Präsenztherapie -  - E-Book

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Beschreibung

Präsenztherapie – Von der Theorie zur Praxis Die Sehnsucht nach „Präsenz“ in Form von Körperlichkeit, Nahbarkeit und Bindung ist Gegenstand der in diesem Buch vorgestellten Präsenztherapie. Ein Team internationaler Autoren verschiedener Kulturen und Disziplinen der Psychotherapie stellt Ihnen diese innovative Therapieform aus unterschiedlichsten Sichtweisen vor. Im vorliegenden Werk erhalten Psychologen, Psychiater und Therapeuten viele neue Denkanstöße zu einem besseren Verständnis der menschlichen Psyche. Darüber hinaus werden konkrete Beispiele zur Umsetzung der Präsenztherapie in der Praxis vorgestellt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Im Theorieteil werden die Elemente der Präsenztherapie sowie die zugrundeliegenden philosophischen und weltanschaulichen Konzepte vorgestellt. Dabei werden Konzepte der bekannten zeitgenössischen Denker Hans Ulrich Gumbrecht und Hans Lungwitz integriert. Der Praxisteil veranschaulicht die Anwendung dieser alternativen Therapie im Kontext von Psychoanalyse, Achtsamkeitslehre u.a. Highlights in diesem Buch: - Abendländische und fernöstliche Erkenntnissen und Herangehensweisen werden zusammengeführt. - Eine jeweils abschließende Diskussion von Theorie- und Praxisteil bringt die vielfältigen Aspekte der Präsenztherapie in einen nachvollziehbaren Zusammenhang. - Einführende Zusammenfassungen der Kapitel vermitteln einen schnellen Überblick. - Vorstellung eines Modellprojekts auf einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Station, aus dem sich erste Ansätze zur wissenschaftlichen Fortführung dieses Ansatzes ableiten lassen. Nutzen Sie diesen neuen Ansatz der Psychotherapie, um mit diesem ganzheitlichen Konzept zum Gesundungsprozess Ihrer Patienten beizutragen! Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Mit der kostenlosen eRef App haben Sie zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.

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EPUB

Seitenzahl: 349

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Präsenztherapie

Neue psychotherapeutische Implikationen im Wandel des abendländischen und des fernöstlichen Denkens

Karsten Wolf, Fengli Lan, Friedrich Wallner

Pháp Ấn, Michael Bornheim, Rolf-Dieter Dominicus, Chân Đức, Friedrich Hausen, Fotini Tilkeridou, Hans-Peter Wunderlich, Werner Zabka, Ursula Volz-Boers

10 Abbildungen

Geleitwort

Thomas Südhof

Das Präsenzerleben, mit dem sich dieses Fachbuch beschäftigt, ist in zweierlei Hinsicht auch für einen Grundlagenforscher interessant. Zum einen ist es per se wichtig, bei allen wissenschaftlichen Bemühungen zur Erforschung des Gehirns nicht das alltägliche subjektive Erleben eines einzelnen Menschen aus den Augen zu verlieren. Auch die Erforschung der Grundlagen der Gehirnfunktionen will letztlich dem Wohle des Menschen dienen and den Menschen verstehen. Deshalb darf auch die Grundlagenforschung das Gesamterleben des Menschen, sozusagen die Innenseite des Gehirns, nicht aus den Augen verlieren, sondern muss immer wieder versuchen, auch die subjektiven Erlebenswirklichkeiten des Menschen in betracht zu ziehen, und sich an seinen Lebens- und emotionalen Bedürfnissen orientieren.

Zum anderen ist das Präsenzerleben aus wissenschaftlicher Sicht besonders reizvoll, da es sich aktuell weitgehend (noch!) einer wissenschaftlichen Analyse im herkömmlichen Sinne entzieht. Alle Versuche, die Bedeutung von Präsenzerleben für das Leben und Erleben von Menschen besser zu verstehen, sind dennoch der Mühe wert, da ein besseres Verständnis der Bedeutung von Präsenzphänomenen nicht nur für das Verständnis des Menschen, sondern auch für die Behandlung von Stressfolgeerkrankungen relevant zu sein scheint.

Wir hoffen, dass ein tiefergreifenderes Verständnis des Funktionierens eines Gehirns, von dem wir noch weit entfernt sind, irgendwann einmal auch letztlich Präsenzphänomene einer wissenschaftlichen Analyse zugänglicher machen wird. Das menschliche Gehirn ist ein wahrlich ‘magisches’ Organ, wenn man betrachtet, was es leisten kann, und auf wie vielfältigen Ebenen, von abstrakter Datenverarbeitung zu Reflektion, Kommunikation, Imagination und konkreten Entscheidungsprozessen, es dies tut. Der Weg bis zu einem Verständnis der ‘höheren’ Ebenen des Gehirns ist allerdings noch sehr weit, da wir selbst die ‘niedrigeren’ Ebenen noch nicht annähernd verstehen. Dennoch, diesen Weg zumindest einzuschlagen lohnt sich, sowohl für das Erkennen des Gehirns und dem, was eigentlich ‘menschlich’ ist, wie auch zum Entwickeln besserer Therapien für seelische Krankheiten, in denen dieses Gehirn und das eigentlich Menschiliche gestört sind. Dieses Buch versteht sich als ein initialer Schritt auf dem Weg dorthin.

Danksagung

Karsten Wolf

Besonderer Dank gilt dem tibetischen Mönch Gonbo und seiner Familie aus den Weiten des tibetischen Hochlandes, die durch ihre gelebte Präsenz und Gegenwärtigkeit aus einer Selbstverständlichkeit fernöstlicher Denktradition heraus wesentliche Anregungen für dieses Buch gegeben haben.

Besonderer Dank gilt auch den Patientinnen und Patienten der Station Hans Lungwitz, von denen wir im Rahmen des Modellprojektes „Präsenztherapie“ viel lernen durften, sowie gilt gleichermaßen besonderer Dank dem gesamten Team der Station, namentlich (in alphabetischer Reihenfolge): Christiane Beiert, Michael Bornheim, Chris Cassel, Astrid Dörscheln, Bajram Fejzovic, Natalia Fino, Reiner Gost, Britta Heimes, Annette Jursch, Eva Kalbheim, Iris Ommer, Andreas Rocholz, Christine Schatschneider.

Schließlich gilt auch der Hans Lungwitz Stiftung ein besonderer Dank, die unser Projekt großzügig unterstützt hat.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Danksagung

Teil I Theorieteil

1 Einleitung

1.1 Entstehungsmomente des Buches

1.2 Beispiele von Präsenzerleben

1.3 Die Präsenztheorie von Hans Ulrich Gumbrecht

1.4 Die historische Begründung einer Präsenztheorie bei Hans Ulrich Gumbrecht

1.5 Der Inhalt dieses Buches

1.5.1 Theoretischer Teil

1.5.2 Praktischer Teil

1.6 Literatur

2 Formen und Hintergründe neuer Präsenzorientierungen im abendländischen Denken

2.1 Zu Begriff und Formen präsenzorientierten Denkens

2.2 Beispiele von Präsenzorientierungen in der neueren Philosophiegeschichte

2.2.1 Edmund Husserl und die Idee absoluter Gegenwart als Ausgangspunkt der Phänomenologie

2.2.2 Im kritischen Anschluss an Husserl

2.3 Diesseits des Begrifflichen: ästhetische Präsenzorientierung

2.3.1 Rudolf Kassner als Beispiel einer ästhetischen Präsenzorientierung in essayistischer Form

2.3.2 Ästhetische Rhetoriken der Präsenz in der Literaturauffassung

2.3.3 Präsenz statt Repräsentation

2.4 Präsenzorientierte Spiritualität

2.5 Warum heute Präsenzorientierung?

2.6 Literatur

3 Das Leib-Seele-Problem und das Hier und Jetzt bei Lungwitz

3.1 Objekt als Seiendes, Subjekt als Nichts – Lungwitzʼ Ansatz einer Lösung des Leib-Seele-Problems

3.2 Gefühl, Gegenstand und Erinnerung als Objektkategorien bei Lungwitz

3.3 Anschauung als Modus konkreter Gegenwärtigkeit

3.4 Literatur

4 Change in Classical Chinese Thinking

5 Leib-Seele und Präsenz in der buddhistischen Philosophie

5.1 Sein oder nicht sein? Das ist nicht die Frage!

5.2 All dieses ist Leiden

5.3 Verankert in unserem Leiden

5.4 Was sind wir doch für merkwürdige Wesen!

5.5 Vier Grundlagen der Achtsamkeit

5.6 „Schließt du die Tür bitte noch einmal...?”

5.7 Das Ende des Leides vor Augen

5.8 Geist-Körper – Buddhas wissenschaftlicher Durchbruch

5.9 Unser Geist-Körper-Problem lösen

5.10 Ich leide, also bin ich

5.11 Von Buddha zu Einstein

5.12 Meditation als Weg der Befreiung

5.13 Friedvolles Glück – Die Praxis der Achtsamkeit auf die Handlung in der Handlung

5.14 Literatur

6 Embodiment und Bindung – eine theoretische Annäherung

6.1 Das Körperliche und das „Berührt-Werden“

6.2 Literatur

7 Präsenz und Antirationalismus in der Architektur von Kengo Kuma und Friedensreich Hundertwasser

7.1 Die Architektur von Kengo Kuma

7.2 Kunst und Architektur von Friedensreich Hundertwasser

7.3 Die Ästhetik der Immersion

7.4 Literatur

8 Die interdisziplinäre und interkulturelle Begründung der wissenschaftlichen Wahrheit: der Konstruktive Realismus

8.1 Die Vorgeschichte

8.2 Die Krise der Wissenschaftstheorie – die Wende zum Konstruktivismus

8.3 Der Konstruktive Realismus

8.3.1 Lebenswelt – Wirklichkeit – Realität

8.3.2 Verfremdung

8.3.3 Die Frage der Legitimität der Wissenschaft

8.4 Anwendungen des Konstruktiven Realismus - vier Beispiele

8.4.1 Die chinesische Medizin (TCM)

8.4.2 Psychotherapie

8.4.3 Friedensforschung und interkulturelle Konfliktbearbeitung

8.4.4 Didaktik von Physik und Chemie

8.5 Literatur

9 Diskussion des Theorieteils

9.1 Literatur

Teil II Praxisteil

10 Präsenz - Die Kunst der Psychoanalyse, Präsenzerfahrungen im intersubjektiven Feld zu ermöglichen

10.1 Psychoanalytische Grundannahme eines „präsenten“ Unbewussten

10.2 Psychoanalytische Instrumente und Präsenz als ihr Resonanzkörper

10.2.1 Freie Assoziation

10.2.2 Gleichschwebende Aufmerksamkeit

10.2.3 Deutungen

10.2.4 Übertragung und Gegenübertragung

10.2.5 Projektive Identifizierung

10.3 „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit.“ (Wolff 1983)

10.4 Literatur

11 Körperlichkeit in der Psychoanalyse

11.1 Einführung

11.2 Zu den Konzepten: Sensorisch-intuitive Haltung, Arbeit mit den Körperempfindungen, implizites Beziehungswissen, Embodiment

11.2.1 Die sensorisch-intuitive Haltung

11.2.2 Arbeit mit den Körperempfindungen

11.2.3 Implizites Beziehungswissen

11.2.4 Embodiment

11.2.5 Abschließende Anmerkungen

11.3 Literatur

12 Achtsamkeit im Angewandten Buddhismus

12.1 Reine Wahrnehmung

12.2 Einssein von Körper und Geist

12.3 Tiefenentspannung

12.4 Autopilot

12.5 Körper und Geist in der Buddhistischen Tradition

13 Präsenzerleben in der Erkenntnistherapie bei Lungwitz

13.1 Ausgangspunkte der Therapie

13.2 Präsenzorientierte Therapie aus der Perspektive eines psychobiologischen Holismus

13.3 Literatur

14 Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Präsenztherapie – ein Modellprojekt

14.1 Die Modellstation zur Präsenztherapie

14.2 Präsenzerleben versus hypertrophe Hermeneutik bei Patienten

14.3 Präsenzphänomene im therapeutischen Alltag

14.4 Umgebungsbedingungen für Präsenz

14.5 Oszillieren zwischen Deutung und Präsenz

14.6 Literatur

15 Diskussion des Praxisteils

15.1 Literatur

16 Ausblick

16.1 Literatur

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Theorieteil

1 Einleitung

2 Formen und Hintergründe neuer Präsenzorientierungen im abendländischen Denken

3 Das Leib-Seele-Problem und das Hier und Jetzt bei Lungwitz

4 Change in Classical Chinese Thinking

5 Leib-Seele und Präsenz in der buddhistischen Philosophie

6 Embodiment und Bindung – eine theoretische Annäherung

7 Präsenz und Antirationalismus in der Architektur von Kengo Kuma und Friedensreich Hundertwasser

8 Die interdisziplinäre und interkulturelle Begründung der wissenschaftlichen Wahrheit: der Konstruktive Realismus

9 Diskussion des Theorieteils

1 Einleitung

Präsenz und Präsenztherapie – eine Standortbestimmung

Karsten Wolf

„Als Gegenpol – oder besser: als spannungsvolle Ergänzung – zur ausschließlichen Dominanz von Interpretation und Hermeneutik, welche ein Teil und die Folge der seit Heidegger ‚metaphysisch’ genannten Denk-Tradition ist, schlage ich die Ausdifferenzierung eines Begriffs der `Präsenz’ vor, der sich auf unser räumliches Verhältnis zu den Dingen der Welt, das heißt: auf ihre Berührbarkeit und somit auch auf die Möglichkeit beziehen soll, dass die Dinge der Welt – in ihrer und durch ihre Substanz – unsere Körper affizieren“

Gumbrecht 2012

„Der Umgang bzw. Zugang zu diesen Phänomenen erfordert spielerisches Tasten, Erproben, fragendes Erkunden, Handeln und z.T. auch deutlichere Formen des Sich-Zeigens des Analytikers. (…) Entscheidend bei diesem Spiel in und mit Präsenz ist der vorübergehende Verzicht, eine verborgene Bedeutung ausfindig machen zu wollen, was die Entstehung von Präsenz sofort unterbrechen würde.“

Schmidt 2014

Wir möchten in Folge der Weiterentwicklung der Präsenztheorie von Hans Ulrich Gumbrecht für die psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychosomatischen Disziplinen ein Konzept einführen, das wir „Präsenztherapie“ nennen. In den folgenden Kapiteln dieses Buches werden wir die Weiterentwicklung der Präsenztheorie hin zu einer Präsenztherapie in ihren historischen Entstehungsbedingungen im abendländischen und fernöstlichen Denken einerseits, sowie in ihrer interdisziplinären Konzeptualisierung für eine notwendige Weiterentwicklung von Psychotherapie andererseits erarbeiten.

1.1 Entstehungsmomente des Buches

Erstmalig hörte ich von Hans Ulrich Gumbrecht auf dem „167th Annual Meeting of the American Psychiatric Association (APA)“ im Jahre 2014, dem größten und bedeutendsten Psychiatrie-Kongress, auf dem sich jährlich bis zu 10.000 Teilnehmer aus aller Welt austauschen. In einer Pause kam ich mit zwei US-Kollegen ins Gespräch, die mich rasch als deutschen Psychiater identifizierten und mir stolz berichteten, dass sie begonnen hätten Deutsch zu lernen, um Kräpelin, Bleuler und Freud im Original lesen zu können. In diesem Kontext sprachen sie mich auch auf Hans Ulrich Gumbrecht an, den ich doch wohl kennen würde, da er aus Deutschland stamme und sehr berühmt sei. Die beiden US-Kollegen müssen wohl etwas enttäuscht gewesen sein, dass mir der Name Gumbrecht damals nichts sagte, und ich vergaß diesen Verweis auf Gumbrecht nach meiner Rückkehr aus den USA zunächst wieder.

Erst ein Jahr später, im Jahre 2015, wurde ich während eines Vortrages von Manfred Schmidt im Rahmen der Vortragsreihe „Auf der Schwelle des Augenblicks“ am Institut der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf wieder an Hans Ulrich Gumbrecht erinnert. Ohne irgendeine rationale Erwägung oder Absicht (vielleicht aber aufgrund eigener Leidenschaft für Sport, Extremsport und Abenteuerreisen) hatte mich das Thema „Auf der Schwelle des Augenblicks“ irgendwie angesprochen und ich hörte dem Vortrag von Manfred Schmidt zur Präsenztheorie von Hans Ulrich Gumbrecht und ihren Relevanzen für die Psychoanalyse mit zunehmendem Interesse und schließlich Faszination zu.

Insbesondere dachte ich während der Ausführungen von Manfred Schmidt, dass wir diese Präsenzmomente im stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Setting und vorwiegend in den sehr bezogenen und kontinuierlichen Kontakten von Fachpflegekräften mit unseren Patienten eigentlich schon immer gehäuft erlebt haben und erleben, ohne aber diesen Momenten bislang irgendeine besondere Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Plötzlich erschienen mir unsere Besprechungen und Konferenzen in der Klinik allzu theoretisch-akademisch und von tendenziell ausschließlicher Sinnkultur und Interpretation/Deutung geprägt – geprägt insbesondere von einer unreflektierten Vorannahme, dass wir per se alles deuten, interpretieren und verstehen können, dass wir also nur lange genug darüber nachdenken müssen, um Aussagen oder Handlungen eines Patienten zu verstehen, auch wenn uns immer wieder einmal eine Ahnung befällt, dass wir so manches arg verbiegen müssen, um es für unsere Theorien und unser Klassifikationssystem passend zu machen. Insbesondere die (weniger von Theoriekonzepten belasteten) Fachpflegekräfte, die im engsten und kontinuierlichsten Bezug zu Patienten stehen, weisen uns diesbezüglich dankbarerweise wiederholt auf unsere Begrenztheit hin, wenn sie von ihren Erlebnissen in der Unmittelbarkeit der Begegnungen mit Patienten berichten.

Im Laufe einer daraus folgenden intensiven Beschäftigung mit dem Werk von Hans Ulrich Gumbrecht, dem Begründer der Präsenztheorie, und einer intensiven Beschäftigung mit der umfangreichen Sekundärliteratur zum Thema, entwickelte sich schließlich die Idee für das jetzt vorliegende Buch „Präsenztherapie – Neue psychotherapeutische Implikationen im Wandel des abendländischen und des fernöstlichen Denkens“.

Was aber meint und intendiert Hans Ulrich Gumbrecht mit dem Begriff „Präsenz“, so wie er ihn in seiner Gründungsschrift „Diesseits der Hermeneutik – Die Produktion von Präsenz“ (Gumbrecht 2004) ▶ [5] erarbeitet hat?

Ich will im Folgenden versuchen, den Präsenzbegriff an drei Beispielen in einer kurzen Überschau zu entwickeln:

1.2 Beispiele von Präsenzerleben

Beispiel 1: Flow-Erlebnis auf Abenteuerreise.

Als ich im Frühjahr 2017, wenige Monate nach Beginn der Arbeiten an diesem Buch, eine „schöpferische Pause“ benötigte, fuhr ich wieder einmal auf eigene Faust alleine mit dem Fahrrad nach Tibet, einerseits um wieder einmal ein Radabenteuer zu erleben, andererseits um so tief wie möglich in das fernöstliche Denken einzutauchen, das ja auch für dieses Buch Bedeutung hat. Aufgrund vielfältiger Unwägbarkeiten musste ich schon bald sämtliche rationale Planungen, Vorstellungen und Vorhaben weitestgehend aufgeben und fand mich schließlich in unkartiertem Hochgebirge des ewig weit wirkenden und winterlich kalten tibetischen Hochlands wieder. Der Natur und ungewisser Nahrungs- und Wasserversorgung ausgesetzt, nützte mir mein rationaler Verstand immer weniger, auf dem Navi fand sich nur noch eine weiße Fläche und das Handy hatte keinen Empfang. Das Fortkommen wurde von zunehmend intuitiven Entscheidungen in enger Verbindung mit meiner Umgebung geprägt, selbst ferne 6000er-Gipfel erschienen plötzlich greifbar und ganz nah. Während jedes einzelnen Momentes des Radelns über verschneite Schotter/Sand-Pisten, mit 27 kg Gepäck, bei Minustemperaturen und immerwährend pfeifendem Wind, befand ich mich (zwangsweise automatisch als eine Art Überlebensmodus) in intensivster Verbindung mit meinem Körper und meiner gesamten Umgebung, alle Sinne waren maximal aktiviert, ich lauschte auf jedes Geräusch am Fahrrad, jedes Geräusch in meiner Umgebung, nahm alle Einzelheiten in der weiten Umgebung wie detailliert wahr, lauschte beständig in meinen Körper hinein und dachte (wenn ich überhaupt einmal konkret dachte) noch am ehesten darüber nach, wo ich etwas zu Essen, zu Trinken und eine Unterkunft finde. Mein Leben in Deutschland hatte ich vollständig vergessen.

Dann ein plötzlich wie aus dem Nichts auftauchender tibetischer Reiter, Reste eines zerstörten Klosters und wieder erstaunlich unaufgeregte Begegnungen, eine riesige Yakherde in verschneiter Landschaft, eine Herde Wildpferde begleitet mich fast eine ganze Stunde irgendwo im Nirgendwo, tibetische Pilger auf dem Weg nach Lhasa grüßen aus der Ferne, schließlich findet sich ganz unaufgeregt eine Unterkunft, etwas zu essen und zu trinken, Tibeter die mir Schutz bieten als wäre das alles das normalste auf der Welt – die Intensität der Begegnungen unter diesen Bedingungen ist überwältigend. Insbesondere in diesen Tagen, in denen ich mich meiner Umgebung (Natur und Menschen) einerseits und meinen inneren intuitiven Welten andererseits maximal öffnen musste, erlebte ich die häufigsten und intensivsten „Flow“-Erlebnisse - der ungeplante und völlig ungewisse Teil der Reise wurde so zum erlebnisreichsten und schönsten Teil meines Radabenteuers. Diese von wiederkehrenden und langanhaltenden Flow-Zuständen geprägte Verfasstheit hielt auch noch an, als ich für einige Tage in einem Kloster bei einer tibetischen Familie unterkam, die mich versorgte, schützte, mir intensive Bindung bot und mich ins fernöstliche Denken des beständigen Wandels und des intuitiven Urvertrauens im Eins-Sein mit der Umgebung mitnahm.

Hans Ulrich Gumbrecht würde diese Erlebnisse fern von Digitalisierung und Globalisierung wohl mit den Begriffen „Präsenz“ und „Greifbarkeit“ titulieren. In solchen Tagen einer Abenteuerreise, fern von elektronischen Hilfen, wird die Intensität verstärkt, mit der die Dinge der Welt (und auch man sich selbst mit Körper und Geist) präsent, also greifbar sind. Gumbrecht stellt diesen Präsenzerlebnissen (Gumbrecht 2010) ▶ [7] warnend (oder doch nur skeptisch?) die Folgen von Globalisierung durch Digitalisierung entgegen, die zu einer Forcierung der Trennung von Geist und Materie führen – mit ungewissen Folgen:

„Wenn die Fähigkeit, den Geist vom Körper zu trennen, eine Bedingung (und in neuerer Zeit auch eine Folge) der Globalisierung ist, dann deckt sich diese mit dem Prozess der Modernisierung, der sich auf die cartesianische Formel menschlicher Selbstreferenz gründet: „Ich denke, also bin ich“, oder präziser für unsere Zeit formuliert: Ich produziere, verbreite und empfange Informationen, also bin ich. Beide Formeln setzen den Ausschluss des menschlichen Körpers (und des Raums als Dimension seiner Artikulation) vom Verständnis und von der Bestimmung des Menschseins voraus. (…) Mit Hilfe der Elektronik hat die Globalisierung unsere Kontrolle über den Raum auf der Erde (…) in womöglich unübertreffbarem Ausmaß ausgeweitet und verstärkt – und hat gleichzeitig den Raum fast vollständig aus unserer Existenz ausgeschlossen.“

Gumbrecht 2010

Führt man sich die Worte von Gumbrecht vor Augen, dann wirken die von deutschen Krankenkassen, Verhaltenstherapeuten und der Pharmaindustrie unterstützten internetbasierten Verhaltenstherapieverfahren (neuerdings auch ▶ Virtual Reality), die ohne ein reales Gegenüber auskommen wollen, mehr als erschreckend – wollen sie doch auf etwas verzichten, das bei depressiven und Angst-Patienten sowohl ätiologisch als auch für nachhaltige Gesundung eine ganz entscheidende Bedeutung hat: nämlich Bindung, Emotionen und Körperlichkeit!

Als eine Art Gegenbewegung zu einer durch Globalisierung und Digitalisierung noch verstärkten tendenziell ausschließlich Bewusstseins-konstituierten Welt entsteht etwas, das Gumbrecht als Sehnsucht beschreibt, die die Menschen zunehmend erfasst und in ihren Wünschen und Bestrebungen treibt. Sport und Abenteuerreisen sowie die zunehmende mediale Thematisierung von sogenannten „Flow-Erlebnissen“ spiegeln wohl etwas von dieser Sehnsucht wieder.

„Flow-Erlebnisse“, die ursprünglich von Mihaly Csikszentmihalyi (1992/2017) konzeptualisiert und in den letzten Jahren besonders bei Mountain-Bikern stellvertretend für alle anderen Extremsportarten inklusive Rad-Abenteurern thematisiert wurden, sind durch Merkmale geprägt, die analog auch von Hans Ulrich Gumbrecht für sogenannte „Präsenzerlebnisse“ formuliert werden. Flow-Erlebnisse sind Präsenzerlebnisse, die besonders ausgeprägt im Bereich des Extremsports entstehen:

„Flow ist das völlige Aufgehen im Moment, wenn innere Motivation, äußere Herausforderung und eigenes Können im Gleichgewicht sind. Im Flow wird man eins mit seinem Tun. Im Flow leistet man mühelos und erlebt die schönsten Momente. Im Flow bleibt die Zeit stehen. Flow macht glücklich. (…) Gleichzeitig schaltet der Teil des Gehirns zurück, der für bewusst planendes Denken und Entscheiden zuständig ist (…) Die Entscheidung, ob ich die Stelle jetzt fahre oder nicht, und wenn ja, wie, wird in Sekundenbruchteilen getroffen. Alles geht wie von selbst. Hocheffizient. Und hochkreativ. (…) Mountainbiker erleben Flow, Wissenschaftler erforschen Flow.“

Philipp 2015

Die bekannten Mountainbiker, die sich mit Flow beschäftigen, betonen weitere besondere Aspekte von Flow-Erleben, die auch für die Entwicklung präsenztherapeutischer Aspekte in diesem Buch von großer Bedeutung sein werden: Sie betonen einerseits, dass das Auftauchen von Flow-Zuständen durch Gemeinsamkeit (menschliche Bindung) und durch das Eins-Werden mit Natur gesteigert werden kann, und weisen andererseits daraufhin, dass Flow-Erleben trainiert werden kann. Maria Frykman, auch eine jener Flow-begeisterten Mountainbikerinnen, weist auf die Analogie des (unvermittelt und unsteuerbar auftauchenden) Flow-Erlebens eines Erwachsenen zum Spielen im Kindesalter hin:

„Ich komme nicht mehr so häufig zum Biken wie früher. Aber die Welt durch Lilys (ihre Tochter, Anm. des Autors) Augen neu zu entdecken, mit ihr zu staunen und bei ihren Abenteuern dabei sein zu dürfen, ist für mich wertvoller als alles andere. Die Kindheit muss ein einziges Flow-Erleben sein.“

Frykman 2015

Dieser Hinweis auf frühkindliches sicheres Bindungs-Erleben als mögliche günstige Bedingung für Flow-Erleben in der Kindheit, sowie die frühkindliche sichere Bindungs-Erfahrung als mögliche förderliche Grunderfahrung für spätere Fähigkeiten zu Flow-Erleben (und auch Präsenzerleben?) im Erwachsenenalter, ist für spätere Überlegungen in den Kapiteln des Praxisteils von besonderer Bedeutung, verweist er doch u.a. auf Winnicott und andere Psychoanalytiker, die sich diesen Zusammenhängen ausführlich gewidmet haben, wie dargestellt in ▶ Kapitel 6 und ▶ 10.

Aus dieser zunehmenden Faszination für Extremsport und Flow-Erlebnisse heraus haben sich des Weiteren diverse wissenschaftliche Projekte (z.B. das „flowgenomeproject“) entwickelt, mit dem Ziel, einerseits das „Phänomen Flow“ wissenschaftlich-neurobiologisch zu entschlüsseln, und andererseits Methoden zu entwickeln, um das Flow-Erleben kontrollierbar zu machen, Flow-Zustände also auch gezielt erzeugen zu können (an dieser Stelle der Überlegungen kommen einem zwangsläufig auch pharmakologische Beeinflussungsmöglichkeiten des Gehirns in den Sinn, die den Bereichen Drogen und Gehirndoping zuzuordnen sind). Diese Ansinnen sind klassisch abendländisch-wissenschaftliche Ansinnen und es bleibt zu diskutieren, ob diese Ziele sinnvoll und vertretbar sein können, und ob es dann noch mit dem zu tun hat, was Flow bzw. Präsenzerleben im Allgemeinen ausmacht.

Beispiel 2: Hypertrophe Hermeneutik und Paardynamik.

Ein Ehepaar sucht psychotherapeutische Hilfe, da zum einen die Ehe „versandet“ sei, und zum anderen der Ehemann in einer neuerdings leitenden Position zunehmend an Erschöpfung und depressiven Symptomen wie Antriebsmangel, Stimmungsverlust, Freudlosigkeit und Schlaflosigkeit leide. Die Mitte 50 Jahre alten Ehepartner hatten sich vor 17 Jahren kennengelernt und hätten schon bald nach dem Zusammenzug in eine gemeinsame Wohnung eine Eheberatung aufgesucht. Die Frau habe sich damals immer wieder an ihren dominanten und impulsiven, sehr unmittelbaren und emotionsgeladenen Vater erinnert, wenn ihr Partner irgendeinen auch nur geringgradigsten Ansatz von Stärke und Dominanz gezeigt hätte. In der Eheberatung sei der Frau beigebracht worden, bei jedweden aufkommenden negativen Gefühlen sofort das „vernünftige Gespräch“ mit ihrem Partner zu suchen. Dem Mann wurde beigebracht, seine Gefühle zu kontrollieren und den Gefühlen möglichst weder mimisch noch in anderer Art und Weise Ausdruck zu verleihen. Diese Dynamik paarte sich zudem mit einem hohen moralischen Anspruch und einer entsprechenden sozialen Kontrolle in einer christlich-protestantischen Gemeinde. Über die Jahre des Zusammenlebens hinweg sei nach Aussage der Frau ihr Mann immer „verträglicher“ geworden, mittlerweile allerdings allzu leblos und „unterwürfig“. In der psychiatrisch-psychotherapeutischen Exploration zeigt sich der Mann präsenznivelliert, emotionsarm, ausgeprägt aggressionsgehemmt bis aggressionsnivelliert und übermäßig rationalisierend. Psychodynamisch denkt man u.a. an die Ambivalenz der Frau bezüglich des väterlich-dominanten Objekts und die entsprechenden Folgen für die Paardynamik. Präsenztherapeutisch denkt man an eine beim Ehemann ausgeprägte „hypertrophe Hermeneutik“ und psychodynamisch sehr gut nachvollziehbare Unausbalanciertheit zwischen Präsenzkultur und Sinnkultur. Diese „hypertrophe Hermeneutik“ bei „nivellierter Präsenzkultur“ hat nicht nur Folgen für die Paardynamik und deren Lebendigkeit, sondern auch für das Arbeitsumfeld, wo der Mann in seiner Emotions- und Präsenznivellierung seiner Leitungsaufgabe nicht gerecht werden kann, sondern unter zunehmendem chronischen Stress (bei Angst vor Emotionen und Konflikten) und schließlich Stressfolgeerkrankungen leidet.Eine ausführliche Version des Beispieles wird in ▶ Kapitel 14 beschrieben.

Beispiel 3: Therapeutisch wirksame Präsenzmomente.

Im Rahmen unseres Modellversuches auf einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Station, auf der wir Präsenzmomenten eine besondere Aufmerksamkeit schenken, ereignete sich in einer Gruppentherapie eine Art „Präsenzmoment“. Eine ansonsten beständig in sich abgekapselt wirkende, an intensiven psychosenahen Körpermissempfindungen leidende Frau, mit vergeblichen Versuchen einer rationalen Erklärung dieses Leidens, sah mir in der gruppentherapeutischen Stunde in einer längeren Schweigephase unvermittelt in die Augen, was ich als besonders intensiven Moment von Bindung und ganz im Hier-und-Jetzt-Sein empfand. Als ich die Patientin auf diesen Moment mit dem Impetus des Deuten-Wollens ansprach, verflüchtigte sich dieser besondere Moment ganz unmittelbar, die Patientin zeigte sich wieder wie abgekapselt und (rational analysierend) auf ihre Körpermissempfindungen fixiert. Im Laufe der weiteren einzel- und gruppentherapeutischen Behandlung dieses seit vielen Jahren völlig therapieresistenten leidvollen Zustandes gelang es, die Patientin für diese immer wieder einmal und schließlich häufiger auftretenden „Präsenzmomente“ sowohl in der therapeutischen Bindung, als auch im Alltag zu sensibilisieren und so einen nicht-rationalen Zugang zum Leiden, zu sich selbst und der Umgebung zu fördern. Das „Rationale“, also auch das „Durcharbeiten“ und das „Deuten“ stellte nur noch einen sehr geringen Anteil an der therapeutischen „Arbeit“ dar. In einem zeitlichen Zusammenhang mit diesem Ansatz stellte sich schließlich eine sehr langsame Besserung des Zustandsbildes ein, nachdem zuvor sämtliche medikamentöse Versuche frustran verliefen, kognitiv verhaltenstherapeutische Ansätze zu einer deutlichen Verschlechterung geführt hatten und sowohl körpertherapeutische, als auch psychodynamische Ansätze alleine keine Besserung hatten erwirken können (was auch immer dabei nun tatsächlich gewirkt hat).Eine ausführliche Version des Beispieles wird in ▶ Kapitel 14 beschrieben.

Diese beiden Beispiele aus dem klinischen Alltag für das, was bei Gumbrecht als Präsenzerleben/Präsenzkultur entwickelt wurde, werden in ▶ Kapitel 14 näher beleuchtet.

1.3 Die Präsenztheorie von Hans Ulrich Gumbrecht

Hans Ulrich Gumbrecht ist 1948 in Würzburg geboren, ist Professor für Literatur an der Stanford University und amerikanischer Staatsbürger. Nach seiner ersten Professur in Bochum im Jahre 1975 ist er mittlerweile achtmal (und in sechs Ländern) mit Ehrendoktoraten ausgezeichnet worden und lehrt regelmäßig als Gastprofessor an verschiedenen Universitäten, unter anderem am Collège de France in Paris und an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Gumbrecht ist bekennender Sportfan, er hat Dauerkarten für American Football, Eishockey und College Basketball und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein. Entgegen der gewöhnlichen Blickrichtung der Geisteswissenschaften und wohl auch wesentlich geprägt durch seine Leidenschaft für den Sport, legt er in seinen Arbeiten den Akzent auf die Präsenz von Dingen und Erfahrungen, auf Körperlichkeit und Resonanz.

„Ich meinte und meine mit Präsenz, dass die Dinge – ganz unvermeidlich – unseren Körpern ferner oder näher sind, von ihnen berührt werden können oder nicht, und dass sie Substanz haben.“

Gumbrecht 2010

Die Ablehnung (vielleicht Überdruss?) einer abendländisch-wissenschaftlichen Fokussierung auf Interpretation und Hermeneutik in einer Art Ausschließlichkeit führte bei Gumbrecht zur Entwicklung der Idee von „Präsenz“, oder wie er es selber formuliert, zu einer „Präsenz-Intuition“. Diese „Präsenz-Intuition“ als Versuch der Überwindung von ausschließlicher Sinn- und Interpretationskultur in den abendländischen Wissenschaften durch ein Oszillieren zwischen Sinnkultur/Interpretation einerseits und Präsenzkultur/Resonanz andererseits, formulierte Gumbrecht erstmalig in seinem 2004 erschienenen Gründungswerk „Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz“ (Gumbrecht 2014) ▶ [5] (Im amerikanischen Original: „Production of Presence. What Meaning Cannot Convey“, 2004).

Präsenz im Sinne von Gumbrecht ist nicht mit dem allgemeinen Begriff der Präsenz in unserer Alltagssprache zu verwechseln. Präsenz in unserer Alltagssprache meint ganz allgemein ein bloßes „aufmerksames und wach-bewusstes Dasein“, ein Präsentsein in Raum und Zeit im Zustand (sich und seiner Umgebung) bewusster und dem Verstand zugänglicher Aufmerksamkeit. Das Phänomen der Präsenz, wie es die Alltagssprache verwendet, hängt also ganz entscheidend an „bewusster Aufmerksamkeit/rational kontrollierender Achtsamkeit“, also insbesondere an Verstandesprozessen. Wenn ich mich demgemäß z.B. in einer Gruppendiskussion „präsent“ gezeigt habe, dann meine ich aus der Alltagssprache heraus damit, dass ich mich bewusst mit Hilfe meines rationalen Verstandes in die Gruppe eingebracht und damit „präsent“ gewirkt habe.

Präsenz im Sinne von Gumbrecht hingegen meint ein Phänomen genau jenseits (oder nach Gumbrecht diesseits) bewusster verstandesmäßiger Abläufe (Präsenz i.S. von Gumbrecht findet sich also primär auf sensomotorischer Ebene, oder aus der Theorie von Hans Lungwitz abgeleitet, als Repräsentanz des sensomotorischen Anteils des Organismus). Daher sind Präsenzphänomene nicht häufig, sondern per se eher selten anzutreffen, sie werden durch das rationale Denken nicht hervorgebracht, sondern verhindert, verunmöglicht oder sogar zerstört.

Diese Unterscheidung von Präsenz in unserer abendländisch basierten Alltagssprache und Präsenz im Gumbrechtschen Sinne zeigt sich besonders anschaulich an dem Begriff der „Achtsamkeit“, der später im Buch noch eine besondere Rolle einnehmen wird: Die heutigen sogenannten „Achtsamkeitstherapien“ in westlichen „Therapiekreisen“ beziehen sich explizit auf den Ursprung der Achtsamkeit im Buddhismus und sind im Westen zumeist aus der sogenannten Vipassana-Bewegung hervorgegangen. Achtsamkeit ist im Buddhismus, wie in ▶ Kapitel 5 und ▶ 12 dargestellt, eine von acht Techniken des sogenannten „edlen achtfachen Pfades“, die dem einzelnen Menschen helfen, Leid zu überwinden und Glück zu finden. Allerdings besteht das Glück im Buddhismus nicht aus Anhäufung von Vermögen, maximaler Produktivität und Erfolg im Beruf, sowie Anhäufung von Macht, sondern wird durch die Vermeidung und Überwindung der drei Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung erreicht. Bedenken wir nun, dass das verwestlichte und zunehmend in ein mechanistisches verhaltenstherapeutisches Korsett gepackte „Achtsamkeitstraining“ in globalen Unternehmen bei Mitarbeitern insbesondere der 2. und 3. Führungsebene eingesetzt wird, mit dem erklärten Ziel, die „kontrollierende Achtsamkeit“ des Einzelnen für Produktivität und Effizienz zu steigern und Ermüdungserscheinungen zu vermindern, so können wir leicht feststellen, dass das ursprüngliche Ziel von Achtsamkeitstraining im Buddhismus ein konträres ist.

Aber auch das Achtsamkeitstraining, wie es insbesondere von Verhaltenstherapeuten zu Behandlungszwecken von psychisch erkrankten Menschen adaptiert wurde, ist abendländisch verformt und hat nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Ansinnen des Achtsamkeitstrainings aus der fernöstlich-buddhistische Denktradition gemein: Im Westen wird das Achtsamkeitstraining in einer verhaltenstherapeutischen Tradition primär zur rationalen Kontrolle und Steuerung von Emotionen und Denkinhalten genutzt (oder vernutzt?). Das Achtsamkeitstraining aus fernöstlich-buddhistischer Tradition heraus, welches sich über einen Zeitraum von ca. 2500 Jahren bis heute entwickelt hat, fordert hingegen ganz explizit, dass vermittels der Achtsamkeitstechniken alle Sinnesreize, Affekte und Denkinhalte lediglich umfassend bewusst gemacht werden sollen, aber – und das ist ganz entscheidend - immer genau ohne diese kontrollieren zu wollen.

Der Begriff der Achtsamkeit im Buddhismus zielt also viel mehr auf eine „Präsenz/Resonanz“-Ebene ab, wohingegen die verhaltenstherapeutisch geprägten Achtsamkeitstherapien mehr auf eine rationale und emotionskontrollierender Ebene, also im ungünstigsten Fall eine hypertrophe Hermeneutik abzielen. Insofern sind die verhaltenstherapeutisch geprägten Achtsamkeitstherapien auch ein eindrückliches Beispiel für Pseudooffenheit abendländisch geprägter Wissenschaften, indem sie sich einen Begriff und Methode aus dem fernöstlichen Denken einverleiben und so verändern, dass das eigene Denksystem sich selbst bestätigen kann.

Die Präsenztheorie von Gumbrecht hingegen bietet einen Ansatz, sich unvoreingenommener für nicht-abendländisches Denken zu öffnen, da sie das abendländische Denksystem selbst hinterfragt.

Folgende Kennzeichen der Präsenz im Sinne Gumbrechts können benannt werden (modifiziert nach Schmidt 2014) ▶ [9]:

Präsenz (Präsenzkultur) ist als Gegenseite von Sinnkultur und Interpretation zu verstehen

Der zentrale Begriff der Präsenz ist „Resonanz“, das heißt: Präsenz vermittelt keine Botschaft, sondern wirkt unmittelbar über verschiedene Sinneskanäle und kann damit körperlich im Raum empfunden werden. Das Resonanzgefühl ist somit ein Zustand, in dem man im gleichen Rhythmus schwingt wie die Dinge der Welt (Dagegengesetzt ist der zentrale Begriff von Sinnkultur und Interpretation: die „Bedeutung“)

Präsenzphänomene sind strikt emergent, das heißt, sie ergeben sich ausschließlich spontan, sind einzigartig und nicht wiederholbar (Dagegen sind Sinnphänomene durch den Prozess des „Nachdenkens“ nie emergent, sondern Folge von Interpretation durch das Subjekt)

Das Erleben von Präsenz zeichnet sich durch „fokussierte Intensität“ aus. Es handelt sich um die gebannte Aufmerksamkeit der Sinne, die sich im Erleben selbst genug ist und nicht nach mehr oder einem erst noch zu ermittelnden Sinn fragt. Hier findet sich die Nähe zur Achtsamkeit in der buddhistischen Philosophie, wie dargestellt in ▶ Kapitel 5 und ▶ 6

Präsenzphänomene sind damit flüchtig in der Zeit, aber sehr körperlich präsent im Raum. In ▶ Kapitel 6, ▶ 10 und ▶ 11 wird näher darauf eingegangen

Ausgeprägte Präsenzphänomene werden oft in Momenten der Abweichung von Regelmäßigkeiten und in der Abweichung von Konventionellem erlebt

Präsenzphänomen werden häufig in „Bezugnahmen“ erlebt (Greifbarkeit!), in Bezugnahme zu anderen Menschen (z.B. im Alltag in plötzlichen intensiven Momenten in einer Beziehung, deutlich in Verliebtheitsphasen) oder auch in Bezugnahme zur belebten oder unbelebten Umgebung (z.B. das Flow-Erleben eines Mountainbike-Fahrers in der Schussabfahrt in der Natur). Präsenzphänomene zeichnen sich also nicht wie Sinnphänomene durch Isolierung des „Verstandes-Ich“ von der Umgebung inklusive des eigenen Körpers aus, sondern durch Bindungserleben im Sinne eines „Wie-Eins-Sein-mit-Anderem“ oder gar „Wie-Eins-Sein–mit-Allem“ (also der erlebbaren Überwindung des abendländischen Leib-Seele-Problems?)

1.4 Die historische Begründung einer Präsenztheorie bei Hans Ulrich Gumbrecht

DAUERTEN WIR UNENDLICH

So wandelte sich alles

Da wir aber endlich sind

Bleibt vieles beim Alten.

Brecht 1955

Hans Ulrich Gumbrecht begründet die historische Zwangsläufigkeit der Entwicklung einer Präsenztheorie in unserer Zeit mit einem Blick auf wechselnde Formen des „menschlichen Selbstbezugs“ in den vergangenen europäischen Epochen seit dem christlichen Mittelalter. Hierzu fordert er vom Leser einen geschärften Blick auf

„die Divergenz zwischen einem vorherrschenden kulturellen Selbstbezug und unserem historischen Rückblick auf die Realität eben dieser Kultur.“

Gumbrecht 2004

Der Leser ist gefordert, aus seinen aktualen abendländisch-europäischen Denkselbstverständlichkeiten herauszutreten und zu versuchen, sich in das Denken (und die Denkselbstverständlichkeiten) von Menschen anderer Epochen einzulassen. Dies gelingt mit einem Fokus auf menschliche und kulturelle Selbstbezüge besonders gut.

Diese Reflexion unterschiedlicher Denkselbstverständlichkeiten und menschlicher Selbstbezüge in verschiedenen Epochen europäischer Kultur macht es dem Leser sehr einfach, schlussfolgernd auch das eigene aktuale Denken als lediglich passager-epochales Denken zu akzeptieren. In Folge fällt es auch leicht, zu antizipieren, dass ein zukünftiges Denken (ein zukünftiger menschlicher Selbstbezug) wiederum ein anderes sein wird als das, was uns in unserer Jetztzeit wie selbstverständlich und unveränderbar gegeben erscheint. Auf diese Art und Weise wird dem Leser die Folgerichtigkeit der Entstehung einer Präsenzkultur für unser zukünftiges Denken und unseren zukünftigen Selbstbezug plausibel.

Im christlichen Mittelalter befand sich der Mensch in einem anderen Selbstbezug, in einem fundamental anderen Bezug zur Welt und in einem anderen Denken und in anderen Denkselbstverständlichkeiten als in unserer heutigen Zeit. Gumbrecht schreibt der Epoche des christlichen Mittelalters einen dominanten Selbstbezug zu,

„in dem sich der Mensch als Bestandteil einer ihn umgebenden Welt begreift, die als Resultat der göttlichen Schöpfung gilt.“

Gumbrecht 2004

Geist und Materie waren noch nicht getrennt gedacht, aus den damaligen Denkselbstverständlichkeiten heraus war aktive Wissensproduktion nicht „denkbar“, sondern stand Wissen über Einzelheiten der göttlichen Schöpfung nur durch göttliche Offenbarungen (und auch nur wenigen Privilegierten) zur Verfügung, wobei das meiste Wissen als durch Gott vorenthalten angenommen wurde.

Über eine Phase eines zunehmend exzentrischen Verhältnisses des Menschen zur Welt in der Renaissance hinweg, entwickelte sich in der Frühneuzeit der abendländischen Kultur das sogenannte „hermeneutische Feld“, das Hans Ulrich Gumbrecht wie folgt bestimmt:

„Ganz schematisch gesprochen, können wir nun diese neue, frühneuzeitliche Auffassung, in deren Rahmen die abendländische Kultur mit ihrer im Laufe mehrerer Jahrhunderte entwickelten Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Menschheit und Welt beginnt, als Schnittpunkt zweier Achsen beschreiben. Einerseits gibt es eine horizontale Achse, die das Subjekt als exzentrischen, körperlosen Beobachter und die Welt als Ansammlung rein materieller Gegenstände (einschließlich des menschlichen Körpers) einander gegenüberstellt. Sodann steht die vertikale Achse für den Akt der Weltinterpretation, durch den das Subjekt die Oberfläche der Welt durchdringt, um Wissen und Wahrheit als ihre zugrundeliegenden Bedeutungen herauszuholen. Diese Weltsicht möchte ich das ‚hermeneutische Feld’ nennen. Natürlich weiß ich, dass das Wort ‚Hermeneutik’ erst Jahrhunderte später zur Bezeichnung jenes philosophischen Teilgebiets wurde, das sich auf die Techniken und die Bedingungen der Interpretation konzentriert. Aber schon lange vor der Entstehung dieses wissenschaftlichen Teilfachs war die ‚Interpretation’ (und zusammen mit ihr der ‚Ausdruck’) zum vorherrschenden – und wenig später zum ausschließlichen – Paradigma geworden, das die abendländische Kultur denen bereitstellte, die das Verhältnis der Menschen zu ihrer Welt denkend erfassen wollten.“

Gumbrecht 2004

Neben dem Phänomen der Hermeneutik identifiziert Gumbrecht als weitere problematische Entwicklung im abendländischen Denken das „Subjekt-Objekt-Paradigma“, das sich in Folge des Cartesianismus zum Dilemma des „Leib-Seele-Problems“ entwickelt hat und zu einer verfestigten Trennung von denkendem Ich und materiellem Sonstigen, also auch tendenziell Trennung des Individuums von Gegenwärtigkeit und Körperlichkeit im Hier und Jetzt geführt hat.

Aufgrund dieser Entwicklung finden wir uns im heutigen abendländischen Denken in einer Situation wieder, in der wir unseren Geist mit unseren kognitiven Eigenschaften (eingebettet in einen europäischen Allmachts- und Universalismus-Glauben) über die uns umgebende rein materiell gedachte Umwelt (inklusive unseres eigenen Körpers) stellen. In ▶ Kapitel 2 erarbeitet Friedrich Hausen sehr eindrücklich, welche weiteren Faktoren unserer abendländisch-europäisch geprägten Gegenwart eine zunehmende „Nachfrage“, ja teils „Sehnsucht“ nach Präsenzkultur ausgelöst haben, nämlich insbesondere Faktoren wie „Begriffliche Orientierung“, „Fragmentierung des Individuums“, „Beschleunigung“ und „Instrumentalismus“.

Allerdings bieten sowohl Gumbrecht als auch Hausen diverse Lösungskonzepte zur Überwindung des Leib-Seele-Problems einerseits und der hypertrophen Hermeneutik andererseits an. Wo Gumbrecht insbesondere u.a. an Heidegger erinnert, erarbeitet Hausen die in Vergessenheit geratene Theorie von Hans Lungwitz, der sowohl einen erkenntnistheoretischen Ansatz zur Überwindung des Leib-Seele-Problems darbietet, als auch eine erkenntnistherapeutische Methode als psychotherapeutisches Verfahren entwickelt hat, um einen Menschen der unter einem Mangel an Präsenz bei hypertrophierter Hermeneutik erkrankt ist, in einen gesünderen Zustand zu führen, der durch ein gesundes Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten geprägt ist. Hier wird in ▶ Kapitel 3 und ▶ 13 darauf eingegangen.

1.5 Der Inhalt dieses Buches

Das Buch versteht sich als ein weiterer Entwicklungsschritt von Gumbrechts Präsenztheorie und hat zum Ziel, die Ideen und Innovationen der Präsenztheorie für die psychotherapeutischen Disziplinen aufzuarbeiten, theoretisch weiterzuentwickeln und in der Praxis zu erproben.

Das Buch besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil und enthält sowohl Kapitel die dem abendländischen Denken entspringen, als auch Kapitel die dem fernöstlichen Denken entstammen..

1.5.1 Theoretischer Teil

„Historische und stilgemäße Zusammenhänge innerhalb des Wissens beweisen eine Wechselwirkung zwischen Erkanntem und dem Erkennen: bereits Erkanntes beeinflusst die Art und Weise neuen Erkennens, das Erkennen erweitert, erneuert, gibt frischen Sinn dem Erkannten. Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozeß eines theoretischen „Bewusstseins überhaupt“; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet. […] Der Satz: „jemand erkennt etwas“ verlangt analog einen Zusatz z.B.: „auf Grund des bestimmten Erkenntnisbestandes“ oder besser „als Mitglied eines bestimmten Kulturmilieus“ oder am besten „in einem bestimmten Denkstil, in einem bestimmten Denkkollektiv“. Definieren wir „Denkkollektiv“ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles. Hiermit gibt das Denkkollektiv das fehlende Glied der gesuchten Beziehung.“

Fleck 1935

Wir haben in unserem Buch - ganz im Sinne des Mikrobiologen Ludwik Fleck aus dem Jahre 1935 - einer ▶ geschichtlichen Untersuchung des Wandels im Denken als Begründung einer Präsenztheorie und einer Präsenztherapie einen besonderen Stellenwert eingeräumt, denn viele immanente Selbstverständlichkeiten in unserem Denken können und sollten aus historischer Begründung heraus hinterfragt werden, können mit dem ▶ historischen Wandel des fernöstlichen Denkens verglichen werden, und können erst damit die Augen öffnen für die Zukunft unseres Denkens, die bereits begonnen hat, aber erst durch kritische Reflexion sichtbar werden kann. Aus dieser historischen Betrachtung des Wandels von abendländischem und fernöstlichem Denken heraus kann besonders gut jene Sehnsucht nach Präsenzkultur (Präsenz, Resonanz, Körperlichkeit und Unmittelbarkeit/Greifbarkeit) in westlichen Gesellschaften verstanden (oder besser „begriffen“) werden, die sich aus dem zunächst unspezifisch defizitären Gefühl einer Ausschließlichkeit von Sinnkultur (Rationalität, Interpretation und Verstehen) heraus entwickelt hat.

Auf diese historische Analyse folgen drei Kapitel zu Präsenztheoretischen Aspekten in schon vorhandenen abendländischen und fernöstlichen Denkströmungen: Zum einen in einem innovativen Vorschlag zur ▶ Überwindung des Leib-Seele-Problems als Voraussetzung für Präsenzkultur im wissenschaftlichen Werk des Philosophen und Nervenarztes Hans Lungwitz, des Weitern zu ▶ Präsenz im Buddhismus aus Sicht des fernöstlichen Denkens, und schließlich in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ▶ Embodiment und Bindung. Ein theoretischer Ausflug in mögliche architektonische Voraussetzungen für das Auftauchen von Präsenzphänomenen führt exemplarisch in die ▶ Architektur-Philosophie und gelebte Architektur des Japaners Kengo Kuma und des Österreichers Friedensreich Hundertwasser.

Abgeschlossen wird der Theorieteil mit einem kompakten Einblick in die Welt des ▶ Konstruktiven Realismus, der einerseits hilft, das eigene abendländische Denken im Vergleich zum fernöstlichen Denken zu reflektieren und zu hinterfragen, der aber andererseits auch eine Methode bietet (die Methode der Verfremdung), um die in Entwicklung befindliche offen gedachte Präsenztherapie hinsichtlich ihres Wertes jenseits (oder diesseits) klassisch westlicher wissenschaftlicher Selbstverständlichkeiten herauszuarbeiten. Schließlich bietet der Konstruktive Realismus auch noch Techniken an, um sich einer „Greifbarkeit“ von Phänomenen zu nähern, die sich per se (sozusagen Phänomen-immanent) einer Verstandes-Analyse durch westliche wissenschaftliche Methoden entziehen: zu solchen Phänomenen zählen eben auch die Gumbrechtschen „Präsenzphänomene“.

1.5.2 Praktischer Teil

Aufbauend auf dem umfangreichen theoretischen Teil des Buches folgen zunächst einzelne Kapitel, die sich mit Ansätzen und Strömungen beschäftigen, in denen Präsenz(artige)-Phänomene bereits „therapeutisch“ mehr oder weniger genutzt werden, ohne dass diesen Phänomenen als eigenständige Phänomene bislang eine besondere und präzise Aufmerksamkeit geschenkt wurde:

Die beiden ersten Kapitel des Praktischen Teils ▶ Kapitel 10 und ▶ 11, versuchen, Aspekte in den psychoanalytischen Theorien und in den psychoanalytischen Behandlungstechniken herauszuarbeiten, die sich per se für Präsenzkultur und damit für ein balanciertes Oszillieren zwischen Sinnkultur und Präsenzkultur besonders eignen. Durch die auch in der Entwicklung der psychoanalytischen Behandlung zunehmend dominierende Sinnkultur scheint es zunächst so, als ob viele Psychoanalytiker im Gleichsinn mit der jüngeren Entwicklung des abendländischen Denkens zunehmend dem Glauben verfallen seien, alles sei verstehbar, alles sei deutbar, alles sei auf der Grundlage des Denksystem-immanenten Grundprinzips von Kausalität, Linearität, Deduktion und Induktion dem Psychoanalytiker per se zugänglich und steuerbar.

Fotini Tilkeridou weist in ▶ Kapitel 10 allerdings nach, dass diese verbreitete Sicht auf die Psychoanalyse allzu reduktiv und selektiv ist, und lediglich alte Vorurteile gegenüber der Psychoanalyse bedient. Tatsächlich finden sich in vielen psychoanalytischen Strömungen seit Sigmund Freud und insbesondere im gegenwärtigen psychoanalytischen Diskurs vielerlei Ansätze, die sehr stark auf Resonanz und Präsenzkultur fokussieren und sich der Begrenztheit des eigenen Denkens sehr wohl bewusst sind. Im ▶ Kapitel von Ursula Volz-Boers werden solche Fokussierungen auf Körperlichkeit und Präsenz an konkreten Fallbeispielen zu körpertherapeutischen Methoden in der psychoanalytischen Praxis sehr anschaulich dargestellt.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich - basierend auf dem fernöstlichen Denken - mit „Achtsamkeitstechniken“ im angewandten Buddhismus, und führt vor Augen, welche Ansätze das fernöstliche Denken für Präsenzkultur im Gumbrechtschen Sinne bietet. Dieses Kapitel über "Achtsamkeit im Angewandten Buddhismus" ist explizit und bewusst in einer fernöstlichen Denktradition, hier speziell in im Sinne der epistemischen Tradition des "Angewandten Buddhismus" gehalten und präsentiert, gestaltet sich in den Formulierungen also augenfällig bildhaft und lässt eine Tradition mündlicher Überlieferungen durchscheinen, sowie verzichtet es auf die abendländisch-wissenschaftlich tradierten Zitiergepflogenheiten und Referenzen.

Abgeschlossen werden die Beispiele zu präsenztherapeutischen Ansätzen in bereits vorhandenen Behandlungstechniken mit einer Übersicht über die Erkenntnistherapie von Hans Lungwitz, der eine psychotherapeutische Methode entwickelt hat, um einen Menschen, der unter einem Mangel an Präsenz bei hypertrophierter Hermeneutik erkrankt ist, in einen gesünderen Zustand zu führen, der durch ein gesundes Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten geprägt ist.

Im letzten Kapitel des Praxisteils werden erste Erfahrungen einer fokussierten Aufmerksamkeit auf Präsenzerleben und Präsenzphänomene im ▶ stationären Behandlungssetting beschrieben, sowie erste Versuche geschildert, das spontane Auftauchen von Präsenzerleben zu fördern und therapeutisch nutzbar zu machen. Dieses Modellprojekt „Präsenztherapie“ befindet sich aktuell in einer Phase der Hypothesenbildung und soll im Jahre 2019 in eine Phase der Hypothesenprüfung in einem größeren methodenvergleichenden Rahmen in Modellkliniken übergehen. In dieser Phase werden, neben klassischen etablierten wissenschaftlichen Methoden, auch Methoden des Konstruktiven Realismus nach Friedrich Wallner zum Einsatz kommen.

Den Abschluss des Buches bildet ein Ausblick auf die mögliche Zukunft von Präsenz und Präsenztherapie.

1.6 Literatur

[1] Brecht B. Die Gedichte. Berlin: insel taschenbuch; 2008.

[2] Fleck L. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1980. (Textidentisch mit der 1935 bei Benno Schwabe & Co. erschienenen ersten Ausgabe)

[3] Frykman M. Mein Leben will spielen. In: Philipp H. Flow – Warum Mountainbiken glücklich macht. Bielefeld: Delius Klasing Verlag; 2015.

[4] Philipp H. Flow – Warum Mountainbiken glücklich macht. Bielefeld: Delius Klasing Verlag; 2015.

[5] Gumbrecht HU. Diesseits der Hermeneutik – Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2004.

[6] Gumbrecht HU. Production of Presence. What Meaning Cannot Convey. Palo Alto: Stanford University Press; 2004.

[7] Gumbrecht HU. Unsere breite Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2010.

[8] Gumbrecht HU. Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2012.

[9] Schmidt M. Suche nach Repräsentanz – Neuere Arbeiten zu seelischen Transformationsprozessen. Psyche; 2014.

2 Formen und Hintergründe neuer Präsenzorientierungen im abendländischen Denken

Friedrich Hausen

Zusammenfassung

Gegenwart, die wir haben und miteinander teilen, scheint das Allerselbstverständlichste zu sein: Gegenwärtigkeit ist der Modus jeglichen Erfahrens. Zugleich ist subjektive Gegenwärtigkeit gar nicht so selbstverständlich, erscheint in Graden, kann verloren gehen oder muss erst oft gewonnen werden. Diese Idee, die in asiatischen Weisheitstraditionen bereits seit Jahrtausenden gepflegt wird, hat im abendländischen Denken erst im letzten Jahrhundert deutlich an Bedeutung gewonnen. In folgenden Kapitel werden verschiedene Formen präsenzorientierten Denkens unterschieden und anhand von Beispielen präsentiert, sowie zivilisatorisch bedingte Tendenzen und Neigungen des Gegenwartsverlusts bezeichnet, die das vielerorts diagnostizierte neue Interesse an Präsenzorientierung verständlich machen.

In seinem Buch „Existenzieller Hedonismus“ (Knöpker 2009) ▶ [27] sammelt und analysiert Sebastian Knöpker in einem Streifzug durch die neuere Geistesgeschichte Beispiele, in denen ein „Streben nach Sein“ offenkundig ist. Der Weg führt durch Literatur und Philosophie, bis hin zu Praxen der Meditation oder des Yoga, wo durch gezielte Übungen eine Steigerung und Sammlung von Sein im Sinne von Selbstgegenwart erzielt wird. Ein Kernpunkt der Arbeit, die den Untertitel „Von der Suche nach Lust zum Streben nach Sein“