Positives Elternhandeln - Armin Castello - E-Book

Positives Elternhandeln E-Book

Armin Castello

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Beschreibung

Eltern können auf vielen Ebenen als Schutzfaktor in der Entwicklung ihres Kindes wirksam werden. Sie sind die erste Bezugsperson und Bindungsfigur für ihr Baby, setzen die Erziehung ihres Kindes um, sie sind aber auch ein bedeutender Partner in der Unterstützung ihres Kindes für eine gute gesundheitliche, psychische, schulische und soziale Entwicklung. Eltern unterstützen im Umgang mit Emotionen und in der Entwicklung positiven Denkens und Handelns. Das Buch liefert einen kompakten Überblick zu elterlichem Handeln, das die kindliche Entwicklung positiv beeinflussen kann. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf Hinweisen zu positiven Veränderungsmöglichkeiten und in der Darstellung von möglichen Wegen, wie diese umgesetzt werden können.

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Der Autor

Dr. Armin Castello ist Universitätsprofessor für Psychologie und Diagnostik an der Europa-Universität Flensburg. In Forschung und Lehre vertritt er die Themenfelder Klinische Kinderpsychologie, Erziehungsberatung und systemische Familienberatung.

Armin Castello

Positives Elternhandeln

Pädagogik im familiären Alltag

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035256-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-035257-5

epub:  ISBN 978-3-17-035258-2

mobi:  ISBN 978-3-17-035259-9

Inhalt

 

Vorwort

1          Kindliche Entwicklung: ein Anpassungsprozess

2          Bindung zwischen Eltern und Kind

2.1          Eltern-Kind-Dialog

2.2          Bindungstypen

2.3          Sichere Bindung als Schutzfaktor

2.4          Positives Bindungsverhalten von Eltern

2.5          Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Kommunikation

3          Erziehung

3.1          Veränderungen für Familien

3.2          Erwartung und Unterstützung

3.3          Wirkung des Erziehungsverhaltens

4          Umgang mit Emotionen

4.1          Bedeutung des Umgangs mit Emotionen

4.2          Umgang mit Emotionen erlernen

4.3          Positiver Umgang mit Emotionen

4.4          Belastender Umgang mit Emotionen

5          Unterstützung realistischen Denkens

5.1          Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen

5.2          Negatives Denken

5.3          Entstehungsbedingungen negativ verzerrten Denkens

5.4          Realistisches Denken unterstützen

5.5          Beispiele für die Unterstützung realistischen Denkens

5.5.1       Emotionen haben Vorrang

5.5.2       Negatives Denken erkennen

5.5.3       Normalisieren

5.5.4       Nachfragen

5.5.5       Negatives Denken benennen

5.5.6       Rational begründetes Feedback

5.5.7       Ursachenzuschreibungen

6          Unterstützung angemessenen Sozialverhaltens

6.1          Angemessenheit elterlicher Erwartungen

6.2          Handlungsorientierung geben

6.3          Belohnung, Lob und Feedback

6.4          Konsequenzen bei unerwünschtem Verhalten

7          Systemisches Verständnis für Eltern

7.1          Zirkuläre Kausalität im Familiensystem

7.2          Grenzen und Koalitionen

7.3          Traditionen und Familienregeln

7.4          Mehrgenerationenperspektive

8          Selbstmitgefühl für Eltern

9          Elternpartnerschaft

10       Ressourcen für Eltern

10.1          Frühe Hilfen

10.2          Hilfe zur Erziehung

10.3          Triple P (Positive Parenting Program)

10.4          Systemische Familienberatung

10.5          Präventive Paarberatung

10.6          Online-Ressourcen

10.6.1       familienhandbuch.de

10.6.2       elternbriefe.de

10.6.3       kindergesundheit-info.de

10.6.4       eltern.bke-beratung.de

10.6.5       no-famstress.com

Literatur

Vorwort

 

Ein besonderes Verständnis für die immense Wirkung von Eltern als Schutzfaktor in der Entwicklung ihrer Kinder entstand in den Jahren meiner ersten beruflichen Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern in der Kinder- und Jugendhilfe, Erziehungsberatung sowie Kinderpsychotherapie und systemischen Paar- und Familienberatung.

Unsere Klienten einer stationären Jugendhilfeeinrichtung, in der junge Männer statt Haftstrafe pädagogisch begleitet und mit dem Ziel der beruflichen und sozialen Integration unterstützt werden sollten, waren fast ausnahmslos Söhne aus Familien mit erheblichen biografischen Belastungen. Nur selten wurde durch ihre Herkunftsfamilie ein herzlicher Kontakt gepflegt, Wochenendbesuche waren eher die Ausnahme, in der täglichen Post lag kaum etwas, das auf das Bemühen einer Kontaktperson der Familie hinzuweisen schien. In der Regel wurden pädagogische Anstrengungen zur Verselbstständigung mit dem Ende der Maßnahme unternommen, mit der Unterstützung durch die Familie rechneten allerdings weder die Klienten noch das betreuende Team. Rückblickend konnte im Rahmen dieser Maßnahme ohne das Engagement und das Interesse einer Bezugsperson aus der Familie keinem dieser jungen Männer eine stabile soziale und berufliche Perspektive ermöglicht werden.

In meiner späteren Tätigkeit als Mitglied des Psychotherapeutenteams an einer Ambulanz für Kinder, Jugendliche und Familien hatte ich Gelegenheit, mit Eltern zu arbeiten, die verlässlich die Entwicklung ihres Kindes im Auge hatten und aktiv professionelle, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahmen. Obwohl auch sie verständlicherweise nicht gerne fremden Personen Einblick in die eigene Familie geben wollten, war ihnen das Wohl ihres Kindes wichtiger. Häufig wurde im Kontext unserer psychologischen und psychotherapeutischen Interventionen auch eine Förderung der elterlichen Kompetenzen im Umgang mit ihrem Kind initiiert, in vielen Fällen wurden von den Eltern ergänzend unsere paartherapeutischen Angebote wahrgenommen. Insgesamt möchte ich die Arbeit an dieser psychotherapeutischen Ambulanz als sehr erfolgreich bezeichnen, denn viele Familien konnten von der Unterstützung langfristig profitieren.

Obwohl die erstgenannte Jugendhilfemaßnahme erhebliche Kosten verursachte, misslangen unsere Bemühungen, und das professionelle Engagement der Beteiligten scheiterte oft am Mangel der Unterstützung durch die Eltern. Die Ambulanztätigkeit hingegen war nachhaltig wirksam, verursachte aber nur einen Bruchteil der finanziellen Aufwendungen. Die Unterschiede dieser beiden Unterstützungsformen für Familien – wie z. B. deren Zeitpunkt bzw. die frühe Unterstützung der Eltern – waren Ausgangspunkte für das Konzept zu diesem Band, bei dem die verschiedenen Dimensionen der Wirkung von Eltern als Schutzfaktor für die Entwicklung eines Kindes dargestellt werden sollten.

Diese Erfahrung zeigt, dass es die Eltern sind, auf die sich ein Kind letztendlich verlassen können muss, um eine gesunde Grundlage für die körperliche, psychische, schulische und soziale Entwicklung sicher zu stellen. »Eltern« im weiteren Sinn sind enge erwachsene Bezugspersonen eines Kindes, die die Elternrolle und auch die dauerhafte Elternverantwortung übernehmen. Die Elternrolle und eine damit verbundene, sich mit der Entwicklung des Kindes ständig wandelnde Elternverantwortung haben eine Bindungsbeziehung zum Ausgangspunkt. Die elterliche Bindungsbeziehung zu einem Kind zieht also notwendigerweise das Übernehmen der Verantwortung als Eltern nach sich.

Die Zielsetzung des Bandes ist es, vor diesem Hintergrund deutlich zu machen, worin diese Elternverantwortung besteht und einen kompakten Überblick zu elterlichem Handeln zu geben, das die kindliche Entwicklung positiv beeinflussen kann. Ein besonderer Schwerpunkt soll auf Hinweise zu positiven Veränderungsmöglichkeiten gelegt werden und in einer Darstellung von möglichen Wegen, wie diese umgesetzt werden können.

Die Zielgruppe des Bandes sind daher Eltern, die direkt oder über eine vermittelte Elternedukation erreicht werden sollen. Ein Personenkreis, der sich professionell für die Qualifikation und Beratung von Eltern engagiert, gehört daher ebenso zu den Adressaten.

Zunächst werden im ersten Kapitel (Kap. 1) die anthropologischen und evolutionsbiologischen Ausgangslagen des Elternseins skizziert. Unsere universellen menschlichen Eigenschaften bedingen generalisierbare Merkmale positiven elterlichen Bindungsverhaltens, die im zweiten Kapitel (Kap. 2) dargestellt werden. Eine kurze Zusammenfassung zur Wirkung des elterlichen Erziehungsverhaltens wird in Kapitel 3 (Kap. 3) gegeben. Schließlich folgen zu den Schwerpunkten »Elterlicher Umgang mit Emotionen« (Kap. 4), »Unterstützung positiven Denkens« (Kap. 5) und »Unterstützung positiven Sozialverhaltens« (Kap. 6) jeweils zusammenfassende Darstellungen zu den Möglichkeiten wirkungsvoller elterlicher Einflussnahme. Die Eigenschaften von Familien als Gemeinschaft, die Traditionen, Grenzen, Regeln und die spezifischen Merkmale eines sozialen Systems besitzt, werden in Kapitel 7 (Kap. 7) dargelegt, um ein grundlegendes systemisches Verständnis für die Prozesse in Familien zu ermöglichen. Kapitel 8 (Kap. 8) befasst sich mit einem Weg für Eltern, Selbstmitgefühl zu fördern, um auf diese Weise sich selbst und dem eigenen Kind gegenüber mehr Akzeptanz zu entwickeln. Die Partnerschaft der Eltern, deren Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung und deren Stärkung als Schutzfaktor erläutert Kapitel 9 (Kap. 9). Abschließend werden in Kapitel 10 (Kap. 10) Ressourcen zur Information, Begleitung und Unterstützung von Eltern beschrieben.

Diese inhaltliche Breite des Bandes soll die unterschiedlichen Dimensionen repräsentieren, in denen Eltern durch den Erwerb von Wissen, durch Initiativen zur eigenen Entwicklung und durch aktives Handeln ihre Wirksamkeit als Schutzfaktor entfalten können. Die gewählte thematische Gliederung erleichtert zwar die Orientierung im Band, allerdings sind zahlreiche Querverweise nötig gewesen, die schließlich ein integriertes Verständnis ermöglichen. Nicht in allen Fällen war die Trennung der Themen ganz einfach, da sie u. a. entwicklungspsychologisch eng verwoben sind. Die Lesbarkeit soll durch den sparsamen Umgang mit Fachvokabular erleichtert werden. Eine Illustrierung findet durch ausgewählte Fallvignetten statt, anhand derer positives Elternverhalten beschrieben wird, ohne elterliches »Fehlverhalten« anzuprangern. All dies soll das Verständnis erleichtern und den Transfer in den familiären Alltag unterstützen.

Die Realisierung des Bandes wurde mit Hilfe des Kontakts zu vielen Kindern, Jugendlichen und Familien ermöglicht, im Rahmen meiner Tätigkeit als psychologischer Berater und Psychotherapeut. Beeindruckend ist immer wieder die Betrachtung von Familienbiographien im Rahmen von Workshops zur systemischen Familienberatung. Dort kann man oft sehr gut erkennen, wie Eltern auf vielfältige Weise als Schutzfaktor wirken und wie diese Ressource durch die Elterngeneration an Kinder weitergegeben wird.

Meine wichtigste Erfahrung war es, selbst in der Verantwortung als Vater zunächst eines Säuglings, dann Kleinkindes, Kitakindes, Schulkindes und jungen Erwachsenen zu stehen. Menschen begegnen sich selbst, ihrer Familie und ihren Eltern auf eine besondere Weise, wenn sie Eltern werden. Die eigenen Kinder öffnen den Eltern einen Zugang zu einer neuen Qualität emotionalen Erlebens und sie fordern dabei gleichzeitig Elternfürsorge ein, die das Leben, den Alltag und die Partnerschaft ihrer Eltern verändert.

Aus diesem Grund möchte ich diesen Band gerne meinen beiden Söhnen Felix Castello und Ben Moritz Castello widmen.

Flensburg, im Frühjahr 2019

Armin Castello

1          Kindliche Entwicklung: ein Anpassungsprozess

 

Zum Verständnis der vielfältigen Pfade der Wirkung von Eltern als Schutzfaktor ist ein grundlegendes Verständnis des Wesens kindlicher Entwicklung hilfreich. Denn in der kindlichen Entwicklung versucht die Natur, Lösungen dafür zu finden, dass sich die Chance für ein erfolgreiches Überleben eines Kindes erhöhen, und sie schafft damit gleichzeitig Herausforderungen, die allen Eltern beim Heranwachsen ihres Kindes begegnen. Folge ist, dass eine menschliche Schwäche gleichzeitig eine große Stärke ist. Sie besteht darin, sich verschiedenen Umwelten anpassen zu können und selbst unter extremen Lebensbedingungen Wege zu finden, um zu überleben. Diese Eigenschaft unterscheidet Menschen von anderen Arten, denn viele Tierjunge können bereits kurz nach der Geburt ohne die Unterstützung ihrer Eltern überleben. Der Preis für die hohe menschliche Anpassungsfähigkeit ist aber, dass ihnen zum Zeitpunkt der Geburt wichtige Fähigkeiten fehlen, die sie zum Überleben eigentlich dringend bräuchten. Sie müssen erst ganz allmählich in den ersten beiden Lebensjahrzehnten erworben werden. Dass dies so ist, geschieht aus guten Gründen – wenn Menschen bereits weitgehend ausgestattet geboren würden, wäre nach der Geburt eine differenzierte Anpassung an die Umwelt kaum noch möglich. Ein immenser Nachteil aber, den diese Anpassungsstrategie nach sich zieht, ist der enorm hohe Aufwand, den Menschen um ihren Nachwuchs betreiben müssen. Um Menschenkinder erfolgreich »aus dem Gröbsten heraus« zu begleiten, investieren Eltern erhebliche Mengen an wichtigen Ressourcen und unternehmen große Anstrengungen mit dem Ziel, eine sichere Basis für die Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Dabei werden Kinder gepflegt, versorgt, erzogen, gefördert, begleitet und unterstützt. Die allermeisten Eltern wissen, dass die Biographie ihres Kindes maßgeblich dadurch bestimmt wird, ob sie imstande und bereit sind, große und wirksame Anstrengungen zu unternehmen, um ihr Kind bei der erfolgreichen Anpassung an die Umwelt zu unterstützen.

Fähigkeiten, die in der gemeinsamen Umwelt gebraucht werden, sollen dabei systematisch verstärkt werden. Im Prozess der kognitiven, motorischen, sozialen und emotionalen Entwicklung steht der menschliche Organismus und dessen Umwelt aus diesem Grund in ständigem Austausch. Ein bedeutender Teil dieser Umwelt ist zunächst meistens die eigene Familie.

Betrachtet man die sich vollziehende Anpassung des Organismus »unter dem Mikroskop«, d. h. auf der Ebene der neuronalen Entwicklung, so kann man erkennen, dass sich dort grundlegende Veränderungen vollziehen. Während vor der Geburt die Hirnentwicklung noch weitestgehend durch die genetische Ausstattung des Individuums bestimmt wird, bewirkt die Umwelt nach der Geburt über eine Aktivierung und Deaktivierung der Gene eine Feinabstimmung der neuronalen Grundverbindungen (Petermann, Petermann und Damm, 2008). Sie ist somit beteiligt an der Entwicklung eines physiologischen Gegenübers in Form der Veränderung synaptischer Verbindungen. Diese Veränderung hat das Ziel der optimalen Passung an die Umwelt, jeweils abhängig von der vorhandenen. Während einzelner Entwicklungsphasen in der Kindheit sind Menschen durch diese Prozesse für bestimmte Lernerfahrungen empfänglich, die die Umwelt anbietet. Wann diese so genannten sensiblen Phasen stattfinden, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, da sie abhängig von der genetischen Ausstattung jedes Einzelnen sind und zusätzlich durch die Umwelt gesteuert werden. Dieser Prozess ist so zu verstehen, dass Umwelterfahrungen »erwartet« werden, indem der Organismus eine Überproduktion von Nervenverbindungen »einplant« und dabei verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten vorhält. Werden Verbindungen genutzt, weil ein Kind entsprechende Erfahrungen in seiner Umwelt macht, führt dies zu einer Stabilisierung der jeweiligen Verbindung. So werden in einer Familie, deren Freizeitgestaltung maßgeblich durch intensive sportliche Betätigung geprägt wird, eher die motorischen Kompetenzen und sozialen Fertigkeiten quasi nebenbei gefördert. Eine andere Familie, die sich vornehmlich in musischen Themen engagiert, wird das entsprechende Potential ihres Kindes stärken. Weniger genutzte Verbindungen werden abgebaut, da sie in der jeweiligen Umwelt weniger benötigt werden. Auf diese Weise werden Fähigkeiten und Eigenschaften herausgebildet, die bereits früh in sensiblen Phasen entstehen und als eine Anpassung an die erlebte Umwelt zu verstehen sind.

Die Auswirkungen der frühen sozialen Umwelt in der Familie zeigen sich also auch auf der Ebene der Hirnentwicklung. Diese frühen Anpassungsleistungen sind besonders stabil und können grundlegende emotionale, geistige, sprachliche oder motorische Fähigkeiten und Eigenschaften betreffen. Der Volksmund bringt dies in Sprichwörtern zum Ausdruck, wie »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« oder »Früh übt sich, was ein Meister werden will«. Mangelt es dieser frühen Umwelt eines Kindes an wichtigen Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung, z. B. weil es aufgrund einer Erkrankung unter Bewegungsmangel leidet, so findet eine entsprechende Anpassung auch an diese Umwelt statt. In diesem Fall wird sich der Bewegungsapparat in einer anderen Weise entwickeln als bei einem Kind, das mehr Gelegenheiten zur körperlichen Bewegung hatte. Frühe, sich wiederholende Erfahrungen führen somit allmählich zu einer Anpassung und damit zur Entwicklung von Fähigkeiten und Eigenschaften, die das bestmögliche Überleben des Organismus in seiner Umwelt anstreben.

Diese Anpassung kann auch darin bestehen, dass manche Fähigkeiten, die in der familiären Umwelt wenig gefördert werden, sich lediglich gering ausbilden. Spätere Anstrengungen, solche Kompetenzen zu fördern und eine Kompensation früher Mangelerfahrungen zu erreichen, liegen zahlreich vor, z. B. in Form von medizinischen, pädagogischen oder psychologischen Interventionen. Ihre Wirksamkeit ist aber vergleichsweise gering, der Aufwand sehr groß und ihre Nachhaltigkeit leider eher begrenzt. Sie halten Belastungen oder kritischen Lebensereignissen häufig weniger gut Stand.

Unabhängig davon können auch zu späteren Zeitpunkten neue Fähigkeiten erlernt werden, wenn deren Erwerb weniger an sensible Phasen gebunden ist, wie z. B. eine weitere Sprache, neue Tanzschritte, ein Kochrezept oder das Spielen eines Musikinstruments. Dieses Lernen ist aber ebenso weniger stabil und unterliegt den Prozessen des Vergessens oder Verlernens, besonders dann, wenn die erworbenen Kompetenzen nicht mehr benötigt und genutzt werden. Auch dies stellt eine ökonomische Anpassung dar: Was nicht benötigt wird, kann weg!

2          Bindung zwischen Eltern und Kind

 

2.1       Eltern-Kind-Dialog