sagte der alte Mann. »Sie liebt es, aus heiterem Himmel über mich hereinzubrechen. Sie glaubt, sie erwischt mich dann bei etwas Unrechtem. Das ist ihr zwar bis jetzt nicht gelungen, aber sie hat noch längst nicht aufgegeben.«

»Das ist ihr Anteil am Familiencharakter, die Selbstständigkeit, von der sie spricht.« Ihr Sohn beurteilte den Sachverhalt positiver. »Wie groß auch immer die Courage dieser jungen Damen sein mag, die unserer Mutter ist genauso groß. Sie macht sowieso am liebsten alles selbst und glaubt nicht daran, dass irgendje­mand sonst genug Energie und Schwung hat, um ihr eine Hilfe sein zu können. Mich hält sie für so wertlos wie eine Briefmarke ohne Gummierung, und sie würde es mir nie verzeihen, sollte ich mich erdreisten, sie in Liverpool abholen zu wollen.«

»Wirst du es mich wenigstens wissen lassen, wenn deine Cou­sine eingetroffen ist?«, fragte Lord Warburton.

»Nur unter der genannten Bedingung – dass Sie sich nicht in sie verlieben!«, rief Mr Touchett dazwischen.

»Das kommt mir denn doch hart vor. Halten Sie mich für nicht gut genug?«

»Ich halte Sie für zu gut, und mir gefiele es nicht, wenn sie Sie heiraten würde. Sie kommt ja, hoffentlich, nicht deswegen her, um sich einen Mann zu angeln. Das tun jetzt so viele junge Damen, als gäbe es bei ihnen zu Hause keine guten Männer. Und au­ßerdem ist sie ja wahrscheinlich verlobt. Normalerweise sind amerikanische Mädchen sowieso verlobt, glaube ich. Und zudem bin ich mir gar nicht sicher, ob Sie einen vorzeigbaren Ehemann abgeben würden.«

»Sehr wahrscheinlich ist sie verlobt. Ich habe bisher viele junge Amerikanerinnen kennengelernt, und die waren allesamt ver­lobt. Aber ich schwöre, dass ich nie bemerkt habe, was das für einen Unterschied gemacht hätte! Und was meine Eignung zum guten Ehemann angeht«, fuhr Mr Touchetts Besucher fort, »da bin ich mir dessen selbst nicht so sicher. Man müsste es mal versuchen!«

»Versuchen Sie’s, sooft Sie wollen, aber verschonen Sie meine Nichte mit Ihren Versuchungen«, erwiderte der alte Mann lächelnd, dessen Einwände gegen eine derartige Vorstellung von einem kräftigen Humor geprägt waren.

»So ist’s recht!«, sagte Lord Warburton mit noch ausgeprägte­rem Humor. »Aber vielleicht ist sie ja den Versuch gar nicht wert!«

 

2

Während sich die beiden auf diese Weise in Witzeleien ergingen, schlenderte Ralph Touchett mit dem für ihn typischen vornübergebeugten Gang ein Stück davon, die Hände in den Taschen, den kleinen, frechen Terrier an den Fersen. Ralphs Gesicht war dem Haus zugewandt, den Blick aber hatte er sinnend auf den Rasen gerichtet, weshalb der junge Mann zum Gegenstand der Beobachtung für eine Person wurde, die soeben in dem großzügig dimensionierten Hauseingang aufgetaucht war, ein paar Sekunden, ehe er sie selbst wahrnahm. Das Gebaren seines Hundes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sie. Mit kurzem, durchdringendem Kläffen, das jedoch mehr nach einem Willkommensgruß als nach einer Herausforderung klang, war das Tier unvermittelt losgeschossen. Die betreffende Person war eine junge Dame, welche die Begrüßung des kleinen Kläffers ohne Umschweife richtig zu verstehen schien. Der Hund rannte mit hoher Geschwindigkeit zu ihr hin, blieb zu ihren Füßen stehen, sah zu ihr auf und bellte wie wild, woraufhin sie sich ohne Scheu zu ihm hinabbeugte, ihn festhielt und auf Augenhöhe hochhob, derweil er seine ungestüme Begrüßung fortsetzte. Sein Herr war zwischenzeitlich nachgekommen und nun in der Lage zu erkennen, dass Bunchies neue Freundin ein hochgewachsenes Mädchen in einem schwarzen Kleid war und auf den ersten Blick hübsch aussah. Eine Kopfbedeckung trug sie nicht, so als habe sie sich im Haus aufgehalten, ein Umstand, der den Sohn des Hausherrn einigermaßen verwirrte, war er es doch – bedingt durch den schlechten Gesundheitszustand des Vaters – schon seit Längerem gewohnt gewesen, dass kein Besuch kam. Mittlerweile hatten auch die beiden anderen Gentlemen vom Neuankömmling Notiz genommen.

»Du lieber Himmel, wer ist denn die Fremde dort?«, hatte Mr Touchett gefragt.

»Vielleicht ist sie Mrs Touchetts Nichte, diese unabhängige junge Dame«, schlug Lord Warburton vor. »Nach meiner Ansicht müsste sie es sein, so wie sie mit dem Hund umgeht.«

Auch der Collie geruhte nun, sich ablenken zu lassen. Er trottete in Richtung der jungen Lady im Eingang und versetzte dabei allmählich seinen Schwanz in wedelnde Bewegungen.

»Aber wo steckt dann meine Frau?«, brummte der alte Mann.

»Wahrscheinlich hat die junge Dame sie irgendwo zurückgelassen. So macht man das, wenn man unabhängig ist.«

Das Mädchen sprach Ralph mit einem Lächeln an, während sie den Terrier noch immer hochhielt. »Ist das Ihr Hündchen, Sir?«

»Das war es noch bis vor einer Sekunde, aber Sie haben ja erstaunlich schnell Ihren Besitzanspruch auf den Racker angemeldet.«

»Könnten wir ihn uns nicht teilen?«, fragte das Mädchen. »Er ist ein so süßer, kleiner Kerl.«

Ralph sah sie kurz an. Sie war wirklich unerwartet hübsch. »Sie können ihn ganz behalten«, antwortete er dann.

Obschon die junge Dame eine gehörige Portion Vertrauen zu besitzen schien, und zwar sowohl zu sich selbst als auch zu anderen, ließ sie seine unvermittelte Großzügigkeit dennoch erröten. »Ich sollte Ihnen wohl sagen, dass ich wahrscheinlich Ihre Cousine bin«, brachte sie heraus und setzte den Hund ab. »Da ist ja noch einer!«, fügte sie schnell hinzu, als der Collie zu ihr kam.

»Bloß ›wahrscheinlich‹?«, rief der junge Mann lachend aus. »Ich hatte geglaubt, das sei sicher! Sind Sie zusammen mit meiner Mutter angekommen?«

»Ja, vor einer halben Stunde.«

»Und sie hat Sie wohl hier abgesetzt und ist dann gleich wieder davon?«

»Nein, sie ging sofort auf ihr Zimmer, und mir hat sie aufgetragen, ich solle Ihnen, falls ich Sie sehe, ausrichten, dass Sie sich dort um Viertel vor sieben einzufinden ­hätten.«

Der junge Mann sah auf seine Uhr. »Ich danke Ihnen. Ich werde pünktlich sein.« Und dann sah er wieder seine Cousine an. »Ganz herzlich willkommen hier! Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.«

Sie ließ den Blick über ihre Umgebung schweifen, und ihr klares Auge verriet, dass ihr nichts entging. Sie betrachtete den Cousin, die beiden Hunde, die beiden Männer unter den Bäumen, die schöne Gegend um sie herum. »Noch nie habe ich so etwas Hübsches gesehen wie diesen Ort. Ich bin auch schon durchs ganze Haus gewandert. Es ist absolut hinreißend.«

»Ich muss mich entschuldigen, dass wir Sie so lange nicht bemerkt haben.«

»Deine Mutter sagte mir, dass man in England kein großes Aufheben macht, wenn man irgendwo ankommt. Und da dachte ich mir, das sei ganz normal so. Ist einer dieser Herren dort dein Vater?«

»Ja, der ältere, der im Sessel«, sagte Ralph.

Das Mädchen ließ ein Lachen hören. »Dass es der andere sein könnte, habe ich eigentlich auch nicht angenommen. Wer ist der andere?«

»Ein Freund von uns – Lord Warburton.«

»Genau das hatte ich mir erhofft, einmal einen Lord kennenzulernen. Fast wie im Roman!« Und dann: »Ach, du süßes, kleines Ding!«, rief sie übergangslos aus, bückte sich und hob den kleinen Hund wieder auf.

Sie verharrte weiterhin an der Stelle, wo sie sich begrüßt hatten, und machte keinerlei Anstalten, ins Freie zu gehen oder sich bei Mr Touchett vorzustellen, und während sie so nahe der Schwelle verweilte, rank und schlank und bezaubernd, überlegte ihr Gesprächspartner, ob sie wohl erwartete, der alte Herr werde herüberkommen und ihr seine Aufwartung machen. Amerikanische Mädchen waren ja wohl ein gerüttelt Maß an Ehrerbietung gewohnt, und es hatte bereits im Voraus Andeutungen gegeben, dass dieses hier ein recht selbstsicheres Exemplar sei. Was Ralph auch problemlos ihrem Gesicht entnehmen konnte.

»Soll ich dich nicht mit meinem Vater bekannt machen?«, wagte er dennoch zu fragen. »Er ist alt und gebrechlich; er muss den ganzen Tag über sitzen.«

»Der Ärmste! Das tut mir aber leid!«, sagte das Mädchen gerührt und tat gleich ein paar Schritte nach vorn. »Von den Berichten deiner Mutter her hatte ich eigentlich den Eindruck, er sei ein recht – ein recht aktiver Mann.«

Ralph Touchett verstummte kurz. »Sie hat ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen.«

»Ach so. Wenigstens hat er einen schönen Platz zum Sitzen. Los, komm mit, Hündchen!«

»Ja, es ist ein schönes Plätzchen, das ihm ans Herz gewachsen ist«, sagte der junge Mann und schaute seine Begleiterin von der Seite her an.

»Wie heißt er?«, fragte sie, und ihre Aufmerksamkeit war schon wieder zum Terrier zurückgekehrt.

»Mein Vater?«

»Ja«, sagte die junge Dame amüsiert. »Aber verrate ihm nicht, dass ich dich gefragt habe.«

Inzwischen waren sie bei dem alten Herrn angelangt, der sich langsam erhob, um sich vorzustellen.

»Meine Mutter ist eingetroffen«, sagte Ralph, »und dies hier ist Miss Archer.«

Der alte Mann legte ihr beide Hände auf die Schultern, betrachtete sie einen Augenblick lang mit größtem Wohlwollen und gab ihr dann galant ein Küsschen. »Es ist mir ein großes Vergnügen, dich hier bei uns zu begrüßen, aber mir wäre es lieber gewesen, du ­hättest uns die Chance gegeben, dich gebührend zu empfangen.«

»Aber wir wurden doch gebührend empfangen«, sagte das Mädchen. »In der Halle stand ungefähr ein Dutzend Dienstboten bereit. Und am Tor war eine alte Frau und hat uns mit einem Knicks begrüßt.«

»Da brächten wir noch ganz andere Dinge fertig – wenn man uns nur vorher Bescheid gäbe!« Lächelnd rieb sich der alte Mann die Hände und schüttelte dann den Kopf. »Aber Mrs Touchett liebt keine Empfangszeremonien.«

»Sie ging gleich auf ihr Zimmer.«

»Natürlich – wo sie sich einschloss. Das tut sie jedes Mal. Na ja, vermutlich bekomme ich sie nächste Woche zu Gesicht.« Und bedächtig nahm Mrs Touchetts Gemahl seine Sitzposition wieder ein.

»Nein, schon früher«, bemerkte Miss Archer. »Sie will um acht zum Dinner kommen. Und du vergisst bitte nicht: um Viertel vor sieben«, ergänzte sie mit einem Lächeln zu Ralph gewandt.

»Was gibt’s um Viertel vor sieben?«

»Da bin ich zu meiner Mutter bestellt«, antwortete Ralph.

»Glückspilz!«, kommentierte der alte Herr. »Aber so setz dich doch. Trink ein Tässchen Tee mit uns«, forderte er die Nichte seiner Frau auf.

»Aber ich habe schon Tee bekommen, gleich nachdem ich mein Zimmer betreten hatte«, entgegnete besagte junge Dame. »Es tut mir leid, dass es Euch nicht so gut geht«, fuhr sie fort und sah ihren väterlichen Gastgeber lange und direkt an.

»Ach was, ich bin ein alter Mann, mein Kind, und das darf ich jetzt auch ruhigen Gewissens sein. Doch nun, da du bei uns bist, werde ich aufblühen.«

Wieder hatte sie ihre Umgebung ringsum gemustert: den Rasen, die prächtigen Bäume, die schilfgesäumte, silbrige Themse, das wunderschöne, alte Haus. Und noch während sie mit dieser Bestandsaufnahme beschäftigt war, hatte sie den Umstehenden gleich ihre Plätze darin zugeordnet, und das mit einem Einfühlungsvermögen und einer so umfassenden Wahrnehmung, wie man es sich bei einer offenbar intelligenten und aufgeregten jungen Frau leicht vorstellen kann. Sie hatte Platz genommen und den kleinen Hund auf die Erde gesetzt. Die weißen Hände lagen in ihrem Schoß über dem schwarzen Kleid gefaltet; den Kopf hielt sie gerade, und ihre Augen glänzten, während sie sich mit ihrer geschmeidigen Gestalt ohne Mühe hierhin und dorthin wandte, im Gleichklang mit jener wachen Beobachtungsgabe, mit der sie augenscheinlich Eindrücke in sich aufnahm. Deren gab es viele, und alle spiegelten sie sich in einem offenen, ruhigen Lächeln wider. »So etwas Schönes wie das hier habe ich noch nie gesehen.«

»Es macht ganz hübsch was her«, sagte Mr Touchett. »Ich kann nachvollziehen, welchen Eindruck es auf dich macht. Mir ist das früher ebenso ergangen. Aber du bist selbst auch ganz hübsch«, ergänzte er mit einer Höflichkeit, die ganz und gar nichts Plump-Vertrauliches an sich hatte und aus dem fröhlichen Bewusstsein stammte, dass ihm sein fortgeschrittenes Alter das Vorrecht gab, dergleichen Äußerungen zu tun – selbst gegenüber jungen Dingern, die darob womöglich gleich vor Schreck erstarrten.

Das genaue Ausmaß, in welchem dieses junge Ding vor Schreck erstarrte, braucht nicht weiter ermittelt zu werden. Jedenfalls stand das Mädchen sofort auf und wurde rot, womit sie das Gesagte keineswegs widerlegte. »Na klar, selbstverständlich bin ich wunderschön!«, gab sie mit einem nervösen Auflachen zurück. »Wie alt ist Euer Haus? Elisabethanisch?«

»Frühes Tudor«, sagte Ralph Touchett.

Sie sah ihn prüfend an.

»Frühes Tudor? Einfach herrlich! Und vermutlich gibt es davon noch recht viele.«

»Viele, die auch noch schöner sind.«

»Sag doch so etwas nicht, mein Junge!«, protestierte der alte Herr. »Etwas Besseres als das hier gibt es nicht.«

»Meines ist ganz gut. In mancherlei Hinsicht halte ich es sogar für um einiges besser«, sagte Lord Warburton, der bis dahin kein Wort gesagt, dafür aber Miss Archer die ganze Zeit über aufmerksam angeblickt hatte. Er lächelte und verneigte sich leicht. Mit Frauen konnte er hervorragend umgehen. Das junge Mädchen reagierte auch prompt. Schließlich hatte sie nicht vergessen, dass sie es mit Lord Warburton zu tun hatte. »Ich würde es Ihnen außerordentlich gern einmal zeigen«, fügte er hinzu.

»Glaub ihm bloß nicht!«, rief der alte Mann dazwischen. »Da darfst du nicht mal hinsehen – zu diesem baufälligen, alten ­Kasten! Überhaupt kein Vergleich mit unserem Haus!«

»Ich weiß es nicht – ich kann es schlecht beurteilen«, meinte das Mädchen und lächelte Lord Warburton an.

Ralph Touchett zeigte an dieser Diskussion nicht das ge­ring­ste Inte­resse. Mit den Händen in den Taschen stand er da und sah ganz so aus, als würde er am liebsten die vorherige Unterhaltung mit der neu entdeckten Cousine wieder auf­nehmen. »Machst du dir viel aus Hunden?«, wollte er vorsichtig wissen. Es schien ihm sehr wohl bewusst zu sein, welch peinliche Gesprächs­aufforderung das für einen intelligenten Menschen darstellte.

»Sehr viel sogar.«

»Dann musst du den Terrier unbedingt behalten, ja?«, fuhr er fort, noch immer verlegen.

»Ich behalte ihn, solange ich hier bin, mit großem Vergnügen.«

»Das wird doch hoffentlich recht lange sein.«

»Du bist zu freundlich. Ich weiß nicht recht. Das muss die Tante für mich regeln.«

»Das regle ich schon mit ihr, um Viertel vor sieben.« Und Ralph sah erneut auf seine Uhr.

»Ich bin jedenfalls glücklich, dass ich hier bin«, sagte das Mädchen.

»Ich habe nicht den Eindruck, als würdest du deine Angelegenheiten gern von anderen regeln lassen.«

»O doch, wenn sie so geregelt werden, wie ich es gerne hätte.«

»Ich werde das so regeln, wie ich es gern hätte«, sagte Ralph. »Es ist absolut unentschuldbar, dass wir dich bisher nicht kennenlernen durften.«

»Aber ich war doch da! Du hättest nur zu kommen und mich zu besuchen brauchen.«

»Du warst da? Wo denn?«

»In den Vereinigten Staaten: in New York und Albany und anderen Orten in Amerika.«

»Aber dort war ich ja, überall, und nie habe ich dich angetroffen. Es ist mir ein Rätsel.«

Miss Archer zögerte kurz. »Es lag daran, dass es zwischen deiner Mutter und meinem Vater einige Misshelligkeiten gegeben hatte, und zwar nach dem Tod meiner Mutter, als ich noch ein kleines Kind war. Infolgedessen erwarteten wir auch nie, dich jemals kennenzulernen.«

»Ach so – aber ich werde mich doch nicht mit jedem Streit meiner Mutter identifizieren – um Himmels willen!«, rief der junge Mann aus. »Du hast unlängst deinen Vater verloren?«, fuhr er, ernster geworden, fort.

»Ja, vor gut einem Jahr. Danach hat sich meine Tante ganz lieb um mich gekümmert. Sie besuchte mich und schlug vor, ich solle mit ihr nach Europa kommen.«

»Ich verstehe«, sagte Ralph. »Sie hat dich adoptiert.«

»Mich adoptiert?« Das Mädchen starrte ihn entgeistert an, und erneut breitete sich die Röte auf ihrem Gesicht aus, begleitet von einem flüchtigen, schmerzlichen Ausdruck, der ihren Gesprächspartner bestürzte. Er hatte die Wirkung seiner Worte unterschätzt. Lord Warburton, der sich danach zu verzehren schien, Miss Archer aus der Nähe betrachten zu dürfen, kam in diesem Augenblick herbeigeschlendert, und Ralphs Cousine betrachtete ihn mit deutlich geweiteten Augen. »Aber nein, sie hat mich nicht adoptiert. Ich bin nämlich zur Adoption nicht freige­geben.«

»Ich bitte tausendmal um Vergebung«, murmelte Ralph. »Ich wollte – ich habe gemeint …« Er wusste selbst kaum, was er gemeint hatte.

»Du hast gemeint, sie hätte mich vereinnahmt. Ja, das ­tut sie ganz gerne, Menschen vereinnahmen. Sie ist die ganze Zeit sehr nett zu mir gewesen, aber«, fuhr sie mit deutlich sichtbarem Bemühen fort, sich unmissverständlich auszudrücken, »meine Freiheit ist mir schon sehr wichtig.«

»Sprecht ihr da gerade über Mrs Touchett?«, rief der alte Herr von seinem Sessel aus dazwischen. »Komm herüber, mein Kind, und erzähl mir was von ihr. Ich bin stets dankbar für Informationen.«

Das Mädchen zögerte erneut und lächelte. »Sie ist wirklich sehr gutherzig«, erwiderte sie und begab sich zu ihrem Onkel, den ihre Worte heiter gestimmt hatten.

Lord Warburton sah sich allein bei Ralph gelassen, zu dem er kurz darauf sagte: »Du wolltest doch vorhin meine Vorstellung von einer interessanten Frau sehen. Dort siehst du sie!«

3

Mrs Touchett war mit all ihren Wunderlichkeiten zweifel­los ein Original, wovon ihr Verhalten bei der Rückkehr ins Haus ihres Mannes nach vielmonatiger Abwesenheit eine bemerkenswerte Probe abgab. Sie hatte ihren eigenen Kopf bei allem, was sie tat, und das stellt die einfachste Beschreibung eines Charakters dar, dem es, obwohl durchaus zu Großzügigkeit und Freigebigkeit fähig, nur selten gelang, den Eindruck von Verbindlichkeit und Charme zu vermitteln. Mrs Touchett war sehr wohl in der Lage, viel Gutes zu stiften, aber gefallen wollte sie nicht und tat es auch nicht. Dieser Eigensinn, auf den sie so viel Wert legte, war an sich keineswegs kränkend oder provokativ gemeint. Er unterschied sich nur voll und ganz von den Handlungsweisen anderer Menschen. Die Ecken und Kanten ihres Verhaltens traten so ausgeprägt zutage, dass es für empfindsame Gemüter gelegentlich die Schärfe einer Messerklinge hatte. Diese verletzende Härte offenbarte sich in ihrem Handeln während der ersten Stunden nach ihrer Rückkehr aus Amerika, als es unter den gegebenen Umständen wohl angebracht und natürlich gewesen wäre, zunächst einmal Gemahl und Sohn zu begrüßen. Stattdessen pflegte Mrs Touchett aus Gründen, die sie für absolut übergeordnet hielt, sich zunächst stets in eine unzugängliche Klausur zurückzuziehen und das eher sentimentale Ritual so lange hinauszuschieben, bis sie auch die kleinste Unordentlichkeit der Kleidung gnadenlos beseitigt hatte, was eigentlich ein völlig unwichtiges Unterfangen dar­stellte, zumal weder Schönheit noch Eitelkeit dabei irgendeine Rolle spielten. Sie war eine alte Frau mit einem gewöhnlichen Gesicht, ohne Anmut oder bemerkenswerte Eleganz, doch mit der ausgeprägten Neigung ausgestattet, sich beständig mit den Gründen für ihre Handlungsweisen zu beschäftigen. In der Regel legte sie diese bereitwillig dar, falls die Gunst einer solchen Erläuterung ausdrücklich erbeten wurde, wobei sich dann in deren Verlauf herausstellte, dass es sich bei ihren Motiven um völlig andere handelte, als man ihr unterstellte. So lebte sie zwar praktisch von ihrem Mann getrennt, doch schien sie an dieser Situation überhaupt nichts Irreguläres zu finden. Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt in ihrer ehelichen Gemeinschaft hatte sich herausgestellt, dass sie beide nie das Gleiche zum gleichen Zeitpunkt wollten, ein Umstand, der Mrs Touchett veranlasste, Uneinigkeiten nicht dem Reich des ordinären Zufalls zu überlassen, sondern sie zum Naturgesetz zu erheben, was für sie eine weitaus erbaulichere Sicht der Dinge darstellte. Konsequenterweise entschloss sie sich, nach Florenz zu ziehen, wo sie ein Anwesen kaufte, in dem sie sich häuslich einrichtete, während sie ihren Mann in England zurückließ, damit er sich um seine dortige Bankniederlassung kümmern konnte. Dieses Arrangement erfüllte sie mit höchster Zufriedenheit, denn es war von einer trefflichen Entschiedenheit. Im gleichen Lichte, doch weniger trefflich, sah es auch ihr Mann, dem es in der Londoner Nebelsuppe das einzig Konkrete zu sein schien, das er wahr­nehmen konnte. Er hätte es allerdings vorgezogen, wenn dergleichen Unnatürlichkeiten weniger entschieden und konkret gewesen wären. Das Ja zum Nein hatte ihn einige Anstrengung gekostet. Zu fast allem anderen hätte er bereitwilliger Ja gesagt, denn es leuchtete ihm nicht ein, aus welchem Grund Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung etwas so fürchterlich Endgültiges an sich haben sollten. Mrs Touchett gab sich weder dem Bedauern noch irgendwelchen Spekulationen hin und kam meist ­einmal im Jahr, um einen Monat mit ihrem Mann zu verbringen, den sie in dieser Zeit offenbar unermüdlich von der Richtigkeit ihrer Grundsätze zu überzeugen trachtete. Der englische Lebensstil behagte ihr gar nicht, wofür sie drei oder vier Argumente parat hielt, die sie beständig vorbrachte und die sich auf unwesentliche Eigentümlichkeiten uralter englischer Sitten und Gebräuche bezogen, die aber für Mrs Touchett eine mehr als ausreichende Rechtfertigung des Wohnsitzwechsels waren: Sie verabscheute jene Brottunke aus Brotkrumen, Milch, Zwiebeln und Gewürzen, die meist zu Geflügel gereicht wurde und die, nach ihren Worten, wie ein Breiumschlag für einen Kranken aussah und wie Seife schmeckte. Dass ihre Dienstmädchen Bier tranken, erregte ihre Missbilligung. Und ihrer britischen Wäscherin bescheinigte sie, keine Meisterin ihres Faches zu sein, wo doch Mrs Touchett so penibel mit ihrer Wäsche war. In regelmäßigen Abständen stattete sie ihrem Heimatland Amerika einen Besuch ab, aber dieser jüngste war länger gewesen als irgendein anderer zuvor.

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