Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater -  - E-Book

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Beschreibung

Postdramatisches Theater verschiebt den Fokus des Theaters von der Representation hin zur Präsenz. Dadurch geraten Aufführungen unterschiedlicher Kulturräume in den Blick, ohne einem Text und damit einem Theater der nationalen Sprachen zu großes Gewicht zu verleihen. Die Beiträge des Bandes entwickeln ausgehend von der Engführung von Postdramatischem und Transkulturellem innovative Methoden und Analyseverfahren gegenwärtiger Theaterformen, Theatertexte und Inszenierungen. Sie plädieren für einen analytischen Zugang zu Theater, der bewusst nationale, kulturelle sowie fachliche Grenzen überschreitet. Postdramatic theatre shifts the focus of the theater from representation to presence. In so doing, performances of different cultural spaces come into view without overemphasizing a given text and thus a national theatre based on language. Based on the interconnection of the postdramatic and the transcultural, the contributions of this volume develop innovative theoretical frames, methods, and approaches to contemporary theatrical forms, theatrical texts and stagings. They argue for an analytical approach to theatre that deliberately crosses national, cultural and professional boundaries.

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Teresa Kovacs / Koku G. Nonoa

Postdramatic Theatre as transcultural Theatre

A transdisciplinary approach

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0159-2

Inhalt

Vorwort / PrefaceKonzepte, Paradigmen, TheorienÜberschreitung des (postdramatischen) Theaters1. Postmoderne, prä/post und kein Ende2. Paradoxien der Selbstermächtigung3. Überschreitung des TheatersWas ist das transkulturelle Theater?1. Ein Theater der Fremden2. Ein Theater der Wiederholung3. Ein Theater der Geste4. Ein Fremdkörper der Gemeinschaft im transkulturellen TheaterPost-Hegel, postdramatisch, transkulturell?Postkoloniale Kritik des inter-, multi- und transkulturellen TheatersPost-Hegel: Das transkulturelle Potential des postdramatischen TheatersMistral in BerlinIsivuno Sama Phupha in Kapstadt und Animal Farm in JohannesburgTranskulturell im Sinne einer Ästhetik der EntähnlichungTravelling Concepts, Travelling Theatre?1. Travelling as a strategy of Transcultural Theatre2. Reenactment3. Travelling Performances. Wunderbaum’s Looking for PaulThe Concept of World Theatre in Postdramatic Context: Scientific and Aesthetic Points of Reference and ImplicationsPerformative Praktiken und Postkoloniale LektürenWarping: (re)conceptualising contemporary wedding rituals as an immersive theatre experience in South Africa1. (re)conceptual process2. Scenography and visual dramaturgy3. Expressive rituals in review4. Warping creative process5. ConclusionNô als transkulturelles Theater1. Vom Interkulturellen zum Transkulturellen2. Die Fremdheit im Eigenen des Nô-Theaters3. Die andere Fremdheit in der ästhetischen Form4. Akkulturation und Öffnung der eigenen KulturThe Performance of Counter-Sorcery in Lemi Ponifasio’s Tempest: Without a Body1. Theatre and the Lagoon2. History as Storm, Politics as Sorcery3. Ponifasio and the Practice of the Postdramatic4. The Politics of the Postdramatic5. Without a Body and Time6. Ponifasio and Wole Soyinka7. Affect and AnimismWiederholt und Durchgespielt: Deutscher Kolonialismus in Christoph Schlingensiefs The African Twin Towers1. Die vergessenen Kolonien2. Die Inszenierung einer Dokumentation3. Durchspielen statt nachspielen4. Kolonialismus als performative Wiederholung5. Eine transkulturelle Zusammenarbeit?Entgrenzung und ÜberschreitungTranskulturalität in Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungen ATTA ATTA und Via Intolleranza II1. Das Fremde im Eigenen. Zur Definition des transkulturellen Theaters2. ATTA ATTA oder Die Kunst ist ausgebrochen3. Assoziative Ästhetik4. Zwei Funktionen der TranskulturalitätAnmerkungen zu den AbbildungenJenseits der Freizeitgattungen: Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“1. Entgrenzung des theatralen Ereignisschauplatzes2. Schlingensiefs störbeladene Feedback-Schleife-Strategie3. Schaffung ästhetischen Störpotentials als Inszenierungsprinzip4. Unbestimmtheit/ Unentscheidbarkeit: Zur Problematik des Tötungsaufrufs5. Zum postdramatischen Theatersynkretismus6. Betrachtungswandel und SchlussbetrachtungExcess, Failure, Over-identification: the Influence of Camp on Schlingensief’s Making of Transcultural Theatre1. Introduction: Christoph Schlingensief, “Der Theatermacher”2. Theories of Schlingensief, Theories of Camp3. Camp and queer desire in Schlingensief’s cinema4. Please Love Austria! (Bitte liebt Österreich!) (2000): Camp, Over-Identification and the Transcultural Interrogation of Fantasy5. Conclusion: Camp, Irony and Visibility in Schlingensief’s Transcultural TheatreDas Nuevo Teatro Español als postdramatisches Theater transkultureller Prägung: Der Fall Luis Riaza1. Prolog2. Das Nuevo Teatro Español als transkulturelles Theater3. Luis Riazas Spielart des Nuevo Teatro Español in El desván de los machos y el sótano de las hembras4. Epilog„Doch nichts ist ungeheurer als die Natur“ – Transkulturalität und Universalität bei Elfriede JelinekKollektivität und (Post-)MigrationBlöße-Geben. Postdramatische Spielformen der Exophonie in Nicolas Stemanns Inszenierung von Jelineks Die Schutzbefohlenen und Rabih Mroués Riding on a Cloud1. Aufriss: Theatrales Blöße-Geben2. „Exophones Blöße-Geben“ und das „transkulturelle Theater“3. Die Schutzbefohlenen4. Riding on a CloudMengen, Netze, Schwärme: transkulturelle Inszenierungsstrategien topologischer und imaginärer Kollektivität1.2.3.4.5.6.Transkulturalität und das Theater der Vorahmung1. Transkulturalität / Verschränkung / Sympoiesis2. Ästhetik / Nicht-Identität / Re-Assemblage3. Mimesis / Präfiguration / Vorahmung4. Bewegung / Welt-Denken / politische Ästhetik5. Vorahmung II / Neotenie / Etre-EnsembleÄsthetische Erziehung zum Kiezdeutsch?1. Multikulturalität und Theater der Metropolen2. Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität3. Postmigrantisch-postdramatisches Theater in Deutschland4. Verrücktes Blut am Gorki-Theater 20175. Deutsch? Türkisch? Identität und Integration6. Necati Öziri: Get Deutsch or die tryin'Anger as Theatrical Form in Sasha Marianna Salzmann’s Zucken1. Zucken Staged2. The Body’s Kinetic Form of Anger3. Conclusion: The Body in Postmigrant and Postdramatic TheatreAutor_innenverzeichnis

Vorwort

Teresa Kovacs (University of Michigan) & Koku G. Nonoa (Universität Innsbruck)

Dem vorliegenden Band liegt die Frage zugrunde, inwieweit das Paradigma des postdramatischen Theaters geeignet ist, um eine transkulturelle Theaterwissenschaft zu begründen bzw. um Theaterarbeiten analytisch zu beschreiben, die bewusst nationale, kulturelle sowie fachliche Grenzen überschreiten und die alternative Modelle erproben, um Gemeinschaft herzustellen. Der Band geht von der Beobachtung des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann aus, der in seiner 1999 publizierten Studie Postdramatisches Theater konstatierte, dass postdramatische Theaterformen und Inszenierungspraktiken nicht so sehr an Repräsentation, sondern viel eher an der Herstellung der Erfahrung des Realen interessiert sind. Dies spiegelt sich in der oftmals provokanten, köperzentrierten Präsenz der Künstler_in­nen sowie der Unmittelbarkeit der gemeinsamen Erfahrung von Akteur_in­nen und Publikum wieder.1

Lehmanns Fokussierung auf theatrale und performative Praktiken erlaubt es, Auf- und Ausführungen in den Blick zu nehmen, ohne einem Text und damit wiederum einem Theater der nationalen Sprachen, das immer erst in andere Kulturräume übersetzt werden muss, zu großes Gewicht zu verleihen. Darüber hinaus wird es möglich, zeitgenössische Spielformen aus historischer Perspektive zu diskutieren, ohne sie ausschließlich auf das literaturzentrierte Theater zu beziehen.

Das postdramatische Theater bearbeitet theatrale und performative Praktiken heterogener kultureller Kontexte ohne sie hierarchisch zu organisieren. Auf diese Weise durchkreuzt es simplifizierende Unterscheidungen von „Eigenem“ und „Fremdem“, aber auch geschlossene Konzepte von Tradition und Traditionsaneignung und stellt stattdessen komplexere Relationen her. Lehmann selbst schlägt eine „stärker transkulturell orientierte Betrachtungsweise“ vor. Er betont, dass „das dramatische Theater Europas eine Sonderentwicklung“ sei, weshalb ihm „die Relativierung des spezifisch europäischen Theatermodells durch transkulturell orientierte Forschung überaus wichtig“2 erscheine. Der Band schlägt daher vor, das postdramatische Theater auch als transkulturelles Theater im Sinne Günther Heegs aufzufassen.3 Die Beiträge des Bandes greifen diese Engführung von Postdramatischem und Transkulturellem auf und entwickeln davon ausgehend und darüber hinausgehend Methoden und Analyseverfahren gegenwärtiger Theaterformen und Inszenierungen.

Die Reflexion des Postdramatischen aus der Perspektive des Transkulturellen und umgekehrt lässt beide Konzepte konkreter fassen und verdeutlicht, welch vielfältige analytische Möglichkeiten im Dialog beider Konzepte entstehen. Während das Konzept des postdramatischen Theaters aus der aktuellen theaterwissenschaftlichen Forschung kaum noch wegzudenken ist, findet man den Begriff des transkulturellen Theaters bislang weit seltener in der bestehenden Forschungsliteratur aufgegriffen. Was beide Konzepte allerdings teilen, ist die Unschärfe ihrer Definition. „Transkulturelles Theater“ wird oftmals synonym zu verwandten Konzepten wie inter- und multikulturelles Theater verwendet. Das Konzept des postdramatischen Theaters wiederum hat im deutschsprachigen Raum mittlerweile ein paradoxes Eigenleben erfahren, es hat sich nicht nur aufgrund üblicher Einordnungstendenzen in eine Kunsttradition zu einem Synonym des Regietheaters und der Postmoderne entwickelt, sondern es wird auch verkürzt als „Theater gegen den Text“ oder als den Neoliberalismus stützende Spielform definiert.4

Daher scheint am Beginn eines Bandes, der das Postdramatische für die transkulturelle Untersuchung zeitgenössischer und internationaler Arbeiten stark machen will, eine nochmalige historische Kontextualisierung von Relevanz zu sein: Der Begriff des Postdramatischen wurde in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft erstmals von Andrzej Wirth 1987 aufgegriffen, um die damals aktuellsten Formen von Theater zu charakterisieren (allerdings in der Schreibweise „post-dramatisch“). Wirths Beschäftigung mit Theaterformen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist deutlich geprägt von Jean-François Lyotards frühem Ansatz des performativen Theaters. Dieser führte den Begriff der „affirmativen Ästhetik“ ein, um neue Theaterformen zu beschreiben, die durch die „Unabhängigkeit, die Gleichzeitigkeit der Töne/Geräusche, der Wörter, der Körper-Figuren, der Bilder“ gekennzeichnet sind, und die die „Zeichenbeziehung und deren Kluft“ abschaffen.5 Wirths Anliegen war es, mit dem Begriff „post-dramatisch“ zunächst einen blinden Fleck im theaterwissenschaftlichen Diskurs zu markieren und die Aufmerksamkeit auf all jene Formen zu lenken, die aufgrund ihrer Abweichung von konventionellen Genres bis dahin kaum rezipiert wurden. Wirth entwickelte seinen Ansatz ausgehend von prominenten Theaterarbeiten von u.a. Robert Wilson, Pina Bausch, Richard Foreman und George Tabori. Er betonte in verschiedenen Publikationen im Kontext der Debatte um die Postmoderne, dass sich das Theater in eine Richtung verändern würde, die die Dekonstruktion der Dichotomie Drama – Theater zur Folge hat.

Hans-Thies Lehmann griff den Begriff „postdramatisch“ von Wirth auf. Er verwendete ihn erstmals 1991, um in seinen Vorbemerkungen zur Publikation Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie „Formen des neuen und neuesten Theaters der (Post-)Moderne“ zu beschreiben, die „jenseits des Dramas“6 angesiedelt sind. Mit seiner Publikation Postdramatisches Theater legte er schließlich eine erste umfangreiche Studie vor, die den Anspruch hatte, bestehende Forschungsansätze zusammenzuführen und Beschreibungskategorien für zeitgenössische Spiel- und Inszenierungsformen zu finden.

Obwohl das Konzept des postdramatischen Theaters in der deutschsprachigen Forschung fest etabliert ist, wurde es teilweise bereits ad acta gelegt bzw. stellen einige Theaterwissenschaflter_in­nen in Frage, ob er für das Nachdenken über zeitgenössische Formen und Praktiken des Theaters überhaupt noch brauchbar ist.7 Nicht nur zeigen die in diesem Band versammelten Beiträge, dass das Konzept des Postdramatischen immer noch aktuell ist, sondern vielmehr plädiert der Band für einen bewussten „Umweg“ zu diesem Konzept in der deutschsprachigen Forschung aus einer kritischen, gegenwärtigen Perspektive, anstatt vorschnell einzig die „Überwindung“ des Konzepts zu proklamieren. Diesem Umweg, so möchten wir argumentieren, wohnt großes Potential inne, um einen die Grenzen des deutschsprachigen Raums überschreitenden fachlichen Diskurs über Theater zu führen. Nachdem nämlich das Konzept lange Zeit als ein „deutsches Phänomen“ diskutiert und zurecht auch problematisiert wurde, erfährt es aktuell international immer größere Aufmerksamkeit und kann daher als eine Basis für einen umfangreichen, internationalen Dialog dienen. Zugleich erlaubt es der historische und kulturübergreifende Ansatz des postdramatischen Theaters, in verschiedenen Wissenschaftslandschaften produktiv weitergedacht und mit anderen bestehenden Methoden und Theorien in Verbindung gebracht zu werden. Auch Künstler_in­nen außerhalb des deutschsprachigen bzw. europäischen Raums beziehen sich mehr und mehr auf dieses Konzept und ordnen ihre Arbeiten im Bereich des postdramatischen Theaters ein.8

Die Konzepte des transkulturellen-, inter- und multikulturellen Theaters werden im Band als deutlich voneinander abweichende Konzepte reflektiert, die jedoch verbindet, dass sie kulturelle Begegnungs-, Erfahrungs- und Aushandlungsprozesse zeiträumlich bearbeiten – wenn auch grundlegend verschieden. Theaterarbeiten, denen trans-, inter- oder multikulturelle Konzepte zugrunde liegen, ordnen sich um Kategorien des „Eigenen“ und „Fremden“, wobei diese Kategorien im interkulturellen oder multikulturellen Theater anders besetzt sind als im Denken des Transkulturellen. Günther Heeg folgend wird das Transkulturelle Theater in diesem Band nicht als eigene Ausformung oder Genre verstanden, sondern als Erkenntnis- und Handlungsmodell.9

Als genuin kulturelle Praktik weist das Theater im gegenwärtigen Zeitalter der Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse zunehmend transnationale und -kontinentale Begegnungsformen globaler Kulturen auf. Während aber „globale Kulturen […] durch ihre Fluidität, Grenzverschiebung bzw. -aufhebung“ gekennzeichnet sind, wie Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat anmerken, „entwickeln [sie] dabei auch neue Strategien des Ein- und Ausschlusses.“10 Die ästhetische und wissenschaftliche Reichweite dieser Sachlage eruiert das postdramatische Theater als transkulturelles Theater.

Der Band versammelt Beiträge von Theatermacher_in­nen und von Forscher_in­nen verschiedener Disziplinen aus Europa, Afrika, Nordamerika und Asien. Er setzt sich aus ausgewählten und zu längeren Beiträgen ausgearbeiteten Vorträgen sowie einer Podiumsdiskussion der gleichnamigen internationalen Konferenz zusammen, die zwischen 14. und 16.4.2016 in Innsbruck stattgefunden hat. Die Konferenz wurde von Koku G. Nonoa im Rahmen des Forschungsfelds „Dynamik der Ordung(en)“ vom Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ der Universität Innsbruck initiiert und gemeinsam mit Michaela Senn und Johanna Zorn organisiert. Der Band präsentiert aber auch darüber hinausgehende Beiträge, die Themenfelder und Fragestellungen abdecken, die im Rahmen der Konferenz nicht oder nur am Rande thematisiert werden konnten. Anliegen ist es, die transdisziplinäre Forschung als einen integrativen Forschungsansatz für den Sammelband fruchtbar zu machen, um so den gegenseitigen akademischen und praktischen Transfer von Wissen über Theaterforschung und -praxis hervorzuheben und die Kluft zwischen Wissen und Praxis in Bezug auf Theater zu überwinden.

Die Beiträge orientieren sich an den von Hans-Thies Lehmann und Günther Heeg entwickelten Begrifflichkeiten. Sie diskutieren beide Konzepte kritisch, erweitern diese durch alternative Ansätze und verweisen damit auf die Produktivität, die beide Begrifflichkeiten in Kombination mit Theorien und Methoden anderer Disziplinen entwickeln können. Der Band präsentiert ein umfangreiches Spektrum an Theorien und Methoden, wobei die Theorie- und Methodendiskussion stets anhand konkreter Analysen veranschaulicht und erprobt wird. Obwohl der Fokus des Bandes auf Arbeiten liegt, die in Europa (v.a. in Deutschland) produziert oder gezeigt wurden, erweitert der Band dieses Spektrum um Arbeiten, die in anderen kulturellen Kontexten erarbeitet und vorgeführt wurden, und lädt damit hoffentlich auch zu einer Neuperspektivierung der europäischen und außereuropäischen Theaterlandschaft ein.

Der Band gliedert sich in vier Bereiche: „Konzepte, Paradigmen, Theorien“, „Performative Praktiken und Postkoloniale Lektüren“, „Entgrenzung und Überschreitung“, „Kollektivität und (Post-)Migration“.

Der erste Abschnitt „Konzepte, Paradigmen, Theorien“ präsentiert sowohl theoretische Reflexionen der Konzepte „Postdramatisches Theater“ und „Transkulturelles Theater“, stellt aber auch darüber hinausgehende theoretische Konzepte und Methoden vor, um das transkulturelle Potential zeitgenössischer Theaterformen zu beschreiben. Dieser Teil wird mit einer international besetzten Podiumsdiskussion beschlossen, die das historische Konzept des „Welttheaters“ im Kontext des postdramatischen und transkulturellen Theaters diskutiert. Die Aufsätze des zweiten Themenbereichs stellen anhand einer theoretisch reflektierten Projektbeschreibung sowie mit Hilfe konkreter Inszenierungsanalysen Spielformen vor, die das Fremde im Eigenen durch die Reflexion performativer Praktiken und durch postkoloniale Lektüren sichtbar machen. In den Blick genommen werden Arbeiten, die im europäischen und außereuropäischen Raum realisiert wurden. Der dritte Teil beschäftigt sich mit höchst unterschiedlichen Strategien der Entgrenzung und Überschreitung des Theaters. Der Fokus liegt auf Arbeiten Christoph Schlingensiefs, dessen bereits in den frühen 1990er Jahren beginnende Arbeit an der Überschreitung und Entgrenzung des Theaters nach wie vor singulär im deutschsprachigen Raum ist. Darüber hinaus werden textuelle Strategien in den Blick genommen, die über nationale Grenzziehungen hinausgehen. Der vierte und letzte Bereich hinterfragt Inszenierungsformen von „Kollektivität und (Post-)Migration“ im Verhältnis zum postdramatischen Theater. Ein Schwerpunkt liegt auch in diesem Bereich auf der Analyse konkreter Theaterarbeiten, darüber hinaus wird mit dem „Theater der Vorahmung“ ein Konzept reflektiert, das in unserer von Diskussionen um Migration, Identität und Zugehörigkeit geprägten Gegenwart ein anderes Modell des Welt-Werdens im Raum des Theaters vorstellt.

Wir bedanken uns bei allen, die diese Buchpublikation unterstützt und damit erst möglich gemacht haben. Allen voran bei Erin Johnston-Weiss und Eva Triebl, die bei der Transkription der Podiumsdiskussion und beim Lektorat der englischsprachigen Beiträge mitgearbeitet haben. Darüber hinaus beim Land Tirol, der Universität Innsbruck vertreten durch das Vizerektorat für Forschung, die Philologisch-Kulturwissenschaftliche Faktultät und den Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ für die finanzielle Unterstützung des Projekts. Nicht zuletzt gilt ein großes Dankeschön dem Herausgeber dieser Reihe, Christopher Balme, und Kathrin Heyng, unserer Lektorin beim Narr Francke Attempto Verlag, die uns während des Entstehungsprozesses des Buches mit hilfreichen Tipps und Anregungen zur Seite gestanden sind.

 

Ann Arbor, Innsbruck, Juli 2018

Preface

Teresa Kovacs (University of Michigan) & Koku G. Nonoa (University of Innsbruck)

The present volume is based on the question of how suitable for the foundation of transcultural theatre studies the paradigm of postdramatic theatre is. Moreover, the volume is interested in how useful it can be for analytically describing theatrical works which consciously cross national, cultural and disciplinary boundaries and which test alternative models for creating a sense of community. This volume takes as its point of departure an observation by Hans-Thies Lehmann, who stated in his 1999 published study Postdramatisches Theater (Postdramatic Theatre) that postdramatic theatre forms and practices of production are not so much interested in representation, but in creating an experience of the real. This is reflected in the often provocative, body-centered presence of artists and the immediacy of the joint experience of actor and audience.11

Lehmann’s focus on theatrical and performative practices allows us to consider performance and implementation without placing too much emphasis on a particular text and thus, in turn, on a theatre of national languages, which must always be translated in order to be comprehensible in other cultural spaces.

Postdramatic theatre addresses theatrical and performative practices of heterogeneous cultural contexts without organizing them hierarchically. In this way, it negates not only simplistic and simplifying distinctions between one’s “own” and “foreign”, but also closed concepts of tradition and its adoption, creating more complex relations. Lehmann himself proposes a “more strongly transculturally oriented perspective.” He stresses that “the dramatic theatre of Europe” was a “special development”, which is why he considers “the relativisation of the specifically European model of theatre by transculturally oriented research as highly important.”12 Thus the present volume suggests thinking of postdramatic theatre as a transcultural theatre in the sense of Günther Heeg.13 The contributions to this volume take up this narrow conceptualization of the postdramatic and transcultural and develop methods and analytical procedures for contemporary forms of theatre and production.

The reflexion of the postdramatic from the transcultural perspective and vice versa makes it possible to more concretely grasp both concepts and reveals the large variety of analytical possibilities created by a dialogue between the two concepts. While it is hard to imagine contemporary theatre studies without the concept of postdramatic theatre, the concept of transcultural theatre has been significantly less frequently addressed in the existing literature. What both concepts share, however, is the imprecision of their respective definitions.

“Transcultural Theatre” is often used synonymously with related concepts such as inter- and multicultural theatre. The concept of postdramatic theatre, in turn, has taken on a paradoxical life of its own in the German-speaking world; it has not only become a synonym for director’s theatre and postmodernity due to their common tendencies towards categorization according to art traditions, but it is also discussed in simplified terms as “theatre against the text” or as a dramatic genre supporting neoliberalism.14

This is why it seems relevant to begin this volume, which seeks to promote the Postdramatic for the transcultural analysis of contemporary and international works, with yet another historical contextualisation: the term ‘Postdramatic’ (albeit spelled “post-dramatic”) was first taken up in German theatre studies by Andrzej Wirth in 1987 to characterize the then-latest forms of theatre. Wirth’s discussion of theatre forms of the second half of the 20th century is clearly shaped by Jean-François Lyotard’s early performative theatre approach.

It was he who introduced the term “affirmative aesthetics” to describe new forms of theatre which are characterized by the “independence and the simultaneity of noises-sounds, of words, body arrangements, images” and which abolish the “sign relation and its hollowness.”15 With the term “post-dramatic”, Wirth initially sought to mark a blind spot in academic theatre discourse and to direct attention to all those forms which had largely been ignored because of their divergence from conventional genres. Wirth developed his own approach based on prominent theatre works like, e.g., those by Robert Wilson, Pina Bausch, Richard Foreman, and George Tabori. In the context of the postmodernism debate, he stressed in various publications that theatre had changed in a way that would result in the deconstruction of the drama – theatre dichotomy.

Hans-Thies Lehmann adopted Wirth’s term “post-dramatic”. He first used it in his initial remarks on the 1991 publication Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie to describe “forms of new and latest theatre in (Post-)Modernity” which are situated “beyond drama.”16 In his publication Postdramatic Theatre he presented his first comprehensive study aimed at bringing together existing research approaches and finding descriptive categories for contemporary forms of play and performance.

Even though the concept of postdramatic theatre is firmly established in the German-speaking research context, it has already been partly abandoned, and there is increasing doubt that it is still useful for analyzing contemporary theatre forms and practices.17 The contributions in this volume show not only that the concept of the Postdramatic is still up-to-date, but also advocate that German-speaking research take a deliberate detour to postdramatic theatre from a contemporary critical perspective instead of simply proclaiming that this concept should be “overcome.” This detour, we shall argue, bears great potential for leading scholarly discourse beyond the boundaries of the German-speaking world.

This is because this concept, after having been discussed and, rightly, called into question as a “German phenomenon”, is increasingly attracting international attention and can therefore serve as the basis for comprehensive, international dialogue. Simultaneously, the historical and cross-cultural approach of postdramatic theatre can be productively advanced in various academic disciplines and be placed in relation to other existing methods and theories. Furthermore, artists from outside of the German-speaking and/or European geographical context are increasingly referring to this concept, situating their work in the field of postdramatic theatre.18

Trans-, inter- and multicultural theatre are reflected upon in this volume as clearly divergent concepts, which are however still related insofar as they address cultural processes of encounter, experience and negotiation in spatiotemporal terms – albeit in fundamentally different ways. While works of theatre based on trans-, inter- and multicultural concepts situate themselves in terms of the categories “own” and “foreign”, there are conceptualized differently in intercultural and multicultural theatre than in the transcultural context. According to Günther Heeg, in this volume transcultural theatre is not understood to be a form or genre in its own right, but as an epistemic and action model.19 As a genuinely cultural practice, theatre in the contemporary context of globalization and internationalization increasingly displays transnational and transcontinental forms of encounter among global cultures. However, while “global cultures […] are marked by their fluidity and the shift or, respectively, abolishment of boundaries”, as Dorothee Kimmich and Schamma Schahadat note, “[they] also develop new strategies of in- and exclusion in this process.”20 The aesthetic and academic scope of this situation is explored by postdramatic theatre as transcultural theatre.

This volume unites contributions by theatre makers and researchers across various disciplines from Europe, Africa, North America, and Asia. It is made up of selected talks that have been elaborated into longer contributions as well as a roundtable held at an international conference with the same title, which took place in Innsbruck between April 14 and 16, 2016. The conference was initiated by Koku G. Nonoa within the framework of the University of Innsbruck’s “Dynamics of the Order(s)” within the research area “Cultural Encounters – Cultural Conflicts” and was organised together with Michaela Senn and Johanna Zorn. In addition to that, this volume presents contributions covering topics and questions that could not be addressed in depth at this conference. The aim is to cement transdisciplinary research as an integrative research approach for this edited volume in order to highlight a mutual academic and practical transfer of knowledge about theatre research and practice and to overcome the gap between theory and practice.

The contributions are oriented towards the terms developed by Hans-Thies Lehmann and Günther Heeg. They discuss both terms critically, expand them by introducing alternative approaches, thus emphasizing the productivity which both concepts can develop when combined with theories and methods from other disciplines.

This edited volume presents a comprehensive range of theories and methods, whereby every theoretical and methodological discussion is illustrated with and tested on concrete examples. Even though this volume focuses on works that were produced or performed in Europe (mainly in Germany), it supplements this spectrum with works created and staged in other cultural contexts and thus hopefully invites a new perspective on the European and non-European theatrical landscape.

The present volume is divided into four thematic areas: “Concepts, Paradigms, Theories”, “Performative Practices and Postcolonial Readings”, “Eliminating and Crossing Boundaries”, and “Collectivity and (Post-) Migration.” The first part, “Concepts, Paradigms, Theories”, is a theoretical reflexion on the concepts of “Postdramatic Theatre” and “Transcultural Theatre”, but beyond that also introduces theoretical concepts and models to describe the transcultural potential of contemporary theatre forms. This part concludes with a podium discussion with international participants debating the historical concept of ‘World Theatre’ in the context of postdramatic and transcultural theatre.

The contributions from the second thematic area draw upon theoretically reflective project description and concrete production analysis to present dramatic forms which make visible the “foreign” in one’s “own” by reflecting on performative practices and postcolonial readings. The works examined were created in both the European and non-European context. The third part of this volume sheds light on highly differentiated strategies of eliminating and crossing the boundaries of theatre. Emphasis is put on Christoph Schlingensief, whose transgressive works are still unique in the German-speaking area since his debut as a theatre director in the early 1990’s. Additionally, textual strategies are explored which serve to transcend national boundaries.

The fourth and last part calls into question forms of staging “Collectivity and (Post-)Migration” in relation to postdramatic theatre. This section also focuses on the analysis of concrete theatre works, and beyond that, the reflexion on the concept of “Theatre of ‘Pre’mitation’”, which in our discussion of migration, identity and belonging proposes an alternative approach to “becoming a world” in the theatrical sphere.

We would like to thank all those who have supported and thus made possible this publication. Above all, we are grateful to Erin Johnston-Weiss and Eva Triebl, who helped transcribe the podium discussion and proofread the contributions in English, but also to the federal state of Tyrol, the University of Innsbruck represented by the Vice Rectorate for Research, the Faculty of Philology and Cultural Studies and the Research Area “Cultural Encounters – Cultural Conflicts” for financially supporting the project. Last but not least, we would like to express our gratitude towards the publisher of this volume, Christopher Balme, and Kathrin Heyng, our editor at Narr Francke Attempo publishing house, who assisted us with helpful advice and valuable suggestions during the work on this edited volume.

 

Ann Arbor, Innsbruck, July 2018

Konzepte, Paradigmen, Theorien

Überschreitung des (postdramatischen) Theaters

Patrick Primavesi (Universität Leipzig)

Mit dem Begriff postdramatisches Theater lassen sich verschiedene Tendenzen in der Theaterpraxis der letzten Jahrzehnte zusammenfassen. Damit geht es jedoch nicht nur um ästhetische oder formale Prinzipien, sondern auch um strukturelle und institutionelle Faktoren. Das sind vor allem neue Arbeitsweisen in einer zunehmend von technischen Medien geprägten Wahrnehmungswelt ebenso wie eine direktere Kommunikation mit Zuschauenden bis hin zu ihrer aktiven Teilnahme. Szenische Aktionen finden häufiger in urbanen Umgebungen außerhalb der Bühnenhäuser statt und schaffen eigene Räume und Situationen der Begegnung. Gewiss hat sich das Attribut „postdramatisch“ als hilfreich erwiesen, um die anhaltende Transformation zeitgenössischer Theaterformen zu beschreiben und deren Verhältnis zur Tradition des Dramas ebenso wie zu den historischen Avantgarden zu erhellen. Andererseits sind mittlerweile – vierzig Jahre nach der Prägung des Begriffs postdramatisches Theater durch den polnischen Theatertheoretiker Andrzej Wirth1 und fast zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns gleichnamiger Studie2 – eine Vielzahl von Problemen zu Tage getreten, welche zum Teil schon die Kategorie postdramatisch selber betreffen, vor allem aber aus ihrer verallgemeinerten, mitunter paradoxalen Anwendung resultieren. Geboten erscheint außerdem eine Erweiterung des diskursiven Horizonts auf Kontexte zeitgenössischer Theaterarbeit. Dabei sind Funktionen und Wirkungsweisen von theatralen Praktiken auch im Verhältnis zum Kulturbegriff und seiner Differenzierung mit Perspektiven der Transkulturalität zu diskutieren. Im Folgenden geht es um die Frage, inwieweit die für Theater, Tanz und Performance strukturell relevante Dynamik der Überschreitung (Transgression, Transition, Transformation etc.) geeignet ist, die Kategorie des Postdramatischen auch in ihrer eigenen Historizität genauer zu bestimmen.

1.Postmoderne, prä/post und kein Ende

In seiner Studie Das Postmoderne Wissen konstatierte Jean-François Lyotard bereits 1982, dass die gängige Auffassung von Postmoderne als einer Stilrichtung und einer historisch begrenzten Epoche jenseits der Moderne problematisch bleibt.1 Vielmehr hat jede Moderne ihre eigene Postmoderne, wird von dieser nicht einfach beendet und abgelöst, sondern selbst hervorgebracht, wie das auch Umberto Eco in seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ bemerkt hat.2 So entfaltet die Postmoderne, als eine Phase der Ausweitung und Relativierung von sicher geglaubten Standpunkten, Methoden und Prinzipien, ihrerseits die Tendenz, neue Abgrenzungen und Dogmen hervorzubringen. Lyotard zufolge wäre das selbst schon zur Konvention gewordene Modell der epochalen Ablösung und Ersetzung eher zu überführen in ein prä/post-Verhältnis, in eine Dynamik der unablässigen Überprüfung, Auflösung und kritischen Reformulierung theoretischer Positionen. Dieser Ansatz ist auch für die Diskussion um postdramatische Theaterformen aufschlussreich. Anstatt darin bloß eine lineare Phase der Ablösung vom dramatischen Text zu sehen, ist vielmehr von einem Wechselverhältnis auszugehen, von beweglichen Korrelationen und Impulsen – keine vermeintliche Überwindung also, die nur zum unbewussten und zwanghaften Wiederholen des Verdrängten führen würde, sondern vielmehr – angelehnt an die Terminologie der Psychoanalyse – ein Prozess des Durcharbeitens, wie Lyotard ihn als eigentliche Leistung der modernen Kunst-Avantgarden beschrieben hat.3 Damit wäre immerhin der Aporie zu begegnen, dass von einem völligen Verschwinden aller literarischen und theatralen Formen des Dramas ja auch dann keine Rede sein kann, wenn ihre einstweilige, auf das 18. Jahrhundert zurückgehende Vorherrschaft doch offenkundig beendet ist. So aber kann gesagt werden, der historische Gehalt des Begriffs „postdramatisches Theater“ liegt in der Relativierung des Dramas als eines – bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zumeist noch absolut geltenden und hierarchisch übergeordneten – Paradigmas theatraler Praktiken.

Dass die Krise des Dramas bereits früher, nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und dass seither das zentrale Formprinzip des Dialogs immer weiter dekonstruiert wurde, hat Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas schon 1956 ausgeführt. Darin geht er vom zunehmenden „Problematischwerden der dramatischen Form“ und ihrer „Verhinderung“ aus, die aber nicht bloß ein einziges Element der traditionellen, systematischen und normativen Gattungspoetik seit Aristoteles betrifft, sondern diese als solche in Frage stellt.4 Grund dafür ist die am Drama besonders deutlich hervortretende Durchdringung literarischer Formen mit geschichtlichen Prozessen. In ihrer unvermeidlichen Auseinandersetzung mit Umbrüchen der gesellschaftlichen Realität, vor allem mit einem radikal veränderten Status des Subjekts in der modernen, industrialisierten und durchökonomisierten Massengesellschaft, stößt die im Drama noch auf das Menschenbild der Neuzeit gegründete Form des Dialogs an ihre Grenzen. Spätestens mit Erwin Piscator und Bertolt Brecht erwiesen sich neue Tendenzen zum Epischen, zur Unterbrechung der dramatischen Illusion und zur Einbindung übergreifender Diskurse als notwendige Alternativen zum Strukturprinzip des Dramas als einem dialogischen Austrag von Konflikten zwischen handlungsmächtigen Subjekten.

Darüber hinaus hat Brecht mit seiner Theorie des epischen Theaters, mit der verfremdenden Spielweise und der demonstrativen Selbstreflexion des Spiels bis hin zu den Lehrstücken die szenische Praxis ins Zentrum der Reflexion gestellt. Folgerichtig nannte er seine Theatertexte auch nicht mehr Dramen, sondern Stücke oder Versuche. So zeigt sich gerade im Rückgang auf Brecht, dass schon die Avantgarden des Theaters der 1920er Jahre noch weit mehr in Bewegung gebracht haben als bloß eine Ablösung der aristotelischen Dramatik durch explizit epische Formen von Dramaturgie. Es ging zugleich um das Theater in seiner konventionellen Form, wie sie seit der Renaissance geprägt war durch eine zunächst höfische Kultur der Repräsentation und der damit verbundenen Machtausübung. Demgegenüber war die Geschichte des bürgerlichen Theaters stets begleitet von Spannungen zwischen einerseits der Instrumentalisierung von Theater für Zwecke der Repräsentation und andererseits der Entfaltung von Repräsentationskritik, sei es auf thematischer Ebene oder auch durch formale Tendenzen. Dieser Grundkonflikt wurde in den modernen Avantgarden und mit der Entstehung von explizit politischen Theaterformen noch verstärkt, indem hier die Dispositive des Dramas und der Darstellung dramatischer Rollen auch als solche in Frage gestellt und die davon ausgehende Normierung theatraler Praktiken überschritten oder unterlaufen wurde, nicht zuletzt im Hinblick auf die konventionell fixierte Distanz zwischen Bühne und Publikum. So stehen aktuelle Formen von postdramatischem Theater, wie von Lehmann gezeigt, in mehr oder weniger reflektierten Beziehungen zu den Traditionsbrüchen der Moderne, knüpfen an diese an als an ihre eigenen „Vorgeschichten“.5

Außerdem sind aber noch viele weitere Kontexte und Beziehungen zu reflektieren, die sich von gegenwärtigen Theaterformen zu anderen Epochen und Kulturen ergeben, gerade im Hinblick auf Wechselwirkungen zwischen theatralen Praktiken und ihren jeweiligen Institutionen, zwischen politischer und ästhetischer Repräsentation und Repräsentationskritik, im Rahmen von gesellschaftlichen, im weiteren Sinne kulturellen Diskursen und auch quer zu ihnen. Dafür erweist sich die Abgrenzung allein vom Drama als eine zu enge Perspektive, insofern sie fokussiert bleibt auf die in Europa nicht mehr als einige Jahrhunderte umfassende Epoche des literarisierten höfischen und bürgerlichen Kunsttheaters. Die in anderen Epochen der europäischen Kultur prägenden und auch im bürgerlichen Theater seit dem 18. Jahrhundert noch länger fortwirkenden Spieltraditionen des Mittelalters und der Renaissance (zumal der commedia all’improvviso) ebenso wie andere performative Praktiken, insbesondere Tanz und Musiktheater, kamen im Horizont einer neuen Theoretisierung und zugleich Kanonisierung des postdramatischen Theaters nur am Rande vor, ähnlich wie auch die außereuropäischen Theatertraditionen. Die Perspektive des postdramatischen Theaters blieb also selbst im Modus der Negation immer noch gebunden an das westeuropäisch geprägte Dispositiv des Dramas und der darstellenden Kunst, so dass Anschlüsse in theaterhistorischer und transkultureller Perspektive nur indirekt gegeben waren. Schließlich konnte der Begriff des Postdramatischen von literaturwissenschaftlichen Diskursen, insbesondere der Germanistik, dahingehend vereinnahmt werden, dass mitunter auch postdramatisches Theater nur als eine weitere Stilrichtung der dramatischen Literatur aufgefasst wurde. Dafür steht etwa das paradoxe Wort „Postdramatik“,6 mit dem ein weiteres Mal die vielfältige kulturelle Praxis des Theaters auf die Entwicklung von Textgattungen reduziert wird, was zugleich eine gewisse Blindheit gegenüber längst ausdifferenzierten Disziplinen zur Erforschung der performativen Künste und Praktiken manifestiert.

Problematisch erscheint der Begriff Postdramatik, wenn damit als Genre wieder eingeführt werden soll, was längst aus dieser normativen Position verdrängt ist. Texte, die heute für eine aktuelle oder zukünftige Theaterpraxis entstehen, lassen sich nicht einfach als Postdramatik kategorisieren, auch wenn der Markt (Verlage, Schauspielschulen, Agenturen etc.) an griffigen Labels interessiert sein mag. Den Autorinnen und Autoren sollte jedenfalls nicht zugemutet werden, „Postdramen“ geschrieben zu haben. Angebrachter wäre es, von Schreibweisen zu reden, die einzelne Elemente des Dramas ebenso reaktivieren können wie etwa Montage- und Überblendungstechniken des Films, die Aufsplitterung von Figuren in heterogene Instanzen, diskontinuierliche Handlungsverläufe oder den völligen Verzicht auf Handlung, die Arbeit mit veränderten räumlichen Beziehungen zwischen Szene und Publikum, und weitere Elemente von postdramatischem Theater. Diesem elementaren Bezug zu Praktiken entsprechen eher die Begriffe Theatertext oder Stück, was ja den Vorteil hat, etwas noch Unvollständiges anzuzeigen, Raum zu geben für die immer noch und immer wieder ausstehenden Prozesse der Lektüre, der Inszenierung und nicht zuletzt der Aufführung vor und mit Publikum.

Die Rezeption des mittlerweile in viele Sprachen übersetzten Buches Postdramatisches Theater hat aber noch ein weiteres Problem deutlich gemacht: Einerseits waren die darin diskutierten Phänomene und Begriffe wichtig für die Selbstreflexion und auch Legitimation von Theaterschaffenden verschiedenster Kulturen jenseits der bis dahin oft noch aus der Kolonialzeit andauernden Vorherrschaft des Dramas als der einzig anerkannten Form von Theater gerade auch da, wo es als Medium eines politischen Widerstands gedient hatte. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass auch in diesen anderen Kulturkreisen die Abgrenzung vom Drama allein noch nicht ausreicht, die Spezifik der jeweiligen Praktiken genauer zu erfassen. Jedenfalls kann gerade eine universalistische Auffassung von postdramatischem Theater den Blick versperren für die strukturellen Probleme, die Theaterarbeit derzeit in verschiedensten Kontexten erfährt. Diese haben vor allem zu tun mit dem Verhältnis von Theaterarbeit zur gesellschaftlichen Realität. So klafft eine Lücke zwischen den traditionellen Formen von ausdrücklich politischem Theater, zumal in der Verbindung der späten Stücke von Brecht mit einem realistischen Schauspielstil (z.B. in Indien oder Südamerika), und andererseits den eher indirekten Wirkungsweisen postdramatischer Formen, da diese kaum mehr auf Konfliktthemen oder Ideologien fixierbar sind. An der Debatte um die Frage „wie politisch ist das postdramatische Theater?“ hat Lehmann sich mit wichtigen Thesen beteiligt, zumal mit der Idee einer notwendigen Unterbrechung von Politik.7 Insofern aber das Politische an den von ihm beschriebenen Theaterformen weder bloß in der Entgegensetzung zum Drama, noch in der Vermittlung inhaltlicher Botschaften liegen kann, ist hier noch von einer anderen Differenz auszugehen, die mit dem Begriff der Repräsentation selber zu tun hat.

Auch für postdramatisches Theater ist zu unterscheiden, zwischen einer eher affirmativen oder eher kritischen Haltung und Arbeitsweise, zwischen naiver und möglicherweise subversiver Affirmation, zwischen expliziten Strategien und impliziten Taktiken.8 Insofern ist aber die Kritik von Repräsentationsstrukturen keineswegs überholt. Zwar lässt sich einwenden, dass es keinen Ausweg aus dem für Theater elementaren Wechselverhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation geben kann. Wie Jacques Derrida in seiner Lektüre der Theaterideen von Antonin Artaud gezeigt hat9 und wie auch Jean-Luc Nancy betont, gibt es kein „Außerhalb“ der Repräsentation: „keine ‚Präsentation‘, die nicht schon in der ‚Repräsentation‘ ist, das heißt keine ‚Präsenz‘, die nicht Präsenz der einen den anderen gegenüber ist“10. Gleichwohl bleibt die Analyse mehr oder weniger offenkundiger Machtverhältnisse auch für eine aktuelle Theaterpraxis wichtig, die den Verlust der großen politischen Ideologien zu reflektieren versucht, etwa das Gespenstische in der Wiederkehr des Marxismus, dessen Erbschaft die Anerkennung von Schuld und eine Kritik an den historischen Idealen nötig macht. Die Dekonstruktion des Marxismus als System und Heilslehre eröffnet, wie Derrida selbst konstatierte, zugleich die Möglichkeit eines anderen Begriffs des Politischen. Demnach ist es das „emanzipatorische Begehren“, an dem unbedingt festzuhalten sei: „Das ist die Bedingung einer Re-politisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politischen“11. Unverzichtbar ist vielleicht mehr denn je eine Programmatik von Emanzipation, Selbstermächtigung, Self-empowerment als konkrete Aufgabe eines auf neue Weise politischen Theaters wie auch als Potential transkultureller Begegnungen, die von theatralen, szenischen und performativen Praktiken ermöglicht werden.

2.Paradoxien der Selbstermächtigung

Die Notwendigkeit, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in allen szenischen Künsten und Praktiken zu einer weitergehenden Differenzierung auch des Sammelbegriffs „postdramatisches Theater“ zu kommen, zeigt sich insbesondere im Hinblick auf ihren jeweiligen Bezug zu gesellschaftlichen Kontexten. So stehen die vielfältigen Theaterformen, die sich in den letzten Jahrzehnten ganz neu oder weiter entwickelt haben, häufig noch quer zu den Traditionen eines explizit politischen Theaters, vermeiden eindeutige ideologische Botschaften und entziehen sich einer Instrumentalisierung für didaktische Zwecke. Dabei wird jedoch – als elementarster Aspekt von Kontextualität und gesellschaftlichem Bezug – immer wieder die Funktion und Bedeutung des Zuschauens reflektiert und bearbeitet, in komplexen Situationen der Begegnung, an unkonventionellen Spielorten und im öffentlichen Raum ebenso wie in medientechnischen Versuchsanordnungen. Die Integration des Publikums geschieht kaum mehr unvermittelt wie etwa bei den theatralen Aktivierungsformen der 1970er Jahre. Ein demgegenüber erweitertes Spektrum von Inszenierungs- und Spielweisen macht häufig Fremd- und Selbstbestimmung zugleich erfahrbar. Oft sind vermeintlich bloß Zuschauende auf mehreren Ebenen in ein szenisches Geschehen mit einbezogen, gleichzeitig in unterschiedlichen Funktionen: Mitwirkung, Teilnahme, Voyeurismus und Zeugenschaft. Umso mehr stellt sich daher die Frage, inwieweit auch gegenwärtige Theaterformen beitragen können zu einer Selbstermächtigung, zur Förderung einer selbstbestimmten Praxis.1

Jedenfalls können Zuschauende im Theater, auch bei einer äußerlichen Passivität und Distanz emotional und gedanklich weitaus aktiver sein als bei einem wiederum spektakulären selbstmächtigen Agieren, sei es auf der Bühne oder im öffentlichen Raum. Von daher wäre zu fragen, ob weiterhin noch von einer Emanzipation des Publikums als einem politischen Ziel von Theaterarbeit zu sprechen wäre, oder vielleicht eher von längst schon emanzipierten Zuschauenden, die jedenfalls keine Bevormundung mehr brauchen? Wie aber sieht dann politisches Theater aus, wenn das Gefälle des Wissens und des kritischen Bewusstseins außer Kraft gesetzt wird? Welcher Art sind die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die dann gemacht werden können, wenn die Spielleitung selbst aufs Spiel gesetzt und in eine Art kollektiver Produktion überführt wird? Inwieweit ist das überhaupt möglich und was wird dabei preisgegeben? Inwieweit kann ein solches Geschehen noch geplant und beeinflusst werden und welche Art von Impulsen ist dafür hilfreich?

In seinem Buch Das Unbehagen in der Ästhetik beschreibt Jacques Rancière das gegenwärtig erfahrbare Ende der „ästhetischen Utopie“, eine Ohnmacht der Kunst im Hinblick auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins. Indem Rancière Kunst grundsätzlich als eine „Aufteilung des Sinnlichen“ definiert, etwa als Anordnung von Körpern „in einem spezifischen Raum und in einer spezifischen Zeit“, gelangt er zur Annäherung vermeintlich selbstgenügsamer, unpolitischer Kunst (die aber gerade darin das Bild von Freiheit und Souveränität als „Versprechen von Emanzipation“ bewahrt) und andererseits einer engagierten und revolutionären Kunst, die selbst schon den Widerspruch zwischen Kunst und Leben aufheben will.2 Politik ist daher in beiden Tendenzen immer schon Teil von Kunst und zumal von Theater, nicht etwa ein Äußeres oder bloß Inhaltliches, das auf der Bühne abzubilden wäre.

Grundlegend für den Aspekt der Selbstermächtigung im oder durch Theater ist vor allem Rancières Abhandlung über den „emanzipierten Zuschauer“. In diesem 2004 auf Einladung des Kurators Mårten Spångberg entstandenen Vortrag (für eine Sommerakademie zu zeitgenössischen Theaterformen) geht Rancière von seiner früheren Studie über den „unwissenden Lehrmeister“ aus, der seine Schülerinnen und Schüler zum Selbstlernen anleiten konnte, ohne ihnen bestimmte Kenntnisse und Erklärungen systematisch zu vermitteln. Dieses Beispiel ist nun gerade für die Frage nach dem transkulturellen Potential von Theater aufschlussreich, da es um die Möglichkeit einer weitgehend eigenmächtigen Annäherung an eine fremde Sprache kreist: Inspiriert von der Entdeckung, wie schnell seine niederländischen Studierenden in Leuwen sich mit einer zweisprachigen Ausgabe von Fénelons Telemach-Roman die Logik der französischen Sprache erschließen und diese lernen konnten, entwickelte Joseph Jacotot um 1820 die revolutionäre Methode eines Unterrichts, in dem Lehren auch Emanzipieren bedeutet, in der Annahme einer Wesensgleichheit aller individuellen Intelligenz: „Die Emanzipation ist das Bewusstsein von dieser Gleichheit, dieser Gegenseitigkeit, die einzig der Intelligenz erlaubt, sich durch Verifizierung zu aktualisieren“3. Anstatt das Lehren auf ein Unwissen und eine damit erst produzierte Unfähigkeit der Lernenden zu gründen (wodurch die übliche Methodik des Unterrichts eher als Verdummung erscheint), könne die Emanzipation individueller Intelligenz deren eigenes Potential freisetzen. Dieser Prozess lässt sich allerdings Rancière zufolge nicht einfach auf größere Gruppen übertragen: „Es kann keine Partei der Emanzipierten, keine emanzipierte Versammlung oder Gesellschaft geben. Aber jeder Mensch kann sich immer, jeden Moment, emanzipieren und einen anderen emanzipieren“4. Alle Versuche, das Anliegen der Emanzipation in ein System des gesellschaftlichen Fortschritts zu überführen, hätten bisher die individuelle Gleichheit aufgeopfert im Bemühen um eine gesellschaftliche Gleichheit. Womit Jacotots Projekt jedoch weiterwirken kann ist die Einsicht, dass künstlerische Arbeit nach ähnlichen Prinzipien funktioniert:

Der Künstler braucht die Gleichheit, wie der Erklärende die Ungleichheit braucht. […] Man kann so von einer Gesellschaft von Emanzipierten träumen, die eine Gesellschaft von Künstlern wäre. Eine solche Gesellschaft würde die Trennung zwischen denen, die wissen, und jenen, die nicht wissen, zwischen denen, die über Intelligenz verfügen, und jenen, die nicht über sie verfügen, ablehnen. Sie würde nur tätige Geister kennen: Menschen, die etwas machen, die darüber sprechen, was sie machen, und somit alle ihre Werke in Mittel umformen, Menschlichkeit zu signalisieren, die ihnen wie allen eignet.5

Zur Übertragung von Jacotots Methodik auf die Situation des Theaters erwähnt Rancière zunächst die lange, bis in die Antike zurückreichende Geschichte des antitheatralen Vorurteils, wonach Zuschauende im Theater stets passiv und den Illusionen der Bühne unwissend ausgeliefert seien. In diesem Sinne hätten auch die Avantgarden das schlechte Spektakel des Theaters zu ersetzen versucht, sei es durch eine Versammlung, deren Mitglieder sich vor allem ihrer Situation und ihrer Interessen bewusst werden sollten (Brecht), sei es durch eine Zeremonie, bei der die Gemeinschaft ihre vitalen Energien entfalten sollte (Artaud). Der für die Geschichte des modernen politischen Theaters grundlegenden Annahme, das Publikum des Spektakels müsse erst noch aktiviert werden, hält er entgegen, dass es schon durch seine Wahrnehmung und Imagination aktiv ist. Daher aber wäre Theater auf andere Weise zu organisieren, nicht mehr im Bemühen um eine Aktivierung zu gemeinsamer Präsenz (um dann das Spiel der Repräsentation zu überwinden), sondern als ein Austausch künstlerischer (und anderer) Fähigkeiten, einschließlich derjenigen des Erzählens und Übersetzens:

It should be the institution of a new stage of equality, where the different kinds of performances would be translated into one another. In all those performances, in fact, it should be a matter of linking what one knows with what one does not know, of being at the same time performers who display their competences and spectators who are looking to find what those competences might produce in a new context, among unknown people.6

Dieser Idee einer neuen Gleichheit im Austausch verschiedenster Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechen im zeitgenössischen Theater schon seit Jahren eine Reihe von Tendenzen, die zwar auch an die Avantgarden des 20. Jahrhunderts anknüpfen, die Idee einer Emanzipation aber stärker auf den Austausch und die wechselseitige Förderung individueller Kreativität gründen: Im Unterschied zu den traditionellen Mustern des isoliert schaffenden Künstler-Genies einerseits, des hierarchisch oder totalitär organisierten Kollektivs andererseits, geht es dabei um Arbeitsweisen, die den Austausch von Kompetenzen ermöglichen, die prinzipiell gleichwertig sind. Dass die Entwicklung, Inszenierung und Aufführung von theatralen Produktionen nicht mehr nur arbeitsteilig und hierarchisch, sondern als kollektiver Prozess organisiert werden, ist ein wichtiges Element heutiger Theaterarbeit, deren Tätigkeitsfelder (Schauspiel, Regie, Tanz, Choreographie, Dramaturgie, Ausstattung etc.) mit eher kooperativen Arbeitsformen ineinander übergehen können.

Mit dieser Veränderung im Selbstverständnis der künstlerischen Praxis eng verbunden sind weitere grundlegende Tendenzen, die eine zunehmende Reflexion auf gesellschaftliche, lokale und globale Kontexte manifestieren und gleichzeitig die Erweiterung von Theaterarbeit im Sinne einer transkulturellen Arbeitsweise und Ästhetik. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung an der Gruppe Rimini Protokoll zeigen, welche im Kern aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel besteht, die in wechselnden Konstellationen einzeln, zusammen oder auch mit anderen produzieren. Als eines der Markenzeichen der Gruppe kann die Arbeit mit nichtprofessionellen Akteuren und Akteurinnen gelten, mithin eine gezielte Überschreitung des etablierten Kunsttheaterbetriebs. So hat Rimini Protokoll seit über fünfzehn Jahren für Bühnenproduktionen an deutschen und internationalen Theatern immer wieder Menschen aus unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen eingeladen, ihre jeweiligen Erfahrungen und Kompetenzen vorzustellen. Dabei fungieren sie als Experten des Alltags, die ihr Publikum auch ohne professionelle Schauspieltechnik erreichen und im Rahmen des jeweiligen Szenenablaufs auf ungewohnte Weise ansprechen können. Was daran interessiert und den Erfolg dieser Arbeitsweise begründet hat, ist nicht bloß der Effekt des Authentischen oder gar die Befriedigung einer Schaulust wie im Reality-TV. Im Gegenteil wird ein jeweils spezifischer theatraler Rahmen geschaffen, in dem außer der Eigenlogik der vorher recherchierten Themen auch die beteiligten Persönlichkeiten auf die Dramaturgie einwirken, z.B. Älterwerden in Sitzgymnastik Boxenstopp (2001), Umgang mit Sterben und Tod in Deadline (2003), Gerichtsverhandlungen in Zeugen! Ein Strafkammerspiel (2004), Wahlkampf und Lokalpolitik in Wallenstein (2005), Nachrichtenproduktion in Breaking News (2008), oder die statistische Analyse der Großstadtbevölkerung in 100% (2008 in Berlin, seither international in vielen weiteren Städten).

In all diesen Produktionen findet eine Selbstermächtigung zumindest insofern statt, als die Agierenden die durchaus theatralen Routinen, die sie sich in Alltag und Beruf angewöhnt haben, auf der Bühne zeigen, ohne dass sie – wie sonst üblich – durch professionelles Schauspiel repräsentiert werden (vorausgesetzt, sie hätten überhaupt eine Chance, dass ihr Leben literarisch bearbeitet und dieses Stück dann auch inszeniert wird). Die andere Ermächtigung betrifft aber die Zuschauenden, die ihrerseits einen stärkeren Bezug zu Aufführungen entwickeln können, in denen ihnen nicht nur professionell perfektionierte Kunstleistungen präsentiert werden, sondern auch die Erfahrungen ihres eigenen Alltags vorkommen, so dass sie sich selbst als zumindest potentiell ebenso berechtigte Akteurinnen und Akteure begreifen können.

Wie die Anwendung von Jacotots Experiment mit der intellektuellen Gleichheit auf den Austausch von Fähigkeiten und Kompetenzen zwischen allen Beteiligten einer Aufführung zeigt, liegt die Möglichkeit zur Emanzipation vielleicht gerade in einem singulären Plural-Sein (Nancy), in einer individuellen Gleichheit, die immer wieder mit der Fortdauer einer sozialen, kulturellen und ökonomischen Ungleichheit konfrontiert ist. Emanzipation wäre demnach auch kein einmaliger, von außen definierter Akt, wie es der Begriff der Ermächtigung noch suggeriert, sondern ein unablässiger Prozess. Ein Theater der Transkulturalität schaffen hieße, diesen Prozess in jeder Richtung zu ermöglichen, ohne ihn bestimmten Bedingungen oder Zwecken unterzuordnen, also auch nicht einer Repräsentation kultureller Identität, vielmehr ihn zuzulassen als offenes Experiment. Solche Experimente nicht nur für ein begrenztes Publikum durchzuführen, sondern mit einer breiteren Öffentlichkeit, war seit jeher ein Anliegen von Theaterschaffenden, die damit zugleich die Grenzen ihrer Kultur durchlässig zu machen versuchten. Dieser Aspekt soll nun abschließend noch etwas vertieft werden, da er zugleich produktive Formen für einen Umgang mit dem Fremden eröffnet, dieses nicht als Bedrohung von Kultur, sondern als deren elementare Voraussetzung und Entwicklungsbedingung erweist.

3.Überschreitung des Theaters

Transkulturalität als Perspektive ermöglicht und erfordert, Theater quer zur Fixierung von Identitäten und Gewissheiten zu denken, und Theater nicht nur als künstlerische Praxis zu verstehen, sondern in seinen Wechselwirkungen mit kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten.1 Theater birgt daher immer schon die Möglichkeit zu seiner eigenen Überschreitung, im Auszug aus etablierten Räumen und Institutionen ebenso wie mit der Überwindung konventioneller Auffassungen von Schauspiel als Abbild von Wirklichkeit und Ausdruck kultureller Identität. Überschreitung wäre hier auch in Annäherung an die von Michel Foucault in Anschluss an Georges Bataille formulierte Erfahrung einer existenziellen Infragestellung des Subjekts zu verstehen, das mit den Grenzen seines Seins (im Rausch, in der Sexualität, in der Religion, im Wahnsinn etc.) spielt anstatt sie bloß überwinden zu wollen. Diese Art von Überschreitung „durchbricht eine Linie […], die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren“2. Zumindest da, wo sich postdramatisches Theater der Performance und dem Happening nähert, arbeitet es – als ein Theater der Überschreitung – mit einer ähnlichen Dynamik der radikalen Verausgabung. Der Impuls zur Überschreitung betrifft dann aber nicht nur das Drama, sondern strukturell auch das damit verknüpfte Menschenbild und schließlich Kultur insgesamt, sofern diese noch im Sinne von Identität, Nationalität, stabiler Zugehörigkeit aufgefasst wird. Gleichzeitig werden auch die Räume und Erscheinungsweisen des Publikums in Frage gestellt, einer quantitativen und qualitativen Entgrenzung ausgesetzt. Dieser Prozess kann schließlich das Theater selber erfassen, in seiner Grundbedeutung als Schauplatz ebenso wie in dem davon abgeleiteten Bezug auf szenische und performative Praktiken aller Art. Überschreitung des Theaters hieße dabei sowohl die Überwindung von Sparten, Gattungen und Disziplinen, deren Entwicklung ohnehin nur von ihrer andauernden Wechselwirkung her zu begreifen ist, wie auch die Entgrenzung des Schauplatzes, der weit über die konventionellen Bühnengebäude hinaus als Situation zwischen Agierenden und Zuschauenden überall entstehen kann.

Nicht von ungefähr war die Idee des Nationaltheaters, eng verbunden mit der Idee einer nationalen Literatur und Kultur, bei ihrer allmählichen Realisierung im „langen“ 19. Jahrhundert auch geprägt durch die zunehmende Abgrenzung theatraler und szenischer Praktiken von der sie umgebenden gesellschaftlichen Realität. Die Errungenschaften des illusionär abgeschlossenen, als Guckkasten perfektionierten Kunstraumes wirken bis heute nach im Dispositiv des dramatischen und zugleich auf die baulich fixierte Trennung vom Publikum angewiesenen Theaters. Daher können umgekehrt die Überschreitung dieses immer noch dominanten Theatertyps und der Auszug aus oder genauer: die Rückkehr in öffentliche Räume zugleich eine Erweiterung des gesellschaftlichen und kulturellen Horizonts von Theater bewirken. Die damit absehbare erneute Erweiterung des Spektrums theatraler Praktiken geht jedenfalls über die Ablösung vom Drama hinaus. Transkulturelles Theater wäre mithin der weitere Begriff, dessen elementares Kriterium einer Begegnung von Agierenden und Zuschauenden nicht länger determiniert ist von den spezifischen, kulturell geprägten Institutionen der Sprache, der Literatur und insgesamt einer jeweiligen Ästhetik und Didaktik. All diese Faktoren können inzwischen auch innerhalb der um Öffnung bemühten Theaterinstitutionen auf neue Weise in den Blick genommen und selbst zum Thema und Material theatraler Prozesse werden, nicht zuletzt das Verhältnis von Kunst und Alltag. So lassen sich theatrale Praktiken in anthropologischer Perspektive verstehen als eine Kommunikation von Menschen untereinander ebenso wie mit verschiedenen nichtmenschlichen Wesen, die nicht nur adressiert werden sondern zugleich selbst agieren können (insbesondere Göttinnen und Götter, Tiere, Puppen, Maschinen, Avatare und künstliche Intelligenzen), zugleich aber als eine unablässige Konfrontation mit Erfahrungen von Fremdheit. Anstatt bloß, wie noch im Europa des 19. Jahrhunderts, zur Begründung national-kultureller Identität zu dienen, ermöglichen solche Praktiken eine transkulturelle Überschreitung, die in der gegenwärtigen Weltlage auch weitaus notwendiger erscheint als der Rückzug auf ein vermeintlich „Eigenes“.

Beispiele dafür, wie die Überschreitung des konventionellen Bühnengebäudes zugleich einhergehen kann mit der Erweiterung des Theaters auf Horizonte anderer Kulturen im Kontext globalisierter Ökonomien, Kriege und Migrationsströme, bieten wiederum Arbeiten von Rimini Protokoll, vor allem Call Cutta, Cargo Sofia oder auch Situation Rooms. In der Produktion Remote X, die 2013 als Remote Berlin anfing und weltweit in über 30 Städten neu erarbeitet wurde, folgen ca. 50 Teilnehmende einer synthetischen Stimme, die ihnen die urbane Umgebung wie auch ihr eigenes Verhalten fremd erscheinen lässt. Dabei findet die Bewegung stets in der Gruppe statt, die sich gelegentlich aufteilt und von der Stimme öfters als eine „Herde“ oder „Horde“ adressiert wird. Wie in früheren Audiowalks bleibt es den Teilnehmenden weitgehend überlassen, ob sie die angesagten, „ferngesteuerten“ Bewegungen ausführen oder nur den anderen dabei zusehen. Das Spiel mit der Möglichkeit, den Spielort zu verlassen oder zu verlagern, erweist sich in der aktuellen Theater-, Performance- und Tanzpraxis aber nicht etwa als ein endgültiger Abschied von der Institution und den Gebäuden des konventionellen Theaters, eher als deren Erweiterung. Oft sind es kooperative Projekte, die den Ort des Theaters in der Stadt neu zu bestimmen suchen und dabei zugleich theatrale Aktionen im urbanen Raum ermöglichen.3 Dies führt inzwischen gerade für die Frage nach dem Öffentlichen als einer gemeinsamen Sphäre zunehmend auf Erfahrungen von Fremdheit, auf die Begegnung einander unbekannter Individuen, Gruppen und Kulturen.

Der Umstand, dass gegenwärtig der Status des Menschen und die ethischen Werte der modernen westlichen Welt durch Vertreibung und Flucht im rechtlichen Ausnahmezustand hinfällig erscheinen, bringt zahlreiche Theaterschaffende aber auch wieder dazu, auf die Anfänge der westlichen Theaterkultur zurückzugehen und das in vieler Hinsicht prä-dramatische Modell der griechischen Tragödie aufzugreifen. Deutlich wird das am Beispiel von Aischylos’ Hiketiden, einem Stück, das in den letzten Jahren oft eine Überschreitung theatraler Konventionen provoziert hat, bis hin zur Öffnung des Theaters (als Haus und als Praxis) zum Asyl und zu der Frage nach dem unmöglichen Ort des Theaters in der heutigen Gesellschaft. Dafür ist Aischylos’ Stück hochbedeutend, da hier der Fall der 50 schutzflehenden Frauen aus Ägypten bereits als politischer Prozess dargestellt wird. Der König Pelasgos kann den Fall nicht allein entscheiden, sondern muss zunächst die Volksversammlung um Rat fragen und abstimmen lassen. Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden sogar eine der frühesten erhaltenen Quellen für ein derartiges demokratisches Verfahren in der Griechischen Kultur. Die Angelegenheit ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger etwas an. Um ihrem Gesuch ein größeres Gewicht zu geben, erinnern die Schutzflehenden den König Pelasgos daran, dass er von Zeus selbst bestraft werden könnte, wenn er ihnen kein Bleiberecht gewährt. Später vergleicht der König sich selbst und das Volk von Argos mit einem Schiff in Not und droht denjenigen welche die Schutzflehenden nicht beschützen damit, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden.

Die theatrale Umkehrung von Flüchtlingen und Aufnehmenden ist bis heute ein wirksames Mittel, um die Ängste von Gesellschaften zu überwinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind. So gab es einige neuere Produktionen dieses Stückes, welche die Schwierigkeiten und Paradoxien der aktuellen Asylpolitik zum Ausdruck zu bringen versuchten, z.B. Enrico Lübbes Inszenierung des Textes Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek am Schauspiel Leipzig (2015). Jelinek schrieb ihren Text bekanntlich mit Bezug auf den realen Konflikt von Flüchtlingen, die 2013 in Wien ein Kirchenasyl erreichen wollten und schließlich von der Polizei deportiert wurden. So thematisiert sie die Macht bürokratischer Verfahren, die einzelne Asylsuchende auf ihre körperliche, aller individuellen Rechte entkleidete Existenz reduzieren, wie es bereits von Giorgio Agamben in Homo Sacer analysiert wurde.4 Assoziationen mit diesem Kontext waren auch in Lübbes Produktion präsent, welche die Aktualität der Texte von Aischylos und Jelinek gerade in ihrer Verknüpfung verdeutlichte. Die räumliche Situation bestimmte ein verrosteter Schiffsrumpf. Der Chor der Schutzflehenden verwandelte sich in eine Gruppe von Jelinek-Doubles, dann in eine Masse von Flüchtlingen und schließlich in eine Gruppe von Feriengästen als Hotdogs, die auf ihren Liegestühlen in der Sonne gegrillt werden und sich über die – angeblich von Flüchtlingen verursachte – Umweltverschmutzung an den Stränden beschweren. Wie Jelineks Text spielte auch die Aufführung mit dem Kontrast zwischen pathetischen Bildern von Leiden und Angst und andererseits einem Zynismus der Banalitäten und stumpfen Vorurteile.

Einen anderen Ansatz verfolgte Sebastian Nübling, ebenfalls im Herbst 2015, am Berliner Gorki Theater, und wiederum von Aischylos und Jelinek ausgehend. Darüber hinaus verwendete er aber Ausschnitte der Asyldebatte in deutschen Parlamenten sowie persönliche Erinnerungen der Geflüchteten, die bereits Teil des Gorki-Ensembles geworden waren. Die Stühle wurden entfernt und das Publikum war auf einer Tribüne platziert, während das Parkett des Theaters als Versammlungsraum benutzt wurde. Im weitgehenden Verzicht auf festgelegte Rollen, wenn auch durch körperliche Handlungen auf das Stück Bezug nehmend, engagierten sich die Spielenden vor allem in politischen Reden und einer Art Re-enactment der abstrakten Debatte über die neuen Gesetze zu Einwanderung und Asyl. Die Aufführung endete mit einer Versammlung des Publikums um die neuen Mitglieder des Ensembles, die somit Gespräche über ihre persönliche Erfahrung von Flucht und Migration aktiv gestalten konnten, anstatt bloß von anderen repräsentiert zu werden. Auf diese Problematik verwies schon der Titel der Produktion: In Unserem Namen.

Gegenwärtig gibt es aber auch eine Tendenz, Theatergebäude und -institutionen demonstrativ in Asyle zu verwandeln, die für alle offen sein sollen, die eine Bleibe suchen, und als Treffpunkt dienen können für diejenigen, die ihnen helfen wollen. An vielen Bühnen im deutschsprachigen Raum gibt es solche Projekte, die zum Teil den konventionellen Gebrauch der Theaterhäuser weitgehend verändern. Diese Entwicklung erscheint einerseits als notwendiger und häufig auch produktiver Impuls zur Öffnung eines mitunter starren Apparates der Repräsentation auf Prozesse des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Andererseits bleibt Theater immer noch einer der seltenen Orte, an denen Experimente nicht zwingend Gewinn bringen müssen. So können sie auch der ansonsten vorherrschenden bürokratischen Verwaltung und ökonomischen Verwertung von Geflüchteten und ihrer prekären Situation entgegensetzen. Wie sich auch an diesen Beispielen zeigt, ermöglicht und erfordert Theater gegenwärtig Praktiken des Inszenierens und Agierens, welche die üblichen Trennungen zwischen „eigen“ und „fremd“ überschreiten. Diese Praktiken eröffnen transkulturelle Perspektiven, mit denen die in vieler Hinsicht problematischen Formen heutiger Migrationspolitik kritisch reflektiert werden können. Die für das Zusammenleben in gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaften elementare Frage, wie die mit dem Insistieren auf kultureller Identität immer wieder einhergehenden Tendenzen der Exklusion zu überwinden wären, ist sicherlich Grund genug, auch das Theater als Institution neu zu denken, Überschreitung selbst als eine theatrale Praxis zu begreifen, auszuprobieren und durchzuspielen.

Was ist das transkulturelle Theater?

Günther Heeg (Universität Leipzig)

Das transkulturelle Theater,1 von dem hier die Rede ist, ist im Werden.2 Es lässt sich nahezu weltweit finden in den Arbeiten des Gegenwartstheaters, aber auch frühere Theaterformen offenbaren das Werden des transkulturellen Theaters einem neuen wissenschaftlichen Blick. Gleichwohl oder gerade deshalb lässt sich dieses Theater nicht als eine besondere Sparte des Theaters verorten. Das unterscheidet den hier vorgestellten Ansatz von dem des interkulturellen Theaters. Gegen eine Objektivierung dieses Theaters spricht vor allem, dass es das Resultat wissenschaftlichen Nachdenkens ist über das, was gegenwärtig im Theater und in der Welt geschieht. Das transkulturelle Theater ist eine Idee im Sinne von Gilles Deleuze. Nicht überzeitlich festgezurrt am platonischen Ideenhimmel, sondern hervorgebracht durch raumzeitliche Dynamiken, in Bewegung zwischen Virtualität und Aktualität, im Werden. In der Idee des transkulturellen Theaters verbinden sich Theater-Erfahrung und theoretische Reflexion. Erst in der Engführung beider, der erfahrungsgesättigten Konstruktion3 des transkulturellen Theaters, zeigt sich sein Werden als ein Öffnen der Gegenwart auf Zukunft hin.

Mein Beitrag geht drei wesentlichen Elementen nach, die in der Idee des transkulturellen Theaters in Konstellation treten: Es ist die Dringlichkeit eines „Theaters unter Fremden“, die Notwendigkeit eines „Theaters der Wiederholung“ und die Bewegungskraft eines „Theaters der Geste“. Auf Ausführungen zu diesen drei Bestimmungen des transkulturellen Theaters folgt die Beschreibung einer Aufführung, die zum Erfahrungsraum des transkulturellen Theaters gehört.

1.Ein Theater der Fremden