Powerschaum - Sebastian Schmidt - E-Book

Powerschaum E-Book

Sebastian Schmidt

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Beschreibung

In einer nahen Zukunft: Sascha sitzt allein in einer Boutique. Seine Freund*innen haben ihn dort eingeschlossen, denn er soll ein Verbrechen begangen haben, über das sie Rechenschaft fordern. Vor geraumer Zeit hatten sie Neuzugang in ihrem Freundeskreis. Der Android Charly lebte als "Testlauf" bei Saschas Freund Jan und verhalf diesem zu finanzieller Sorglosigkeit. Er brachte sich zunächst mit neuen Ideen für Unternehmungen ins Spiel, wirkte überraschend zugänglich und wurde von allen gemocht. Nur Sascha blieb skeptisch und traute Charly, "der ja kein Mensch war", nicht. Es war weniger dessen technische Physis, die Unbehagen auslöste, als das Aufzeigen und Vertiefen gesellschaftlicher Zwischenräume und Abgründe, die sich im Freundeskreis reproduzieren. Die Leser*innen wissen von Anfang an, dass das Ganze schlimm enden wird, doch was passierte dann eigentlich? Wie kam es zu der Eskalation? Und welche Rolle spielte Sascha in all dem? Erzählerisch um permanente Gegenwart bemüht, schreibt er "jetzt gerade" eine Rückschau, die nicht nur die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit rekapituliert, sondern auch die eigene Kindheit erinnert. Ein Gesamtbild entsteht durch Schilderungen der prekären Situation mit seiner Frau Elodie und den Kindern und des von unterschiedlichen sozialen Herkünften geprägten Freundeskreises. Sebastian Schmidts Debütroman »Powerschaum« ist Science-, mehr aber noch Social-Fiction: Sascha erzählt von seiner Arbeit in einem Supermarkt für exquisite Lebensmittel und versucht sich selbst als Autor in verschiedenen Zeitschriften. Literatur und Emails sind seine Möglichkeit, über die Wirrnisse klassistischer und habitueller Prägungen zu sprechen. Der Text wird so auch zu einem Nachdenken über die Möglichkeiten und Bedingungen des Schreibens in der digitalen Zeit. Einmal mehr lässt sich durch die Projektion in die Zukunft unsere Gegenwart in einem anderen Licht betrachten. Mit dem Androiden als Brennspiegel verhandelt der Roman die Schwierigkeiten sozialer Mobilität, zu der wir in unserem kapitalistisch geprägten Lebensalltag dauerhaft aufgefordert sind. Das Uncanny Valley wird zum sozialen Gefühl, Bourdieus feine Unterschiede präsentieren sich als beißende Erfahrbarkeit im literarischen Kosmos.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 220

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gestaltung & Satz: Leonard Keidel, philotypen.de

Umschlagfoto: Louisa Schohe

ISBN: 978-3-88423-735-9

Sebastian Schmidt

POWER SCHAUM

Roman

WUNDERHORN

„Because don't you see. Beauty is based upon the principle of exclusion.“

Chris Kraus, Aliens&Anorexia

„das Licht ist zu hell und aus der Ferneerscheint, wie eine Glasfalte, eine Welle“

Peter Verhelst, 2050 (eigene Übers.)

Inhalt

Teil 1: Charly

Arbeit

Auswahl

SB3

Exkurs: heute

Leni und Charly

Die Ankunft

Restaurant

Rauch

Charly und der andere Charly

7. September

Manche Gärten

Im Wald / a game

Zählen

Wasser

Am Golf liegen

Teil 2: Eine Art Tätowiergegend

Exkurs: mit Erzählen versuchen

Arbeit II

Osten

Beerdigung

GroMu

Winter

Das Gegenteil von Winter

Flussufer

Bett

Verräumen von Laub

Eisbahn

Teil 3: schließlich

Eisbahn continued

Was wenn?

Edamame

Vor der Ampel

Arbeit III

Küche

Wäsche

DER Abend

Club

Final

Nach Hause

Teil 1: Charly

Arbeit

Besonders mittwochs hatten wir gegen 16 Uhr immer sehr viel zu tun im DOMI. DOMI ist der interne Name unserer Abteilung im SB3, die im Keller liegt. Also wenn ich SB3 sage, dann meine ich die Schönbörnstraße 3, also das ehemalige Kaufhausgebäude, in dem der Supermarkt (oder wie man es nennen möchte) seine Filiale hat, das DOMI.

Man hat das damals einfach so gelassen, im Keller. Damals, als die anderen Abteilungen wegkamen. Als die Kletterhalle anstelle der Damen- und Herrenabteilung kam, die Anwält*innen anstelle von Haushaltswaren und das Nachhilfeinstitut einzog, wo es vorher Konfektion und Sport zu kaufen gab.

An drei von fünf Tagen arbeitete ich bis acht oder neun. Dann holte Elodie die Kinder ab.

Die erste Schicht endete im DOMI um vier. Viele Leute kamen nach ihrer Arbeit, um sich fürs Abendessen einzudecken. Um vier kamen auch die Aushilfen zur Unterstützung, zum Einräumen der Lebensmittel, die ausgegangen waren.

Ausgegangen. Manchmal stelle ich mir noch heute vor, dass all die Sachen, die sich die Menschen da leisten können, von alleine wieder zurückkommen. Dass sie mit den Käufer*innen ausgegangen sind, aber eben auch wieder nach Hause gehen. Erst ins DOMI, dann nach Hause, mit einem Flugzeug. Granatäpfel in den Iran, Persimon nach Israel, Litschi nach China undsoweiter. Die Menschen, die dort einkaufen, sind dann völlig fertig. Niemand versteht, was geschieht. Es steht nicht in der Zeitung. Sie können ihren Flusszander mit Buttermilchschaum nicht mehr kochen, nicht mehr kochen lassen. Die Zutaten zum Parfait sind weg.

Mit Sicherheit gibt es Leute, die sich darüber im DOMI beschweren würden.

In einem Urlaubsresort hat angeblich einmal ein Paar geklagt, weil der Meeresspiegel zu tief stand. Ein anderes, weil ihnen das Personal zu schlecht deutsch gesprochen hat. In Burkina Faso. Das sind alles Gerüchte, die man kennt. Manche erfinden sie oder hören sie tatsächlich und es soll ja etwas Absurdes beim Erzählen dabei herauskommen.

1000 Anekdoten für eine gute Welt. Eat the rich. Rich the eat.

Ich kratzte mich oft im Gesicht. Manchmal juckte mein linkes Ohr zu dieser Zeit. Wer weiß, warum. Und ich beseitigte diesen Reiz hastig und unelegant.

Ich konnte die Schichten im SB3 gut wegstecken und lachte oft auf der Arbeit. Eigentlich war es ganz okay im DOMI. Wir verstanden uns gut, so wie man sich bei der Arbeit gut versteht. Manchmal machten Aliza und Ahmed Scheiß im Laden, wenn wenige Kund*innen da waren. Aliza rief sich mit Ahmeds Phone einmal selbst an und legte es der Kieslowski dann heimlich unter einen Käse in deren Theke. Aliza fing an, leise zu knurren, dann zu wimmern und sich am Ende über die Lagerung in der Auslage zu beschweren. Ich stand hinter den Regalen, schaute zu und fragte mich, wie sie das schafften, wie sie gleichzeitig hier arbeiten und total locker und lustig sein konnten, ohne dass es aufgesetzt wirkte. Vielleicht, dachte ich, waren sie ja ganz zufrieden oder sahen ihre Zufriedenheit als eine Art Widerstand gegen den Filialleiter, gegen die Kund*innen, die mit Sicherheit alle mehr verdienten als wir, als Widerstand gegen diesen Keller, in dem wir tagtäglich schuften mussten.

Als Angestellte*r darf man diese ganzen scheißteuren Lebensmittel im DOMI vielleicht auch einfach nicht ernst nehmen. Wir konnten sie niemals kaufen. Sie sind eher speziell und importiert und sehr weit von uns entfernt. Manchmal steht aus Ihrer Region drauf, aber man darf das auch schreiben, wenn nur der Vertrieb in Deutschland stattgefunden hat. Mango aus der Region. Sternfrucht aus Franken. Ein Lachs aus Indien, nicht aus der Region. Die Kund*innen hatten den Überblick verloren, zumindest hoffte ich das immer, wenn jemand nachfragte und ich eine Antwort geben musste. Man kann das auch umgekehrt machen mit dem regionalen Angebot. Auch wenn Feigen und Ingwer und Pfirsich zum Teil ja schon hier, also in Deutschland, angebaut werden.

Es war einfach erlaubt. Egal.

Bis um vier also musste alles noch einmal ordentlich sein. Darauf legte der Abteilungsleiter großen Wert. Zumindest war das so, als ich noch dort angestellt war. Deshalb schreibe ich war. Es liegt natürlich in der Vergangenheit.

Einmal musste ich dem Abteilungsleiter mit dem Phone einen Post schreiben. Weil er es nicht schaffte. Ein Hate gegen irgendeine arme Person, die sich beschwert hatte. Ich loggte mich mit dem Account vom SB3 (Abteilung DOMI) ein und schrieb, ohne nachzudenken. Es war ziemlich dumm, aber der Abteilungsleiter nickte zufrieden.

Halb vier war die Zeit, zu der ich mich immer noch mal im Spiegel anschaute, prüfte, ob mein Kittel ordentlich saß. Ob meine Sneaker gut aussahen und meine viel zu dünnen Haare mit dem Undercut eventuell eine noch immer mögliche Frisur formten.

Leider war auch meine Haut schlecht. Nicht dass ich Pickel gehabt hätte oder so, aber ich habe einfach schon immer eine unebene, schlecht ernährte Haut. Eine Hügellandschaft, manchmal denke ich sogar an die Alpen.

Ein Freund sagte einmal, es sei »Maggi-Haut«. Haut, die dem Zigarettenrauch ausgesetzt war im Kinder- oder im Wohnzimmer. Wo nicht geraucht wurde, wurde nicht gelebt, sagten meine Großeltern. Auch wenn sie selbst nicht rauchten. Unter einem Brett in der Küche gab es immer Limo. Nur selten bekamen wir etwas von den Süßigkeiten nicht. So viel zu meinem Äußeren.

Die anderen aus meiner Bubble haben andere Haut. Gemacht auf Bauernhöfen. In Haushalten mit einem Fond aus Gemüse und Ausgewogenheit. Lastenrädern. Die Haut von Lilo zum Beispiel, gleichmäßig wie ein Teppich. Heide steht auf dieser Haut geschrieben. Tauchen sie ein in das wohlige Erlebnis.

Das ist etwas, Haut, was man von seinen Eltern bekommt, eine Oberfläche, die einem von seinen Eltern angezogen wird, was auch über eine andere Generation hinweg ungleich und schief werden kann, nicht nur innerhalb weniger Jahre. Unreinheit, Dünnheit, was die Großeltern gegessen hatten, saß mir als 14-Jährigem neben den Nasenflügeln. Die schnellen Gerichte meiner Mutter wuchsen im Jugendalter als Poren zwischen Kieferknochen und Hals, auf der Stirn. Und in den Drogeriemärkten mangelt es an einer Creme, an einem Gel oder einem Schaum, um die Erfahrungen, die in der kindlichen Unmündigkeit entstanden sind, wenigstens äußerlich abzutragen, zu polieren, nicht nur zu kaschieren. Es fehlt ein Mittel, das in den Körper hineinwirkt, in den Kopf – als Shampoo zum Beispiel – und einen Auftrieb verleiht, als wäre man beim Schwimmen geboren, in einem klaren See, in einen klaren See hinein.

Die Luft in unserem Kinderzimmer, die sich vor allem abends mit der schwer beladenen, erwiesenermaßen mehr als 70 krebserregende Stoffe beinhaltenden Luft des Wohnzimmers vermischte, erzeugte einen Farbton in mir und meinem Bruder, der sich dann auch nicht mehr verwuchs.

Neben Lilo gilt das mit der Bauernhof-Haut auch für meinen langjährigen, (ehemals) besten Freund Jan. Jan ist immer frisch, sieht frisch aus mit seinem blonden Mittelscheitel, der fein auf und ab wiegt beim Laufen. Es fehlt ihm eine richtige Farbe. Jan achtet auf sein Äußeres, er hat gutmütige, grün-graue Augen und einen leicht schelmischen Blick, hinter dem er einiges verstecken kann, vielleicht auch, weil er einen ganzen Kopf kleiner ist als wir alle.

Trotzdem. Meine Geschwister und ich waren trotzdem »in der Nähe des Lebens«, wie meine Oma Dalli einmal aus Versehen gesagt hat.

»Das Aussehen«, steht in der Notiz-App meines Phones, »wir teilen uns auch nach dem Aussehen in ökonomische Klassen ein, in Klassen.« Ich kann nicht für die absolute Richtigkeit des Zitats bürgen. Ich weiß nicht, ob ich mir alles richtig gemerkt habe. Es wurde in einem Podcast verwendet, den ich mir ein paar Tage zuvor angehört hatte.

Ich stand also mit meinem Kittel im DOMI im SB3. Und hin und wieder stellte ich mir das alles als Paradies vor: nicht hier zu arbeiten, sondern hier einzukaufen. Eine Jugend mit vollem Haar und einer guten Haut im Gepäck. Ein Backup, eine andere Watch, mit der ich bezahlen könnte.

Ich wünschte mir manchmal, zu den Gesichtern auf den Verpackungen dazuzugehören. Natürlich wollen das alle insgeheim, aber ich wollte es eine Zeitlang wirklich. Ich sah mich im Internet nach Agenturen um, die solche Leute casten. Es steht ja völlig außer Frage. Selbst für die Menschen, die mit ihren Unreinheiten in der Werbung zu sehen sind, deren Unreinheiten gezeigt werden und die wir im Nachhinein und vielleicht aus einem Prinzip der Selbstgerechtigkeit heraus für schön erklären, selbst dafür ist meine Haut nicht rein genug, nicht gleichmäßig unschön genug.

Eine Sache, die ich an meiner Frau Elodie so liebe, ist, dass sie zusammen mit mir über diesen Wunsch lacht, über diese Unmöglichkeit, jemanden aus Gründen der Schönheit zu mir aufblicken zu lassen.

Überhaupt Elodie, für sie bin ich möglicherweise trotzdem sowas wie schön.

Und wir sind ein gutes Team. Ich liebe ihre Hobbies, diese kleinen Figuren und wie sie sie anmalt. Dass sie auf diese Conventions geht. Ich bewundere sie sehr dafür, dass sie einfach dasitzen kann und sich in diese Miniaturwelt verabschiedet (ihre Tante schickt ihr immer noch diese scheißteuren Exemplare, die Originale von Warhammer etc., obwohl sie eigentlich viel zu teuer sind).

Ich liebe es, wie Elodie es schafft, gegen ihre Krankheit anzukämpfen, wie sie die Wannentage übersteht und danach trotzdem wieder lachen kann. An manchen Tagen ist die Wanne ihre letzte Möglichkeit. Wir wissen, was zu tun ist, wenn es so weit ist und auch wenn es anstrengend ist und der Dampfapparat seine Wirkung nicht entfalten kann, bin ich da und Elodie weiß das und es sind immer nur maximal zwei oder drei Tage alle paar Monate. Wir schaffen das gut und vielleicht wird es ja irgendwann auch einmal vorbeigehen. Vielleicht findet sich schon bald etwas auf dem Gebiet der Medizin, was Menschen wie Elodie hilft, was ihnen wieder eine Art Blumenwiese beschert, ohne diese ganzen Nebenwirkungen.

Und Elodie geht zum Beispiel anders Einkaufen als ich, Elodie sieht sich die Dinge oft von hinten an, betrachtet unsere Bedürfnisse als das, was sie sind. Sie zieht überhaupt Bedürfnisse in ihre Überlegungen mit ein, wenn sie sagen wir mal ein Produkt in den Händen hat beim Einkaufen, das sie gut findet. Elodie überlegt, wie gerne sie eine Sache haben möchte und was sie dafür aufgeben würde. Ich spreche hier nicht von großen Anschaffungen, nicht von einer Maschine oder einem Gerät für die Küche. Sie überlegt zum Beispiel, ob sie eine Packung Kekse kauft, die sie liebt, die aber von einer bestimmen Firma und deshalb teurer sind, und welche anderen Produkte sie dann aufgibt dafür, dass die Kekse auf die Rechnung passen.

Bei mir ist es anders, es gibt keine Kekse, ich möchte lieber keine Kekse kaufen und spare mir die Überlegung der Idee. Ich setze die Energie, die diese Überlegung für mich kostet, an anderer Stelle wieder ein, sagen wir mal beim Drachensteigen mit Elmini, wenn ich renne, wenn wir die alte Flugbahn entlangrennen. Oder beim Zählen, wovon ich später noch schreiben möchte.

Als wäre das Zählen mein Beruf.

Aber zurück zur Arbeit. Ich muss mich wirklich konzentrieren, das alles plausibel zu machen. Der Leiter vom DOMI sagte immer, wir sollten präsent sein am Nachmittag, aber auch irgendwie nicht sichtbar. Wenn der große Ansturm kam, mussten wir Beratung anbieten, aber nur ganz vorsichtig.

Auf leisen Sohlen, eine flatternde, farbenlose Existenz führen. Heinzelmännchen und -frauen sein in den Wänden, aber ohne Wände.

Ungefähr zweieinhalb Jahre lang war ich ein zuverlässiger Mitarbeiter im Untergeschoss des Kaufhauses. Zuverlässig, weil ich selten krank war. Weil ich die meiste Arbeit ohne Murren und korrekt erledigte. Weil ich sogar den Abteilungsleiter im Krankheitsfall vertreten konnte. So weit war ich schon. Nur wenn eins der Kinder krank war, was besonders bei der Kleinen vorkam, also dem kleinen Immunsystem wegen, musste ich zu Hause bleiben.

Elodie und ich, wir kriegten das hin! Alles! Wir teilten uns gut auf.

Also manchmal brachte ich Elodie und den Kindern was zu Essen mit aus der Feinkostabteilung. Sachen, die nicht mehr ins Regal sollten. Lebensmittel, die abgelaufen waren, aber immer noch gut! Viele Sachen sahen einfach hochwertig aus und wir hätten sie uns nie gekauft. Wozu auch? Trüffelkäse, ein hochklassiger Port, dessen Flasche einen gefährlichen Sprung hatte. Drei Päckchen Schwarztee aus Sri Lanka, die mit der fancy Verpackung, aber nicht fair trade. Diese Packung stand sehr lange in unserem Regal, weil wir nicht recht wussten, ob sie jetzt eher Deko oder to use sein sollte. Manchmal machte ich ein Foto von den Sachen, bevor ich sie mit nach Hause brachte, wenn ich mir nicht sicher war, ob sie Elodie oder den Kindern gefallen würden.

Wir dekorieren unsere Küchenzeile immer noch mit Dingen, die wir uns nicht hätten leisten sollen. So bleiben sie länger anwesend oder wir haben etwas Besonderes für den Besuch, also zum Zeigen. Vieles davon finden wir im Sozialkaufhaus.

Natürlich war ich immer ein bisschen stolz, so teuren Kram mit nach Hause zu bringen. Ganz selten, wenn ich einen Rappel kriegte, wenn ich Angst hatte, dass es Elodie schlecht mit mir ging, wenn ich dachte, dass sie sich jemand anderen hätte suchen können, jemanden, der*die sich gute Urlaube leisten könnte, Flüge undsoweiter, versuchte ich, Frau Kieslowski etwas von dem St. Nectaire Käse abzuschwatzen, den Elodie so liebte.

Selbst wenn ich dafür bezahlt hatte, behauptete ich zu Hause, dass ich ihn gratis bekommen hätte, dass es eine falsche Lieferung gegeben hätte.

Ich kannte mich mittlerweile richtig gut aus mit besonderen Lebensmitteln. Tees, Alkoholisches, manchmal half ich bei den Würsten, wenn es sein musste. Beim Käse hatten sie immer genug Leute. Frau Kieslowski stand wirklich wie eine Kirche über der Auslage. Sie war noch seltener krank als ich.

Und das ist vielleicht auch wichtig, weil es doch sehr viel über mich erzählt, wie Lilo mal sagte. Es zeige doch, so Lilo, wie sehr ich meine Arbeit angenommen hatte. Wie sehr ich das Geldverdienen angenommen hatte. Zum Beispiel auch meinen ersten Arbeitstag erinnere ich noch sehr gut: Sie hatten mich fürs Obst eingeteilt und auf der Brust, dort, wo der weiße Kittel ein wenig offenstand, leuchteten auf meinem gelben T-Shirt die enormen, neonroten Wörter:

OBST OBST OBST OBST OBST OBST OBST OBST OBST

OBST OBST OBST OBST OBST OBST OBST OBST OBST

OBST OBST OBST OBST OBST OBST

+ OBST OBST OBST OBST OB

Ich hatte irgendwo gelesen, dass die Farben gelb und rot Appetit machen. Stolz war ich vor meinem Filialleiter erschienen. Aber meine Leuchtschrift hat ihn kaltgelassen. Er hat das T-Shirt, das Jan mir gemacht hatte, gar nicht beachtet. Dabei war es das erste, das ich bekommen hatte, auf dem ich Texte digital anzeigen lassen, durchlaufen lassen konnte, auch lange Texte.

Ich solle an die Arbeit, hat er gesagt, sonst nichts.

Sonst hat er nichts gesagt.

Auswahl

Und weil sich mein Freund Jan für einen Testlauf als Freiwilliger gemeldet hatte, bekam er Charly.

Wir wollten ihn gleich an seinem ersten Tag mit in die Stadt nehmen, Charly, einen kleinen Ausflug zu fünft machen. Dabei sagten wir immer noch: zu viert. Wir wollten ihn unbedingt sehen, am liebsten einmal anfassen. Jan hatte Charly über einen Freund seiner Mutter bekommen oder so ähnlich. Sie, Jans Mutter, kannte da jemanden undsoweiter. Allein mit Geld hätte man das nicht schaffen können.

Vielleicht hat es sich da schon abgezeichnet, dass die Sache mit ihm nicht gutgehen würde. Mit ihm, Charly, der ja kein Mensch war. Dass durch ihn etwas mit uns passieren würde …

Aber ich muss noch einmal zurück zur Arbeit, zum SB3. Eigentlich müsste ich weiter ausholen, bitte entschuldigt. Ich sollte alles …

Weil ich denke, das ist alles wichtig für später, das mit dem Kaufhaus und dem Supermarkt. Vielleicht werden einige dann sagen: Na gut, ok, ich verstehe, warum er das gemacht hat, der Sascha.

SB3

Schon wenige Tage nachdem Jan uns die Sache mit dem Testlauf erzählt hatte, schrieb er, dass wir Charly die kommenden Tage – »ganz bald jedenfalls« – sehen würden. Er würde ihn mitbringen.

Ich habe Jans Nachricht damals gleichgültig gelesen. Das machte mir alles wirklich nichts aus.

Auch an diesem Tag war um halb vier Pause. Ich überlegte, ob ich noch schnell ein paar Seiten in meinem Roman lesen sollte, ein paar Seiten von den 30, die ich mir zu diesem Zeitpunkt als tägliche Marke gesetzt hatte. Ich motivierte mich dazu, jeden Tag ein bestimmtes Pensum zu lesen, egal ob Roman oder Sachbuch. Ich hatte einen geheimen Antrieb, der mir half. Oft lernte ich auch Vokabeln in der Pause. Ich war stolz, dass ich das schaffte, in der Pause noch etwas zu lernen oder zu lesen und es hinderte mich am Grübeln.

In Zusammenhang mit dem Begriff Bildung wird das Wort Zwang erstaunlich wenig benutzt. Immer steht Bildung für etwas Freies, Selbstbestimmtes. Das ist komisch. Aber das ist ja auch nur das Ziel. Lernen hat für mich schon immer etwas mit Müssen zu tun. Manchmal dick, manchmal wie Luft, aber immer ist es da. Etwas ganz anderes als noch in der Schule. Schlimmer noch, weil es von innen kommt, tief sitzt und man sich nicht so leicht entziehen kann. In der Schule habe ich noch wenig verstanden.

Es stellt eine echte Hoffnung dar, Dinge zu wissen. Bildung.

Hoffnung worauf?

Ich entschied mich dazu, nicht im Aufenthaltsraum des DOMI zu bleiben und zu lesen, sondern fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben und hörte mir dabei einen Podcast an. Nur so gelang mir eine gewisse Entspannung: Lesen, Vokabeln lernen, Podcasts oder Nachrichten hören. Manchmal schlief ich dabei ein und Frau Kieslowski weckte mich mit einer sanften Geste, dem Rascheln einer Verpackung.

Mit dem gläsernen Fahrstuhl fuhr ich direkt nach oben, an den Büros des Nachhilfeinstituts vorbei. Durch die Scheibe vom Fahrstuhl konnte ich manchmal die Räume mit den Stühlen und Tischen sehen.

In meinem Podcast ging es um Friedrich II., weil ich wusste wirklich gar nichts über ihn.

Der Empfang des Büros mit den Pflanzen und dem jungen Mann im Anzug, der auf seinen Monitor starrt. Nirgendwo sonst liegen kulturelles und ökonomisches Kapital (diese Begriffe kannte ich schon lange, aus einem anderen Podcast, sie waren wie für mich gemacht) so schmerzhaft, so beschämend nebeneinander wie in den Nachhilfeinstituten.

Ich fuhr an einer Boutique vorbei, noch einen Stock höher. Sie ist nicht wie die Abteilung früher, in der es unterschiedliche Dinge gegeben hatte, sondern ein eigener, in sich geschlossener Laden. Es gibt einen Türsteher, der eine Outdoor-Jacke trägt und braunes, wolliges Haar. Die Produkte werden fair und biologisch produziert, was ja gut ist, aber sie sind auch einfach scheißteuer. Eine einfache Jeans kostet hier ein Vermögen. Es sind andere Menschen, es ist eine andere Menschheit, die ich nicht verstehe.

Vom Fahrstuhl aus gähnte ich die Boutique an. Ich dachte daran, wie Elodie und ich Hand in Hand gelernt hatten, unseren kaputten Schlaf mit Doxepin zu reparieren. Wie wir einfach auch heute noch völlig unterschiedliche Dosen des Mittels brauchen und uns darüber köstlich amüsieren (das können wir, das haben wir uns behalten, diese Art von Humor).

Aber fast ganz oben im Aufzug, also noch bevor die Kanzlei und die Wohnungen kommen, die man aus Holz einfach obendrauf gesetzt hat, die unbezahlbar sind, ist die Boulderhalle. Dort ging ich manchmal in der Pause hin. Nicht um zu klettern. Das hätte ich mir beim besten Willen nicht leisten können. Die meisten Menschen sind wirklich nett dort, da kann man nichts anderes behaupten. Es ist wirklich gesund.

Aber ich wusste auch damals schon: Bouldern kann sich auch nur leisten, wer von der Arbeit keine Schwielen und Schnitte an den Händen hat. Also geht man bouldern. Wer bouldert, hat abends einen festen Griff. Manchmal hängt auf diese Weise ein bisschen Haut von den Fingern, an den Händen, nach einem harten Tag im Büro. Man kann sich die harte Arbeit nachträglich auf die Hand simulieren. Und vielleicht muss man mehr auch gar nicht sagen über das Bouldern.

Aber auch Bouldern war für mich damals etwas Okkultes, etwas Undurchschaubares. Ich notierte mir auch diese poetische Idee auf meinem Phone. So war es, das empfand ich, wenn ich diese Halle sah.

Als Jan das mit Charly geschrieben hatte, also dass der irgendwann mitkommen würde, da habe ich mir sofort noch einen anderen Text für das Shirt gemacht. Noch während der Auffahrt im Fahrstuhl. Ich habe ihn in mein Phone getippt und dann an mich gesendet, also an mein Shirt gesendet.

Also noch kurz zu den Shirts: Jan findet Technik ja sehr gut, sonst hätte er sich bestimmt auch nicht für Charly angemeldet. Jan hat System-System studiert, also irgendwas an der Schnittstelle zwischen Hard- und Software, Informatik, Elektrotechnik und Gesellschaft. Es hat irgendwas mit dem Anschluss von Geräten und deren Nutzung unter bestimmten Lebensumständen zu tun, sofern ich das richtig verstanden habe. Eigentlich schwimmt er im Geld, auch wenn man das niemals sieht, wenn er es nicht durch kulturelles Kapital, wie man so schön sagt, nach außen trägt.

Jedenfalls, Jan hatte sich diese Shirts ausgedacht und mir nach und nach geschenkt. Mittlerweile habe ich fünf davon. Er weiß ja, dass ich gerne schreibe, und dachte, es wäre eine schöne Idee. Er strahlte, als er mir das erste Mal eins überreichte.

Ich kann meine Texte so jedem*jeder zeigen. Einfach so, ohne direkt ein Buch zu veröffentlichen. Ich kann sie per Phone an mein Shirt senden und da laufen sie mir über den Bauch. Fast wie eine Reklame. Klein, aber doch groß genug, dass alle es lesen können, die in meiner Nähe sind.

Nachdem ich wieder herunter gefunden hatte, wieder zurück war am Boden, im Boden drin, in unserer Abteilung, tippte ich schnell einen weiteren Text, den ich über mein T-Shirt laufen lassen wollte. Ich zeigte ihn meinem Kollegen Ahmed. Er schüttelte den Kopf, er schüttelte aber immer den Kopf, weil er las ganz andere Sachen als ich.

Ahmed war schlau, aber er hatte wie immer nur den Anfang meines Textes gelesen und dann zweimal auf die Seite geschaut und dann ist er weggelaufen.

Ahmed hatte dabei irgendwas genuschelt, was ich nicht verstand.

Ein seltsames Stück Stein, das man noch nie zuvor gesehen hat, das man findet, ansieht und verstört zurückwirft in eine Gegend, die doch eigentlich ganz andere Steine in sich birgt. Nicht ganz klar, welche, jedenfalls nicht diese.

Ich erinnerte mich im Aufzug oft daran, wie ich angefangen hatte, damals bei Edeka: Der Marktleiter schickte mich zu den Getränken. Die anderen nannten mich Getränkeboy von Edeka. Man stelle sich Auszeichnungen vor, die keine sind. Ich war 17 und in guter Form. Es war nicht schwer, die Kisten zu stapeln und die Flaschen so zu sortieren, dass wieder ganze, vollständige, heile, makellose, fehlerfreie Kästen entstanden. Ich stapelte sie sehr hoch, damit manche nicht mehr an die Flaschen der oberen Kästen rankommen konnten. Ich sorgte dafür, dass mir die Arbeit nicht ausging: weil es gab eine Klingel, mit der mich die Kund*innen rufen konnten. Einen Knopf zum Kästen oder Entkästen. Kästen, ein Verb (etw. kästen) oder auch, wenn man Leergut abgeben wollte.

Demnach: Ich gab Volles und nahm Leeres.

Die Festangestellten im Supermarkt räumten Waren ein oder machten diese Sache mit den Preisschildern in einer unfassbaren Geschwindigkeit. Ich liebte diesen Zaubertrick. In meiner Pause aß ich jedes Mal eine Nussschnecke, die ich von der Frau an der Bäckertheke geschenkt bekommen hatte. Von der, die kein Namensschild auf der Brust trug.

Weil sie eh übrig bleibt, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Für deine dünnen Arme.

Nur einmal hatte ich am Vorabend zusammen mit den anderen getrunken und brauchte am Samstagvormittag dringend Kaugummi. Mit 17 war das eigentlich kein Problem. Nach einer halben Stunde rief mich der Marktleiter von seinem Büro aus nach oben, ob ich jetzt wieder an die Getränke komme oder was?

»Ja«, sagte ich, »ich komme«.

Es ergab ein mittelmäßiges Taschengeld. Ein paar neue Klamotten, ich konnte wieder mit dem Zug zur Schule fahren.

Exkurs: heute

Jetzt aber kurz zu der Situation, in der ich mich aktuell befinde, also jetzt gerade, während ich diesen Text schreibe.

Es ist jetzt ungefähr ein Jahr später, also ein Jahr, nachdem Charly zu uns gekommen ist.

Ich bin eingesperrt. Meine sogenannten ›Freund*innen‹ haben mich eingesperrt in Lilos Boutique. Sie sagen dazu: festgesetzt. »Wir haben dich hier jetzt erst mal festgesetzt.«

»Wir wollen, dass du alles aufschreibst. Wir wollen, dass du das mit Charly aufschreibst.«

Im Schreiben liegt ja für manche die Möglichkeit einer Absolution. Ich glaube, im Schreiben liegt für manche echt die Möglichkeit einer Absolution. Ob das jetzt für meine Freund*innen oder mich gilt, ist eigentlich egal.

Ich habe mir viele Notizen gemacht im vergangenen Jahr, weil mein Therapeut, den ich so gut fand, der dann weggezogen ist aus der Stadt, wir hatten da so eine Technik damals. Nichts Besonderes. Das war vor ein paar Jahren, dass wir das mit den Notizen erfunden haben, aber ich dachte, vielleicht funktioniert es noch einmal. Aus diesen Notizen kann ich jetzt also schreiben.

Außerdem habe ich ja noch die Mails, die ich offline lesen kann. Ich habe einen Ordner im Phone. Ich nenne ihn E-MAILS AUS DER TÄTOWIERGEGEND.

Es ist nicht wichtig, wann diese E-Mails geschrieben wurden. Es ist auch nicht wirklich relevant, wer sie an wen gesendet hat. Der Zusammenhang ist nicht wichtig. Es geht hier um ein Bild, eine Erklärung. Ich mache copy und paste.

Lilos Boutique ist gerade geschlossen wegen Urlaub. Die Boutique ist eigentlich eine große Halle, ein ganzes Stück weg vom SB3 und dem DOMI. In der Boutique von Lilo wird es zu dieser Jahreszeit manchmal sehr kühl. Lilo hat das Internet abgestellt. Ich kann also nur tippen auf dem Laptop, nur diesen Text hier tippen in der Boutique