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Menschen in sprechintensiven Berufen brauchen eine gesunde, belastbare Stimme. Doch viele wissen nicht, was die Stimme zur Gesunderhaltung braucht und wie man mit ihr umgehen sollte, um sie vor Schädigungen zu bewahren.
Dieser Band aus der Reihe Forum Logopädie bietet Fachleuten, die diagnostisch, therapeutisch oder pädagogisch mit der Stimme befasst sind, erstmals einen Überblick über bestehende Konzepte zur Stimmprävention und bettet diese in den gesundheitspolitischen Kontext ein.
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Seitenzahl: 395
Veröffentlichungsjahr: 2018
Forum Logopädie
Prävention von Stimmstörungen
Reihe herausgegeben von Norina Lauer, Dietlinde Schrey-Dern
Elin Rittich, Sibylle Tormin, Bernward Bock
Unter Mitarbeit von
Julia Lukaschyk
12 Abbildungen
Herausgegeben von Dietlinde Schrey-Dern und Norina Lauer
In dieser Reihe sind folgende Titel bereits erschienen:
Achhammer B, Büttner J, Sallat S, Spreer M: Pragmatische Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter Bauer A, Auer P: Aphasie im Alltag. Bigenzahn W: Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter, 2. Aufl. Biniek R: Akute Aphasie. Aachener Aphasie-Bedside-Test, 2. Aufl. Bongartz R: Kommunikationstherapie mit Aphasikern und Angehörigen.Grundlagen – Methoden – Materialien. Brockmann M, Bohlender JE: Praktische Stimmdiagnostik. Theoretischer und praktischer Leitfaden. Bühling S: Logopädische Gruppentherapie bei Kindern und Jugendlichen. Corsten S, Grewe T: Logopädie in der Geriatrie. Costard S: Störungen der Schriftsprache, 2. Aufl. Grande M, Hußmann K: Einführung in die Aphasiologie, 3. Aufl. Huber W, Poeck K, Springer L: Klinik und Rehabilitation der Aphasie – Eine Einführung für Patienten, Angehörige und Therapeuten. Jaecks P: Restaphasie. Jahn T: Phonologische Störungen bei Kindern. Diagnostik und Therapie, 2. Aufl. Kotten A: Lexikalische Störungen bei Aphasie. Lauer N: Auditive Verarbeitungsstörungen im Kindesalter, 4. Aufl. Lauer N, Birner-Janusch B: Sprechapraxie im Kindes- und Erwachsenenalter, 2. Aufl. Masoud V: Gruppentherapie bei neurologischen Sprachstörungen. Möller D, Spreen-Rauscher M: Frühe Sprachintervention mit Eltern – Schritte in den Dialog. Nebel A, Deuschl G: Dysarthrie und Dysphagie bei Morbus Parkinson, 2. Aufl. Nobis-Bosch R, Rubi-Fessen I, Biniek R, Springer L: Diagnostik und Therapie der akuten Aphasie. Nonn K: Unterstützte Kommunikation in der Logopädie. Sandrieser P, Schneider P: Stottern im Kindesalter, 4. Aufl. Scharff Rethfeldt W: Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen und Praxis der sprachtherapeutischen Intervention. Schlenck C, Schlenck KJ, Springer L: Die Behandlung des schweren Agrammatismus. Schnitzler CD: Phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb. Schrey-Dern D: Sprachentwicklungsstörungen. Logopädische Diagnostik und Therapieplanung. Sick U: Poltern, 2. Aufl. Spital H: Stimmstörungen im Kindesalter. Wachtlin B, Bohnert A: Kindliche Hörstörungen in der Logopädie. Weigl I, Reddemann-Tschaikner M: HOT – Ein handlungsorientierter Therapieansatz für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen, 2. Aufl. Wendlandt W: Sprachstörungen im Kindesalter. Materialien zur Früherkennung und Beratung, 8. Aufl. Wendlandt W: Stottern im Erwachsenenalter. Ziegler W, Vogel M: Dysarthrie – verstehen, untersuchen, behandeln.
Die Stimme eines Menschen ist nicht nur Ausdruck seiner Persönlichkeit, sie ist Sprachrohr jedes zwischenmenschlichen Austausches und ein machtvolles Instrument des Lehrens und Lenkens. Vielen dient sie sogar als „Berufswerkzeug“ in Schulung, Aus- und Weiterbildung oder Gesang. Wie bedeutsam die Stimme ist, merkt häufig erst derjenige, dem sie versagt.
Das Buch „Prävention von Stimmstörungen“ will auf das Phänomen Stimme aufmerksam machen. Wie entsteht und wirkt Stimme? Was sind Stimmstörungen und wie kann ich Stimmproblemen vorbeugen? Wie ist die Stimme trainierbar? Dies sind spannende Fragen, die im Buch beantwortet werden.
Den Autorinnen, beide Atem-, Sprech- und Stimmlehrerinnen, und dem Autor, Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, und damit allesamt Stimmexperten ist es mit dem Werk gelungen, alle Facetten zum Thema Prävention von Stimmstörungen zu beleuchten. Das ist einzigartig und äußerst hilfreich für alle diejenigen, die Stimmtrainings in Prävention und Gesundheitsförderung anbieten. Aber auch Menschen in Sprechberufen finden Wissenswertes über die eigene Stimme und Hinweise, wie ein qualitativ hochwertiges Stimmtraining konzipiert sein muss. Das Buch verdient viele interessierte Leserinnen und Leser.
Hildesheim, Januar 2017Prof. Dr. Ulla Beushausen
„Vorbeugen ist besser als Heilen!“ Dieser Satz wurde von dem Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) geprägt. Er gilt als Wegbereiter der Naturheilkunde und setzte sich für die Anwendung neuer gesundheitlicher Methoden, wie z.B. Akupunktur und Schutzimpfungen, ein. Hufeland forderte, wenn auch zunächst vergeblich, die Einrichtung einer sozialen Krankenversicherung und errichtete die erste Poliklinik für arme Menschen in Berlin. Er war davon überzeugt, dass eine maßvolle Lebensweise die Dauer des Lebens verlängern kann.
Auch wenn die Bedeutung von Gesundheitsförderung und Prävention schon seit langer Zeit betont wird, wurde erst 2015 in Deutschland das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention verabschiedet. Auf der Basis einer alternden Gesellschaft und einer demgegenüber geringer werdenden Anzahl von Arbeitskräften werden Gesundheitsförderung und Prävention als zunehmend wichtige Maßnahmen im Gesundheitssystem gesehen. Maßnahmen zur Stimmprävention stellen in diesem Zusammenhang einen bedeutsamen Faktor dar, denn für viele Menschen ist eine belastbare Stimme eine entscheidende Voraussetzung für ihren Beruf, wie z.B. bei Lehrenden, Erziehern, Berufssprechern, Verkäufern oder auch Beschäftigten in Call-Centern. Damit ist die Gesunderhaltung der Stimme ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Daher sollten frühzeitig Maßnahmen zur Stimmprävention eingesetzt werden, um hohe Behandlungskosten von Stimmstörungen zu vermeiden.
Das vorliegende Buch bietet eine umfassende Darstellung zum Thema Stimmprävention. Aufbauend auf der Geschichte der Stimmprävention und Grundlagen zur Bedeutung der Stimme werden die Konzepte der Gesundheitsförderung und Prävention erläutert. Gesetzliche Rahmenbedingungen werden ebenso thematisiert wie die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (ICF).
Den Kernpunkt des Buches bilden Ansätze zur Stimmprävention, insbesondere in Bezug auf die Stimme im beruflichen Kontext. Therapeutinnen und Therapeuten, die Maßnahmen zur Stimmprävention anbieten möchten, finden zielgruppenspezifische Hinweise zur Planung von konkreten Präventionsmaßnahmen. Auch Personen mit Interesse an Maßnahmen zur Stimmprävention erhalten ihrerseits Hinweise zur Einschätzung von Angeboten. Der Qualitätssicherung und Evaluation von Maßnahmen zur Stimmprävention ist ein eigenes Kapitel gewidmet und es werden sowohl nationale als auch internationale Konzepte und Angebote zur Stimmprävention skizziert und bewertet. Somit bietet die Publikation eine sehr gute Basis zur Planung, Durchführung, Qualitätssicherung und Evaluation von Maßnahmen der Stimmprävention, die in Kliniken und Praxen eingesetzt werden können.
Wir hoffen sehr, dass die vorliegende Veröffentlichung dazu beiträgt, sowohl Therapeutinnen und Therapeuten als auch alle an Stimmprävention Interessierten in die Lage zu versetzen, die unterschiedlichen Angebote im Bereich Stimmprävention fachlich einzuschätzen und gleichzeitig aber auch die rechtlichen Möglichkeiten zur Durchführung und Teilnahme an Präventionsprogrammen zu nutzen.
Idstein und Aachen, Januar 2018Norina LauerDietlinde Schrey-Dern
Mit dem vom Deutschen Bundestag am 18.6.2015 verabschiedeten und am 1.1.2016 in Kraft getretenen neuen „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ (Präventionsgesetz – PrävG) soll die gesundheitspolitische Vorgabe einer Gesundheitsförderung direkt im Lebensumfeld von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen realisiert werden. Dieses Gesetz erweitert die bis dato im SGB V bereits festgeschriebene Mitverantwortung aller Versicherten für eine gesundheitsbewusste Lebensführung und die Aufgabe der Krankenversicherung als Solidargemeinschaft, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, um den nunmehr zusätzlichen Aspekt der „Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten“ (ebd.). Der Prozess bis zur Verabschiedung erstreckte sich über einen langen Zeitraum und mündete letztlich in der politischen Willensbekundung, dass eine zukunftsfähige Gesundheitspolitik ohne Prävention nicht möglich ist. Neben Kuration, Rehabilitation und Pflege kommt damit nun endlich der Prävention die Rolle der vierten Säule im Gesundheitssystem zu ▶ [3].
Dieses Buch befasst sich mit der Prävention von Stimmstörungen. Damit ist aber nicht nur der Aspekt der reinen Minderung und Vermeidung gesundheitsschädigender Risikofaktoren gemeint. Es befasst sich gleichermaßen auch mit Notwendigkeiten und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, deren Fokus auf der Stärkung gesundheitsfördernder Schutzfaktoren liegt ▶ [239]. Auch diese werden im Präventionsgesetz angesprochen und sind ausdrücklich intendiert.
Dass auch die menschliche Stimme von Störungen bis hin zu Erkrankungen betroffen sein kann, wird Nichtfachleuten oft erst dann bewusst, wenn sie selbst eine solche erleiden. Hinzu kommt, dass zu epidemiologischen Daten hinsichtlich Stimmstörungen nur spärliche Angaben in der Fachliteratur zu finden sind und sie demzufolge als nicht sehr relevant zu gelten scheinen. Auch aus eigenen Erfahrungen mit Kollegen, Patienten und Klienten wurde deutlich, dass das Wissen über die Beeinflussbarkeit von Stimme – auch die Möglichkeiten ihres Schutzes durch präventive Maßnahmen – sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in den betroffenen Berufsgruppen noch wenig verbreitet ist.
Dysphonien werden pathogenetisch nach organischen und funktionellen Ursachen unterschieden. Beide grundsätzlichen Entstehungsmechanismen spielen vor dem Hintergrund des erwähnten Präventiv- und Förderungsgedankens eine wichtige einzukalkulierende und in die Präventionskonzeption mit einzubeziehende Rolle. Eine einleitende Darstellung der Funktionsweise der Stimme und der einzelnen Entitäten der Dysphonien ist nicht Aufgabe dieses Buches. Hier verweisen wir auf die einschlägige phoniatrische Fachliteratur.
Wir richten uns mit diesem Buch an potenzielle Anbieter von Maßnahmen zur Prävention von Stimmstörungen und ebenso an die Adressaten derartiger Angebote – insbesondere an Angehörige stimmintensiver Berufe, ebenso aber auch an andere fachlich interessierte Personenkreise. Ärzte mögen sich ebenfalls angesprochen fühlen.
Eine Anmerkung zur verwendeten Form der Personenbezeichnungen: Wir benutzen in diesem Buch vorwiegend die maskuline Form, die im Deutschen nicht nur das generische Maskulinum markiert, sondern gleichzeitig – unabhängig vom tatsächlichen Geschlecht der gemeinten Person – den Gattungsbegriff als Oberbegriff kennzeichnet. Daher sind mit Bezeichnungen wie „Sprecher“, „Erzieher“ etc. selbstverständlich männliche und weibliche Personen gleichermaßen gemeint.
Hildesheim, Berlin und Stadthagen, Januar 2018Elin RittichSibylle TorminBernward Bock
Eigentlich ist es erstaunlich, dass bisher noch kein deutschsprachiges Buch vorliegt, welches sich umfassend mit den Rahmenbedingungen, Voraussetzungen sowie theoretischen und praktischen Aspekten der gezielten Vorbeugung von funktionellen Erkrankungen der Stimme befasst. Wir sind froh, dass der Thieme-Verlag dieses wichtige Thema nun in seiner Reihe Forum Logopädie aufgreift, und möchten die bestehende Lücke mit dem vorliegenden Band schließen. Ergänzungen und konstruktive Kommentare zu allen in den einzelnen Kapiteln aufgeführten Aspekten und Inhalten sind uns sehr willkommen.
Für die Herstellung des Kontakts mit dem Verlag danken wir an dieser Stelle Dr. Christiane Mantay. Der Prozess von der ersten Idee bis hin zur Drucklegung war ein intensiver Weg, auf dem uns dann viele weitere Personen begleitet und unterstützt haben: Unserer Projektmanagerin Nicole Witschel danken wir, da sie mit ihrer besonnenen Art so manche Unsicherheit schnell aus dem Wege räumen konnte. Für Informationen über ihr jeweiliges Berufsfeld danken wir besonders (alle folgenden Namen sind alphabetisch sortiert) Christiane Heinrich (ihr auch für kollegiale Unterstützung), Kerstin Reinsch, Andreas Ströbl, Jeanine Wahl und Dr. John Zimmermann. Für den inhaltlichen Austausch, Anregungen, Diskussionen und Unterstützung danken wir herzlich Prof. Dr. Ulla Beushausen, Prof. Dr. Bernhard Borgetto, der Rechtsabteilung des dbl, Birgit Disenko, Ann-Kathrin Hientzsch, Dagmar Karrasch, Jens Kramer, Susanne Krugmann, Julia Lukaschyk (die auch mit einem Kapitel beitrug), Dr. Manfred Nusseck, Laura Paarz, Verena Rogg, Julia Toubekis-Baumgardt, Marie-Luise Waubert de Puiseau, den Kolleginnen des Diakonie-Kollegs Hildesheim sowie unseren Schülern, Studenten und Teilnehmern für die konstruktiven Fragen, Ideen und ihre Erfahrungen.
Elin Rittich Während der intensiven Phase der Buchentstehung habe ich von vielen Seiten Unterstützung erfahren. Auf das herzlichste danke ich meinem Partner sowie meiner Familie und meinen Freunden, die mich geduldig und nachsichtig, z. B. bei der Kinderbetreuung, unterstützt haben. Ohne sie hätte mein Beitrag für das Buch nicht entstehen können.
Sibylle Tormin Ganz besonders danke ich meinem Mann, ohne dessen Bereitschaft, mich in allen Bereichen zu unterstützen und mir den Rücken freizuhalten, ich meinen Beitrag zu diesem Buch nicht hätte leisten können.
Bernward Bock Ich danke meinen Mitautorinnen für ihre Bereitschaft zur fachlich-konstruktiven Zusammenarbeit. Ebenso danke ich meiner Frau Beate Josten, deren berufliche Erfahrung im Bereich der Stimmstörungsprävention meine eigene ärztliche Bemühung um den Erhalt der gesunden Stimme, die die besondere Motivation für die Mitwirkung an diesem Buch war, schon immer unterstützt hat.
Hildesheim, Berlin und Stadthagen, Februar 2017Elin RittichSibylle TorminBernward Bock
AIDA
Attention, Interest, Desire, Action
AIDCAS
Attention, Interest, Desire, Confidence, Action, Satisfaction
AOK
Allgemeine Ortskrankenkasse(n)
AU-Tage
Arbeitsunfähigkeitstage
AVA
Australian Voice Association
BGF
Betriebliche Gesundheitsförderung
BKV
Berufskrankheiten-Verordnung
CI
Corporate Identity
CVCF
Canadian Voice Care Foundation
dB
Dezibel
dB(A)
Dezibel mit gehörrichtiger Korrektur des Schallpegels durch sogenannten A-Filter
dba
Deutscher Bundesverband der Atem-, Sprech- und Stimmlehrer/innen – Lehrervereinigung Schlaffhorst-Andersen e. V.
dbl
Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V.
DeGEval
Deutsche Gesellschaft für Evaluation e. V.
DGB
Deutscher Gewerkschaftsbund
DGSS
Deutsche Gesellschaft für Sprecherziehung und Sprechwissenschaft e. V.
DSI
Dysphonia Severity Index
E3BP
Evidenz-basierte Praxis (Forschung/Patient/Therapeut)
EBP
Evidenz-basierte Praxis
ELS
European Laryngological Society
EStG
Einkommenssteuergesetz
FIM
Freiburger Institut für Musikermedizin
GKV
gesetzliche Krankenversicherung
GRBAS
Grade-Roughness-Breathiness-Asthenia-Strain
GewStG
Gewerbesteuergesetz
HAWK
Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst
Hervorheb. i. Orig.
Hervorhebung im Original
HNO-Heilkunde
Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde
HNR
Harmonics-to-Noise Ratio
HWG
Heilmittelwerbegesetz
Hz
Hertz
ICD
Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme
ICF
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
kHz
Kilohertz
Leq
equivalent continuous sound level (äquivalenter Dauerschallpegel)
LP
Leitfaden Prävention
MwSt
Mehrwertsteuer
MDVS e. V.
Mitteldeutscher Verband für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung e. V.
MPT
Maximal Phonation Time – Tonhaltedauer
NLQ
Niedersächsisches Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung
NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
ÖPNV
Öffentlicher Personennahverkehr
o. J.
ohne Jahresangabe
PR
Public Relations
PrävG
Präventionsgesetz/Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention
RBH-Wert
Index zur Messung von Rauigkeit, Behauchtheit, Heiserkeit
RCT
Randomisierte kontrollierte Studie
SGB V
Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch
SGB VII
Sozialgesetzbuch – Siebtes Buch
SMARTE
spezifisch, messbar, angemessen, realistisch, terminiert, ethisch vertretbar/reflektiert/begründet
SWOT-Analyse
Analyse von Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken (engl.: Strength, Weaknesses, Opportunities, Threats)
TVF
The Voice Foundation
UE
Unterrichtseinheit
USP
Unique Selling Proposition
UStG
Umsatzsteuergesetz
VHI
Voice Handicap Index
VLT
Vocal Loading Test
V-RQoL
Voice related Quality of Life
vs.
versus
WHO
Weltgesundheitsorganisation
zit. n.
zitiert nach
zPP
zentrale Prüfstelle für Prävention
4 Ps
Product/Price/Place/Promotion – Produkt/Preis/Distribution/Kommunikatikon
Forum Logopädie
Geleitwort
Vorwort der Herausgeberinnen
Vorwort der Autoren
Danksagung der Autoren
Abkürzungen
1 Einführung
1.1 Gesundheitspolitische Aspekte zur Realisierbarkeit von Stimmpräventionskonzepten
1.2 Geschichte der Stimmprävention
2 Gegenstandsfeld Stimme
2.1 Stimme in der Gesellschaft
2.2 Stimme als Wirkungsfaktor
2.2.1 Wirkungsforschung zu Stimme und Person
2.2.2 Wirkungsforschung zu Stimme und Emotion
2.3 Stimmarten und vokale Parameter
2.3.1 Lautstärke
2.3.2 Tonhöhe
2.3.3 Stimmklang – Timbre
2.3.4 Tragfähigkeit
2.4 Störungen der Stimme
2.4.1 Berufsdysphonie
2.4.2 Presbyphonie: Stimmveränderungen im Alter
3 Grundlagen der Gesundheitsförderung und Prävention
3.1 Begrifflichkeiten
3.1.1 Gesundheitsförderung
3.1.2 Prävention
3.1.3 Gesundheit
3.1.4 Krankheit
3.1.5 Weitere Begrifflichkeiten
3.2 Gesundheit und Krankheit
3.2.1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
3.2.2 Einflussfaktoren von Gesundheit und Krankheit
3.2.3 Umgang mit Gesundheit und Krankheit
3.2.4 Stress
3.3 Ottawa-Charta
3.4 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (ICF)
3.4.1 Ursprung und Hintergrund
3.4.2 Aufbau und Anwendungsgebiete
3.4.3 Prävention
3.4.4 Stimmprävention
3.5 Rahmenbedingungen von (Stimm-)Prävention und Gesundheitsförderung
3.5.1 Gesetze
3.5.2 Leitfaden Prävention der gesetzlichen Krankenkassen
3.5.3 Berufskrankheiten
3.5.4 Stimmprävention und ihre Finanzierung
3.5.5 Präventionsforschung
3.6 Instrumente, Strategien und Ansätze von Prävention
3.6.1 Setting-Ansatz
3.6.2 Betriebliche Gesundheitsförderung
3.6.3 Weitere Instrumente der Gesundheitsförderung und Prävention
4 Stimme und Beruf
4.1 Zielgruppen der Stimmprävention
4.2 Stimmbelastende Einflüsse im Berufsleben
4.2.1 Umgebungsgeräusche
4.2.2 Akustische Beschaffenheit der Örtlichkeit
4.2.3 Raumklima
4.2.4 Dauer der stimmlichen Belastung
4.2.5 Intensität der stimmlichen Belastung
4.2.6 Einsatz der (unausgebildeten) Rufstimme
4.2.7 Unphysiologische Sprechtonhöhe
4.2.8 Unphysiologische Haltung
4.2.9 Unphysiologische Atmung
4.2.10 Stress
4.2.11 Geringe Variabilität im Sprechen
4.2.12 Inkongruenz von stimmlichem Aufwand und Intention
4.3 Hauptbelastungsfaktoren der Zielgruppen
4.4 Anforderungen, Risiken und Bedürfnisse stimmintensiver Berufe
4.4.1 Pädagogische Berufe
4.4.2 Darstellende Künstler
4.4.3 Sprecher und Sänger anderer Genres
4.4.4 Berufe mit öffentlicher Rede- oder Vortragsanforderung
4.4.5 Weitere Berufe mit hoher Sprechstimmbelastung
4.4.6 Berufe mit hoher Rufstimmbelastung
4.4.7 Berufe mit Umweltbelastungen
4.5 Stimme in der Berufsausbildung
4.5.1 Stimmärztliche Tauglichkeitsprüfungen als Ausbildungsvoraussetzung
4.5.2 Stimmtraining oder Sprecherziehung in der Ausbildung
5 Qualitätssicherung und Evaluation
5.1 Begrifflichkeiten und Grundlagen
5.1.1 Qualität
5.1.2 Evaluation/Programmevaluation
5.1.3 Evidenzbasierung
5.1.4 Evidenzbasierung in der Prävention
5.2 Qualitätssicherung in der (Stimm-)Prävention: praktische Herausforderungen
5.3 Evaluation in der Stimmprävention
5.3.1 Warum ist Evaluation wichtig?
5.3.2 Was sind die Herausforderungen?
5.3.3 Eine Sammlung – Was wird bereits gemacht?
5.3.4 Was sollte gemacht werden?
6 Angebote zur Stimmprävention entwickeln und beurteilen
6.1 Hintergrundinformationen
6.1.1 Prozess von der Idee bis zur Umsetzung
6.1.2 Marketing, Außendarstellung und Kommunikation
6.2 Konzeption und Auswahl eines Stimmpräventionsangebots
6.2.1 Anleiterkompetenzen
6.2.2 Ziele der Anbieter
6.2.3 Inhalte
6.2.4 Differenzierung nach Zielgruppen
6.2.5 Verhältnisprävention oder Verhaltensprävention
6.2.6 Frequenz
6.2.7 Ort
6.2.8 Preiskalkulation und Finanzen
6.2.9 Möglichkeiten der (Mit-)Finanzierung
6.2.10 Ausschreibung
6.2.11 Schriftliches Begleitmaterial
6.2.12 Teilnahmebescheinigung
7 Nationale Konzepte und Angebote zur Stimmprävention
7.1 Initiativen
7.2 Beurteilung von Studien und Angeboten zur Stimmprävention
7.2.1 Tabellarische Übersicht
7.2.2 Auswertung der Ergebnisse
8 Internationale Netzwerke und Angebote zur Stimmprävention
8.1 Netzwerke
8.1.1 Nord- und Mittelamerika
8.1.2 Ozeanien
8.1.3 Europa
8.1.4 Asien
8.1.5 Kontinent- und länderübergreifende Projekte bzw. Netzwerke
8.1.6 Fazit
8.2 Beurteilung von internationalen Studien zur Stimmprävention
8.2.1 Tabellarische Übersicht
8.2.2 Auswertung der Ergebnisse
9 Praxis der Stimmprävention
9.1 Mögliche Inhalte eines Angebots zur Stimmprävention
9.2 Denkhilfen und Checklisten
9.2.1 To-do-Liste für den Anbieter einer Präventionsmaßnahme
9.2.2 Denkhilfen zur Evaluation einer Präventionsmaßnahme
9.2.3 Checkliste für interessierte Teilnehmer eines Angebots zur Stimmprävention
9.3 Weiterführende Literatur
9.3.1 Ausgewählte Hintergrundliteratur zum Thema Stimmtraining
9.3.2 Ausgewählte praktische Literatur zum Thema Stimmtraining
9.3.3 Links für weitere Informationen
10 Blick in die Zukunft
11 Online-Material
11.1 Mit einem Klick
11.2 Extras im Netz
12 Literaturverzeichnis
Anschriften
Sachverzeichnis
Impressum
Elin Rittich, Sibylle Tormin, Bernward Bock
Das deutsche Gesundheitssystem ist ein bedeutender Wirtschaftszweig, auf den über 11% des Bruttoinlandsprodukts entfallen und in dem mehr als 4 Millionen Beschäftigte tätig sind ▶ [239]. Auch in finanziellen Krisenzeiten verzeichnet der Gesundheitsmarkt hohe Wachstumsraten ▶ [41], insbesondere im sogenannten zweiten Gesundheitsmarkt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Leistungsfinanzierung nicht mit Mitteln aus der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfolgt. In diesem Sektor mit privat finanzierten Produkten und Gesundheitsleistungen, zu der auch Maßnahmen der Prävention zählen, ist eine besondere Dynamik festzustellen (ebd.). Dies spiegelt sich in einer Erhebung aus dem Jahr 2015 unter 1728 Personen wider. Die Studie hatte u.a. die subjektive Wahrnehmung von Präventionsmaßnahmen in der Bevölkerung zum Inhalt: Zwei Drittel der Befragten (jüngere häufiger als ältere) gaben an, dass man „viel“ oder „sehr viel“ für seine Gesundheit tun könne ▶ [164]. Unter den 20%, die in den letzten 2 Jahren präventive Beratungs- oder Kursangebote genutzt hatten, wurden diese von 71% als sehr wirksam eingeschätzt (ebd.). Die Bereitschaft, Angebote dieser Art positiv anzunehmen, ist demnach grundsätzlich vorhanden, wie auch ein wahrzunehmendes gesteigertes Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung, gepaart mit dem Wunsch nach mehr Eigenverantwortlichkeit in Bezug auf die eigene Gesundheit. Als weitere Potenziale werden gesellschaftliche Veränderungen und damit einhergehende Gesundheitsprobleme genannt, sowie die Bereitschaft von Unternehmen, mehr Ressourcen für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter einzusetzen ▶ [27].
Laut Bundesgesundheitsministerium (Dezember 2014) sollen den Kranken- und Pflegekassen künftig rund 511 Mio. € jährlich für primärpräventive und gesundheitsfördernde Leistungen bereitstehen ▶ [49]. Dies deutet – analog zum neuen Präventionsgesetz – auf eine neue Bewertung dieses Bereichs bei Politik und Kostenträgern hin.
Hochleistungsstimmberufler – dazu gehören Schauspieler, Sänger und Sprecher sowie Angehörige pädagogischer Berufe, Geistliche, Politiker und Callcenter-Agenten, aber auch Personen wie Juristen, Manager, Verkäufer, Dolmetscher, ferner Sport- und Tiertrainer sowie viele weitere (siehe Kap. ▶ 4) – sind in Ausübung ihrer Tätigkeit stimmlich stark beansprucht. Personen, die konstitutionell eher zu einer funktionellen Stimmstörung neigen, sind dabei besonderen stimmlichen Risiken ausgesetzt ▶ [254]. Amerikanische Studien gehen von rund 30% der arbeitenden Bevölkerung aus, deren wesentliches Handwerkszeug die Stimme ist ▶ [307]. In Europa dürften die Zahlen ähnlich sein. Die wenigsten dieser Berufsausübenden haben aber eine ausreichende stimmliche bzw. sprecherzieherische Ausbildung genossen. So kommen viele von ihnen früher oder später mit einer funktionellen Stimmstörung in eine stimmtherapeutische Behandlung ▶ [297]. Vorübergehende oder gar dauerhafte Berufsunfähigkeit ist häufig die Folge. Lehrer und Sänger gelten – gemessen an der Gesamtanzahl der arbeitenden Bevölkerung – als deutlich überrepräsentiert unter den Personen, die stimmärztliche Sprechstunden aufsuchen ▶ [304], ▶ [326]. Ebenso sind wesentlich häufiger Frauen als Männer betroffen ▶ [98]. Stimmstörungen bei Lehrern können sich negativ auf das Lernverhalten von Schülern auswirken ▶ [83], ▶ [236].
Bislang liegen in Deutschland keine Zahlen vor, aus denen die Kosten, die durch Stimmstörungen entstehen, hervorgehen. Für Baden-Württemberg haben Richter u. Echternach, in Anlehnung an eine Modellrechnung aus den USA, jährliche Kosten, die durch zu späte Behandlung von Stimmstörungen entstehen, kalkuliert. Sie liegen bei rund 30 Mio. Euro ▶ [226]. Bei dieser Rechnung wurden die aus der Stimmerkrankung resultierenden Ausfallzeiten von 93000 Lehrern zugrunde gelegt. Mittelfristig könnten sich, so wird vermutet, 10% dieser Kosten durch präventive Maßnahmen für die Stimme (im Folgenden meist Stimmprävention genannt) einsparen lassen ▶ [75].
Neben den finanziellen Vorteilen – Verringerung der Kosten für Stimmtherapie und Stimmrehabilitation, der Arbeitsausfälle und Frühberentung – sind folgende 3 Aspekte in Hinblick auf Stimmprävention relevant:
Steigende Anforderungen an die Stimme im Beruf, vermehrte Telefonkontakte im Vergleich zu direkter Kommunikation und ein steigendes Stresslevel im Beruf haben negative Auswirkungen auf die Belastbarkeit von Stimmen.
Stimmstörungen gehen teilweise mit psychischen Beeinträchtigungen einher, die die Kommunikationsfähigkeit wie auch das Selbstbild der betroffenen Person stark beeinflussen können.
Die Menschen werden immer älter und die Stimme muss entsprechend länger „funktionieren“. Also gilt es, die Stimmfunktion bis ins hohe Lebensalter leistungsfähig zu erhalten.
Als Ziele der Stimmprävention sind Ressourcensteigerung einerseits (z.B. Stärkung von Selbstbewusstsein und Selbstkompetenzen, erweiterte Verhaltensspielräume und Handlungswissen in Bezug auf die Stimme und ihre unterstützenden Einflussfaktoren) wie auch die Verringerung von belastenden Faktoren und Gesundheitsrisiken zu sehen. Genauso wichtig ist es aber auch, die spezifischen Aspekte der sog. Altersstimme (Presbyphonie, Presbylarynx) zu kennen und diesen Beachtung zu schenken (siehe Kap. ▶ 2.4.2).
Dass diese Ziele erreicht werden können, wird durch sowohl internationale als auch nationale Forschungsergebnisse gestützt. So zeigen beispielsweise Evaluationen bestehender stimmpräventiver Angebote, dass auch kurze Trainingsprogramme signifikante Veränderungen in der stimmlichen Qualität und/oder dem stimmlichen Verhalten der Teilnehmer erzielen und insgesamt als Bereicherung empfunden werden können ▶ [39], ▶ [131], ▶ [146], ▶ [294]. Eine Studie von 2016 mit 204 stimmlich gesunden Lehramtsreferendaren, von denen 123 ein präventives Stimmtraining erhielten, belegt, dass eine solche Intervention nicht nur positive Effekte auf die Stimme, sondern auch positive Veränderungen der psychischen Gesundheit erzielt und damit über eine breite gesundheitsfördernde Wirkung verfügt ▶ [209].
Aus einer Untersuchung von Priestern geht hervor, dass diejenigen, die oft stimmlich beeinträchtigt waren, signifikant seltener während ihrer Ausbildung eine Unterweisung in Stimmgebrauch und Stimmhygiene erhalten hatten, als diejenigen mit seltenen oder fehlenden Stimmproblemen ▶ [138] (siehe Kap. ▶ 4.4.4). In anderen Untersuchungen wurden positive Effekte von Stimmprävention in Bezug auf subjektiv weniger belastende stimmliche Symptome, sich verbessernde stimmliche Parameter, verbesserte stimmunterstützende Verhaltensweisen im Alltag und Verringerung des Leidensdrucks nachgewiesen (siehe Kap. ▶ 7.2). Und schließlich empfinden „Personen, die Sprecherziehung – gleichgültig in welcher Form und in welchem Umfang – in der Ausbildung erfahren hatten, das berufliche Sprechen als subjektiv weniger belastend […] und [haben] weniger stimmliche Beschwerden“ ▶ [219].
Somit sind das gesundheitliche Potenzial stimmpräventiver Angebote und deren sozioökonomische Bedeutung als sehr hoch einzuschätzen. Im weiteren Verlauf des Buches werden historische, grundlegende und berufsgruppenbezogene Aspekte der Prävention von Stimmstörungen dargestellt. Anschließend werden konzeptionelle Vorschläge zur Realisierung derartiger Präventivprogramme gemacht.
Über Prävention für die Stimme, also Maßnahmen, die Störungen im stimmlichen Bereich vermeiden helfen sollen, ist aus der frühen Menschheitsgeschichte wenig bekannt. Was hingegen schon von alters her praktiziert wurde, ist Prävention durch Stimme. Gemeint ist hier die empirische Kenntnis und der sich daraus ergebende Nutzen präventiver Effekte durch den Einsatz und Gebrauch der Stimme: So wurden bereits früh im Laufe der menschlichen Entwicklung magischen Gesängen heilende Kräfte nachgesagt ▶ [276]. Gruppentänze und -gesänge sollten gleichermaßen gegen Naturgewalten, feindliche Stämme und böse Mächte wirken; durch Nachahmung von Tierstimmen meinte der Mensch, dass sich die Kraft des imitierten Tiers auf ihn überträgt ▶ [276]. Im Altertum wurden Stimmübungen konkret zur Erhaltung der Gesundheit durchgeführt: Atem- und Stimmübungen, professionell angeleitetes Lachen, Weinen, Schreien und Singen, galten als geeignet, den Menschen von diversen Krankheiten zu heilen. Auch glaubte man, dass durch Stimmübungen die Selbstheilungskräfte des Körpers in Gang gebracht und das natürliche Gleichgewicht zwischen Körper und Seele erhalten werden könne ▶ [276], ▶ [259]. Tatsächlich wird auch heute noch, z.B. im Yoga durch monotones Singen von Mantras, mithilfe des Stimmgebrauchs u.a. eine psychophysische Balance angestrebt.
Zu Zeiten der Antike war die Ausbildung der Stimme elementar und hatte einen hohen Stellenwert zumindest für Personen, die maßgeblich am öffentlichen Leben teilhaben wollten. Sowohl im Theater als auch im Forum (etwa: Versammlungsplatz) bei Gerichtsprozessen und in allen politischen und sonstigen Zusammenkünften musste gegen menschlichen und witterungsbedingten Lärm angesprochen werden; Hilfsmittel zur Verstärkung der Stimme gab es nicht. Gerichtsredner und Politiker errangen die Aufmerksamkeit des Auditoriums ebenso durch eine geschulte Stimme und Sprechweise wie durch eine ausgefeilte Rhetorik.
Schon im antiken Griechenland glaubte man an gewisse stimmfördernde diätische Maßnahmen wie z.B. den Verzehr von Lauchgewächsen. Manche Schauspieler lebten vegetarisch, um die Kraft der Stimme zu stärken. Immer wieder wurde eindringlich zur sexuellen Abstinenz vor anstrengenden Auftritten geraten. Vom antiken Redner Demosthenes (384–322 v. Chr.) wird überliefert, dass er als Jüngling unter einer sehr schlechten Verständlichkeit durch verschiedene schwere Sprachfehler, unter einer schwachen und leisen Stimme sowie unter extremer Kurzatmigkeit litt. Dennoch ging er als berühmtester und brillantester Redner der griechischen Antike in die Geschichte ein, weil er sich, neben seinem rhetorischen Talent, durch eiserne Disziplin, selbstentworfene Stimm-, Sprech- und Atemübungen und mit der Hilfe eines Lehrers zu der ihn kennzeichnenden sprecherischen Meisterschaft emporgearbeitet haben soll. Demosthenes gilt daher als „der personifizierte Sieg einer unablässigen Übung und Anstrengung über schlechte Naturanlagen“ ▶ [259]. Am berühmtesten ist hier sicherlich die Schilderung, Demosthenes habe, um seine Artikulation zu verbessern, Literaturrezitationen und seine Reden geübt, indem er am Strand mit Kieselsteinen im Mund gegen das Wellenrauschen ansprach (vgl. ▶ [113], ▶ [122], ▶ [180], ▶ [259], ▶ [313].
Um die Stimme zu erhalten sei „nichts nützlicher als häufige Modulation und nichts verderblicher als eine übertriebene und ununterbrochene Anstrengung“, schrieb im Jahr 55 v. Chr. der römische Politiker, Anwalt und Philosoph Cicero (106–43 v. Chr.) ▶ [53]. Die Stimme von der Mittellage aus stufenweise ansteigen und darauf „wie auf einer Leiter“ wieder absteigen zu lassen, sei nützlich und angenehm (ebd., vgl. ▶ [259]). Der Rhetoriklehrer Quintilian (35–100 v. Chr.) unterschied in der Lehre von der Stimme zwischen ihrer Beschaffenheit und ihrem Gebrauch – vergleichbar mit der heutigen Differenzierung zwischen einer stimmlichen Prädisposition und ihrer Ausbildung. Das Ideal war die Vox firma, eine kräftige Stimme, die den Ton und eine einmal angesetzte Lautstärke zu halten vermag. Dieser musste eine besondere Stimmpflege zukommen, um sie nicht zu überanstrengen ▶ [325]. Zur Schonung und Pflege der Stimme wurden Spazierengehen, leichte Kost und die Anwendung bestimmter Salben empfohlen.
Schauspielern wurde vom Publikum eine „vollkommene Reinheit der Stimme“ (dies und folgende Zitate: Quintilian, zit. n. ▶ [313]) abverlangt, dabei aber gleichzeitig eine große Variabilität. Schließlich mussten sie nicht nur die Maske stimmlich durchdringen (denn diese taugte durchaus nicht dazu, die Stimme zu verstärken – im Gegenteil), sondern gegebenenfalls auch „ganz fein die Schwäche der weiblichen Rede und das Zittern der Greisenstimme nachahmen“. Deshalb sollten Schauspieler die Stimme noch viel intensiver ausbilden und trainieren als die Redner. Durch die große Anstrengung erlitten Schauspieler denn auch mitunter „Halskrankheiten, am meisten das Blutspeien“, denen sie durch diverse Übungen und hygienische Regeln zu begegnen versuchten. Dabei standen ihnen spezielle Lehrer, sogenannte Phonasken, zur Seite – Stimmvirtuosen, die freilich meist Sklaven waren. Schauspieler selbst, aber ebenso die Phonasken, fungierten wiederum als Ausbilder und „Kontrolleure“ der Stimmen öffentlicher Redner ▶ [259], ▶ [313].
Zusatzinfo
Der Phonaskus stand bei politischen oder juristischen Reden versteckt hinter dem Sprecher und gab ihm Zeichen, sobald dessen Stimmorgan zu angestrengt, zu hoch oder unangenehm erklang: Mittels einer kleinen elfenbeinernen Stimmpfeife gab er ihm wieder eine mittlere Tonhöhe an. Auch stachelte er den Redner an, wenn seine Spannung nachließ und der Vortrag langweilig zu werden drohte. So hatten z.B. Gaius Gracchus um 120 vor Chr. ▶ [53], Kaiser Augustus (63 v. Chr. bis 14 n. Chr.), aber auch der spätrömische Kaiser Nero (37 bis 68 n. Chr.) mit dem Phonaskus gewissermaßen ihren persönlichen Stimmcoach immer dabei, der sie vor unphysiologischem und damit schädigendem Stimmgebrauch bewahrte. Nero, der sich neben seinen Staatsgeschäften zunehmend und schließlich fast nur noch für Gesang, Tanzen, Dichten und Schauspielerei begeisterte, ging so weit, dass er, überzeugt seinen Körper so vor schädlichem Ballast zu bewahren, Abführ- und Brechmittel anwandte. Obst und Ähnliches mied er, da es den Hals rau machen könnte, und an Tagen, an denen eine besondere stimmliche Belastung bevorstand, ernährte er sich fast nur von Olivenöl, Schnitt- und Knoblauch ▶ [259]. Mit der Zeit führte er sogar Gespräche und Verhandlungen nur noch im Beisein seines Phonasken oder gar nur noch schriftlich ▶ [313], ▶ [325].
Stimm- und Sprechübungen wurden auch zur Zeit Goethes als Weimarer Theaterleiter als unabdingbar angesehen. Eine starke Stimme sei zur „gehörigen Darstellung“ ▶ [142] des schauspielerischen Ausdrucks ebenso wertvoll wie zur Bewahrung der Gesundheit. Allerdings dürfe das Üben auch nicht übertrieben werden, da die Stimme sich auch „abnützt, wenn sie zu sehr angestrengt wird“ (ebd.).
Als eine der größten Gesundheitsgefahren für den Schauspieler und den Theatersänger wurde der „Catarrh“ (ebd., ebenso alle Zitate in diesem Absatz, sofern nicht anders vermerkt), insbesondere der unbeachtete, verschleppte oder „übelbehandelte“, genannt, der „just die Organe befällt, welche er am mehrsten anstrengen“ müsse. Dieser münde nicht selten in eine „schleimigte Lungensucht“ (gemeint ist laut Habermann wohl die chronische Bronchitis ▶ [122]), die „Auszehrung und Tod“ zur Folge haben könne, zumindest aber „die Stimme gänzlich verdirbt“, was vor allem für die Sänger faktisch Berufsunfähigkeit bedeutet hätte. Empfohlen wurde, den Beruf des Schauspielers nur zu ergreifen, wenn man eine „starke sonore männliche Stimme“ besitzt, „welche, ohne [ihm] viel Mühe und Athem zu kosten, deutlich anschlägt“. Diese sei „zur Erhaltung seiner Gesundheit von unendlichem Werthe“. Eine schwache Stimme hingegen werde „forcirt“ und es könnten „Blutspeyen und andere Zufälle nicht außen bleiben“. „Erzwungenes Athemholen und Einhalten“ und der kraftvolle Einsatz der Stimme schwäche die Brust von Schauspielern wie Sängern gleichermaßen. Bei Sängern nennt Hunnius einige stimmliche Fehlbildungen, wie den „Halston“ oder die „Fistel“, falsche Angewohnheiten beim Singen, die die Stimme nachhaltig schädigten.
Heute ist bekannt, dass bei dauerhafter Einwirkung von chemischen Noxen (z.B. Hitze, ätzende Gase, Staub, Verbrennungsrückstände, Zigarettenrauch) am Epithel der Stimmlippen und an den pharyngolaryngealen Schleimhäuten chronische Veränderungen mit sekundären organischen Schädigungen und konsekutiven Stimmstörungen entstehen können ▶ [258]. Entsprechend setzen präventive Maßnahmen zum Schutz der Stimme an diesen umweltbezogenen Faktoren an und sind längst arbeitsschutzrechtlich verankert. Auch ohne das heutige Wissen um die histologischen Veränderungen am Gewebe wusste man in den letzten Jahrhunderten rein empirisch um die negativen Auswirkungen dieser schädigenden Umgebungsbeeinträchtigungen und entwickelte entsprechende Vermeidungsstrategien, die wir heute mit Präventionsmaßnahmen bezeichnen würden.
Wenngleich wir diese damaligen Empfehlungen heute sicherlich nicht mehr in allen Punkten so übernehmen würden, zeigen sie doch, dass schon damals ein außerordentliches Bewusstsein für stimmschädigende Faktoren und den Umgang damit bestand. Im Winter schlecht beheizte, im Sommer überhitzte Theaterbühnen und viel zu kleine Garderoben („die Luft sehr erwärmt und animalisirt“ ▶ [142]), aber auch zu leichte oder zu warme Theaterkleidung setzten den Bühnenkünstlern zu. Ebenso die nervlich wie körperlich auszehrende Tätigkeit mit viel zu langen und zu häufigen Auftritten, gepaart mit zu späten Mahlzeiten. Auch die Anstrengungen des Gedächtnisses („fortgesetztes starkes Nachdenken“; ebd.) könne dazu führen, dass diese Fähigkeit gänzlich verloren ginge) und die Gefahren des Schminkens (Theaterschminke enthielt damals tatsächlich noch giftige Bestandteile wie Quecksilber und Blei!) machten den Beruf des Theaterschauspielers und -sängers zu einem ständigen Gesundheitsrisiko und senkte die Lebenserwartung bei ⅔ seiner Ausübenden auf unter 40 Jahre ▶ [122]. So wurde die Forderung aufgestellt, mindestens 2-mal jährlich einige „Ruhewochen“ für sie einzurichten (Mai, zit. n. ▶ [122]). Die Schauspieler selbst könnten durch eine angemessene Lebensweise zur Regeneration ihrer Nerven- und Körperkräfte beitragen, indem sie Mäßigung in allen Lebensbereichen praktizierten. So sollten sie statt mit „allen diesen warmen Morgengetränken“ wie Tee oder Kaffee lieber nach einem kräftigen Frühstück ihren Durst mit „einem guten Biere“ löschen“, sich dem „Reiz zum Beyschlaf“ nur selten hingeben und „alle übrigen Belustigungen der Wollüstlinge“ fliehen ▶ [142].
Mit Beginn der Industrialisierung verbreitete sich die Erkenntnis, dass Krankheiten durch Mangelernährung, ungünstige Wohn- und Lebensumstände oder auch als Folge schlechter Arbeitsbedingungen entstehen können. Mit dem Aufkommen der modernen Sozialmedizin ab der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde Gesundheitsfürsorge erstmals staatlich geregelt. Wie lässt sich die Prävention von Stimmstörungen im Kontext der Gesundheitsvorsorge des 19. und 20. Jahrhunderts verorten?
Die Sängerin Clara Schlaffhorst (1863–1945) litt in den 1890er-Jahren unter massiven Stimmproblemen aufgrund mangelhafter Ausbildung. Gemeinsam mit ihrer Freundin Hedwig Andersen (1866–1957), die als Klavierlehrerin ihrerseits unter Atemproblemen litt, begann sie, sich mit den Atemübungen Leo Koflers (1837–1908) zu befassen. In der Folge gelang es ihnen nicht nur, mithilfe der Übungen selbst zu gesunden. Sie entwickelten sie auch weiter, und es entstand mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeitsweise Schlaffhorst-Andersen. Grundlage sind die Wechselwirkungen zwischen Bewegung, Atmung und Stimme sowie die Bedeutung des dreiteiligen Atemrhythmus aus Einatmung – Ausatmung – Atempause sowohl für die Gesundheit im Allgemeinen als auch für die Sing- und die Sprechstimme und für die seelische Entwicklung. Bis heute wird das sich stetig weiter entwickelnde Konzept Schlaffhorst-Andersen, nach dem staatlich geprüfte Atem-, Sprech- und Stimmlehrer ausgebildet werden, therapeutisch, künstlerisch, pädagogisch und auch in der Stimmprävention erfolgreich eingesetzt ▶ [167]. Weitere Akteure im Bereich der Stimmtherapie, die sich ebenso der Prävention widmen, sind Logopäden ▶ [63], ebenso wie die akademischen Sprachtherapeuten ▶ [69]. Als „Geburtsstunde der Logopädie“ ▶ [220] wird das Jahr 1926 angesehen, als die 2 Jahre zuvor gegründete International Association of Logopedics and Phoniatrics (IALP) in Wien die Forderung nach einer eigenständigen wissenschaftlichen Ausbildung für Logopädie aufstellte ▶ [116].
Zusatzinfo
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts befassten sich auch zahlreiche weitere Vertreter der Stimm- und Sprachwissenschaften mit Methoden und praktischen Übungsansätzen zur Prävention von Stimmstörungen. Insbesondere sind hier die Laryngologen und Begründer der Phoniatrie Hermann Gutzmann sen. (Berlin) sowie Emil Fröschels (Wien) zu nennen, der bereits 1913 in seinem Lehrbuch der Sprachheilkunde die wesentlichen Erkenntnisse des damaligen Wissenstands zusammenfügte und veröffentlichte. Helene Fernau-Horn und – später in den 1960er-Jahren – Elke und Johannes Pahn („Nasalierungsmethode“) entwickelten Konzepte und Methoden zur individuellen und störungsspezifischen Herangehensweise bei drohenden oder bereits bestehenden Stimmstörungen, die bis heute in der Therapie zur Anwendung kommen. Als später hinzukommende weitere Verfahren sind die Atemrhythmisch Angepasste Phonation (AAP) nach Coblenzer/Muhar, die Funktionale Stimmbildung nach Rohmert und Rabine und das Konzept der Interaktionalen und Integrativen Stimmtherapie (KIIST) nach Spiecker-Henke zu nennen. Sie alle bieten wesentliche Ansätze und Möglichkeiten zum präventiven und rehabilitativen Umgang mit der Stimme und deren funktionellen Beeinträchtigungen. Zu den genannten Verfahren existiert ein umfassendes Literaturangebot. Eine Übersicht zur Orientierung findet sich in ▶ [127].
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es eine neue Einstellung gegenüber Krankheit und Gesundheit: Krankheit wurde nun als ein persönliches Versagen definiert ▶ [283]. Stimmpflege wurde jedoch auch von der NSDAP für ihre Agitatoren als notwendig erachtet, erkennbar z.B. an einem Zeitschriftenartikel wie „Winke für den gesundheitsmäßigen Stimmgebrauch des Redners“ ▶ [113].
Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems zog der neu entstehende westdeutsche Staat, die spätere BRD, sich tendenziell aus der Gesundheitsvorsorge des Einzelnen zurück. Doch das Thema Prävention von Stimmstörungen blieb unter Fachleuten präsent: 1956 wurde für Chorsänger nach konsequenter Einhaltung „stimmhygienische[r] Grundsätze“ verlangt ▶ [328]. Wever berichtet 1997 von zahlreichen Autoren, die im Laufe der Jahrzehnte „Vorbeugungsmaßnahmen, z.B. eine systematische und fundierte Sprecherziehung für Berufssprecher sowie eine fachärztliche phoniatrische Tauglichkeitsuntersuchung für Bewerber von Stimmberufen“ gefordert hatten ▶ [323].
An den Universitäten der DDR wurden seit den frühen 1950-er Jahren für Germanistikstudenten obligatorische Grundlagenlehrveranstaltungen in „Technik und Phonetik des Sprechens“ eingerichtet ▶ [115]. Auch gab es dort Übungstherapiestunden für stimmgestörte Studenten. Ab 1974 wurde eine stimmärztliche Tauglichkeitsuntersuchung u.a. für Lehramtsanwärter obligatorisch, die eine durchschnittliche Ablehnungsrate von 10,5% in den Jahren 1979–1985 hervorbrachte ▶ [22]. Die dann angebotene sprecherzieherische Ausbildung war quantitativ jedoch eher unzulänglich; nur etwa 20% dieser ohnehin knapp bemessenen Unterrichtszeit hatte die stimmliche Präventivausbildung zum Inhalt ▶ [124]. Lediglich an sehr wenigen Universitäten der BRD fand Vergleichbares statt. Die vorgeschriebenen Stimmtauglichkeitsprüfungen auf dem Gebiet der DDR wurden mit deren Niedergang auch dort wieder abgeschafft ▶ [173].
2006 ergab eine Studie der Universität Leipzig zu stimmlichen und/oder sprecherischen Auffälligkeiten bei 5357 Lehramtsanwärtern, dass aufgrund dieser unzureichenden Zustände 37% der Probanden Störungen aufwiesen, die „die lebenslange stimmliche Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit in Frage“ stellten, 14,8% bedurften einer Stimmtherapie ▶ [172]. Zu ähnlichen Ergebnissen kam man im gleichen Jahr in einer Untersuchung an der Universität des Saarlandes ▶ [119]. Interessanterweise waren in der DDR zwischen 1975 und 1990 nur 2,5% der Lehramtsstudierenden stimmtherapiebedürftig ▶ [309], was eine Auswirkung der damals obligatorischen Stimmtauglichkeitsuntersuchungen sein könnte.
Im Jahr 2016, 30 Jahre nach Verabschiedung der Ottawa-Charta, die 1986 zur Ermöglichung der Forderung „Gesundheit für alle“ aufrief (siehe Kap. ▶ 3.3), wurde in Deutschland ein Präventionsgesetz verabschiedet. Was es in Bezug auf die Stimmprävention ermöglicht, wird die Zukunft zeigen. Die Ausschöpfung der im Gesetz angelegten Möglichkeiten liegt jedoch u.a. in den Händen derjenigen, die es umsetzen, also auch der Betroffenen und Behandler.
Sibylle Tormin, Bernward Bock
Man muss jemand sein, um eine Stimme zu haben, etwas verursacht nur Geräusche (Bernhard Waldenfels ▶ [312]).
Die Stimme spielt für die psychologische, physiologische und kognitive Entwicklung eines Menschen eine große Rolle. Dieser Prozess beginnt bereits pränatal über die intrauterine Perzeption der mütterlichen Stimme und setzt sich kontinuierlich fort über die Wahrnehmung der eigenen Stimme mit Erprobung ihrer Facetten und Möglichkeiten und über die Wahrnehmung der Stimme von Bezugspersonen. Das Selbstgespräch und die stimmliche Selbsterfahrung eines Kindes ermöglichen ihm wertvolle akustische und sensorische Eigenwahrnehmungserfahrungen und tragen, ebenso wie auch alle Varianten von Sprech-, Sing-, Finger-, Klatsch- und Schaukelspielen, zur motorischen und emotionalen Entwicklung bei. Gedächtnis und alle Sinnesmodalitäten werden angesprochen und gefördert. Der Umgang mit starken Gefühlen wie Wut, Liebe, Angst und die Fähigkeit zur kommunikativen Äußerung wird mit dem Spracherwerb und dem Einsatz des stimmlichen Ausdrucks gelernt. In gleichem Maße wird die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, durch Einsatz der Stimme und durch Kommunikation etwas außerhalb der eigenen Person bewirken zu können ▶ [276].
Gemeinsames spielerisches Üben von Kinderliedern und -versen sorgt zudem nicht nur für einen physiologischen Aufbau der Kinderstimme, sondern schult auch elementare soziale Fähigkeiten. Richter sieht darin „die Entwicklung grundlegender kultureller Techniken unserer zivilisierten Welt“ ▶ [231]. Nicht zuletzt gelangen auch viele Erwachsene, die im Alltag ihre Stimme nur weit unterhalb ihrer prosodischen und emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten in einem relativ begrenzten tonalen Bereich nutzen, im Dialog mit einem Säugling zu einer größeren Bandbreite ihrer stimmlichen Möglichkeiten (sogenannte Ammensprache ▶ [276]).
Zusatzinfo
Singen
Studien belegen, dass Singen verschiedene positive Wirkungen erzeugen kann. So weisen Kinder und Jugendliche, die regelmäßig in einem Chor singen, wesentlich größere Tonhöhenumfänge in ihren Stimmen auf und können deutlich lauter und leiser singen sowie tendenziell lauter rufen als solche, die nicht regelmäßig sängerisch aktiv sind ▶ [99]. In Stimm- und Sprachtherapien integriert wirkt sich Singen nachweislich positiv auf den Therapieverlauf aus und wird daher zur Förderung der Sprachentwicklung empfohlen ▶ [233]. Bei Erwachsenen wirkt sich Chorsingen positiv auf die Abwehrkraft des Immunsystems aus, nachgewiesen in vermehrter Absonderung von sekretorischem Immunglobulin A im Speichel ▶ [163], ferner auf die Atmung, die Körperhaltung und den Muskeltonus ▶ [232]. Auch gibt es Hinweise, dass Singen vor Publikum u.a. für die vermehrte Ausschüttung von sog. Glückshormonen (Serotonin, Noradrenalin, Beta-Endorphin) sorgt ▶ [31].
Beim Singen in Kinderkrippen und Kitas ist allerdings von Bedeutung, welches gesangliche Vorbild gegeben wird. Wenn Kindern von Erziehern und Erzieherinnen in deren eigener, deutlich tieferen, Bruststimmlage vorgesungen und dabei die natürliche kindliche Stimmlage nicht genügend berücksichtigt und gefördert wird, könnte dieses Vorbild stimmschädigende Singweisen hervorrufen ▶ [192]. Wird die Kinderstimme nicht in ihrer physiologischen Lage, sondern in der „ungemischten Brustregisterfunktion ohne Ränderschwingung“ ▶ [191] trainiert, wird sie in ihrem Umfang eingeschränkt bleiben und möglicherweise auch eher zu kindlichen Stimmstörungen (Dysphonien) neigen (ebd.). So fordern Kinderstimmbildner, dass der gesunde Umgang der Kinder mit ihrer Stimme gefördert und dies als ein Qualifikationsziel in der Erzieherausbildung berücksichtigt wird ▶ [192]. Allerdings wird diese Thematik durchaus kontrovers diskutiert, wenn andererseits beklagt wird, die Erzieherinnen müssten ihre Stimmen in ungesunde Höhen pressen, um sich der kindlichen Lage anzupassen ▶ [136], ▶ [192].
Die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, stimmliche Fertigkeiten zu perfektionieren, sprechen und singen zu können, unterscheidet den Menschen vom Tier und damit auch von seinen nächsten Verwandten, den Primaten. Auch die Möglichkeit Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse zu formulieren sowie gedankliche Konstrukte zu entwickeln, zu reflektieren und zu verbalisieren, macht diesen Unterschied aus. Der Einsatz von Stimme und Sprache impliziert auch die Fähigkeit Symbole zu benutzen, zu diskutieren, Ironie, Polemik, Sarkasmus – und Humor – einzusetzen. Die Stimme ermöglicht einen differenzierten Ausdruck von Emotionen. In ihrer Erweiterung zur Singstimme vervielfachen sich diese Möglichkeiten noch ▶ [276]. Neben den Fähigkeiten des Schreibens und Lesens ist der Einsatz der Stimme in der mündlichen Kommunikation ein wesentlicher Aspekt des Menschseins.
In vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens sind während der letzten Jahrzehnte zum stimmvermittelten direkten, telefonischen oder mündlichen Kommunizieren indirekte und verschriftlichte Varianten hinzugekommen. So kommunizieren wir seit geraumer Zeit beruflich und privat per E-Mail, SMS, Chat, WhatsApp. Auch wenn in letzterem oder via Skype auch gesprochene Nachrichten digital übermittelt werden: Das bisher gängige soziale Medium Stimme tritt in diesen neuen Kommunikationsmöglichkeiten und den sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter noch nicht in den Hintergrund, konkurriert aber zumindest mit ihnen. So können wir mittels digitaler Kommunikation im Internet Informationen austauschen, Handel treiben und uns via E-Learning oder Blended Learning fortbilden und studieren. Das Verfassen von kurzen oder längeren Texten auf der Computer-, Tablet- oder Smartphone-Tastatur ist nicht nur für viele Kinder und Jugendliche zur souverän ausgeführten Selbstverständlichkeit geworden. Dieser Trend, bei dem Vieles darauf hindeutet, dass unser stimmliches Ausdrucksvermögen entbehrlicher und das Feld der stimmvermittelten Kommunikation kleiner wird, scheint noch nicht am Ende zu sein.
Es gibt Hinweise, dass sich diese vorwiegend visuell ausgerichteten Medien negativ auf unser Sprachvermögen und langfristig auch auf stimmliche Kompetenzen des digitalen Menschen auswirken können ▶ [277]. Für die Stimm- und Sprachentwicklung kleiner Kinder ist es unerlässlich, ständig über den Einsatz von Stimme und Sprache zu interagieren. Was früher selbstverständlich war und bei Kindern dabei von Beginn an für eine profunde Stimmausbildung sorgte, ist u.a. aufgrund veränderter Kommunikationsformen nicht mehr gewährleistet. So konstatiert Richter, dass in unserer Gesellschaft nicht mehr genügend mit Kindern gesprochen und gesungen wird ▶ [231]. Eine weitere Folge unserer visualisierten Kommunikation ist nach Beobachtungen Richters et al., dass die Sensibilität für gute stimmliche Leistungen auf der Bühne und in den Medien abnimmt ▶ [232].
Ebenso gibt es aber auch experiment- und studiengestützte Erkenntnisse, die verdeutlichen, dass der Wirkeffekt der Stimme auch in einer sich kommunikativ verändernden Gesellschaft immer noch eine große emotionale Bedeutung hat. Seltzer et al. fanden in einer Untersuchung heraus, dass tröstende Worte, von einer vertrauten Person unmittelbar nach einer Stresssituation gesprochen, für eine Freisetzung des Hormons Oxytocin sorgen, das mit Wohlgefühlen und Zärtlichkeit in Verbindung gebracht wird. Dieser Effekt trat nicht auf, wenn die vertraute Person die tröstenden Worte per Chat übermittelte ▶ [268].
Auch im sozialen und beruflichen Kontext ist es zunehmend wichtig, Kompetenzen in mündlicher und stimmvermittelter Kommunikation zu besitzen, um sich behaupten und profilieren zu können oder bestimmte Berufe überhaupt ausüben zu können. Dabei kommt es nicht nur auf das „Was“ (verbale, sprachliche Ebene), sondern mindestens ebenso stark auf das „Wie“ des Gesagten an (vgl. ▶ [80], ▶ [161], ▶ [271] u.v.a.). Auf die einzelnen qualitätsbestimmenden (also das „Wie“ modifizierenden) Faktoren wird unter Kap. ▶ 2.3 näher eingegangen. Im Folgenden wird ein Blick auf die Wirkungen der gesunden Sprechstimme geworfen.
Die menschliche Stimme ist mehr als nur ein akustisches Informationsweitergabemedium, mehr als ein Oszillator, der sprachliche Zeichen hörbar werden lässt. Aus philosophischer und psychologischer Sicht fungiert die Stimme vielmehr auch als Anzeichen ▶ [161], in dem die seelische und emotionale Befindlichkeit des Sprechers, aber auch Daten wie Geschlecht und ungefähres Alter und bestimmte Hinweise auf die Persönlichkeit hörbar werden können. Es können in der Stimme angeborene und erworbene Persönlichkeitscharakteristika zum Ausdruck kommen, und Menschen tendieren dazu, von einer Stimme auf Merkmale der Persönlichkeit der betreffenden Person zu schließen. Dies muss nicht immer übereinstimmen und kann dazu führen, dass Urteile über das Gegenüber abgeleitet werden, die dann die Beziehung zu dieser Person beeinflussen ▶ [104].
2006 untersuchten das Institut für Demoskopie Allensbach und das Institut für Publizistik der Universität Mainz in einer Grundlagenstudie das Verhältnis von Sprache, Stimme und Körpersprache in der Gesamtwirkung von Reden. Demnach tragen die Einzelfaktoren wie folgt zur Gesamtbewertung bei: der Text mit 22%, die Art und Weise des mündlichen Vortrags mit 59%, die Betonung mit 4% und die begleitende Gestik mit 15% ▶ [303]. Dieses Ergebnis ist keinesfalls als neue, plakative „Formel 4 – 15 – 22 – 59“ zu verstehen, sondern macht deutlich, dass die sprecherisch-stimmliche Gestaltung von Reden großes Wirkungspotenzial besitzt, während ihr Inhalt – also der Text – offenbar eine geringere Rolle spielt, aber ebenfalls nicht unwichtig ist.
Die Perzeption von Gesprochenem bewirkt beim Hörenden Zuschreibungen gewisser Persönlichkeitsmerkmale des Sprechenden – sowohl in Hinblick auf seine momentane Befindlichkeit als auch auf seinen Charakter. Dabei können vorher bestehende Einstellungen bestätigt, verstärkt oder widerrufen werden. Die Sprechwirkungsforschung und deren Spezialisierung, die Stimmwirkungsforschung untersuchen im Wesentlichen die Frage, welche Persönlichkeitsmerkmale in der Stimme und Sprechweise eines Menschen erkennbar werden und welchen Einfluss Stimme und Sprechweise auf Gesprächspartner haben können. Ziel ist es, über die Erforschung der Wirkungsmechanismen von Stimme und Sprechweise die Sprechkommunikation zu verbessen. Als Wirkung gilt dabei das, was im Hörer – unter Umständen unbewusst – ausgelöst wird, unabhängig davon, was der Sprecher mit seiner Äußerung für eine eventuelle Wirkung beabsichtigt, und ob er diese erreicht ▶ [137].
„Im Mittelalter verfasste der Philosoph Michael Scotus ein Handbuch der Physiognomik (Liber physiognomiae), das dem Stauferkaiser Friedrich II. als Anleitung zur Hand gegeben wurde, um die richtigen Berater und Beamten für sich auszusuchen. Habermann entdeckte in diesem Buch ein Kapitel über die Stimme, das als ein erster Versuch gewertet werden kann, die Zusammenhänge zwischen Stimme und Charakter aufzuzeigen“ ( ▶ [118]; ▶ [122]).
Die Kohärenz von Stimme und Person ist eine Thematik, die schon vor Jahrhunderten Beachtung fand. Im weiteren Verlauf jedoch, vor allem nach Entdeckung des Buchdrucks, rückte die Sprechstimme in den Schatten der Schriftsprache und der Gesangskunst und wurde erst im 20. Jahrhundert wieder näher erforscht. Der Zweig der moderneren Stimmwirkungsforschung, der sich nicht mit Stimme und Emotion, sondern mit Stimme und Persönlichkeit beschäftigt, existiert, vorwiegend innerhalb der psychologischen Forschung, seit ca. den 1930er-Jahren ▶ [118], ▶ [159], ▶ [248].
Zusatzinfo
Edward Sapir folgerte bereits 1927 aus seinen sozialwissenschaftlichen und linguistischen Studienergebnissen, dass jedermann in der Lage sei, Sprechern aufgrund eines sprachlichen Eindrucks intuitiv bestimmte Persönlichkeitseigenschaften zuzuordnen. Man neige sogar dazu, jemandem brillante Ideen zuzuschreiben, nur weil er sie mit einer geschmeidigen Stimme vortrage ▶ [271]. Meyer-Kalkus berichtet von einer Experimentreihe Bühlers 1933, bei der er die Stimmen unbekannter Radiosprecher per Fragebogen von 2700 Hörern „physiognomisch“ deuten ließ. Dabei wurde, neben Fragen nach körperlichen Merkmalen, nach dem vermuteten Beruf, sozialen Stand und Charakter gefragt, und ob man meine, dass der Sprecher gewohnt sei, Befehle zu geben. Die Auswertung ergab „in den Berufsangaben große Unsicherheit, allerdings mit recht eindeutiger Unterscheidung in intellektuell vs. manuell“ ▶ [189].
Zusatzinfo
Bei der Erforschung der Stimmwirkung unterscheidet man zwischen zwei verschiedenen Herangehensweisen:
Externalisierungsuntersuchungen beschäftigen sich mit den festgestellten tatsächlichen Persönlichkeitseigenschaften von Personen und der Frage, wie sich diese stimmlich-sprecherisch äußern (vokale Externalisierung).
Attributionsuntersuchungen erforschen die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit (Attributionen), die aufgrund von Sprachäußerungen vorgenommen werden ▶ [43], ▶ [317].
Letztere weisen eindeutigere Ergebnisse auf, da Zuschreibungen von Persönlichkeitsmerkmalen „leichter und methodisch sauberer erhoben werden können als Maße, in denen sich angeblich eine ‚tatsächliche Persönlichkeit‘ des Sprechers widerspiegelt“ ▶ [43].