Power for All - Julie Battilana - E-Book
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Power for All E-Book

Julie Battilana

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  • Herausgeber: Ariston
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Sie sind mächtiger als Sie glauben

Weltweit haben Menschen dieselben Vorbehalte gegenüber Macht. »Macht ist schmutzig, Macht korrumpiert, Macht gehört den Mächtigen.« Doch genau hier liegt das Problem: Denn wer Macht misstrauisch gegenübersteht oder sie gar ablehnt, überlässt sie einfach nur anderen.

Julie Battilana und Tiziana Casciaro überraschen mit einer augenöffnenden Analyse vom Wesen der Macht. Sie zeigen, dass Machtverhältnisse dynamisch sind und wirklich jeder Mensch sie neu verhandeln kann. Mit Power for All liefern sie ein praktikables Modell der Macht, das zeigt, an welchen Stellschrauben Sie drehen können, um in wirklich jeder Situation – beruflich, privat wie politisch – ein neues und soziales Machtgleichgewicht herbeizuführen.

»Eine erfrischende Aufforderung, die eigenen Einflussmöglichkeiten zu entdecken und zu erproben. Macht geht uns alle an, denn es gibt noch so vieles, für das wir uns einsetzen können – zum Positiven.« Janina Kugel, Autorin des Spiegel-Bestsellers It‘s now und Aufsichtsrätin

Zum Inhalt:

»Macht gehört zu den Themen, über die weltweit am meisten gesprochen und vermutlich auch geschrieben wird, weil Macht ein fester Bestandteil unseres Lebens ist. Von unseren persönlichen Beziehungen über Konflikte am Arbeitsplatz bis zu den höchsten Ebenen der internationalen Diplomatie und der Wirtschaft – es geht immer um Macht.

Nachdem wir uns zwei Jahrzehnte mit dem Thema befasst hatten, stellten wir fest, dass Macht trotz ihrer Allgegenwart – oder vielleicht gerade deswegen – immer noch häufig falsch verstanden wird. Wir wissen aus unserer Forschung aber auch, dass die Dynamik der Macht erlernt werden kann. Ob man nun dem Bösen widerstehen oder Gutes tun will, man muss die Funktionsweise von Macht verstehen und begreifen, was es braucht, Macht zu erlangen und auszuüben. Weil wir dieses Wissen vermitteln wollen, haben wir dieses Buch geschrieben.«

Julie Battilana & Tiziana Casciaro

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Seitenzahl: 468

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Zum Buch:

Weltweit haben Menschen dieselben Vorbehalte gegenüber der Macht. »Macht ist schmutzig, Macht korrumpiert, Macht gehört den Mächtigen.« Das Problem daran ist: Sie entbehren jeglicher Grundlage. Unsere persönliche Einstellung zur Macht hingegen beeinflusst unser tägliches Leben und unseren Erfolg. Wer Macht als etwas Negatives empfindet, wird selbst nie darüber verfügen.

In ihrer überraschenden und augenöffnenden Analyse der Macht zeigen die Professorinnen Julie Battilana und Tiziana Casciaro, dass Macht immer relativ ist und wirklich jeder Mensch sie neu verhandeln kann. Denn Macht entsteht immer dann, wenn jemand über Ressourcen verfügt, die ein anderer braucht. Die Autorinnen entwickeln ein praktikables Framework der Macht, das zeigt, an welchen Fäden jede*r jederzeit ziehen kann, um ein neues und soziales Machtgleichgewicht herbeizuführen. Niemand ist zu gering, um die Verhältnisse nachhaltig zu verändern! Egal, ob frischgebackene Führungskraft oder Anführer*in einer Grassroots-Bewegung.

Zu den Autorinnen:

Julie Battilana ist Professorin an der Harvard Business School und der Harvard Kennedy School of Government. Sie ist Gründerin und Lehrstuhlinhaberin der Initiative für Soziale Innovation und Wandel. Sie ist außerdem Mitgbegründerin der weltweiten Initiative Democratizing Work. Zahlreiche Medien wie NPR, Businessweek, Harvard Business Review, The Guardian, Forbes, The Boston Globe und Le Monde berichten über sie und veröffentlichen ihre Beiträge. Die gebürtige Französin lebt in Belmont, Massachusetts.

Tiziana Casciaro ist Professorin an der Rotman School of Management der Universität von Toronto. Über ihre Forschung berichten unter anderem Economist, Financial Times, The Washington Post, HuffPost, Harvard Business Review, USATODAY, Forbes, CNN, MSNBC, ABC, Fortune und Time. Ihre vielfach preisgekrönte Arbeit brachte sie auf den Thinkers50 Radar, einem Ranking der 30 Managementvordenker, die unsere Zukunft und die unserer Arbeit formen werden. Die gebürtige Italienerin lebt in Toronto.

Julie Battilana & Tiziana Casciaro

POWER FOR ALL

Wie Macht funktioniert, wie sie uns nützt und weshalb das alle etwas angeht

Mit einem Vorwort von Janina Kugel

Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Schlatterer

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Power, for All bei Simon & Schuster.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Schlatterer

© 2021 by Julie Battilana und Tiziana Casciaro.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Desirée Šimeg, Stadtbergen

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Covermotiv: © Liesl Clark

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28785-6V002

Für Jean-Pierre, Marica und Emilie, die mir den Weg ebneten,

Für Romain, der ihn für mich markiert hat und immer an meiner Seite ist, und für Lou und Noé und die engagierten jungen Leute ihrer Generation, die unseren gemeinsamen Marsch zu sozialer Gerechtigkeit fortsetzen

JB

Für meine Mutter Maria Teresa Tarsitano, die mir Liebe, Tugend und Wissen vermittelte und hin und wieder eine sgridatina gab

TC

INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Janina Kugel

Einleitung: Macht wird missverstanden

Kapitel 1: Die Grundlagen der Macht

Kapitel 2: Macht kann schmutzig sein, muss sie aber nicht

Kapitel 3: Was schätzen Menschen besonders?

Kapitel 4: Wer kontrolliert den Zugang zu dem, was wir schätzen?

Kapitel 5: Machthierarchien halten sich hartnäckig, können jedoch demontiert werden

Kapitel 6: Agitation, Innovation, Orchestrierung

Kapitel 7: Macht ändert sich nicht – sie wechselt nur den Besitzer

Kapitel 8: Macht in Schach halten

Schluss: Es liegt an uns

Anhang: Machtdefinitionen in den Sozialwissenschaften

Dank

Über die Autorinnen

Anmerkungen

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE VON JANINA KUGEL

Das Leben der Mächtigen. Die geheimen Zirkel der Macht. Darum drehen sich unzählige Geschichten, die uns seit Menschengedenken faszinieren. Die meisten Menschen betrachten Macht daher als etwas, das einem kleinen, elitären Kreis von Personen vorbehalten ist, zu dem sie selbst keinen Zugang haben. Aber ist das denn wirklich so?

Macht zu haben bedeutet, Einfluss nehmen zu können, also über etwas zu verfügen, das für andere von Interesse ist. Das können vollkommen unterschiedliche Dinge sein: Wissen, ein Netzwerk, Zuhörer*innen, politische oder finanzielle Möglichkeiten, aber auch die Kenntnis eines sozialen Gefüges. Genau genommen handelt es sich um Dinge, über die jede*r von uns verfügt. Doch fühlen wir uns tatsächlich mächtig? Nutzen wir unsere Möglichkeiten und wollen wir das überhaupt?

Für viele ist Macht noch immer mit etwas Negativem besetzt, sie schrecken fast ein wenig davor zurück. Doch Macht an sich ist weder gut noch böse. Zweifellos können Menschen, die Einfluss haben, Gutes bewirken, sie können gestalten und Veränderungen ins Rollen bringen. Woher rührt also diese Skepsis? Sie kommt durch Situationen, die wir alle kennen und so manches Mal auch selbst erleben. Situationen, in denen die Macht Einzelner nicht förderlich, sondern zerstörerisch wirkt. Es kommt also darauf an, wer an Macht gelangt.

Wie so oft im Leben sind es soziale und zwischenmenschliche Fähigkeiten, die darüber entscheiden, wie Macht sich auswirkt. Wer über ein hohes Maß an Sozialkompetenz verfügt, zuhören kann und empathisch ist, wird den eigenen Einfluss dazu nutzen, Positives zu bewirken – und zwar nicht für sich selbst, sondern für andere. Diejenigen jedoch, die ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen, an Hybris leiden oder Kritik und die Realität ausblenden, zerstören mehr, als sie bewirken.

Weil diese Unterschiede gravierend sein können, ist es wichtig, die Wirkmechanismen der Macht zu kennen und zu verstehen. Dabei dürfen wir nie aus dem Blick verlieren, dass sich menschliches Verhalten verändern kann, sodass wir immer wachsam bleiben müssen, um Machtmissbrauch zu verhindern.

Julie Battilana und Tiziana Casciaro entmystifizieren Macht und öffnen neue Perspektiven. Mit einer wunderbaren Mischung aus akademischen Forschungsergebnissen und Erzählungen aus dem echten Leben gelingt es ihnen, die Dynamiken der Macht nicht nur verstehen zu lernen, sondern sie geben den Leser*innen auch eine Anleitung dafür, wie sie ihnen begegnen, sie beeinflussen und nutzen können. Eine erfrischende Aufforderung, die eigenen Einflussmöglichkeiten zu entdecken und zu erproben.

Macht geht uns alle an, denn es gibt noch so vieles, für das wir uns einsetzen können – zum Positiven.

München, im Mai 2022

Janina Kugel

EINLEITUNG: MACHT WIRD MISSVERSTANDEN

Ein Schäfer, der nach einem heftigen Sturm zu seiner Herde zurückkehrt, macht eine erstaunliche Entdeckung. Mitten auf der Weide klafft eine tiefe Erdspalte, die den Zugang zu einer unterirdischen Höhle freigibt. Der neugierige Hirte kriecht hinein und findet in einer Krypta eine riesige hohle Pferdeskulptur aus Bronze. In der Skulptur liegt ein Skelett mit einem goldenen Ring am Finger. Der Hirte steckt den Ring ein und verlässt die Höhle. Bald darauf entdeckt er, dass der Ring kein gewöhnlicher Ring, sondern ein magischer Ring ist, der seinen Träger unsichtbar macht. Im Wissen um diese Fähigkeit heckt der Hirte einen Plan aus: Er verschafft sich Zutritt zum Palast, verführt die Königin, ermordet den König und übernimmt die Herrschaft über dessen Reich.

Platon schildert das Abenteuer des Hirten, auch bekannt als »Der Ring des Gyges«, im 4. Jahrhundert v. Chr. in seinem Buch Der Staat.1 Seitdem hat seine Geschichte die Menschen immer wieder in ihren Bann geschlagen. Eine weitere Geschichte über einen magischen Ring, der unsichtbar macht, aber auch dunkle Kräfte verleiht, hat es geschafft, die Leser auf mehr als 1500 Seiten zu fesseln. Die Rede ist natürlich von J. R. R. Tolkiens Fantasy-Romanen Der Hobbit und Der Herr der Ringe, in denen der »eine Ring« seine Träger mit dem Versprechen der absoluten Macht korrumpiert.

Seit Jahrtausenden erzählen sich die Menschen Geschichten wie »Der Ring des Gyges« oder Der Herr der Ringe: In einem arabischen Volksmärchen entdeckt Aladin, den ein böser Zauberer ausschickt, um aus einer magischen Höhle eine Öllampe zu holen, einen Dschinn, der ihm Wünsche erfüllt. In einer vietnamesischen Legende befreit der König Le Loi im 15. Jahrhundert nach einem jahrzehntelangen Krieg sein Volk von der Besatzung der chinesischen Ming-Dynastie mithilfe eines magischen Schwertes namens Thuận Thiên (»Wille des Himmels«). In Richard Wagners Opernzyklus Der Ring des Nibelungen besitzt Alberich einen magischen Helm, der es seinem Träger ermöglicht, die Gestalt zu wandeln oder unsichtbar zu werden. Ein aktuelleres Beispiel ist die Geschichte von Harry Potter, die in seiner Suche nach den Heiligtümern des Todes mündet, drei magischen Objekten, die ihren Träger zum Meister des Todes machen.

Geschichten über einen Protagonisten, der sich auf die Suche nach einem magischen Objekt macht, das ihm – oder neuerdings auch ihr – die Fähigkeit verleiht, über das eigene Schicksal zu bestimmen und über Bösewichte zu triumphieren, finden sich in allen Kulturen. Was diese zeitlosen Erzählungen verbindet, macht auch ihre Faszination aus: Im Grunde geht es immer um Macht. Die Helden und Schurken kämpfen und töten, um in den Besitz magischer Objekte zu gelangen, die ihnen nicht nur die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal ermöglichen, sondern auch über das Verhalten anderer. Und genau das macht Macht aus: die Fähigkeit, das Verhalten anderer zu beeinflussen, sei es nun durch Überzeugung oder durch Zwang.

UNENDLICH FASZINIEREND, HÄUFIG FALSCH VERSTANDEN

Diese epischen Erzählungen haben sich über Jahrtausende gehalten, weil Macht uns fasziniert. Sie sorgt dafür, dass wir ein Buch Seite um Seite verschlingen, dass wir vor dem Bildschirm kleben und die Nachrichten verfolgen oder stundenlang Filme und Serien schauen. Macht gehört zu den Themen, über die weltweit am meisten gesprochen und vermutlich auch geschrieben wird, weil Macht ein fester Bestandteil unseres Lebens ist. Von unseren persönlichen Beziehungen über Konflikte am Arbeitsplatz bis zu den höchsten Ebenen der internationalen Diplomatie und der Wirtschaft – es geht immer um Macht.

Nachdem wir uns zwei Jahrzehnte mit dem Thema befasst, es studiert und unterrichtet hatten, stellten wir fest, dass Macht trotz ihrer Allgegenwart – oder vielleicht gerade deswegen – immer noch häufig falsch verstanden wird. Wenn die Studierenden im Herbst in unsere Seminare an der Harvard University oder der University of Toronto strömen, suchen sie jedes Jahr Antworten auf dieselben Fragen: »Wie kann ich Macht erlangen und behalten? Warum fühle ich mich nicht mächtig, obwohl ich befördert wurde? Wie kann ich andere Menschen überzeugen, sich zu verändern? Warum ist es so schwer, sich gegen manipulative Vorgesetzte zur Wehr zu setzen? Wie kann ich sicherstellen, dass ich meine Macht, wenn ich denn welche habe, nicht missbrauche?«

Die Studierenden machen sich auch Gedanken über die aktuellen Entwicklungen in der Welt und fragen sich, ob sie das Potenzial haben, etwas zu verändern. Vor allem in den letzten Jahren wurde uns immer wieder die Frage gestellt: »Warum habe ich das Gefühl, dass die Welt vor meinen Augen in den Abgrund treibt und ich nichts dagegen tun kann?«

Doch nicht nur in unseren Seminaren werden uns diese drängenden Fragen gestellt. Unsere Forschung und Beratungstätigkeiten haben uns um die ganze Welt geführt, und überall äußerten Menschen jeden Alters und ganz unterschiedlicher Herkunft ähnliche Sorgen und Nöte, ob Teenager oder über Neunzigjährige, sehr gebildete Menschen oder jene, die nie eine Chance bekommen haben, lesen und schreiben zu lernen. All diese Begegnungen gewährten uns einen Einblick, wie Menschen mit Macht umgehen, sei es nun in einem Krankenhaus im Zentrum von Rio de Janeiro, im gut ausgestatteten Büro eines ehemaligen französischen Präsidenten in Paris oder in einem geschäftigen Start-up-Inkubator für Social Entrepreneurship in New York.

Trotz dieser enormen Vielfalt denken die Menschen, mit denen wir uns unterhalten und zusammengearbeitet haben, ganz ähnlich über Macht. Größtenteils geht es ihnen darum, ihr eigenes Leben und oft auch das ihrer Mitmenschen zu verbessern. Sie wollen mehr Kontrolle über ihr Umfeld und sie wollen etwas bewirken, sei es nun in der eigenen Familie, an ihrem Arbeitsplatz, in ihrer Gemeinschaft oder in der Gesellschaft an sich. Doch sie müssen feststellen, dass das gar nicht so einfach ist. Auf jeden Erfolg kommt mindestens eine Episode, in der sie kämpfen oder eine Niederlage einstecken mussten. Intuitiv wissen sie, dass Macht der Schlüssel zu der von ihnen erhofften Wirkung ist. Doch es ist ein großer Unterschied, ob man die Wirkung von Macht erkennt oder ob man weiß, wie sie funktioniert. Damit kommen wir zu der zweiten Gemeinsamkeit, die wir häufig beobachten: Die meisten Menschen haben falsche Vorstellungen von Macht. Vor allem drei Fehlannahmen hindern viele daran, Macht richtig zu begreifen und letztlich auch auszuüben.

DREI HINDERLICHE TRUGSCHLÜSSE

Der erste Trugschluss ist die Vorstellung, dass Macht etwas ist, das man dauerhaft besitzt, und dass manche Menschen besondere Eigenschaften haben, die es ihnen ermöglichen, Macht zu erlangen. Wenn man diese Eigenschaften hat – so die Denkweise – oder einen Weg findet, sie sich anzueignen, wird man beständig Macht ausüben. Diese besonderen Eigenschaften unterscheiden sich gar nicht so sehr von den magischen Gegenständen in den Volksmärchen und Mythen; es verwundert daher nicht, dass viele herausfinden wollen, wie diese »idealen Eigenschaften« beschaffen sind. Doch stellen Sie sich nun einmal die Beziehungen in Ihrem Leben vor. Wahrscheinlich haben Sie das Gefühl, in manchen mehr Kontrolle zu haben als in anderen, obwohl sich an Ihren Eigenschaften und Fähigkeiten nicht viel geändert hat. Persönliche Attribute können zwar in bestimmten Situationen die eigene Macht befördern, doch Sie werden feststellen, dass die Suche nach besonderen Eigenschaften, die jemanden immer und überall mächtig machen, weitgehend Zeitverschwendung ist.

Der zweite Trugschluss ist der, dass Macht an eine bestimmte Position gebunden ist, also beispielsweise Königen und Königinnen vorbehalten ist, Präsidenten und Generälen, Vorstandsmitgliedern und CEOs, den Reichen und Berühmten. Autorität oder eine bestimmte Position werden häufig mit Macht verwechselt, was sich in unserem eigenen Leben auch jedes Jahr zu Beginn des Semesters zeigt: Wenn wir unsere Studierenden auffordern, fünf Personen aufzuzählen, die sie für mächtig halten, nennen sie zu 90 Prozent Personen, die an der Spitze einer Hierarchie stehen. Doch Sie wären überrascht, wie viele Topmanager und CEOs zu uns kommen, weil sie Probleme haben, in ihren Organisationen tatsächlich etwas zu bewegen. Sie haben erkannt, dass eine Position an der Spitze keine Garantie dafür ist, dass ihre Teams tatsächlich das tun, was sie wollen. In Komödien, von den antiken griechischen Schauspielen bis zu den britischen Monty-Python-Sketchen, werden gern Autoritätspersonen lächerlich gemacht, ob Kaiser, Heerführer, Minister oder aufgeblasene Chefs. Unsere Analyse wird zeigen, warum eine Position an der Spitze zwar Autorität verleiht, aber nicht zwangsläufig Macht.

Der letzte und vielleicht am weitesten verbreitete Trugschluss ist der, dass Macht schmutzig ist und dass ihr Erwerb und ihre Ausübung mit Manipulation, Zwang und Grausamkeit verbunden sind. In der Literatur und Filmwelt wimmelt es von abschreckenden Beispielen: Lady Macbeth und Iago bei Shakespeare, Voldemort in der Harry-Potter-Reihe oder Frank und Claire Underwood in House of Cards. Wir können den Blick nicht abwenden, können aber auch den Gedanken nicht ertragen, so wie diese Figuren zu sein. Macht fasziniert uns, stößt uns aber gleichzeitig ab. Sie scheint wie Feuer: fesselnd, aber auch in der Lage, uns zu verschlingen, wenn wir ihr zu nahe kommen. Wir fürchten, wir könnten den Verstand verlieren oder unsere Prinzipien über Bord werfen. Der Hirte in »Der Ring des Gyges« wird zu einem manipulativen Mörder und der »eine Ring« in Tolkiens Herr der Ringe verdirbt nach und nach den Charakter seines Trägers. Doch in Wirklichkeit ist Macht an sich nicht schmutzig. Es besteht zwar immer die Möglichkeit, von ihr korrumpiert zu werden, doch ihre Energie ist unverzichtbar, wenn wir etwas erreichen wollen. Wenn eine Drittklässlerin ihre Klassenkameraden überzeugt, sich an einer Spendenaktion zugunsten einer gemeinnützigen Organisation zu beteiligen, die sich um Kinder mit Behinderungen kümmert, nutzt sie Macht auf konstruktive Weise. Das gilt auch für den Manager, der die Unternehmensleitung überzeugt, seinem Team die Mittel zur Verfügung zu stellen, die es benötigt, um unter besseren Bedingungen zu arbeiten und mehr zu leisten.

Die drei Trugschlüsse über Macht behindern uns als Individuen und im Kollektiv. Für uns als Individuen sind diese Fehleinschätzungen ein Quell der Frustration, weil sie unsere Fähigkeit einschränken, unser eigenes Leben zu kontrollieren, andere zu beeinflussen und Dinge auf die Reihe zu bekommen. Wir haben das Gefühl, wir wären den »Machtspielchen« am Arbeitsplatz hilflos ausgeliefert und Spielball einer Dynamik, auf die wir keinen Einfluss hätten.

In kollektiver Hinsicht hat unsere falsche Vorstellung von Macht katastrophale Folgen, weil wir dadurch weniger in der Lage sind, Machtmissbrauch zu erkennen, zu verhindern und zu beenden, wenn er unsere Freiheit und unser Wohlergehen bedroht. Dadurch laufen wir Gefahr – oft ohne es zu merken –, dass eine kleine Gruppe, die nur ihre eigenen Interessen verfolgt, über unser gemeinsames Schicksal bestimmt.

In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele von Tyrannen, die das Leben und die Freiheit anderer missachteten. Dennoch halten sich Diktaturen rund um den Globus und entziehen den Menschen ihre grundlegenden Rechte. Und selbst in Demokratien sind hart erkämpfte Freiheiten gefährdet, weil stets das Risiko besteht, dass sich früher oder später die Macht in den Händen einiger weniger konzentriert, die dann ihre Privilegien erbittert verteidigen.

So hartnäckig sich diese Trugschlüsse auch halten und so schwerwiegend ihre Folgen sein können, wir wissen aus unserer Forschung und Erfahrung, dass die wahre Dynamik der Macht erlernt werden kann. Ob man nun dem Bösen widerstehen oder Gutes tun will, man muss die Funktionsweise von Macht verstehen und begreifen, was es braucht, Macht zu erlangen und auszuüben. Weil wir dieses Wissen vermitteln wollen, haben wir unser Buch geschrieben: Wir möchten aufzeigen, wie man diese Dynamik entschlüsselt, damit Sie besser in der Lage sind, Ihre Ziele in Ihren Beziehungen, am Arbeitsplatz, in Ihren Gemeinschaften und in der Gesellschaft an sich mit all Ihrer Energie zu verfolgen.

DIE SCHLÜSSEL ZUM VERSTÄNDNIS VON MACHT

Am Ende unseres Seminars fordern wir die Studierenden auf, sich an Momente zu erinnern, in denen sie sich der Macht anderer hilflos ausgeliefert fühlten, und diese Situationen mithilfe des Gelernten zu analysieren. Sie erzählen vom Schock einer unerwarteten Entlassung, von der Enttäuschung, wenn man für ein Amt kandidiert und wegen einiger weniger fehlenden Stimmen scheitert, und von der Überraschung, etwas nicht durchsetzen zu können, obwohl scheinbar alle dafür waren. Diese Situationen waren für unsere Studierenden nicht nur schmerzlich, sondern gaben ihnen auch Rätsel auf. Oder wie es ein Student formulierte, der aus heiterem Himmel seinen Job verlor: »Ich hatte das Gefühl, ich würde in einem Film mitspielen, ohne die Handlung zu verstehen.« Wenn wir im Laufe des Seminars die drei Trugschlüsse im Zusammenhang mit Macht darlegen, können wir beobachten, wie die Studierenden diese »Handlung« allmählich nachvollziehen. Am Ende erkennen sie, wie sie bestimmte Situationen falsch deuteten, wie sie ihre Energie auf den falschen Chef oder Politiker konzentrierten oder welche Kräfte dafür sorgten, dass sie das Gefühl hatten, irgendwie festzustecken. Kurz gesagt, sehen sie Macht so, wie sie tatsächlich ist. Dieses Verständnis wollen wir auch Ihnen vermitteln.

Die Dynamik der Macht zu begreifen, hilft Ihnen, nicht nur Ihre persönlichen Ziele zu verfolgen, sondern auch unsere kollektive Zukunft effektiv mitzugestalten. Individuelle und kollektive Macht sind untrennbar miteinander verbunden. Die Macht, die wir in unserem persönlichen Leben ausüben, ob bei der Arbeit oder zu Hause, ist eng mit dem politischen System verflochten, in dem wir leben, mit dem Wirtschaftssystem, das uns Möglichkeiten bietet, uns aber auch einschränkt, und mit den ökologischen und biologischen Systemen in unserer Umwelt mit all den Launen und Gesetzen der Natur. Die Machtverteilung in unserer Gesellschaft wirkt sich immer auch auf unsere eigene Macht aus, daher wäre es dumm zu glauben, wir könnten unsere individuellen Ziele unabhängig davon verfolgen.

Wenn wir die Mechanismen der Macht in unserem Leben verstehen, werden wir feststellen, dass Macht- und Ohnmachtsgefühle mit ihren psychischen Manifestationen und Konsequenzen sehr real und wichtig sind. Doch eine Analyse der Macht darf sich nicht auf das eigene Denken und Fühlen beschränken, sondern muss immer auch die Menschen in unserem Umfeld berücksichtigen: wer sie sind, in welcher Beziehung wir zu ihnen stehen, welche Beziehungen untereinander existieren und in welchen größeren Kontext diese Beziehungen eingebettet sind.

Entsprechend werden wir die Dynamik der Macht in Organisationen und in der Gesellschaft allgemein sowie in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen untersuchen. Dabei stützen wir uns auf Erkenntnisse aus unserer eigenen Forschung, bei der wir Macht auf allen drei Ebenen untersuchten, sowie auf die Ergebnisse anderer Disziplinen wie Soziologie, Sozial- und Evolutionspsychologie, Management, Politikwissenschaft, Wirtschaft, Recht, Geschichte und Philosophie. Aufbauend auf diesem Wissensfundus werden wir Ihnen – Schicht für Schicht – die vielen Facetten der Macht und ihre Erscheinungsformen in der Vergangenheit und in unserem heutigen Leben aufzeigen.

Als Frauen und Wissenschaftlerinnen mit internationalem Background – Julie stammt ursprünglich aus Frankreich und hat heute die französische und US-amerikanische Staatsbürgerschaft; Tiziana wuchs in Italien auf, lebte viele Jahre in den USA und machte dann Kanada zu ihrer Heimat – ist uns bewusst, dass die Art und Weise, wie Macht sich manifestiert und wahrgenommen wird, nicht nur im Laufe der Zeit stark variiert, sondern auch je nach Kultur, Geschlecht, Herkunft und sozialem Hintergrund. Um diese Variationen und ihre Auswirkungen zu verstehen, die weit über unsere eigenen Erfahrungen hinausgehen, haben wir mehr als hundert Interviews mit Menschen auf fünf Kontinenten geführt, die faszinierende und unterschiedliche Wege zur Macht beschritten oder Macht erlebt haben, darunter eine brasilianische Ärztin, die zur Sozialunternehmerin wurde, eine polnische Holocaustüberlebende, ein afroamerikanischer Bürgerrechtler, ein Polizist aus Bangladesch, ein kanadischer Investmentbanker, eine weltberühmte italienische Modedesignerin und eine nigerianische Aktivistin.

Sie werden deren Stimmen im gesamten Buch wiederfinden. Ihre Geschichten werden Ihnen helfen, die Funktionsweise von Macht zu erkennen und zu verstehen, und Ihnen zeigen, was nötig ist, um Macht zu nutzen und wirkungsvoll einzusetzen.

DIE REISE BEGINNT

Vor über 500 Jahren schrieb Niccolò Machiavelli sein Traktat Der Fürst, ein wegweisendes Werk, das auch heute noch von Menschen in Machtpositionen und jenen gelesen wird, die ihnen nacheifern.2 Für dieses Publikum schrieb Machiavelli sein Buch, und hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zwischen unserem Buch und Werken wie Der Fürst: Wir schreiben nicht ausschließlich für und über mächtige Menschen. Unser Buch ist für alle gedacht, auch für Gruppen, denen in der Vergangenheit und selbst heute noch der Zugang zur Macht verwehrt wird. Dass ihnen die Macht so lange verwehrt blieb, heißt nicht, dass sie keine Macht haben können. Macht kann für alle da sein.

Wie wir noch zeigen werden, gibt es Elemente, die in jeder Situation verdeutlichen, wer mehr Macht hat und wer weniger. Wenn Sie diese Elemente kennen, ist das wie ein Infrarotsichtgerät, mit dem Sie im Dunkeln sehen können: Sie werden in der Lage sein, die Machtverhältnisse in Ihrer Umgebung zu durchschauen, bei Ihnen zu Hause, bei der Arbeit und im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem sich Ihr Leben bewegt. Nachdem wir Ihnen diese Grundlagen der Macht vorgestellt haben, nimmt Sie unser Buch mit auf eine Reise, die von der zwischenmenschlichen über die organisatorische bis zur gesellschaftlichen Ebene führt, und gibt Ihnen einen Einblick, wie Macht unser Leben prägt. Im Verlauf der Kapitel wird die Perspektive erweitert und vertieft, um Ihnen aufzuzeigen, wie Ihre eigene Macht mit den größeren Kräften in Ihrem Umfeld zusammenhängt.

Dieser Weg lässt sich am besten so beschreiten, wie wir ihn für Sie angelegt haben, vom Anfang bis zum Ende, denn jede neue Erkenntnis über Macht baut auf den vorangegangenen Erkenntnissen auf. Beginnen Sie mit den Grundlagen der Macht im ersten Kapitel, in dem Sie feststellen werden, dass die Fähigkeit, andere zu beeinflussen, darauf beruht, Kontrolle über die Ressourcen auszuüben, die andere Menschen schätzen. Ausgestattet mit dieser zentralen Erkenntnis entlarven wir in den Kapiteln 1 und 2 drei verhängnisvolle Irrtümer über Macht und verschaffen Ihnen eine solide Grundlage für Ihren eigenen Umgang mit Macht. Wenn man Macht auf ihre elementaren Bestandteile herunterbricht, hängt die Analyse, wer sie ausübt und warum, von der Antwort auf zwei Fragen ab. Sie haben richtig gelesen, nur zwei Fragen: Was schätzen andere Menschen? Und wer kontrolliert den Zugang zu diesen geschätzten Ressourcen?

Die beiden folgenden Kapitel helfen Ihnen bei der Beantwortung dieser Fragen. In Kapitel 3 wird zusammengefasst, was die umfangreiche Literatur über die Triebkräfte menschlichen Verhaltens uns darüber sagt, was Menschen schätzen, während Kapitel 4 Werkzeuge aufzeigt, mit denen Sie die Machtverteilung in Ihrem Umfeld erfassen können. Sie werden dann erkennen, dass diese Verteilung nicht in einem Vakuum stattfindet; sie wird von Machthierarchien beeinflusst; akzeptierten Ordnungen, wer über mehr und wer über weniger Macht in der Gesellschaft verfügt. Wie wir in Kapitel 5 zeigen, halten sich Hierarchien, die einigen Menschen Macht geben und andere einschränken, oft hartnäckig und sind nur schwer zu durchbrechen. Aber hartnäckig heißt nicht ewig, und Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Frage, was nötig ist, um Machthierarchien durch kollektives Handeln aufzubrechen, durch Agitation, Innovation und eine gezielte Orchestrierung des Wandels. Neue digitale Technologien haben das Potenzial, diese Form des kollektiven Handelns zu erleichtern, aber auch zu behindern. Streng überwacht und klug eingesetzt kann die Informationstechnologie, wie Kapitel 7 zeigt, denjenigen, die von der Macht ausgeschlossen waren, Zugang zu Ressourcen verschaffen, die ihnen bislang verwehrt geblieben sind. Bleibt die Informationstechnologie jedoch unkontrolliert, kann sie zu einer immer größeren Machtkonzentration führen. Wie Macht ist auch Technologie an sich weder gut noch schlecht; es kommt immer darauf an, wie und zu welchem Zweck sie eingesetzt wird.

Kapitel 8 ist der letzte Halt auf unserer Reise, und aufgrund der Dringlichkeit des Themas von besonderer Bedeutung. Wir erklären darin, wie man Macht in unseren Organisationen und in der Gesellschaft in Schach halten kann, mit Mechanismen, die eine übermäßige Konzentration verhindern und dafür sorgen, dass ihre Hüter zur Verantwortung gezogen werden können, falls sie versuchen, unsere Rechte und Freiheiten einzuschränken. Der Schluss bietet einen Ausblick in die Zukunft. Angesichts der multidimensionalen Krisen, mit denen wir derzeit konfrontiert sind, und in dem Bestreben, ein neues Morgen zu schaffen, kehren wir zu den beiden Schlüsselfragen über die Grundlagen der Macht zurück und überlegen, wie wir Macht verteilen wollen, um diese Krisen zu bewältigen. Was werden wir schätzen? Und wer wird diese geschätzten Ressourcen kontrollieren?

Dieses Buch ist so angelegt, dass es den persönlichen und gesellschaftlichen Bereich umfasst, unser Berufsleben und die Gemeinschaft, die kleine Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen und die große Dynamik wirtschaftlichen und politischen Handelns. Wenn Macht ein sinnvoller und produktiver Teil Ihres Lebens sein soll, müssen Sie all diese Ebenen beherrschen, ganz gleich, ob Sie beruflich noch am Anfang Ihrer Laufbahn stehen, als Aktivist die Welt mit ihrem Engagement ein Stückchen besser machen wollen oder sich als Führungskraft im mittleren Management eingeengt fühlen aufgrund bürokratischer Zwänge, die umgestaltet werden müssten, ob Sie an vorderster Front für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen oder eine einflussreiche Führungspersönlichkeit sind, die vergessen – oder nie gelernt hat –, wie man andere ermächtigt, und die daher Nachhilfe in Sachen Machtausübung und -verteilung benötigt. Die Verknüpfung all dieser Ebenen zu einer umfassenden, integrierten Sichtweise von Macht kann Sie, egal wer Sie sind, in die Lage versetzen, die Kontrolle über Ihr Leben zu übernehmen, den von Ihnen angestrebten Einfluss auszuüben und als aufgeklärte Bürgerin oder aufgeklärter Bürger zu handeln.

Unsere Gesellschaften haben in ihrer Geschichte einen langen Weg zurückgelegt, in dessen Verlauf immer mehr Menschen die Möglichkeit erhielten, ein gutes Leben zu führen, ihre Ziele zu verfolgen und andere darin zu unterstützen, das auch zu tun. Über Jahrtausende musste die große Mehrheit die Willkür und Missachtung autoritärer Herrscher ertragen, die sich in ihren Entscheidungen von ihren eigenen Interessen und Wünschen leiten ließen. Heute leben viele von uns in Demokratien, in denen wir unsere Meinung bei Wahlen zum Ausdruck bringen und selbst entscheiden können, wie wir leben wollen. Diese Fortschritte haben wir dem unermüdlichen Engagement von Menschen zu verdanken – einige berühmt, die meisten namenlos –, die für eine gerechtere Welt eintraten und neue Ideen formulierten, selbst wenn diese manchen zu radikal waren. Doch das Auf und Ab der Geschichte hat auch tiefe Gräben hinterlassen, und in einigen Ländern halten sich Autokraten hartnäckig an der Macht. Auch Demokratien schaffen es nicht immer, allen gleich viel Mitspracherecht einzuräumen, und weltweit sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nach wie vor allgegenwärtig.

Wenn wir als Spezies überleben und gedeihen und in Harmonie miteinander und mit unserer Umwelt leben wollen, müssen wir die Arbeit früherer Generationen fortsetzen und weiter für eine gerechtere Machtverteilung kämpfen. Dieses Engagement ist eine moralische Verpflichtung, es ist aber auch in unserem eigenen Interesse, denn nur so können wir eine übermäßige Machtkonzentration vermeiden und unsere individuellen und kollektiven Freiheiten bewahren. Zum Glück müssen wir nicht bei null anfangen. Ganz im Gegenteil: Wie wir in diesem Buch zeigen, haben bewährte Ideen und Lösungen das Potenzial, Macht zugänglich für alle zu machen.

KAPITEL 1 DIE GRUNDLAGEN DER MACHT

Als wir Lia Grimanis 2008 in Toronto trafen, hatte sie einen Motorradhelm unter dem Arm und trug eine pinkfarbene Lederjacke, die zu ihrer pinkfarbenen BMW F650 GS passte. Die erfolgreiche Vertriebsleiterin in der Hightech-Branche war gelinde gesagt eine echte Powerfrau. Doch wir waren nicht gekommen, um mit ihr über Hightech zu sprechen. Lia hatte mit großer Leidenschaft eine Organisation gegründet, die obdachlosen Frauen helfen sollte, die Kontrolle über ihr Leben und ihre Zukunft zurückzugewinnen. Warum diese Leidenschaft? Lia hatte Armut und Obdachlosigkeit am eigenen Leib erfahren und sich die Sicherheit und Stabilität in ihrem Leben selbst erkämpft. Jetzt wollte sie anderen Frauen helfen, es ebenfalls aus eigener Kraft zu schaffen.

Um zu verstehen, wie Lia dieser beachtliche Aufstieg gelungen ist, müssen wir zunächst die Dynamik der Macht näher betrachten – woraus sie besteht und wie sie funktioniert. Wir definieren Macht als die Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen zu beeinflussen, sei es durch Überzeugung oder Zwang.* Aber was bestimmt diese Fähigkeit? Die Antwort ist überraschend einfach: Eine Person erlangt Kontrolle über eine andere Person, indem sie Kontrolle über den Zugang zu Ressourcen hat, die die andere Person schätzt. Diese Kontrolle ist der Schlüssel, um die Dynamik der Macht in jeder beliebigen Situation zu verstehen, ob es nun darum geht, dass Sie die Kontrolle über jemanden haben oder andere die Kontrolle über Sie.

WORAUS BESTEHT MACHT?

Um Macht über jemand anderen zu haben, muss man zunächst über etwas verfügen, das die andere Person schätzt. Alles, was ein Mensch braucht oder haben will, ist eine wertvolle Ressource. Die Ressource kann materieller Natur sein, wie Geld oder sauberes Trinkwasser, fruchtbares Ackerland, ein Haus oder ein schnelles Auto. Oder sie kann psychologischer Natur sein wie beispielsweise Wertschätzung, Zugehörigkeit und Leistung. Und wie wir noch feststellen werden, schließen sich diese materiellen und psychologischen Ressourcen nicht gegenseitig aus.

Was immer Sie zu bieten haben – Fachwissen, Durchhaltevermögen, Geld, eine erfolgreiche Bilanz, Seriosität, Netzwerke –, gibt Ihnen nur dann Macht über andere, wenn diese das auch zulassen. Denken Sie an Eltern, die ihrem Kind einen Keks versprechen, wenn es sein Zimmer aufräumt. Die Kontrolle über den Zugang zur Keksdose nützt wenig, wenn das Kind keine Kekse mag. Darüber hinaus muss die Ressource, die Sie anbieten, etwas sein, das man von anderen nicht so leicht bekommen kann. Gehören Sie zu den wenigen, die diese wertvolle Ressource bieten können? Oder gibt es noch viele andere? Kontrollieren Sie im Grunde den Zugang der anderen Partei zu Ressourcen, die diese schätzt, oder sind diese Ressourcen allgemein verfügbar? Wenn das Kind gern Kekse isst, sie aber jederzeit auch vom gutmütigen Nachbarn bekommen kann, wird das Angebot der Eltern keine große Wirkung zeigen.

Wenn man weiß, was die andere Partei schätzt und ob sie Alternativen hat, an das zu gelangen, was sie schätzt, weiß man auch, wie viel Macht man hat. Doch das genügt nicht, um das Machtgleichgewicht zwischen Ihnen und anderen zu verstehen. Sie müssen auch berücksichtigen, ob die andere Partei über etwas verfügt, das Ihnen wichtig ist, und inwieweit sie Ihren Zugang dazu kontrolliert. Ihre eigene Macht hängt stark davon ab, ob die anderen ihrerseits Macht über Sie haben.

Macht ist stets relativ. Hat die andere Partei in einer bestimmten Situation Macht über Sie, während Sie gleichzeitig Macht über die anderen haben? Wenn ja, besteht eine gegenseitige Abhängigkeit. Dann müssen Sie überlegen, ob das aktuelle Verhältnis ausgeglichen ist, die jeweilige Macht über den anderen also gleich groß oder gleich gering ist; oder, wenn das Verhältnis unausgeglichen ist, ob Sie von der anderen Partei stärker abhängig sind als diese von Ihnen (oder umgekehrt). Macht ist nicht zwangsläufig ein Nullsummenspiel. Das Machtgleichgewicht kann sich im Laufe der Zeit verschieben, und wie Sie sehen werden, muss ein Gewinn auf der einen Seite nicht unbedingt einen Verlust auf der anderen bedeuten. Doch egal, wer Sie sind, wo Sie leben oder welcher Arbeit Sie nachgehen, die grundlegenden Elemente der Macht, die in der folgenden Abbildung dargestellt sind, bleiben unverändert. Um Macht auszuüben, müssen Sie wertvolle Ressourcen anbieten, über die nur Sie die Kontrolle haben (oder die anderweitig zumindest schwer zu bekommen sind). Wie stark Ihr Zugriff auf Macht ist, hängt von Ihren Bedürfnissen ab und von der Kontrolle, die die andere Partei über die Dinge hat, die Sie schätzen. Zur besseren Veranschaulichung dieser Grundlagen wenden wir uns wieder Lias Geschichte zu.

Die Grundlagen der Macht in einer sozialen Beziehung

VON DER MACHTLOSIGKEIT ZUR ERMÄCHTIGUNG ANDERER

Mit sechzehn war Lia obdachlos. Sie war von zu Hause weggelaufen, weil ihr dort nach dem Tod ihrer Großmutter, der Matriarchin der Familie, Gewalt angetan wurde. Die Obdachlosigkeit mit all ihren Gefahren war für Lia besonders schwer zu bewältigen, weil sie Autistin ist (die Diagnose wurde erst später gestellt) und sich ihr Autismus in der Unfähigkeit äußert, Mimik zu deuten und soziale Signale zu interpretieren. »Das ist wie ein blinder Fleck«, erklärte sie bei unserem Gespräch. »Man sieht den Zug erst kommen, wenn man von ihm überfahren wird.« Nach Übernachtungen bei Bekannten und weniger Bekannten und einer traumatischen Missbrauchserfahrung landete sie schließlich in einem Frauenhaus. Sie war damals erst neunzehn, glaubte jedoch nicht, dass sie mit einundzwanzig noch leben würde. »Eine Zeit lang«, erzählt sie, »fragte ich mich nur: Soll ich weiterleben? Oder sterben?«3 Sie hatte den Eindruck, dass die Frauen, die die Unterkunft verließen, immer wieder zurückkamen. Sie sah kein Anzeichen dafür, dass Obdachlosigkeit etwas anderes als eine Sackgasse war, es gab keine Vorbilder, die ihr Grund zur Hoffnung gegeben hätten, dass ihr Leben etwas anderes sein würde als ein ständiger Kampf.

Lia fand die Motivation für ihr Leben schließlich darin, dieses Vorbild für andere zu sein. Sie schwor sich, sie würde die Obdachlosenunterkunft verlassen und mit einer Geschichte zurückkehren, die andere Frauen, die wie sie durchs Raster gefallen waren, inspirieren würde. Nach zehn Jahren finanzieller Nöte und Gelegenheitsjobs – unter anderem fuhr sie vier Jahre lang tagein, tagaus, bei Regen oder Sonne, eine Rikscha durch die Straßen von Toronto – lernte Lia zufällig einen Mann kennen, »der mit dem Verkauf von Software 900000 Dollar gemacht hatte«.4 Sie beschloss, dass sie das auch machen wollte, also bewarb sie sich auf jede Stelle im Softwarevertrieb, die sie finden konnte, auch wenn dafür immer ein Bachelor- oder noch besser ein Masterabschluss verlangt wurde. Bei den vielen Absagen war ihr Autismus ausnahmsweise von Vorteil, wie sie sich erinnert: »Wenn man nicht deuten kann, was die Leute denken, dann kommt man auch nicht auf die Idee, verlegen zu sein oder an sich selbst zu zweifeln. Ich hatte keine Ahnung, dass mir diese Leute leise und höflich mitteilten, so einen Job könne ich vergessen, also bewarb ich mich immer wieder. Und schließlich muss irgendjemand mürbe geworden sein, denn ich bekam eine Chance.«5

Von da an schuftete Lia wie eine Wahnsinnige, angetrieben von ihrem Schwur beim Verlassen der Obdachlosenunterkunft. Einige Jahre später brachte sie ihrer Firma so viel Geld ein, dass das Unternehmen nicht zögerte, einen Coach für sie anzuheuern und 500 Dollar pro Stunde in ihre berufliche Weiterentwicklung zu investieren. Das Coaching war eine Offenbarung, und als Lia darüber nachdachte, wie wertvoll ein Coach für sie gewesen wäre, um von der Straße wegzukommen, war die Idee für »Up With Women« geboren: Sie wollte eine Hilfsorganisation gründen, die obdachlosen Frauen ein ähnlich intensives, persönliches Coaching bot. Dafür musste sie jedoch zertifizierte Coaches6 davon überzeugen, ihre Dienste ein Jahr lang unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, und das bedeutete, wie Lia schnell klar wurde, ihnen etwas anzubieten, das sie schätzten. Lias erste kleine Gruppe von Coaches wurde von denselben Dingen angezogen, die auch heute noch die Freiwilligen und Unterstützer von Up With Women anziehen: von Lia selbst – ihrer Leidenschaft und Entschlossenheit sowie von ihrer beeindruckenden Geschichte mit ihren überwundenen Traumata, ihrem Überleben und Erfolg – und der Wirkung ihrer Mission in Form einer Hilfsorganisation, in deren Mittelpunkt das Coaching steht. Während andere Organisationen Coaching als zusätzliches Angebot betrachten, sind bei Up With Women die Coaches der Schlüssel, und Lia versprach ihnen, dass ihre Arbeit das Leben vieler Betroffener verändern könnte.

Am Anfang hatten jedoch alle zu kämpfen. Die Coaches waren an die Arbeit mit Führungskräften gewohnt und verfügten weder über die Mittel noch die Erfahrung, um eine Verbindung zu den häufig traumatisierten Frauen aufzubauen, die bisher oft ausgegrenzt worden waren. Zudem hatte Lia noch nicht herausgefunden, wie sie jene Kandidatinnen identifizieren sollte, die bereit wären, ein Coaching in Anspruch zu nehmen und auch einen Nutzen daraus zu ziehen. Das hatte zur Folge, dass die Klientinnen das Coaching nicht hilfreich fanden, und die Coaches trotz ihres aufrichtigen Wunsches zu helfen nicht die Wirkung feststellen konnten, die Lia ihnen versprochen hatte. Daher war es in »den ersten Jahren wirklich schwer, [Coaches] zu rekrutieren«, erzählte sie uns. »Furchtbar schwer.«7

Auch die Finanzierung war ein Problem. Nachdem Lia 2012 bei ihrer Firma gekündigt hatte, um sich ganz auf Up With Women zu konzentrieren, waren schon bald ihre privaten Ersparnisse aufgebraucht, die sie in die Hilfsorganisation gesteckt hatte. Und ohne eine ausreichende Anzahl von Coaches, Klientinnen und positiven Resultaten konnte sie keine neuen Sponsoren finden. »Ich sah zu, wie die letzten 5000 Dollar auf meinem Konto wegschmolzen, und sagte der Leitung der Obdachlosenunterkunft, sie müssten womöglich bald einen Platz für mich suchen! Ich dachte wirklich, ich säße demnächst wieder auf der Straße. Ich ging pleite, um Up With Women zu retten.« Doch die Jahre, in denen Lia eine Rikscha gezogen hatte, oft mit bis zu acht Personen besetzt, hatten sie »wahnsinnig stark« gemacht. Und so fand sie eine Lösung, Up With Women zu retten, auf die sonst niemand gekommen wäre: Sie errang zwei Rekorde für die Guinness World Records, den einen als Frau für das »Ziehen des schwersten Fahrzeugs über eine Distanz von 100 Fuß« und den anderen für das »Ziehen des schwersten Fahrzeugs in High Heels«. Die Publicity und die Aufmerksamkeit der Medien lockten weitere Unterstützer und Kooperationspartner an und die Spenden begannen zu fließen. Zusätzlich vermittelte Lia mit ihrer Leistung den betroffenen Frauen eine starke Botschaft: »Ihr seid stärker, als ihr glaubt.«8

Lia musste immer noch einen Weg finden, den Coaches das zu geben, was sie brauchten und wollten, um weiter »am Ball« zu bleiben. Und obwohl sie selbst gecoacht worden war, wusste sie sehr wenig über den Coaching-Prozess oder darüber, was die Beziehung zwischen einem Coach und seinen Schützlingen aus Coach-Perspektive erfolgreich machte. Doch glücklicherweise gab es drei Coaches, die sich der Vision verpflichtet fühlten und ihr helfen wollten zu lernen und andere Coaches zu rekrutieren. Sie erarbeiteten ein effektives Programm und machten sich dann daran, das Programm zusammen mit Lia umzusetzen. Dazu gehörte beispielsweise auch, den angehenden Coaches die speziellen Fähigkeiten zu vermitteln, die für diese äußerst schwierige Klientel erforderlich waren, wie etwa Kenntnisse im Coaching von Traumatisierten, über die die meisten Freiwilligen kaum oder gar nicht verfügten. Für die potenziellen Klientinnen wurden Kriterien entwickelt, um zu erkennen, wer tatsächlich bereit war, den nächsten Schritt zu machen. So lautete etwa ein Kriterium, sich auf Frauen zu konzentrieren, die ihre Obdachlosigkeit seit kurzer Zeit hinter sich gelassen hatten und nun aktiv versuchten, wieder Fuß zu fassen. Mit diesem neuen Ansatz besuchte Lia Unterkünfte, um Empfehlungen von den dortigen Mitarbeitern einzuholen, die die potenziellen Kandidatinnen am besten kannten.

Up With Women entwickelte sich schon bald prächtig, genauso wie die Coaches und ihre Klientinnen. Mithilfe der Coaches lernten die Frauen, sich zu motivieren, ihre Stärken zu entdecken und selbst aktiv zu werden. Die Coaches eigneten sich nicht nur neue Fähigkeiten an, sondern wurden zu aktiven Partnern in einer Lerngemeinschaft, die sie so noch nie erlebt hatten. Oder wie es einer von ihnen formulierte: »Diese Klientel fordert einen Coach so richtig, er muss seine ganze Bandbreite an Fähigkeiten einsetzen, sein Hirn und Herz.« Im Gespräch mit anderen Coaches erfuhr Lia, dass auch sie die Möglichkeit schätzten, sich beruflich in einer Gemeinschaft gleichgesinnter Kollegen weiterzuentwickeln, mit denen sie sich austauschen und von denen sie lernen konnten. Mit regelmäßigen Coach-Meetings und Mentoring schuf sie Möglichkeiten zum gegenseitigen Austausch und gab allen das Gefühl, dazuzugehören und ihre Aufgabe zu meistern. Außerdem engagierte sie Evaluationsexperten, die Maßstäbe für das Coaching entwickelten, damit die Coaches messbare Resultate ihrer Arbeit hatten – Anforderungen, die in der Unternehmenswelt nicht üblich sind, da beim Coaching von Führungskräften nur selten eine systematische Bewertung der Rentabilität vorgenommen wird.9 Doch das, was den Coaches am meisten bedeutete, ließ sich nicht in Zahlen ausdrücken. Oder wie es einer von ihnen formulierte: »Es ist eine Sache, wenn man sieht, wie eine Führungskraft in einem Unternehmen befördert wird; aber es ist etwas ganz anderes, wenn man mitbekommt, wie eine Frau, die ganz unten war, plötzlich wieder aufblüht. Wie soll man das messen?!«

Lia – die bei ihrem Vorhaben völlig auf die Coaches angewiesen war – hatte endlich herausgefunden, was die Coaches am meisten schätzten: inspirierende Ziele, eine transformative Wirkung, Lernen auf mehreren Ebenen und die Gemeinschaft mit gleichgesinnten Kollegen. Im Lauf der Zeit machte sie Up With Women zu einem Ort, an dem die Coaches die von ihnen geschätzten Ressourcen fanden, wodurch die Organisation für sie unersetzlich wurde. Kein Wunder, dass man nirgends eine loyalere Freiwilligentruppe fand. Indem Lia erkannt hatte, was die Coaches brauchten und wollten, und ihnen Zugang zu diesen Ressourcen bot, schuf sie eine neue Ebene der gegenseitigen Abhängigkeit in ihrem Verhältnis zu den Coaches. Man könnte argumentieren, dass das Verhältnis immer noch unausgeglichen war – schließlich konnte Lia ohne die Coaches nicht das Programm anbieten, das sie sich vorstellte. Doch sie hatte nun eine gewisse Macht. Allerdings nutzte sie diese nicht, um die Coaches zu etwas zu zwingen; sie nutzte ihre Macht, um die Coaches in die Lage zu versetzen, den Frauen zu helfen. Lia hatte die Art von Machtverhältnis entwickelt, das die wegweisende Sozialwissenschaftlerin Mary Parker Follett als »Macht durch« bezeichnete, als eine »gemeinsam entwickelte Macht«, die dazu genutzt wird »jede menschliche Seele zu bereichern und zu fördern«.10

Wir haben bewusst nicht Cäsar oder Napoleon als erstes Beispiel bei unserer Reise zu einem besseren Verständnis von Macht gewählt. Da wir Ihnen helfen wollen, Macht mit neuen Augen zu sehen, haben wir Sie an einen Ort geführt, an dem Menschen selten nach Macht suchen: eine Unterkunft für obdachlose Frauen. Kann man Lia als mächtig bezeichnen? Unbedingt! Sie schaffte es allen Widrigkeiten zum Trotz, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und konnte noch dazu Macht für ihre Zwecke einspannen, um Coaches zu überzeugen, für Up With Women zu arbeiten und Frauen zu helfen, ihr Leben und ihre berufliche Laufbahn neu aufzubauen. Doch Lia errang nicht nur für sich selbst Macht, was an sich schon eine Leistung ist, wenn man nicht in eine Position der Macht hineingeboren wurde, sondern sie nutzte die Macht auch, um andere zu ermächtigen. Ihr Werdegang ist ein perfektes Beispiel für einen Rat, den die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ihren Studierenden gegeben hat: »Wenn ihr Macht habt, besteht eure Aufgabe darin, andere zu ermächtigen.«11

MACHTAUSGLEICH

Lias Geschichte zeigt, wie die grundlegenden Elemente der Macht zusammenspielen und wie sie im Lauf der Zeit ausgeglichen werden können. So wie es vier Elemente gibt, die in jeder Beziehung die Machtverteilung zwischen zwei Parteien definieren – die jeweiligen Ressourcen, die jede Partei schätzt, und die Frage, ob es Alternativen gibt, an diese geschätzten Ressourcen zu kommen –, gibt es auch vier Strategien, um das Machtgleichgewicht zu verschieben: Anziehung, Konsolidierung, Expansion und Rückzug, wie in der Abbildung dargestellt.12 Diese Strategien werden heute noch genauso angewandt wie in der Antike und sind für alle Arten von Beziehungen relevant – in der Familie, gegenüber Freunden und Kollegen, aber auch in Beziehungen zwischen Organisationen, Unternehmen und Staaten. Zur besseren Veranschaulichung werfen wir einen Blick auf die Diamantenindustrie und analysieren an ihrem Beispiel die jeweiligen Strategien. Wir beginnen mit der Strategie der Anziehung, mit der die Werbeagentur N. W. Ayer Generationen angehender Bräute und Bräutigame überzeugte, dass funkelnde Edelsteine viel wichtiger sind, als sie bisher gedacht hatten.

Vier Wege zur Verschiebung des Machtgleichgewichts

1938 ebbte die Weltwirtschaftskrise allmählich ab, allerdings rückte ein Krieg bedrohlich näher, da die Welt tatenlos zusah, wie Hitler Österreich dem Deutschen Reich einverleibte. Viele Familien hatten immer noch zu kämpfen, um über die Runden zu kommen. An Diamanten dachte damals kaum jemand; nur 10 Prozent der Verlobungsringe waren mit Diamanten geschmückt.13 Das beunruhigte Harry Oppenheimer, den südafrikanischen Vorsitzenden der Minengesellschaft De Beers Consolidated Mines Ltd., dem größten Diamantenproduzenten und -händler der Welt, genauso wie seine Bankiers. Sie drängten Oppenheimer, nach einer Möglichkeit zur Steigerung der Nachfrage zu suchen, um den Preis nach oben zu treiben und De Beers mehr Gewinne zu bescheren.

In der Hoffnung, dass Werbung Abhilfe schaffen könnte, reiste Oppenheimer nach New York und traf sich mit den Führungskräften von Ayer.14 Die Agentur meisterte die Herausforderung mit Bravour: Die Kernelemente der von ihr entwickelten Kampagne – Diamanten mit ewiger Liebe, Erfolg und Ehe zu verknüpfen – zeigen auch heute noch Wirkung. Ayer schaltete Anzeigen mit Filmidolen und Prominenten, um die Edelsteine zu bewerben und den legendären Slogan der Kampagne bekannt zu machen: »A Diamond is forever« (»Ein Diamant ist unvergänglich«). Nicht einmal drei Jahre später war der Absatz von Diamanten in den USA um 55 Prozent gestiegen.15 1990 zierten Diamanten 80 Prozent aller Verlobungsringe.16

Vertriebs- und Marketingexperten sind vielleicht besonders geschickt darin, Anziehungskraft als Strategie einzusetzen, doch sie sind damit nicht allein. Anziehungskraft – oder die Steigerung des Wertes einer Ressource in den Augen anderer – ist eine der am häufigsten eingesetzten Strategien zur Herstellung eines Machtgleichgewichts. Denken wir an Lia: Das Versprechen einer transformativen Wirkung in Verbindung mit der Aussicht, ihre beruflichen Qualifikationen zu verbessern und ihre Netzwerke auszubauen, machte für die Coaches die Anziehungskraft von Up With Women aus und hielt sie bei der Stange.

Die Strategie der Anziehung kann sich sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf die Realität stützen. Der Einfluss von Lias Coaches auf das Leben ihrer Klientinnen ist real: Die Frauen können sich aus der Armut befreien, ihren Kindern ein stabiles Zuhause bieten und etwas für ihr berufliches Vorankommen tun – das sind konkrete Veränderungen. Doch der Wert eines Diamanten ist stark von der Wahrnehmung abhängig. Psychologen haben gezeigt, wie man die Wertwahrnehmung einer Ressource mit einfachen Mitteln verändern kann.17 Das gilt auch, wenn der Wert einer Ressource problemlos einzuschätzen ist. Diamanten sind dafür ein gutes Beispiel: Schliff, Farbe, Reinheit und Karat bestimmen ihre Qualität. Dennoch ergab eine Untersuchung von 1,5 Millionen Ebay-Transaktionen, dass für Diamantringe von genau gleicher Qualität niedrigere Gebote abgegeben wurden, wenn der Verkäufer einen »belastenden« Grund für den Verkauf nannte, etwa eine Verlobte, die ihn betrogen hatte, im Vergleich zu einem »positiven« Grund wie das Vermächtnis einer glücklich verheirateten Tante.18

Unabhängig davon, ob es sich um einen realen oder einen wahrgenommenen Wert handelt, kann die Erhöhung des Wertes, den jemand in einer von Ihnen angebotenen Ressource sieht, eine wichtige Strategie sein, um das Machtgleichgewicht zu Ihren Gunsten zu verschieben.

Doch selbst eine attraktive Ressource verleiht Ihnen nur wenig Macht, wenn sie für viele verfügbar ist. In diesem Fall können Sie die Abhängigkeit der anderen Partei erhöhen, indem Sie die Zahl der verfügbaren Alternativen verringern. Dafür ist ein Zusammenschluss mit den anderen Anbietern der Ressource erforderlich. Kartelle sind ein Beispiel für diese Konsolidierungsstrategie, die darauf abzielt, die Zahl der Anbieter einer Ressource zu verringern. Auf diese Weise hat die OPEC seit ihrer Gründung in den 1960er-Jahren die Macht der ölexportierenden Länder gesteigert.

Eine der extremsten und bekanntesten Formen dieser Strategie sind Monopole. Das Wort »Monopol« leitet sich von den beiden altgriechischen Begriffen monos (»allein«) und pōlein (»verkaufen«) ab. Oder anders ausgedrückt: »Ich bin der einzige Verkäufer.« Wenn ein Unternehmen, um die Konkurrenz auszuschalten, andere Unternehmen aufkauft, die dieselbe Ressource anbieten, nutzt es die Konsolidierungsstrategie, um seine Marktmacht zu vergrößern. Aus diesem Grund sind Kartellgesetze so wichtig: Sie verhindern, dass Unternehmen zu viel Macht auf sich konzentrieren. Doch unabhängig davon, ob eine Konsolidierung freiwillig oder unter Zwang erfolgt, verlagert sich dabei das Machtgleichgewicht zugunsten der Anbieter, die sich zusammentun, um die für die andere Partei verfügbaren Alternativen zu reduzieren.

Das war auch bei De Beers der Fall. Das Diamantenunternehmen verfolgte über Jahrzehnte eine Konsolidierungsstrategie, um das weltweite Angebot an Rohdiamanten zu kontrollieren. Um seine Macht über die Anbieter auszubauen, schuf De Beers eine zentrale Verkaufsorganisation, die sogenannte Central Selling Organization, die Exklusivverträge mit ausgewählten Diamantenhändlern abschloss. Gleichzeitig erhöhte De Beers mit der Gründung eines exklusiven Klubs für die führenden Diamantenkäufer der Welt auch die Macht über seine Kunden. In den 1980er-Jahren kontrollierte De Beers 80 Prozent der weltweit gehandelten Rohdiamanten.19 Wer mit Diamanten handeln wollte, hatte fast keine andere Wahl, als sich für De Beers zu entscheiden.

Obwohl sich Gewerkschaften deutlich von Monopolen und Quasimonopolen wie De Beers unterscheiden, nutzen auch sie die Konsolidierung. Wie viel Macht hat ein einzelner Arbeitnehmer in seinem Verhältnis zum Unternehmen? Solange das Unternehmen seine Arbeit benötigt, um Güter oder Dienstleistungen anzubieten, und er durch Rechte und Gesetze geschützt ist, hat er natürlich eine gewisse Macht. Doch diese Macht ist begrenzt, da das Unternehmen wahrscheinlich einen Ersatz im eigenen Unternehmen oder auf dem Arbeitsmarkt finden könnte. Dadurch entsteht eine Machtasymmetrie, die noch größer wird, wenn es viele verfügbare Arbeitskräfte gibt, die die Arbeit verrichten können und nach einer Stelle suchen. Aufgrund derartiger Asymmetrien ist es schwierig für Arbeitnehmer, ihre Rechte durchzusetzen. Deshalb wurden Gewerkschaften gegründet. Im Englischen leitet sich der Begriff union für »Gewerkschaft« vom lateinischen unus für »eins« ab und erinnert daran, dass Arbeiter durch den Zusammenschluss als Einheit auftreten und so ihre Arbeitgeber davon abhalten können, sie bei Unstimmigkeiten über die Arbeitsbedingungen einfach durch andere Arbeitskräfte zu ersetzen.

Während es bei der Anziehung und Konsolidierung darum geht, die Abhängigkeit der anderen Partei zu erhöhen, bieten Expansion und Rückzug die Möglichkeit, das Machtverhältnis auszugleichen, indem man die Abhängigkeit der einen Partei von der anderen reduziert. Entsprechend kann man sich Rückzug als Gegenbewegung zur Anziehung vorstellen und Expansion als Gegenbewegung zur Konsolidierung.

Zum Rückzug gehört, dass man sich von der Ressource abwendet, die die andere Partei zu bieten hat, und kein großes Interesse daran zeigt. Vor dieser Herausforderung standen auch De Beers und die anderen Diamantenverkäufer zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als die Diamantenbegeisterung der Verbraucher nachließ. Da die Zahl der Eheschließungen sinkt und sich das Verhältnis der Geschlechter weiterentwickelt hat, werden traditionelle Heiratsrituale infrage gestellt. Darüber hinaus hat der Wettbewerb bei Luxusgütern, von Reisen über Handtaschen bis zur Elektronik, in den vergangenen Jahrzehnten enorm zugenommen.20 Blutdiamanten – die in Kriegsgebieten geschürft und zur Finanzierung gewalttätiger Konflikte genutzt werden – haben den einst makellosen Ruf der Diamanten als Symbol der ewigen Liebe beschmutzt. All diese gesellschaftlichen Trends haben die Macht von De Beers und allgemein der Diamantenindustrie geschmälert; einige Analysten gehen von einem Absatzrückgang von bis zu 60 Prozent in den Jahren 2000 bis 2019 aus.21

Doch die Macht von De Beers war bereits vor den Auswirkungen dieser Trends geschrumpft, und das so stark, dass der Anteil der Firma am globalen Rohdiamantenhandel 2019 auf etwa 30 Prozent gesunken war.22 Dass sich das Blatt für De Beers derart gewendet hatte, lag unter anderem an einer veränderten Marktsituation aufgrund der strategischen Maßnahmen der anderen Diamantenanbieter und Konkurrenten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 schwächte De Beers’ Partnerschaft mit russischen Diamantenproduzenten, während in Kanada neue Diamantvorkommen erschlossen wurden und Start-up-Unternehmen mithilfe neuer Technologien synthetische Diamanten im Labor herstellten. Die Anbieter konnten nun direkt mit den Kunden in Kontakt treten und Preise aushandeln, und die Kunden hatten mehr Optionen, bei wem sie kaufen wollten, was die Macht von De Beers weiter schwächte. Gleichzeitig war die Firma in einen Antitrustrechtsstreit verwickelt, wodurch sich für Lieferanten und Kunden zusätzliche Alternativen auftaten. Eine derartige Expansion aufseiten der Mitbewerber kann das Machtgleichgewicht nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im normalen Alltag radikal verändern. Denken Sie nur an das Kind, das so gern Kekse isst, und den gutmütigen Nachbarn. Er ist nichts anderes als ein alternativer Anbieter, der den Eltern die Macht entzieht!

Zusammengefasst heißt das: Um die Abhängigkeit anderer zu erhöhen, können Sie versuchen, den Wert einer Ihnen zugänglichen Ressource zu steigern, oder Sie können Ihre Kontrolle über diese Ressource erhöhen, indem Sie zu ihrem einzigen Anbieter werden. Umgekehrt können Sie, um Ihre Abhängigkeit von der anderen Partei zu verringern, versuchen, den Wert zu mindern, den Sie der von der anderen Partei kontrollierten Ressource beimessen, oder Sie versuchen, deren Kontrolle über die Ressource zu verringern, indem Sie alternative Anbieter dieser Ressource ausfindig machen.23 Machtbeziehungen sind alles andere als statisch, sondern entwickeln sich im Laufe der Zeit immer weiter, wenn die beteiligten Parteien ihre Schachzüge vollführen.

Wie der Aufstieg und Fall von De Beers zeigen, mag ein Diamant zwar unvergänglich sein, Macht hingegen ist es nicht. Das gilt genauso für Organisationen wie für uns selbst. Selbst diejenigen, die so mächtig sind, dass wir sie für die personifizierte Macht halten, haben keinen dauerhaften Anspruch darauf.

ES GIBT KEINEN DAUERHAFTEN ANSPRUCH AUF MACHT

Für viele seiner Zeitgenossen war der US-Senator Lyndon Baines Johnson (LBJ) in den 1950er-Jahren der mächtigste Mann in Washington. Und damit nicht genug. Als Vizepräsident wurde er nach John F. Kennedys Ermordung der 36. Präsident der Vereinigten Staaten und damit wohl der mächtigste Mann des Landes. Zwei Jahre später, nachdem er selbst direkt zum Präsidenten gewählt worden war, schien er auf dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn angelangt zu sein. Zu den Leistungen während seiner Präsidentschaft gehören die Verabschiedung des Bürgerrechts- und Wahlrechtsgesetzes und die Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut im Rahmen seines »Great Society«-Programms. Seine Bilanz wird jedoch getrübt durch die Eskalation des Vietnamkriegs. Als immer mehr US-Truppen nach Vietnam geschickt wurden, demonstrierten Jugendliche im ganzen Land gegen eine Fortsetzung des Krieges. Johnson war schließlich so unbeliebt, dass er auf eine Kandidatur zu seiner Wiederwahl verzichtete. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Friedensverhandlungen zur Beendigung des Vietnamkriegs, die jedoch aufgrund diplomatischer Manöver scheiterten, weshalb erst sein Nachfolger Frieden schließen konnte.

Johnsons Aufstieg wird oft seiner besonderen Persönlichkeit zugeschrieben: Mit einer Körpergröße von 1,92 Metern überragte er fast alle anderen Senatoren und nutzte seine Statur oft zur Einschüchterung seiner Gegner. Doch die körperliche Dominanz war nur ein Teil seiner Taktik, die später als »Johnson-Behandlung« bekannt wurde. Ein Reporter beschrieb sie damals als »unglaublich kraftvolle Mischung aus Überzeugungskraft, Druck, Schmeichelei, Drohungen und Erinnerungen an vergangene Gefälligkeiten und zukünftige Vorteile«.24 Doch obwohl Johnson gegen Ende seiner Präsidentschaft noch genauso groß war und immer noch die typische »Johnson-Behandlung« nutzte, war seine Macht nicht von Dauer. Was machte ihn also zunächst mächtig und warum konnte er diese Macht nicht während seiner gesamten Präsidentschaft bewahren?

Niemand hat mehr Zeit mit der Analyse von Johnsons Macht verbracht als Robert Caro, der in einer monumentalen Johnson-Biografie jeden Schritt seines Aufstiegs und Falls nachvollzieht. Als Caro in einem Interview gefragt wurde, welche Charaktereigenschaften Johnsons Macht begründeten, nannte er weder dessen Persönlichkeit noch die Besonderheiten der »Johnson-Behandlung«. Stattdessen verwies er auf sein »Genie bei der Schaffung politischer Macht«.25 Laut Caro basierte Johnsons einzigartige Fähigkeit, Macht während seiner Zeit im Senat zu erlangen und auszuüben, darauf, dass er besser als jeder andere verstand, was seine Kollegen schätzten, und dieses Wissen mit dem größtmöglichen Effekt nutzte, indem er deren Zugang dazu kontrollierte. Als Johnson 1949 in den Senat gewählt wurde, beobachtete er sehr aufmerksam seine Kollegen, wie Caro erklärt: »Er beobachtete, welche Senatoren an ihren Tischen saßen und die anderen Senatoren zu sich kommen ließen. Er beobachtete, wie zwei Senatoren miteinander sprachen, und achtete darauf, ob sie einander auf Augenhöhe begegneten. Er beobachtete die Senatoren in Gruppen und hatte stets ein Auge darauf, wem die anderen zuhörten. Seinem scharfen Blick entging nichts.«26 Johnson war immer dann besonders effektiv, wenn er direkt mit anderen reden konnte. Er verstand sich hervorragend darauf, andere Menschen zu durchschauen, und machte es sich zur Gewohnheit, andere reden zu lassen, um herauszufinden, was seine Gesprächspartner wirklich wollten. Und dann suchte er nach einer Möglichkeit, deren Zugang dazu zu kontrollieren. Bei manchen waren das bestimmte Mandate oder der Sitz in einem bestimmten Ausschuss; für andere ging es darum, die von ihnen unterstützten Gesetzesentwürfe zur Abstimmung zu bringen, wieder andere waren auf Dienstreisen und Essen in edlen Restaurants aus. Indem er seinen Kollegen das bot, was sie brauchten und wollten, gelang es ihm, einer der mächtigsten Senatoren der letzten hundert Jahre zu werden.