Pragmatikerwerb und Kinderliteratur -  - E-Book

Pragmatikerwerb und Kinderliteratur E-Book

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Beschreibung

Dieser Band erhellt den Zusammenhang von Kinderliteratur, (Vor-)Lesen und dem Erwerb pragmatischer Fähigkeiten im Vorlese- und frühen Selbstlesealter. Ausgangspunkt ist immer die Frage, welchen Einfluss die Beschäftigung mit Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten hat, z.B. auf Humorverständnis oder Erzählvermögen. Untersucht werden die sprachlichen Eigenschaften kinderliterarischer Texte – wozu auch Bilderbücher gehören – und die jeweiligen Eigenschaften spezifischer Aneignungs- und Vermittlungssituationen. Eine weitere Perspektive ist die der Deutschdidaktik: Diese hat ein besonderes Interesse an Unterrichtsinhalten und -settings, mit denen sich sprachliche und literarische Kompetenzen fördern lassen. Der wegweisende Band ist allen zu empfehlen, die sich für Pragmatik, Spracherwerb, Kinderliteratur und Deutschdidaktik interessieren.

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kristin Börjesson / Jörg Meibauer

Pragmatikerwerb und Kinderliteratur

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

ISBN 978-3-8233-8446-5 (Print)

ISBN 978-3-8233-0318-3 (ePub)

Inhalt

VorwortPragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung1 Einleitung2 Die Vorlesesituation2.1 Eigenschaften2.2 Der Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb3 Kinderliteratur als spezifischer Input für den Erwerb pragmatischer Phänomene4 Pragmatik, Didaktik und Schulunterricht5 Kindermedien6 Pragmatische Störungen7 Forschungsfragen8 Die Beiträge in diesem BandLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturImplikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher1 Einleitung2 Die Grice’sche Maxime der Art und Weise3 Fallstudien3.1 Markiertheit auf der Textebene3.2 Markiertheit auf der Bildebene3.3 Markiertheit in Text-Bild-Kombinationen4 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur4.1 Der Erwerb der Maximen4.2 Externe Pragmatik, interne Pragmatik und GeschicklichkeitLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturKann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen?1 Einleitung2 Theoretische Vorüberlegungen2.1 Linguistische Humortheorien2.2 Humorentwicklung2.3 Humor in der Kinderliteraturforschung2.4 Sprachliche Ressourcen literarischen Humors3 Empirische Untersuchung3.1 Textauswahl3.2 Vorgehensweise3.3 Ergebnisse3.4 Diskussion4 Fazit/AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturKindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel – Zur Modellfunktion literaler Texte am Beispiel von Nacherzählungen 7-Jähriger1 Einführung2 Erzählen und Erzählerwerb3 Untersuchungsgrundlage4 Exkurs: Lügen und Lügenerwerb5 BefundeÜbernahmen der KontextualisierungshinweiseVariationen der Rede-LügenereignisseAbbrüche und Auslassungen6 SchlussbemerkungenLiteraturAnhang: Vorgelesener TextFeinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation1 Einleitung2 Referenzakte im Spracherwerb3 Referenzakte beim Vorlesen von Der Prinz mit der Trompete4 SchlussLiteraturVokative als Indikatoren für Redehintergrund? Überlegungen zur Funktion der Vokativverwendung bei der gemeinsamen Rezeption von textlosen Bilderbüchern1 Einleitung2 Der Vokativ: Ein Markierer von Redehintergrund2.1 Erwerb von Redehintergrund2.2 Vokativ und Redehintergrund3 Redehintergründe bei der gemeinsamen Betrachtung textloser Bilderbücher3.1 Vorlesemodell nach Rothstein4 Vokativverwendung in Vorlesegesprächen zu textlosen Bilderbüchern4.1 Beispiel 14.2 Beispiel 24.3 Beispiel 34.4 Zusammenfassung: Vokative als Indikatoren für Redehintergrund?5 Fazit und AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturPragmatikerwerb und Kinderliteratur in der Grundschule: Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und protoliterare Erzählfähigkeiten fördern1 Einleitung2 Protoliterale Förderung: prä- und paraliterarische sowie quasi-literarische Kommunikationsformen3 Literales und literares Lernen durch das Nacherzählen textloser Bilderbücher4 Literalitäts- und Literaritätsentwicklung mit textlosen Bilderbüchern5 Fallbeispiel: Freies Erzählen vs. Nacherzählung eines textlosen Bilderbuchs6 FazitLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturGA::NZ geMÜTlich – Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben1 Einleitung2 Lernpotenziale des Bilderbuchs3 Zur Rolle des Bilderbuchinputs für die kindliche Wiedergabe von Geschichten3.1 Pretend Reading3.2 Diktierendes Nacherzählen4 Diskussion5 Zusammenfassung und AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturPragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive. Dimensionen und Kontexte1 Die historische Dimension der Beziehung von Pragmatikerwerb und Kinderliteratur2 Pragmatikerwerb von Sprichwörtern: „Hilarius“ (1830) von Friedrich Philipp Wilmsen und das Bilderbuch „Deutsche Sprichwörter“ (1833)3 Pragmatische Perspektiven auf Rede und Gespräch in Georg Christian Raffs „Naturgeschichte für Kinder“ (1778)4 Pragmatische Phänomene und kinder- und jugendliterarische Kontexte5 AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturVerzeichnis der Autorinnen und AutorenRegister

Vorwort

Wir freuen uns, diesen Sammelband vorlegen zu können, dessen Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven den Zusammenhang von Kinderliteratur, (Vor-)Lesen und Pragmatikerwerb zu erhellen suchen. Als gemeinsamer Ausgangspunkt der verschiedenen Untersuchungen kann die Frage gelten, welchen Einfluss (die Beschäftigung mit) Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten hat. Die Beiträge konzentrieren sich dabei auf je verschiedene Aspekte dieser Fragestellung. Während einige besonders die sprachlichen Eigenschaften kinderliterarischer Texte untersuchen, um daraus deren grundsätzliches Potenzial insbesondere für die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten abzuleiten, interessieren sich andere Beiträge stärker für die jeweiligen Eigenschaften spezifischer Rezeptionssituationen und deren Beitrag zur Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten. Eine dritte Perspektive ist die der Deutschdidaktik, die ein besonderes Interesse an Unterrichtsinhalten bzw. Unterrichtssettings hat, mit denen sich sowohl sprachliche als auch literarische Kompetenzen im Deutschunterricht fördern lassen. Die Beiträge dieses Sammelbandes entstammen überwiegend dem gleichnamigen Workshop, der am 27. und 28. September 2018 an der Universität Leipzig stattgefunden hat. Wir danken dem Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich, das unser Gastgeber war, vor allem aber der Fritz Thyssen Stiftung, die nicht nur den Workshop großzügig gefördert hat, sondern auch die Publikation dieses Sammelbands. Darüber hinaus bedanken wir uns bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Workshop für die engagierte Diskussion und die sorgfältige Überarbeitung ihrer Beiträge für diesen Band.

 

Leipzig und Mainz, im Juli 2021     Kristin Börjesson und Jörg Meibauer

Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung

Kristin Börjesson & Jörg Meibauer

Abstract: In this introduction, the relationship between children’s literature and pragmatic acquisition is examined from a theoretical viewpoint. The main aim of this contribution is to indicate promising areas for research on the nature of this relationship. To this end, the specifically pragmatic features of situations of reading to children are addressed as well as their overall effect on language acquisition. Furthermore, the contribution discusses the idea of children’s literature constituting a specific input for the acquisition of pragmatic phenomena. The relation of (atypical) pragmatic acquisition, didactics and school education with respect to children’s literature is briefly sketched and a proposal is made concerning the types of children’s media that might be considered relevant for research on the relationship between pragmatic acquisition and children’s literature. The contribution ends with a summary of relevant research questions for empirical investigations of this relationship.

Keywords: pragmatic acquisition, reading situations, children’s literature as specific input, external and internal pragmatics

1Einleitung

Obgleich in der Forschung zum natürlichen Erstspracherwerb zunächst der Grammatikerwerb im Vordergrund stand, ist doch schon früh festgestellt worden, dass auch die Pragmatik erworben werden muss. Eine Zielgröße des Grammatikerwerbs ist sicher der vollständige Satz. Aber diese grammatische Einheit ist immer auf Sprechakte bezogen, so dass ein Kind lernen muss, mit welchen Sätzen man welche Sprechakte ausführen kann oder welche Sätze dafür geeignet sind, einen bestimmten Sprechakt auszuführen. Unter Pragmatikerwerb verstehen wir im Folgenden den Erwerb solcher Fähigkeiten, die notwendig sind, um in einem bestimmten Kontext angemessen kommunizieren zu können (vgl. Zufferey 2015). Dazu gehört die Kenntnis sozialer Aspekte von Kommunikation, wie z. B. die Kommunikation zugrunde liegenden Regeln/Maximen oder die Notwendigkeit, sich als Sprecher an unterschiedliche Adressaten anzupassen. Aber auch kognitive Fähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit, Inferenzen zu ziehen bzw. die Intentionen/den Wissensstand des Gegenübers einschätzen zu können, spielen bei der Interpretation (Rezeption) bzw. angemessenen eigenen Verwendung (Produktion) bestimmter sprachgebrauchsbasierter Phänomene eine wichtige Rolle. Die Sprecher(innen) müssen nicht nur Deixis und Referenz produktiv und rezeptiv beherrschen, sondern auch Präsuppositionen und Implikaturen, Sprechakte, Informations- und Konversationsstruktur (vgl. Finkbeiner 2015, Liedtke/Tuchen 2018). Alle pragmatischen Gegenstände, so kann man vermuten, sind zugleich Gegenstände des pragmatischen Erwerbs. Es müssen jeweils die entsprechenden sozialen bzw. kognitiven Kompetenzen erworben werden, um die entsprechenden Gegenstände verstehen bzw. selbst in der verbalen Kommunikation einsetzen zu können.1 Pragmatisches Lernen findet wahrscheinlich während des ganzen Lebens statt. Wir konzentrieren uns im Folgenden aber auf den Pragmatikerwerb von Kindern und Jugendlichen, d.h. Menschen in der Altersspanne zwischen der Geburt und etwa 18 Jahren.2

Unter Kinderliteratur verstehen wir alle Literatur, die von Erwachsenen speziell für Kinder und Jugendliche verfasst wurde. Typischerweise wird Kinderliteratur nicht von Kindern verfasst, obwohl es hier einzelne Ausnahmen gibt. Eine wichtige Beobachtung ist, dass Erwachsene, die für Kinder schreiben, sich darüber Gedanken machen müssen, inwiefern ihre intendierte Leserschaft die von ihnen verfassten Texte verstehen können. Dies wird oft als selbstverständlich vorausgesetzt, ist es aber bei näherer Betrachtung nicht. Die literarische Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern kann gelingen, sie kann aber auch misslingen. Dies zu untersuchen, ist selbst ein Gegenstand der linguistischen Analyse. Noch eine terminologische Bemerkung: Im Weiteren sehen wir von der in Deutschland üblichen, aber umständlichen Verwendung des Begriffs „Kinder- und Jugendliteratur“ ab. Wir orientieren uns dagegen an der international üblichen Bezeichnung „children’s literature“ und übersetzen diese mit „Kinderliteratur“. Wenn man den Adressatenkreis der Jugendlichen hervorheben will, kann man natürlich von „Jugendliteratur“ sprechen.3 Es empfiehlt sich auch, einen weiten Begriff von Kinderliteratur anzustreben, der nicht nur auf die oft im Vordergrund stehenden Kinderromane bezogen ist, sondern auch auf Drama und Lyrik, und überhaupt auf alle an Kinder gerichtete Medien.4

Welche Beziehungen gibt es nun zwischen dem Pragmatikerwerb und der Kinderliteratur? Wie wir sehen werden, ist dies eine überraschend komplexe Frage. In dieser Einführung wollen wir versuchen, den Suchraum für die Beantwortung dieser Frage zu umreißen. Zunächst einmal können wir uns ihr annähern, indem wir grob zwischen interner und externer Pragmatik unterscheiden (Meibauer 2017). Unter interner Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir alle pragmatischen Phänomene, die in der Kinderliteratur enthalten sind. Zum Beispiel kommen in Kinderliteratur Dialoge vor. Dadurch, dass Dialoge im kinderliterarischen Input5 vorkommen, kann das Kind etwas über Dialoge lernen. Natürlich sind dies zunächst einmal literarische Dialoge, die eigenen narrativen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Trotzdem wird das Kind Beziehungen oder Ähnlichkeiten zwischen literarischen Dialogen und natürlichen Dialogen in seiner Umgebung erkennen. Dies betrifft zum Beispiel den allgemeinen Aspekt des Sprecherwechsels, aber auch mögliche Verben der Redewiedergabe.

Unter externer Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir pragmatische Aspekte einer Vermittlungssituation. Viele Kinderbücher werden von Eltern, Geschwistern oder Großeltern vorgelesen. Es besteht eine Situation, in der die Teilnehmer(innen) ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten und miteinander teilen. In der Vorlesesituation kommt es typischerweise zu Erläuterungen, Korrekturen und Modifikationen verschiedener Art. Diese sprachlichen Handlungen in Bezug auf den Inhalt von Kinderbüchern sind selbst eine Quelle des sprachlichen und pragmatischen Lernens. Als ein konkretes Beispiel sei hier die vorschulische Vorlesesituation genannt. Wenn zum Beispiel Eltern gemeinsam mit ihren kleinen Kindern Frühe-Konzepte-Bücher betrachten und ihre Kinder durch gezielte Fragen zum „Deuten und Benennen“-Spiel anregen, bieten sie den Kindern gleichzeitig einen Kontext, in dem diese ein spezifisches Frage-Antwort Format kennenlernen können (vgl. Meibauer 2011, 2017).

Im Folgenden wollen wir zunächst die Bereiche der externen und internen Pragmatik näher ausleuchten. Dabei gehen wir auf die Vorlesesituation ein, stellen ihre spezifischen Charakteristika dar und rekapitulieren kurz, was zum Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb bisher bekannt ist (Abschnitt 2). Dann wenden wir uns der Kinderliteratur als einem spezifischen Input zu (Abschnitt 3). Zuletzt behandeln wir nacheinander den Bezug zur Didaktik und dem Schulunterricht, spezielle Herausforderungen durch neue Medien sowie gestörten Pragmatikerwerb und Kinderliteratur (Abschnitte 4–6). Anschließend geben wir einen Ausblick auf zukünftige weitere Forschungsmöglichkeiten (Abschnitt 7).

2Die Vorlesesituation

2.1Eigenschaften

Eine Standardsituation des privaten Vorlesens kann man sich so vorstellen, dass ein lese-inkompetentes Kind (Zuhörer) und eine vorlese-kompetente Person (Eltern, Großeltern, ältere Geschwister …) und ein Buch präsent sind, wobei die vorlesekompetente Person (Sprecher) einen Text spricht, den sie dem Buch entnimmt (vgl. das Modell von Rothstein 2013). Diese Standardsituation kann folgendermaßen weiter beschrieben und von verwandten Situationen abgegrenzt werden.

Privates Vorlesen sollte von öffentlichem Vorlesen, zum Beispiel im Klassenzimmer, unterschieden werden.

Das Hören von Hörbüchern ist ausgeschlossen, da der entsprechende Sprecher nicht physisch anwesend ist.

Bei textlosen Bilderbüchern ist es möglich, dass die vorlese-kompetente Person einen Text spricht, der einer mentalen Geschichte entspricht.

Sachbücher können ebenfalls vorgelesen werden.

Kinder können das Vorlesen nachahmen.

Weitere Aspekte kommen ins Spiel und können einen Einfluss auf die Vorlesesituation haben. Zunächst ist die gemeinsame Aufmerksamkeit zwischen Kind und Vorleser zu nennen. Diese kann durch mangelnde Konzentration und durch Ablenkung bedroht sein. Sie wird gesichert durch Blickkontakt, Gestik und auch die körperliche Nähe, insbesondere beim gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern. Bei Bilderbüchern spielen neben dem vorgelesenen Text auch das Betrachten bzw. sinnvolle Einbeziehen der Bilder eine wichtige Rolle. Der Autor oder Erzähler ist nicht physisch präsent in der Vorlesesituation (es sei denn, Autor und Vorleser sind identisch, wie in einer Dichterlesung). Das Gleiche gilt für Figuren des fiktionalen Raums.

Es ist bekannt, dass es unterschiedliche Modi des Vorlesens gibt. Geschlossenes Vorlesen hält sich strikt an den Wortlaut des Texts, während offenes Vorlesen Variationen erlaubt, bis hin zu sogenannten „Gesprächseinlagen“. Gerade das Abweichen vom strikten Vorlesen, d.h. die Art und Weise, wie Vorleser mit den Kindern über den vorgelesenen Text reden, ist von großem theoretischem Interesse. Dieses ist dadurch bedingt, dass wir einen speziellen Fall von „an das Kind gerichteter Sprache“ (‚child-directed language‘) bzw. von „Feinanpassung“ (‚finetuning‘) vor uns haben. In der Wissenschaftsgeschichte der modernen Spracherwerbsforschung ist immer wieder behauptet worden, dass Feinanpassung (alias „Motherese“) keine besondere Rolle für den Spracherwerb spielen würde, da Kinder die Sprache auch ohne diese Hilfestellung erlernen würden (vgl. die Darstellung in Sokolov/Snow 1994, Snow 1995).

Nach Gressnich/Stark (2015) dienen Gesprächseinlagen beim Vorlesen der Erklärung von Sachverhalten. Sie sind darauf angelegt, ein Wissens- oder Verstehensdefizit zu beseitigen.1 Anhand von Bilderbüchern zeigen die Autorinnen, dass sich erklärende Gesprächseinlagen auf Elemente der dargestellten Handlung, auf sprachliche Elemente und auf Bildelemente beziehen können. Um dies nachweisen zu können, ist es nötig, ein authentisches Vorlesegeschehen zu dokumentieren, zum Beispiel durch Audio- und Videoaufnahmen.

Wie Becker/Müller (2015: 89f.) zeigen, teilen das Vorlesen und das (alltagssprachliche) Erzählen einige Eigenschaften, unterscheiden sich aber in anderen. Beide Diskursformen weisen einen „primären Sprecher“ auf, sind in sich strukturiert (z. B. durch Elemente einer Story Grammar) und auf „Unterstützung“ durch Kommunikationspartner angewiesen. Während aber das Vorlesen an den schon vorgegebenen schriftlichen Text gebunden ist, der in sich komplex sein mag, muss der mündliche Erzähler den Erzähltext erst erschaffen. Je nach dessen sprachlichen Fähigkeiten kann dieser produzierte Text mehr oder weniger einfach ausfallen.

2.2Der Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb

Ganz allgemein können wir annehmen, dass Vorlesen sprachliches Lernen begünstigt. Durch viele empirische Untersuchungen kann diese Annahme als gut bestätigt gelten (vgl. z. B. Whitehurst et al. 1988, Arnold et al. 1994, Wasik/Bond 2001, Kümmerling-Meibauer et al. 2015, Gressnich et al. 2015). Am deutlichsten ist vermutlich der durch das Vorlesen angeregte Wortschatzerwerb messbar. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, haben einen größeren Wortschatz als solche Kinder, bei denen dies nicht der Fall ist (vgl. z. B. Biemiller/Boote 2006, Blewitt 2014). Wiederholtes Vorlesen begünstigt das Wortlernen sowohl bei sich typisch entwickelnden Kindern (vgl. z. B. Horst 2013, 2015) als auch bei Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (vgl. z. B. Rohlfing et al. 2017).

Im Bilderbuchklassiker Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle finden wir die folgende Textpassage:

Sie baute sich ein Haus, das man Kokon nennt, und blieb darin mehr als zwei Wochen lang. Dann knabberte sie sich ein Loch in den Kokon, zwängte sich nach draußen und …

Kokon ist ein fachsprachlicher Ausdruck, der hier kurz erläutert wird (‚ein Haus für Raupen‘) und noch einmal erwähnt wird. Auch Information über das Genus ist aus diesem Text ableitbar. Ein Kind hat also Gelegenheit, dieses Lexem zu lernen.

Es ist wichtig einzusehen, dass für den Spracherwerb das kindliche Lexikon von zentraler Bedeutung ist. Dies hängt damit zusammen, dass für jeden einzelnen neuen Lexikoneintrag eine Ergänzung fehlender Information stattfindet. Geht man davon aus, dass ein Lexikoneintrag phonologische, morphologische, syntaktische, semantische und pragmatische Informationen enthält und Lexikoneinträge miteinander vernetzt sind, ist auch klar, dass der Pragmatikerwerb – auf den wir uns hier konzentrieren – nicht unabhängig vom Grammatikerwerb betrachtet werden kann.

Will das Kind verstehen, was das Lexem ich bedeutet, kann es dies aus dem Input nur schwer erschließen. Deiktische Personalpronomen sind nicht das Gleiche wie Eigennamen. Es ist nicht von vorneherein erwartbar, dass ich einmal den Vater Sven, ein anderes Mal die Mutter Lena bezeichnet. Redet die Tochter zunächst von sich als Simone, so kommt sie später zu dem Schluss, dass auch sie von sich selbst mit ich reden kann. In der Vorlesesituation sind die Dinge noch komplizierter, da bei Erzählungen in der 1. Person zwischen dem Bezug auf eine Vorleserin und eine fiktionale Figur unterschieden werden muss. Es ist daher deutlich, dass zwischen dem Erwerb eines Lexems, der Erwerbsituation und dem pragmatischen Phänomen der Deixis ein intimer Zusammenhang besteht (Gressnich/Meibauer 2010).

Das Vorlesen wirkt sich außerdem auch positiv auf die Weiterentwicklung grammatischer Fähigkeiten aus. So zeigt Stark (2016), dass das Vorlesen von Kinderliteratur den Präteritumerwerb im Deutschen maßgeblich fördern kann. Anders als in der alltäglichen gesprochenen Sprache kommen die grammatischen Formen des Präteritums in erzählender Kinderliteratur recht häufig vor. Diese stellt insofern also eine wichtige Inputquelle für diese Zielstruktur dar, welche solchen Kindern fehlt, die schriftsprachfern aufwachsen.

Auch von Lehmden et al. (2013) konnten zeigen, dass das Vorlesen einen förderlichen Effekt auf die Entwicklung grammatischer Fähigkeiten hat, in diesem Fall auf den Erwerb des Passivs. In ihrer Studie untersuchten sie den Effekt des Vorlesens auf die Entwicklung der Fähigkeit bei 5- bis 6-jährigen Kindern, Äußerungen mit Vorgangspassiv zu produzieren. Ihre Ergebnisse belegen, dass sowohl das Vorlesen an sich, als auch das Vorlesen von speziell für die Studie umgeschriebenen kinderliterarischen Texten mit einem hohen Anteil an Passivkonstruktionen einen Effekt auf die entsprechenden produktiven Fähigkeiten der Kinder hatte, der auch noch einen Monat nach Beendigung der Intervention anhielt.

Erzählen ist eine pragmatische Fähigkeit, die Kinder vermutlich schon im 3. Lebensjahr zu beherrschen beginnen, aber es gibt entsprechende Entwicklungen noch bis in die Jugendzeit (vgl. z. B. Becker/Wieler 2013, Dannerer 2012). Eine Hypothese ist, dass der Erzählerwerb nicht nur durch die schulische Ausbildung befördert wird (bei der auch das schriftliche Erzählen eine wesentliche Rolle spielt), sondern auch durch Vorbilder im Vorgelesenen (vgl. z. B. Lever/Sénéchal 2011); dass Kinder etwas erzählen, ist ja ein typischer Inhalt von Kinderliteratur. Neben dem positiven Einfluss auf die Sprachentwicklung hat das Vorlesen auch eine förderliche Wirkung auf die Ausbildung der literarischen Fähigkeiten von (Vor-)Schulkindern (vgl. z. B. Wieler 1997, Becker 2014, Gressnich et al. 2015).

Der Fokus bei den oben erwähnten Studien liegt vor allem auf der Interaktionsform „Vorlesen“. Welchen Einfluss auf die Studienergebnisse jeweils die konkret vorgelesenen Texte und deren Eigenschaften hatten, bleibt jedoch weitestgehend unklar (Stark 2016 ist eine Ausnahme). Außerdem haben die meisten uns bekannten Studien den Effekt des Vorlesens auf die sprachliche/literarische Entwicklung von Kindern im Kindergarten- bzw. frühen Grundschulalter (2 bis 7 Jahre) untersucht. Zwar ist der Spracherwerb bis zum Alter von 7 Jahren schon recht weit fortgeschritten, jedoch bei weitem nicht abgeschlossen. Was passiert also danach, insbesondere im Selbstlesealter? Ist davon auszugehen, dass Kinderliteratur als solche auch den weiterführenden Spracherwerb jenseits des Vorlesealters unterstützt? Diese Fragen sind bisher völlig ungeklärt.

3Kinderliteratur als spezifischer Input für den Erwerb pragmatischer Phänomene

Im Unterschied zu den oben genannten Studien interessiert sich Meibauer (2011, 2017) viel stärker für die Frage, wie kinderliterarische Texte an sich sprachlich zu charakterisieren sind und welche Rolle sie für den Spracherwerb spielen. Er stellt die These auf, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Spracherwerb darstellt. Insbesondere sei Kinderliteratur „eine Literatur (…), die systematisch auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt“ (Meibauer 2011: 11).

In der Spracherwerbsforschung geht man normalerweise davon aus, dass es beim Menschen einerseits eine genetisch und biologisch kodierte Fähigkeit zum Spracherwerb gibt, dass aber anderseits ein Input erforderlich ist, damit eine Sprache gelernt werden kann. Wenn von einem spezifischen Input die Rede ist, ist damit ein Input gemeint, der nicht notwendig vorkommt und deshalb besondere Lernchancen bietet. Ein solcher spezifischer Input ist die Kinderliteratur.

Auch wenn das Kind schon selbst lesen kann, hat Kinderliteratur einen Einfluss auf die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten. Funktional für diesen Zusammenhang ist, dass Kinderliteratur grundsätzlich an den kindlichen Entwicklungsstand angepasst ist. Dies gilt für Frühe-Konzepte-Bücher genauso wie für Jugendliteratur mit ihren oft komplexen narrativen Verfahren, die denen der Erwachsenenliteratur in nichts nachstehen.

In der Spracherwerbsforschung ist eine gängige Annahme, dass Einfaches vor Komplexem erworben wird. Genauso kann man annehmen, dass einfache Kinderbücher vor komplexen Büchern rezipiert werden. Oder umgekehrt, dass einfache Bücher an kleine Kinder adressiert sind und komplexe Bücher an größere Kinder. Dass Einfachheit eine wichtige Kategorie von Kinderliteratur ist, hat Lypp (2002) früh gesehen. Aus linguistischer Sicht fehlt aber eine genaue Operationalisierung dieser Einsicht (vgl. Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2017, Meibauer 2014).

In der Spracherwerbsforschung gilt als ein wichtiges Komplexitätsmaß die MLU (‚mean length of utterance‘). Hier wird in Bezug auf 100 vom Kind gemachten Äußerungen die durchschnittliche Anzahl der Morpheme pro Äußerung gezählt (Kauschke 2012: 85). In der Zweiwortphase ergibt sich ein durchschnittlicher Wert von zwei Wörtern pro Satz. Die Erwartung ist, dass im Verlaufe des Spracherwerbs die vom Kind gemachten Äußerungen/Sätze länger werden.

Auch in allen anderen Hinsichten ergibt sich eine Komplexitätszunahme hinsichtlich der sprachlichen Äußerungen der Kinder: Die Komplexität von Wörtern nimmt zu; die Komplexität von Sätzen nimmt zu (einfacher Satz vs. komplexer Satz); die Länge von Gesprächsbeiträgen/Texten steigt; es werden mehr komplexe Konstruktionen verwendet, zum Beispiel Passiv, Negation, Modalverbkonstruktionen, usw. (siehe dazu die chronologische Übersicht über Meilensteine des Spracherwerbs bei Kauschke 2012: 173ff.). Im Prinzip müsste man zu jedem kinderliterarischen Text feststellen können, wie er zu den sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes passt. Verstehensschwierigkeiten entstehen bei einer mangelnden Passung. Wird diese überwunden, hat das Kind etwas gelernt.

Pragmatisches Lernen findet natürlich auch gänzlich ohne Kinderliteraturinput statt. Oder umgekehrt: Unter den pragmatischen Angeboten des Inputs werden einige sein, die auch im lektüreunabhängigen Input vorkommen. Einige werden aber auch spezifisch in dem Sinne sein, (i) dass sie entweder ausschließlich durch die Fiktionalität konstituiert werden oder aber (ii) in besonders verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In Bezug auf (i) kann man zunächst an den Reim denken, der in gesprochener Sprache nicht vorkommt. Man kann hier auch an gewisse Konstruktionen wie die inquit-Formel „Es war einmal …“ denken, die typisch für Märchen ist. Auch gewisse Formen der indirekten Redewiedergabe, zum Beispiel die erlebte Rede, dürften spezifisch für die Narration sein. In Bezug auf (ii) kann man viele pragmatische Phänomene nennen, die auch im normalen alltäglichen Input vorkommen, aber innerhalb der Kinderliteratur in solchen Kontexten, die ein besonderes Lernangebot bereithalten. Dies betrifft praktisch alle Bereiche der Pragmatik, die hier kurz angerissen werden sollen.

Der Erwerb von Sprechakttypen dürfte am besten empirisch erforscht sein.1 Vermutlich sind im kinderliterarischen Input spezielle Sprechakttypen vorhanden, wie zum Beispiel die Beschwerde oder die Prophezeiung, die im Alltagsinput nicht so häufig sind. Im Kontext der Literatur sind solche Sprechakte mit Konsequenzen verbunden, die über Glückensbedingungen für die entsprechenden Sprechakte Aufschluss geben können (vgl. Gressnich 2018). Kleinere Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten beim Verstehen der Aufrichtigkeits- und der Vorbereitungsbedingung für Versprechen (Bernicot/Laval 2004). Es könnte sein, dass sie aus dem Kontext einer Narration Aufschluss darüber gewinnen, wie diese Bedingungen normalerweise funktionieren. Genauso können sie Aufschlüsse über die sprachlichen Aktivitäten des Lügens und Täuschens aus der Lektüre entsprechender Erzählungen gewinnen (Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2011). Im Buch Ich Tarzan – du Nickless! (Murail/Gay 2011), welches vom Verlag für Kinder ab einem Alter von 7 Jahren empfohlen wird, gibt es z. B. folgende Szene.

Ich fragte: „Wofür ist das gut, ,in einer Sprache zu baden’?“ Papa regte sich auf. „Jean-Charles, ich bitte dich! Am Ende der Ferien wirst du Deutsch können. Das ist sehr wichtig für später. Erfolg im Leben hat man nur, wenn man eine Fremdsprache beherrscht.“

„Kannst du denn Deutsch?“ Mein Vater musste husten, bevor er antwortete. „Ein bisschen“, sagte er. Was eine glatte Lüge war.

Während für einen älteren Leser das Husten des Vaters ein Hinweis sein kann, dass die folgende Äußerung des Vaters mit Vorsicht zu genießen ist, mag das für die anvisierte Leserschaft unter Umständen noch kein ausreichender Hinweis darauf sein, dass die Antwort des Vaters nicht der Wahrheit entspricht. Hier hilft jedoch der Erzähler nach, indem er dem Leser eine direkte Interpretation der Äußerung des Vaters bietet. Insgesamt bietet dieses Buch sehr viele Möglichkeiten, etwas über die Aktivitäten des Täuschens zu lernen. Der Protagonist Jean-Charles gibt seinen Eltern gegenüber vor, von einem Jungen (Nickless) auf dem Urlaubscampingplatz Holländisch zu lernen. Tatsächlich macht er sich einen Spaß und bringt dem Jungen, welcher wiederum denkt, er würde von Jean-Charles Französisch lernen, eine „Quatschsprache“ bei. Damit er dabei selbst nicht durcheinanderkommt, schreibt er sich die Wörter, die er sich hat einfallen lassen, in sein eigenes Vokabelheft. Seinen Eltern gegenüber verkauft er die aufgeschriebenen Wörter wiederum als Vokabeln des Holländischen.

In kinderliterarischen Texten spielen auch verschiedene Arten von konversationellen Implikaturen eine Rolle. Sei es, weil die Figuren in ihren Gesprächen Äußerungen tätigen, die Implikaturen auslösen, sei es, weil der Erzähler durch die von ihm gewählte Darstellung der Ereignisse bestimmte Implikaturen nahelegt. Insbesondere Bilderbücher bieten die Möglichkeit, im Text nicht explizit Verbalisiertes, aber doch Nahegelegtes (u.a. auch Implikaturen) auf der Bildebene explizit aufzugreifen. Damit „zeigen“ sie dem kindlichen Betrachter/Zuhörer/Leser die entsprechende Interpretationsmöglichkeit des verbal Ausgedrückten. Insgesamt ist davon auszugehen, dass kinderliterarische Texte den kindlichen Leser beim Verstehen von Implikaturen dadurch unterstützen, dass diese in den jeweiligen Kontext der beim (Vor-)Lesen durch das Kind aufgebauten mentalen Textwelt eingebettet auftreten.

Um Implikaturen und andere nicht explizit „gesagte“ Bedeutungsaspekte von Äußerungen verstehen zu können, bedarf es einer Theory of Mind, also der grundsätzlichen Fähigkeit, auf die mentalen Zustände Anderer schließen zu können. Dafür muss dem Kind zunächst einmal bewusst werden, dass Andere einen vom eigenen abweichenden Wissensstand in Bezug auf einen Sachverhalt haben können und dass ihr konkretes Handeln auf ihren jeweiligen Wissensstand zurückzuführen ist. Dieser Wissensstand kann natürlich auch von den realen Gegebenheiten abweichen, d.h., Menschen können falsche Überzeugungen haben, auf deren Basis sie handeln. Umgekehrt lassen sich auch Handlungen von Menschen, die in einem bestimmten Kontext vielleicht zunächst unangemessen erscheinen, dadurch erklären, dass man der handelnden Person einen bestimmten Wissensstand „unterstellt“.

Beim Verstehen von Implikaturen schließt man vom sprachlichen Handeln einer Person auf deren zugrundeliegende Intentionen, die das entsprechende sprachliche Handeln erklären könnten, man nimmt also eine andere Perspektive ein. Kinderliterarische Texte bieten eine Fülle an Möglichkeiten, die Fähigkeit der Perspektivenübernahme auszubilden bzw. zu erweitern. So mag sich der kindliche Leser/Zuhörer beim ersten Betrachten des Bilderbuchs Das Buch über uns (Willems 2015) z. B. fragen, warum einer der beiden Protagonisten (ein Schwein) auf der ersten Seite dieses Buches, dem Leser zugewandt, „Vielen Dank!“ sagt. Ist man dann auf der letzten Doppelseite des Buches angelangt, auf der die beiden Protagonisten den Leser bitten „Würdest du uns bitte noch mal lesen?“ und ihre Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass „das klappt“, und kommt dem Wunsch der beiden nach, versteht man das „Vielen Dank!“ auf der ersten Buchseite plötzlich ganz anders, nämlich vor dem Hintergrund des durch das Schwein zum Ausdruck gebrachten Wunsches. Nun kann man auch die beim ersten Lesen auftretende Frage, warum das Schwein gleich auf der ersten Seite des Buches „Vielen Dank!“ sagt, beantworten. Es tut dies, weil es davon ausgeht, dass der (kindliche) Leser seinem Wunsch nachgekommen ist, das entsprechende Buch erneut zu lesen.

Schon Cassidy et al. (1998) haben argumentiert, dass kinderliterarische Texte Kindern möglicherweise Erfahrungen bieten, welche die Entwicklung der Theory of Mind fördern, da sie einen Kontext bieten, in dem mentale Zustände diskutiert werden (ebd.: 464). Sie zeigen mit ihrer Studie, dass Theory-of-Mind-Konzepte in kinderliterarischen Texten recht weit verbreitet sind. Dabei konzentrierten sie sich auf Texte, die 3- bis 6-Jährigen vorgelesen wurden. Insbesondere die Fähigkeit, Anderen eine falsche Überzeugung zuzuschreiben, entwickelt sich erst im Laufe des vierten Lebensjahres. Aber auch die Bücher für die unter 4-Jährigen enthielten schon nennenswerte Mengen an Instanzen falscher Überzeugungen, so dass man sagen kann, dass sie die Entwicklung der Fähigkeit, falsche Überzeugungen bei anderen als solche wahrzunehmen, unterstützen können.

Auch verschiedene Formen figurativer Sprache treten in Kinderbüchern auf. Colston/Kuiper (2002) haben z. B. eine Reihe von Kinderbüchern hinsichtlich des Vorkommens konzeptueller und nominaler Metaphern sowie von Vergleichen untersucht. Dabei stellten sie fest, dass in ihrem Korpus durchschnittlich pro 1000 Wörter Text knapp 54 solcher Metaphern/Vergleiche auftraten. Die Autoren vergleichen diese Zahl mit der durchschnittlichen Anzahl an Metaphern in einem Korpus aus schriftlichen und mündlichen Texten Erwachsener (Graesser/Mio/Millis 1989), die 40 Metaphern pro 1000 Wörter Text beträgt. Auch wenn dieser Vergleich mit Vorsicht zu genießen ist, da die zugrundliegenden Korpora (einmal kinderliterarische Texte, einmal schriftlich vorbereitete Reden und mündlicher Diskurs) sich stark voneinander unterscheiden, ziehen Colston/Kuiper daraus den Schluss, dass die Häufigkeit des Vorkommens von Metaphern in kinderliterarischen Texten zumindest nicht unterschätzt werden sollte. Das zeigt sich auch im Beitrag von Ash (2012), in dem sie eine ganze Reihe von Kinderbüchern auflistet, in denen Metaphern und Vergleiche eine prominente Rolle spielen, nicht zuletzt, weil sie dort in verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In dem Buch Die Werkstatt der Schmetterlinge (Belli/Erlbruch 2001) kommen zum Beispiel sehr viele Vergleiche und auch einige Metaphern vor. Dabei wird das Verstehen der Metaphern dadurch erleichtert bzw. angebahnt, dass den Metaphern entsprechende Vergleiche vorangehen. Im Buch wird erzählt, wie der Protagonist Rodolfo die Schmetterlinge erfand. Zu Beginn denkt er darüber nach, ein Wesen zu schaffen, das „wie ein Vogel und gleichzeitig wie eine Blume sein sollte.“ (ebd.: 6–7). Da es sich hier um einen Vergleich handelt, ist dieser für die anvisierte Leser-/Zuhörerschaft – das Buch wird vom Verlag für 5- bis 7-Jährige empfohlen – vermutlich gut nachvollziehbar. Später, nachdem es Rodolfo gelungen ist, ein solches Tier zu „erfinden“, zeigt er es seinen Freunden, die die Erfindung mit „,Eine fliegende Blume!‘ rief Paganini. ,Ein winzig kleiner Vogel …’ staunte Kalle“ kommentieren (ebd.: 26). Auch Purcell (2016) argumentiert dafür, dass Bilderbücher durch den Einsatz von Metaphern auf visueller Ebene zur Entwicklung der Fähigkeit, Metaphern zu verstehen, beitragen können.

Die Fähigkeit, die nicht-kompositionale, aber häufig dominantere Bedeutung von Phrasemen zu verstehen, entwickelt sich ab dem 6./7. Lebensjahr und dauert teils noch bis ins 13. Lebensjahr an (vgl. Cacciari/Levorato 1989). Wie Richter-Vapaatalo (2007) und Finkbeiner (2011) mit ihren Analysen gezeigt haben, können kinderliterarische Texte beachtliche Mengen an Phrasemen aufweisen und somit prinzipiell die Entwicklung der Fähigkeit, deren nicht-kompositionale Bedeutung zu verstehen, unterstützen, wie auch den Erwerb dieser sprachlichen Einheiten als solchen.

Auch die Untersuchungen zur Fähigkeit, Ironie zu verstehen, weisen auf einen längeren Erwerbszeitraum hin (im Alter von 4 bis 10 Jahren laut Hoicka 2014, 6 bis 12 Jahren bei Hodske et al. 2007 und Filippova 2014). Obwohl in der Literaturwissenschaft (z. B. Walsh 2003, 2016) und der Pädagogik (z. B. Aßmann 2008, Aßmann/Krüger 2011, Krüger 2011) die Angemessenheit von Ironie als sprachlichem Mittel in Literatur für Kinder bzw. in den verbalen Interaktionen pädagogischer Fachkräfte mit Kindern auch weiterhin diskutiert wird, ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele kinderliterarische Texte Ironie enthalten.2 Das gilt auch für Bilderbücher (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999), bei denen sich häufig – ähnlich wie bei Metaphern – die Ironie aus der spezifischen Diskrepanz zwischen den Narrationen auf verbaler und bildlicher Ebene ergibt. Aber auch in Büchern für jüngere Selbstleser findet sich schon Ironie rein auf der verbalen Ebene. In Spackos in Space (Till 2013), welches vom Verlag für Leser ab 10 Jahren empfohlen wird, bedankt sich z. B. der autodiegetische Erzähler für die umständliche und umfangreiche Wegbeschreibung eines Roboters mit den Worten „,Vielen Dank für die unkomplizierte Wegbeschreibung!‘“ (ebd. 29). In Frerk, du Zwerg! (Heinrich/Flygenring 2011, vom Verlag ab 8 Jahren empfohlen) kommentiert der Erzähler die Bemerkung, die Frerks Mutter macht, als sie ihm sein Frühstück hinstellt („‚Damit du groß und stark wirst.‘“) gedanklich mit „Na, hat ja prima geklappt bisher. Er ist der Drittschwächste und der Zweitkleinste in seiner Klasse.“ (ebd.: 17).

Zwar ist das Erzählen von Witzen grundsätzlich eine orale Textsorte (vgl. Hauser 2005), aber Witze sind oft vorgefertigt und spielen in der Kinderliteratur eine nicht zu unterschätzende Rolle. Man kann annehmen, dass Kinder Witzformate und Witze unter anderem auch durch Kinderliteratur lernen. Ähnliches gilt auch für andere Formen von Humor. Je jünger die anvisierten Leser, desto höher ist der Anteil an „lustigen“ Büchern in der Kinderliteratur. Schon (Bilder)bücher für die jüngsten (Selbst-)Leser stellen eine mögliche Erwerbsquelle für Humor dar. Auch hier ergibt sich dieser häufig nicht ausschließlich auf der Textebene, sondern im Zusammenspiel mit der Bildebene. In Büchern für ältere Leser spielt dann vor allem konversationeller Humor eine größere Rolle. Hier erhalten Leser Modelle für gelingende (oder eben auch misslingende) humorvolle Kommunikation. So witzelt der autodiegetische Erzähler in Ohrensausen (Till 2004) mit seiner Klassenkameradin wie folgt herum, als diese das erste Mal zu ihm kommt, um mit ihm Mathe zu üben.

„Okay, womit sollen wir anfangen? Wo speziell hängt’s denn jetzt bei dir mit den Funktionsgleichungen?“

„Hm, gute Frage. Bei den Funktionen, auf jeden Fall. Und dann wären da noch diese Gleichungen.“

„Och, wenn’s nur das ist, das kriegen wir schon hin. Dann fangen wir also am besten ganz von vorne an. Zwei mal zwei ist?“

„Hey, das ist nicht fair! Du wolltest doch ganz von vorne anfangen! Was ist eine Zwei?“

„Wenn du alle Pamela-Anderson-Brüste in Vinnies Bude zusammenzählst und die dann durch zwei teilst, weißt du, wie viele Poster er von ihr hat.“

„Ach so, diese Zwei, okay, alles klar. Und was ist mit der anderen Zwei?“

„Ich seh schon, das wird länger dauern.“

„Soll ich dir ein Snickers holen?“

„Ein Snickers?“

„Na, du weißt doch: wenn’s denn mal wieder länger dauert.“ (ebd.: 24)

Für verbalen Humor wurde in der Entwicklungspsychologie gezeigt, dass die Fähigkeit, diesen zu verstehen, erst ca. ab dem 7. Lebensjahr vorhanden ist, wenn Kinder anfangen, Mehrdeutigkeit in der Sprache wahrzunehmen (vgl. McGhee 1979, 1989). Wie sich diese Fähigkeit im Einzelnen auch nach dem 7. Lebensjahr noch weiterentwickelt und ob es hier auch Unterschiede bzgl. unterschiedlicher Arten von Humor gibt, ist bisher kaum erforscht. Das gilt umso mehr für literarischen Humor (siehe aber Shannon 1999). Da das Humorverständnis eng mit der Fähigkeit zusammenhängt, andere Formen der „Unaufrichtigkeit“ (zum Beispiel beim Lügen) zu verstehen, kann man von ersterem nur sagen, dass es vollständig erworben ist, wenn ein Sprecher-Hörer in der Lage ist, zwischen den verschiedenen Formen der Unaufrichtigkeit angemessen zu unterscheiden. Kinderliterarische Texte bieten auch für die Schulung der Wahrnehmung derartiger Unterschiede vielfältige Situationen.

Auch die (Un-)Höflichkeit ist ein pragmatisches System, das in den letzten Jahren intensiv erforscht wurde. Im Deutschen gibt es Besonderheiten durch das System des Duzens und Siezens. Es ist bekannt, dass die entsprechenden Regeln von Kindern erst nach und nach erlernt werden. Kinderliteratur kann Hinweise darüber geben, in welchen Situationen Sprecher(innen) mit bestimmten sozialen Rollen höflich oder auch unhöflich agieren (vgl. z. B. Pleyer 2019). So spricht der Löwe in Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte (Baltscheit 2002) die anderen Tiere im Dschungel mit „Du“ an und fordert sie nach einander auf, einen Brief an die unbekannte Löwin zu schreiben. Die Tiere kommen dieser Aufforderung nach und sprechen die fremde Löwin in ihren Briefen mehrheitlich mit „Sie“ an. Im Buch Die Heuboden-Bande. Ein Huhn in geheimer Mission (Heger/Rupp 2020) wird einer der Protagonisten – Herr Schulz, der Hund – als „Profischnüffler mit feinen Manieren und superguten Ohren“ eingeführt (rechte Seite des Vorsatzpapiers). Neben einem sehr ausgewählten Ausdruck, den er zeigt, spricht er die anderen Protagonisten auch mit „Sie“ an, während diese „Du“ zu ihm sagen.

Nicht alle Jugendlichen sprechen sog. Jugendsprache. Diese wird aber gerne benutzt, um Jugendliche zu charakterisieren. Auch wenn dies nicht authentisch gelingt, können solche Jugendliche, die über keine entsprechenden Register verfügen, jugendsprachliche Redeweisen zur Kenntnis nehmen oder sich sogar aneignen.

Schließlich bietet Kinderliteratur auch einen Zugang zu bestimmten Dialogtypen, zum Beispiel der Vorwurf/Rechtfertigungs-Interaktion oder einem Gespräch zwischen Liebenden. Man kann vermuten, dass entsprechende Dialoge so modelliert werden, dass sie typische Eigenschaften solcher Dialogtypen enthalten.

Zu nennen sind auch die verschiedenen Verfahren der Redewiedergabe, zum Beispiel die der direkten, der indirekten und der gemischten Redewiedergabe. Die Kinderliteratur enthält hier ein reichhaltiges Input-Angebot (siehe Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2015).

Mit dieser Skizze sind natürlich nicht alle pragmatischen Phänomene erfasst. Man muss hier insbesondere auch an die lexikalische Pragmatik denken, zum Beispiel an die Pragmatik von Modalpartikeln, Interjektionen, Ausdrücke der Emotion und der Einstellung und vieles mehr. Aber auch für den Erwerb kohäsiver Mittel und die Entwicklung des Verständnisses von Diskurstrukturen im Allgemeinen kann angenommen werden, dass Kinderliteratur eine Rolle spielt. Einschlägig sind hier auch Verfahren der Einführung von Diskursreferenten (Gressnich 2011).

Was den Zusammenhang von sprachlichen Eigenschaften der Kinderliteratur im Allgemeinen und dem Erwerb sprachlicher Phänomene und Kompetenzen angeht, liegen bisher nur wenige empirische Untersuchungen vor. Das gilt umso mehr für die oben genannten pragmatischen Phänomene und Kompetenzen.

In den oben schon erwähnten Studien von Stark (2016) und Lehmden et al. (2013) ließ sich ein Zusammenhang zwischen den sprachlichen Eigenschaften der beim Vorlesen eingesetzten Kinderliteratur auf den Erwerb bestimmter sprachlicher Phänomene (in diesem Fall Präteritum bzw. Passivkonstruktionen) feststellen. Müller/Stark (2015) haben die sprachliche Beschaffenheit ausgewählter kinderliterarischer Bücher genauer unter die Lupe genommen, um für den Zweitspracherwerbskontext passende Literatur für verschiedene Sprachlernbereiche zu identifizieren. Dabei berücksichtigen sie die Bereiche Wortschatz, Phonologie, Morphologie, Syntax, Erzählen und Schriftsprache und Frühes Schreiben. Gawlitzek (2013) analysiert eine Reihe von deutschen und englischen Kinderbüchern (der Altersgruppen ab 2 bis ab 6 Jahren) hinsichtlich ihrer Komplexität (gemessen in Wörter pro Satz), der vorkommenden Satzfunktionen sowie der verwendeten syntaktischen Strukturen. Ziel ist es, herauszufinden, ob Kinderliteratur zum Erwerb der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit (CALP) beitragen kann.

Eine weitere Ausnahme bildet die schon erwähnte Untersuchung von Finkbeiner (2011), die mit ihrer Analyse zweier Bücher von Otfried Preußler zur Beantwortung der oben gestellten Frage, welche Eigenschaften es sind, die kinderliterarische Texte als spezifischen Input für den weiterführenden Spracherwerb kennzeichnen bezüglich des Phrasems beigetragen hat. Sie analysierte Die kleine Hexe (ein Kinderbuch) und Krabat (ein Buch für Jugendliche) hinsichtlich des Vorkommens von Phrasemen sowie potenzieller Verständnishilfen für diese. Insbesondere überprüfte Finkbeiner unter anderem folgende Thesen: Erstens sind die Phrasemarten, die sich in Büchern für (junge) Kinder finden, semantisch und pragmatisch „leichter“ zu verstehen als solche in Jugendbüchern. Zweitens werden mehr Phraseme in Kinderbüchern als in Jugendbüchern von einer Art „Prozedur der Verständlichmachung“ begleitet (vgl. Finkbeiner 2011: 70). Ihre Ergebnisse bestätigen diese beiden Hypothesen.

4Pragmatik, Didaktik und Schulunterricht

Das Vorlesen in didaktischen Zusammenhängen muss gesondert untersucht werden. Schon im Kindergarten wird vorgelesen, aber hier steht die Vorleserin oft einer Gruppe von Kindern gegenüber und es gibt möglicherweise Probleme bei der nötigen Aufmerksamkeit und entsprechend bei der Feinanpassung. Mit dem Erwerb der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben verliert das Vorlesen im Verlauf der Grundschulzeit nach und nach an Bedeutung, da die Kinder zunehmend in der Lage sind, sich literarische und sachbezogene Texte selbst zu erschließen. Dennoch gibt es auch hier das Format des Vorlesens, sei es, dass der Lehrer oder die Lehrerin vorlesen, oder dass die Kinder selbst als Vorleser(innen) agieren müssen. Das Vorlesen ist für Anfänger(innen) eine schwierige, riskante Leistung, denn die Zuhörer(innen) können direkt die Fähigkeit zum Lesen kontrollieren und bewerten und haben auch unmittelbaren Zugang zu begleitenden Affekten.

Insgesamt bleibt das Vorlesen gerade in der Grundschulzeit ein wichtiges Unterrichtsformat, insbesondere als Ausgangsbasis für das (weiterführende) literarische Lernen der Kinder (vgl. Kruse 2007, Spinner 2004, 2006). Insofern ist aus pädagogischer Sicht die Frage interessant, ob ein derartig etabliertes Format des Literaturunterrichts nicht auch für die Ziele des Sprachunterrichts (insbesondere des sprachlichen Lernens sowie der Entwicklung von Sprachbewusstheit) genutzt werden kann. Für den Zusammenhang von Pragmatikerwerb und Kinderliteratur ist wiederum die Frage interessant, inwieweit schulische Vorlesegespräche zum Erwerb pragmatischer Kompetenzen beitragen können.

Für den Erstleseunterricht und das literarische Lernen bieten sich in der Grundschulzeit sog. herausfordernde Bilderbücher (‚challenging picturebooks‘) besonders an. Dies können textlose oder texthaltige Bilderbücher sein. In vielen Studien hat man nachweisen können, dass dieser Bilderbuchtyp eine Kommunikation über Geschichten und literarische Inhalte besonders ermöglicht (Dammann-Thedens 2011, Arizpe 2014, Evans 2015). Bei Text-Bild-Kombinationen ist darüber hinaus die Bildebene in die Interpretation einzubeziehen, was für die meisten Kinder (und viele Erwachsene) eine anspruchsvolle Aufgabe sein kann (vgl. Papen 2019 zu ’visual literacy‘).

Kinderliterarische Texte eignen sich auch sehr gut als Ausgangsbasis für einen Literatur und Sprachreflexion (hier insbesondere in Bezug auf pragmatische Phänomene) verbindenden Deutschunterricht, eben weil sie entsprechende Phänomene (verstärkt) enthalten, über deren Effekt/Konsequenzen für die Literarizität eines Textes, aber auch in Bezug auf die Wahrnehmung von Figuren reflektiert werden kann. Ob und wie das tatsächlich funktioniert, wäre zu untersuchen.

In der Unterrichtskommunikation spielt das Verhältnis von interner und externer Pragmatik ebenfalls eine Rolle.1 Man kann sagen, dass Elemente der Vorlesesituation hier in systematisierter Weise auftreten, zum Beispiel durch das Stellen von Lehrerfragen und die Erwartung bzw. das Geben von Schülerantworten, das korrigierende, evaluierende, weiterführende Feedback der Lehrpersonen. In gewisser Weise kann man argumentieren, dass Kinder, die Erfahrungen mit Vorlesesituationen gesammelt haben, besser vorbereitet auf die besonderen Anforderungen von Unterrichtskommunikation sind, als Kinder, die solche Erfahrungen nicht oder nur in begrenztem Umfang gemacht haben. Denn die Frage-Antwort-Sequenzen in der Vorlesesituation bzw. im Unterricht unterscheiden sich in ihren pragmatischen Bedingungen von denen der alltäglichen Kommunikation. So ist eine der Gelingensbedingungen für Fragen als Sprechakte in der alltäglichen Kommunikation im Unterrichtskontext meist gar nicht erfüllt: In den meisten Fällen, in denen Lehrer Schülern Fragen stellen, tun sie dies nicht aus einem Informationsdefizit heraus, welches sie ausgleichen wollen. Im Gegenteil, der Lehrer weiß eigentlich die Antwort auf seine Frage schon. Auch der aus der alltäglichen Kommunikation vielleicht schon bekannte Sprecherwechselapparat muss für die Bedingungen der Unterrichtskommunikation angepasst werden: Hier ergibt sich der Sprecherwechsel nicht anhand der Identifikation von übergaberelevanten Stellen im Gespräch, sondern in den meisten Fällen wird das Rederecht durch die Lehrperson erteilt. Das literarische Subgenre des Schulromans bietet hier besonders reizvolle Möglichkeiten der „Spiegelung“ und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen.

Ein hoher Anteil von Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund stellt den Deutschunterricht vor besondere Anforderungen. Insbesondere zweisprachige Bilderbücher und Kinderbücher reagieren darauf. Auch für den Fremdsprachenunterricht bieten sich solche Werke an. Solche pragmatischen Informationen, die auf soziokulturelle Vorstellungen Bezug nehmen, erweisen sich als besonders geeignet für den entsprechenden Schulunterricht.

5Kindermedien

Wir haben uns bisher an Kinderliteratur orientiert, die in Form des Buchmediums vorliegt. Die Frage ist nun, wie man den Pragmatikerwerb auf weitere literarische Medien bezieht. Zu denken ist an Hörbücher, Comics, Manga, Videos, Filme, usw. Vermutlich bieten alle diese Medien besondere pragmatische Lernmöglichkeiten. Bei Hörbüchern ergeben sich gegenüber der Vorlesesituation Unterschiede: (a) Das Kind kann das Vorgelesene jederzeit wiederholen. (b) Das Vorgelesene ist zeit- und ortsunabhängig. (c) Es gibt einen Standardsprecher, der sich typischerweise nicht verspricht, räuspert, oder Fehler macht. (d) Es gibt keine Möglichkeiten der direkten Interaktion mit der Vorleserin oder dem Vorleser. Die Aspekte (a)-(d) bieten Vorteile oder Nachteile hinsichtlich der pragmatischen Lernmöglichkeiten.

Audiovisuelle Medien wie Videos bzw. Filme ermöglichen dem Rezipienten im Vergleich zum (Vor-)Lesen oder Hören die Integration von Informationen aus mehreren parallelen Kommunikationskanälen. Während die Zuordnung wörtlicher Redeanteile zu den Figuren beim (Vor-)Lesen (und je nach Gestaltung durch den Sprecher auch beim Hören) schwierig sein kann, ist das bei Filmen bzw. Videos einfacher. Non- und paraverbale Signale, die die handelnden Figuren einsetzen, sind potenziell sichtbar und für die Interpretation von kommunikativen Handlungen nutzbar, spezifische Verhaltensweisen von Figuren im Zusammenhang mit bestimmten pragmatischen Phänomenen (z. B. Lügen, Ironie, mehr meinen als man explizit sagt) sind sichtbar und können in Bezug zum jeweiligen Phänomen gesetzt werden bzw. dabei helfen, die Intentionen der kommunizierenden Figur angemessen zu deuten. Auch in Bezug auf Schule und die Methode der intermedialen Lektüre (vgl. Kruse 2014) sind audiovisuelle Medien interessant. Hier ließe sich die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf gegebenenfalls vorhandene Unterschiede im kommunikativen Figurenverhalten zwischen den Medien lenken. Zu untersuchen wäre hier, inwieweit ein Bewusstsein über unterschiedliche pragmatische Phänomene herausgebildet werden kann, indem Schülerinnen und Schüler Differenzen zwischen der Darbietung eines kinderliterarischen Werkes in verschiedenen Medien wahrnehmen und zu erklären versuchen.

Comics und Manga bieten ebenfalls durch besondere Bild-Text-Kombinationen spezielle pragmatische Lernangebote. Diese betreffen zum Beispiel die Semantik und Pragmatik der Sprechblase (Maier 2019).

6Pragmatische Störungen

Es gibt ungestörten und gestörten Pragmatikerwerb (vgl. Meibauer 2013, Achhammer et al. 2016). Im gestörten Pragmatikerwerb können unter anderem pragmatische Fähigkeiten wie die Produktion und das Verstehen von Ironie, Metapher, Lügen, oder Humor betroffen sein.1 Für die Therapie pragmatischer Störungen bietet sich eine Arbeit mit Kinderliteratur an. So erwähnen Achhammer et al. (2016: 144) im Zusammenhang mit dem Therapiebereich „Kommunikationsverhalten und Gesprächsführung“ die dialogische Bilderbuchbetrachtung zur Festigung des Diskursverhaltens und das Vorlesen von Bilderbüchern zur Förderung des Zuhörerverhaltens als Interventionsmöglichkeiten. Aber auch zur Förderung der Fähigkeit, soziale Rollen und Beziehungen zu verstehen, wird auf die Verwendung entsprechender Bilderbücher verwiesen (ebd.: 148). Jester (2016) empfiehlt als einen förderlichen Kontext für den Erwerb von Theory-of-Mind-Konzepten bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen das dialogische Vorlesen von Bilderbüchern. Tsunemi et al. (2016) haben für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung gezeigt, dass das Vorlesen von Geschichten mit einer Fokussierung auf die Darstellung der Perspektiven der Protagonisten und ihrer Gefühle deren Fähigkeit der sozialen Perspektivübernahme möglicherweise verbessern kann. Riestra-Camacho (2019) analysiert das Drehbuch zum Film Fantastic Beasts and where to find them von J. K. Rowling und argumentiert dafür, dass sich dieses besonders für die kognitive Dramatherapie bei Menschen mit Asperger-Syndrom eignet.

7Forschungsfragen

Wie man sehen konnte, gibt es bisher nur wenige Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Kinderliteratur und Pragmatikerwerb. Zwar liegen schon Untersuchungen zum Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb vor, jedoch nehmen die vorliegenden Studien vorrangig Kinder im Vor- und frühen Schulalter und deren Wortschatzentwicklung bzw. die Entwicklung grammatischer und narrativer Fähigkeiten in den Blick. Zum Einfluss des Vorlesens auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten und Kompetenzen gibt es bisher kaum Untersuchungen. Darüber hinaus bleibt auch bei vielen der bisher durchgeführten Studien unklar, inwieweit es die konkreten sprachlichen Eigenschaften der vorgelesenen Texte waren, die zu den positiven Effekten des Vorlesens auf den Spracherwerb geführt haben. Wie sich das Vorlesen oder auch das Selbstlesen von Kinderliteratur auf den weiterführenden Spracherwerb jenseits des frühen Schulalters auswirkt, ist aktuell völlig ungeklärt. Bedenkt man die teilweise recht langen Erwerbszeiträume verschiedener pragmatischer Phänomene, erscheint gerade das Alter von 6/7 bis 13/14 Jahren als besonders interessant, um dieser Frage nachzugehen. Hier spielt nun unter Umständen auch die schulische Beschäftigung mit Kinderliteratur im Rahmen des Deutschunterrichts für die weitere Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten und Kompetenzen eine Rolle. Auch das gälte es zu untersuchen. Welchen Einfluss Kinderliteratur in anderen medialen Formen als dem (Bilder-)Buch auf den Pragmatikerwerb hat, ist gegenwärtig eine weitere offene Frage. Ebenso ist die Frage, inwieweit sich (das Vorlesen von) Kinderliteratur für therapeutische Zwecke bei pragmatischen Störungen im Kindesalter eignet, bisher weitestgehend unbeantwortet.

Im Wesentlichen sind also die folgenden Fragen zu beantworten:

(1)

Stellt Kinderliteratur einen spezifischen Input für den (weiterführenden) Pragmatikerwerb (im Selbstlesealter) dar?

(2)

Kann Kinderliteratur in ihren unterschiedlichen medialen Erscheinungsformen den Erwerb pragmatischer Phänomene unterstützen?

(3)

Kann das Vorlesen von Kinderliteratur den Erwerb pragmatischer Phänomene unterstützen?

(4)

Welche anderen Formen der Rezeption von Kinderliteratur sind geeignet, den Erwerb pragmatischer Phänomene und Kompetenzen voranzutreiben?

(5)

Welche Formate der unterrichtlichen Beschäftigung mit Kinderliteratur sind geeignet, neben dem literarischen Lernen auch sprachliches (insbesondere „pragmatisches“) Lernen anzuregen?

(6)

In welchen medialen Formen und mit welchen Rezeptionsformaten eignet sich Kinderliteratur für den therapeutischen Einsatz bei verzögerter/gestörter Entwicklung pragmatischer Kompetenzen und Fähigkeiten?

Wir haben in diesem Beitrag dafür argumentiert, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Pragmatikerwerb darstellt. Das wäre jedoch empirisch zu prüfen. Um die Frage in (1) beantworten zu können, braucht man konkretere Annahmen darüber, was einen Input im Spracherwerb „spezifisch“ macht. Wir haben dafür oben schon einige Vorschläge gemacht. Darüber hinaus bietet sich auch ein Vergleich mit der an das Kind gerichteten Sprache (KGS) an, welche u.a. folgende Eigenschaften aufweist (vgl. u.a. Kauschke 2012, Klann-Delius 2016):

Sie ist an den kognitiven Entwicklungsstand des Kindes angepasst. Das heißt, je jünger das Kind, umso „einfacher“ die KGS.