Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik -  - E-Book

Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik E-Book

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Beschreibung

In den Bereichen Erziehung und Bildung legt mentalisierungsbasierte Pädagogik den Fokus auf Emotionen, Verstehen und Motive sowie auf die pädagogische Beziehung. Damit spricht sie alle an, die in pädagogischen Bereichen praktisch und theoretisch tätig sind. Dieses Praxisbuch greift den aktuellen Forschungsstand einiger zentraler Themen wie etwa soziales Lernen und epistemisches Vertrauen auf und bezieht sie fundiert und alltagsnah auf verschiedene pädagogische Felder: Frühpädagogik, Schulpädagogik, Sozialpädagogik und pädagogische Beratung. Praxisbeispiele stehen dabei im Mittelpunkt. Sie vermitteln einen konkreten Einblick in die beziehungsintensive pädagogische Arbeit. Anhand einer großen Bandbreite von unauffälligen/unproblematischen bis hoch konflikthaften Kasuistiken werden verschiedene pädagogische Interaktionen thematisiert und vor dem Hintergrund des Mentalisierungsansatzes reflektiert.

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Stephan Gingelmaier / Holger Kirsch (Hg.)

Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik

Mit 13 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Tanor/shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99482-6

Inhalt

Zum Geleit

Epistemologische Anmerkungen zur Bedeutung der Mentalisierung für die Pädagogik

Manfred Gerspach

Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik – eine Hinführung

Stephan Gingelmaier und Holger Kirsch

Teil I – Theorie des Mentalisierens für pädagogische Felder

Einführung in das Konzept der Mentalisierung

Axel Ramberg und Tobias Nolte

Mentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität – konzeptionelle Überlegungen

Nicola-Hans Schwarzer

Mentalisieren in (pädagogischen) Organisationen

Stephan Gingelmaier und Lorena Asseburg

Muss Strafe sein?

Über einen mentalisierenden Umgang mit Konflikten und Grenzverletzungen in der Pädagogik

Stephan Gingelmaier und Holger Kirsch

»Sie spielen wieder mit mir!« Mentalisieren im Kontext der Peergruppe

Günther Opp

Teil II – Fälle des konkreten Mentalisierens in pädagogischen Feldern

Erstes Feld: Mentalisieren in der Frühpädagogik

Die mentalisierungsbasierte Begleitung einer Eingewöhnung in die Kita

Anke Lowin

Kindheit in prekärer Lebenslage – die Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik

Josephin Louisa Scholz

Zweites Feld: Mentalisieren in der Schule

Die Feentür

Ein Beispiel einer alltäglichen mentalisierungsanregend-didaktischen Idee für die Schule

Stephan Gingelmaier und Stefanie Gingelmaier

Max, ein Rabauke? Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

Tillmann F. Kreuzer und Agnes Turner

»Wenn der Eisberg ins Wanken gerät« – Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext

Noëlle Behringer und Lisa Weichel

Gelingen und Scheitern des Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

Jochen Willerscheidt

»Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« – Schulpraxisbericht eines mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms

Nicola-Hans Schwarzer und Elena Johanna Koch

Drittes Feld: Mentalisieren in der Sozialen Arbeit

Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe

Theoretische Rahmung und reflektierende Überlegungen zu exemplarischen Alltagssituationen

Noëlle Behringer

Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

Zum Fall einer exemplarischen Maßnahmenkarriere in der Kinder- und Jugendhilfe

Andrea Dlugosch und Melanie Henter

»Immer Ärger mit der Hausordnung« – Mentalisieren im Kontext einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung

Christiane Wiggeshoff und Annika Junker

Viertes Feld: Supervision und Beratung in der Pädagogik

Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren: Pädagogische Frühförderung als Paarberatung

Stephan Gingelmaier

»Manchmal habe ich das Gefühl, die Kinder kommen vom Regen in die Traufe« – Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen

Agnes Turner

Die Autorinnen und Autoren

Zum Geleit

Epistemologische Anmerkungen zur Bedeutung der Mentalisierung für die Pädagogik

Manfred Gerspach

Eigentlich hat alles mit Winnicotts Vorstellung vom potenziellen Raum begonnen. Mit seinem Entwurf dieses Bildes hat er veranschaulicht, dass Entwicklung nicht im einzelnen Subjekt, sondern zwischen den Subjekten vonstattengeht. Winnicott beschäftigte die Frage, wie aus einem völlig abhängigen und seiner Umgebung ausgelieferten Säugling nach und nach ein erwachsener Mensch wird, der die Realität nicht mehr als eine Bedrohung empfindet (Winnicott, 1965; Leuzinger-Bohleber u. Lebiger-Vogel, 2016, S. 46). Diese frühe Entwicklungsphase stellte er sich als eine Mutter-Kind-Einheit vor, wobei der potenzielle Raum die fließende Grenze zwischen jenen beiden Akteuren und folglich die innere psychische Realität wie die wirkliche, äußere Welt im selben Moment repräsentiert.

Konkret hatte Winnicott die Situation zwischen der Mutter und ihrem Kind im Auge, die in einer gelingenden gemeinsamen Interaktion diesen Raum beleben. Die Mutter versteht die Befindlichkeit ihres Kindes sowie die Signale, die es aussendet, und antwortet darauf. Das heißt, sie misst den Ent-Äußerungen des Kindes eine Bedeutung bei und lädt es somit ein, selbst Bedeutungen zu generieren.

Indessen sei hier unbedingt auf die aktive Mitgestaltung des Säuglings an der wechselseitigen Beziehung verwiesen (von Klitzing, 2002, S. 883; Dornes, 2005, S. 80; von Lüpke, 2010, S. 5). In diesem dialogischen Wechselspiel erahnt das Kind nämlich umgekehrt, dass bestimmten sprachlichen und auch nichtsprachlichen Botschaften von Vater und Mutter ebenfalls eine spezifische Bedeutung innewohnt. Geht der Vater z. B. mit seiner eineinhalbjährigen Tochter in den Zoo und ist das Kind enttäuscht, dass das große Krokodil nicht mehr da ist, so wird ihr der Vater sein Wissen anbieten, dass es nach Dänemark gebracht worden ist. Fragt man das Kind später, wo das große Krokodil denn hingekommen sei, so wird es antworten: »Dänemark.« Das Mädchen bemerkt, wie tiefgründig diese Antwort offenbar ist, und erwirbt eine erste Vorstellung von Dänemark, von einem Land also, von dem es bis dahin noch nie etwas gehört hat, das aber augenscheinlich so bedeutsam ist, dass man das Krokodil dorthin verschickt hat (Stark, 2009, S. 693).

Dem allen geht die Erfahrung des Kindes voraus, zu lernen, im Beisein der Mutter allein zu sein (Winnicott, 1965/1990, S. 36 ff.). Die Mutter ist mit anderen Dingen befasst, wendet sich aber ihrem Kind zu, wenn die Not es verlangt. Eine gute Mutter stellt also eine paradoxe Situation her: Sie signalisiert ihre emotionale Nichtverfügbarkeit, bleibt aber dennoch verfügbar (Paulsen, 1998, S. 165). Auf diese Weise ist das Kind sicher, dass es auf sein primäres Objekt zurückgreifen kann, falls unlustvolle Spannungszustände zu groß werden. Somit erlebt es ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, sich im Beisein der Mutter eigenaktiv behelfen zu können, und erfährt zugleich die Anspannung als auszuhaltenden und zu regulierenden Gemütszustand. In Anlehnung an Piaget könnte man auch sagen, dass dies der Beginn der Intelligenz ist (Piaget, 1936/1975, 1995). In seinem Kommentar zu Piagets Sorbonne-Vorlesungen (Piaget, 1995) erkennt Leber in der Gewahrwerdung der Getrenntheit den Dreh- und Angelpunkt dieses qualitativen Entwicklungssprungs. Sie beinhaltet den Vollzug einer affektiven und kognitiven Dezentrierung, um wahrzunehmen und zu akzeptieren, nicht im Mittelpunkt von allem zu stehen (Leber, 1995, S. 164). An anderer Stelle bezeichnet er das Aufgebenkönnen des »Ur-Egozentrismus« gegen Ende des ersten Lebensjahres als herausragendes Kennzeichen dieser Vorgänge. Die Wandlung des egozentrischen Standpunktes gibt die basale Voraussetzung für die einfachsten kognitiven Denkvorgänge ab (Leber, 1990, S. 281). Schon hier erhalten wir – und zwar im Rahmen eines genuin pädagogischen Diskurses – erste Hinweise auf die Tragweite der erst viel später untersuchten Mentalisierungsprozesse, die eingebunden sind in ein enges Geflecht aus Beziehungsmomenten, Affektregulierung und kognitivem Erwachen.

In diesem Augenblick entwickelt das ganz junge Kind eine Ahnung von der Gewichtigkeit, die die Mutter als äußeres, von ihm getrenntes Objekt für es hat, und verinnerlicht schließlich diese sich wiederholenden Erfahrungen mit ihr im Sinne des Aufbaus einer stabilen inneren Welt von Selbst- und Objektrepräsentanzen. Um im Fortgang der jetzt einsetzenden Autonomieentwicklung, die auf der wachsenden Akzeptanz aufruht, die Trennung vom mütterlichen Objekt zu erkennen wie anzuerkennen, benötigt das Kind zunächst ein Übergangsobjekt – wie etwa den Zipfel einer Decke beim Einschlafen. Diese Decke ist nicht, aber sie bedeutet die Brust der Mutter. Das Übergangsobjekt ist das erste Nichtobjekt des Kindes und stellt die Brücke zwischen innen und außen her (Winnicott, 1965/1990, S. 126). Aber es wird vom Kind nicht gefunden, sondern ins Leben gerufen: »Das Kleinkind erschafft das Objekt, aber das Objekt war bereits vorher da […]« (Winnicott, 1971/1993, S. 15 ff.; s. auch Ludwig-Körner, 2014, S. 89 ff.; Gerspach, 2018, S. 38 ff.).

Das Gelingen dieses Vorgangs ist davon abhängig, dass die Mutter zunächst die narzisstischen Omnipotenzfantasien ihres Kindes intuitiv versteht und bestärkt und ihm also die Illusion bestätigt, das Objekt geschaffen zu haben. Erst darüber werden das Erkalten dieser Fantasien und der Aufbau realistischerer Vorstellungen möglich. Von nun an vermag das Kind immer besser allein zurechtzukommen. Der potenzielle Raum ist also ein Raum, in dem fundamentale Potenzen wachsen. Mit anderen Worten: Weil ihm von der Mutter im potenziellen Raum symbolische Bedeutungen über die wechselseitige Interaktion und die Beschaffenheit der inneren und äußeren Realität zur Verfügung gestellt werden, beginnt das Kind zu mentalisieren. Von nun an wird »Dänemark« möglich.

Zunächst hat die Mutter eine geradezu unrealistische Vorstellung vom mentalen Können ihres Säuglings. Sie fantasiert ihn als denkendes Wesen und schreibt ihm eine Absicht seines Handelns zu, was er zunächst als diffuse Botschaft wahrnimmt, und doch vermittelt sie ihm auf diesem Wege die bedeutende Gewissheit: »Sie denkt mich, also bin ich.« Somit wird das Erkennen seines eigenen Bewusstseins antizipiert und dessen Entwicklung in Gang gesetzt. Voraussetzung für das Gelingen dieser Prozesse ist, dass die Spiegelung der Affekte des Kindes im Sinne eines sozialen Biofeedbacks durch die Eltern zu dessen gelingender Affektregulierung führt. Dies gilt insbesondere für das Schicksal der negativ eingefärbten Affekte, die es zu containen gilt (von Klitzing, 2002, S. 883).

Die Weiterentwicklung der frühen Psychoanalyse als einer monologischen Psychologie hin zur Objektbeziehungspsychologie als einer interaktionellen Psychologie wurde mittlerweile durch vielfältige und ausgereifte empirische Erkenntnisse aus der Bindungs-, Säuglings- und Affektforschung ergänzt, bereichert und in Teilen modifiziert. Auf diesem Wege wurde der Stellenwert des gegenseitigen interaktionellen Austauschs in seiner ganzen Tragweite für die gedeihliche Entwicklung des Kindes greifbar. Beginnend mit der Rêverie, also der träumerischen Bezogenheit der Mutter zum Kind (Bion, 1965/1992; Halmer, 2012, S. 6), verläuft dieser gesamte Prozess zu großen Teilen unbewusst. An diesem Punkt zeigt sich die Anschlussfähigkeit an die Pädagogik. Wenn wir verstehen, dass Erziehung in erster Linie Beziehung ist, wird die Einführung von reifen Symbolisierungs- und Reflexionsfähigkeiten auf dieser Schiene sichtbar. Am Anfang steht also: Die Mutter mentalisiert ihr Kind, und daraufhin beginnt es zu mentalisieren.

Im Fortgang der Entwicklung müssen verschiedene Stadien in aufsteigender Reihenfolge durchlaufen werden. Zunächst ist das Kind davon überzeugt, dass seine innere Welt und die Innenwelt anderer Personen der äußeren Realität entsprechen – es befindet sich im Modus der psychischen Äquivalenz. Ins Spiel vertieft, beginnt es aber bald, mit der Realität zu experimentieren, und begreift allmählich, dass sein inneres Erleben die äußere Realität nicht widerspiegelt. Im Spiel kommt der Teufel aus der Wand, aber weil das Kind weiß, dass es ihn nicht gibt, kann es dies spielerisch zur Darstellung bringen. Allerdings erlebt es auch seine Gedanken so, als wären sie Realität: »Der Gedanke an ein Krokodil unter dem Bett hat eine ähnlich ängstigende Wirkung wie ein wirkliches Krokodil […]. Im Spiel werden Gedanken und Gefühle von der Wirklichkeit abgekoppelt und sind dann irreal, im Äquivalenzmodus sind sie überreal« (Dornes, 2006, S. 528 ff.).

Mit dem Erwerb des Als-ob-Modus gewinnen symbolische Bedeutungen zunehmend an Gewicht. Anfangs werden beide Modi noch für gleichwertig erachtet, und dem Kind will dieser logische Widerspruch noch nicht aufgehen. Im Alter von etwa vier Jahren werden sie dann beide integriert. Das Kind erkennt nun die Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Realität, aber auch, dass es gravierende Unterschiede gibt. Ab diesem Zeitpunkt können wir von einer ausgeprägten Fähigkeit zum Mentalisieren sprechen. Den Abschluss bildet in nachfolgenden Epochen der Erwerb der Fähigkeit zum Nachdenken. Damit dies alles gelingen mag, benötigt das Kind von Anbeginn an einfühlsame Eltern, die imstande sind, seine vielfältigen psychischen Zustände zu reflektieren. Allen, Fonagy und Bateman (2011) haben die verschieden ausgereiften Ebenen der Fähigkeit zu mentalisieren bzw. zu reflektieren differenziert beschrieben, wobei sie bei einem aktiven, feindseligen Widerstand gegen Denken überhaupt beginnen und mit einer außergewöhnlich guten Reflexionskompetenz – »verbunden mit einer unbeirrbar reflexiven Haltung« – enden (Allen et al., 2011 S. 85; s. auch Gerspach, 2018, S. 77 ff.).

Dass das Abstraktionsvermögen zu wachsen vermag, bedingt den Vollzug der Abkehr vom Konkreten. Seine differenzierte Ausformung ist an die von Empathie getränkte Qualität der frühen Beziehung gebunden. Einzig sichere primäre Elternobjekte, die nach und nach als stabile Repräsentanzen verinnerlicht werden, garantieren diesen Schritt. Nur dann erfolgt der Übergang zur Ebene der Metakognition, über das Gedachte und Erlebte eingehend nachdenken zu können.

Was aber, wenn unter unzureichenden Sozialisationsbedingungen diese Schritte der Reifung gar nicht zu gehen sind, weil die basalen Voraussetzungen einer gelingenden Affektregulierung dafür fehlen? Katzenbach (2004) zeigt auf, wie eine tiefe Verunsicherung des Selbst, die aus unzureichenden frühkindlichen Beziehungserfahrungen mit den Eltern herrührt und den Aufbau solider Mentalisierungskompetenzen nachhaltig verhindert, im schulischen Kontext neuer Lernsituationen ständig zu unkontrollierbaren Stressreaktionen führt. Demnach beeinträchtigen gravierende emotionale Probleme Kinder in ihrer kognitiven Entwicklung dann besonders nachhaltig, wenn sie mit der Aufgabe eines strukturellen Umlernens und der Reorganisation ihres Wissens und Könnens konfrontiert sind. Diese Situation erscheint ihnen wie eine maßlose Herausforderung, die eine nicht mehr beherrschbare Stressreaktion auslöst und die Gefahr ihrer völligen Dekompensation mit sich bringt (Hüther, 1997/2016, S. 76; Katzenbach, 2004, S. 92 ff.). Solchen Kindern wurde aufgrund brüchiger und inkonsistenter früher Beziehungserfahrungen der Erwerb der Fähigkeit vorenthalten, »ihre eigenen Emotionen und die ihrer Mitmenschen differenzierter wahrzunehmen, zu interpretieren und auch komplexer zusammenzusetzen« (Gerspach, 2009, S. 197). So blieb ihnen der reflektierte Zugang zu den eigenen Affekten versperrt, denen sie sich stattdessen nach wie vor hilflos ausgeliefert sehen (Katzenbach, 2006, S. 95). Die Aufgabe einer psychoanalytisch orientierten Pädagogik ist es hernach, nachträglich empathische Beziehungsangebote zu entwerfen, die zunächst einmal die bislang fehlende Affektregulation möglich machen. Erst in einem zweiten Schritt wird sich die Neugier auf schulische Sachthemen freisetzen lassen. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich die große Bedeutung einer mentalisierenden Haltung für die Erziehungswissenschaften.

Bereits Horkheimer und Adorno haben die »Genese der Dummheit« in äußeren widrigen Lebensumständen verankert. Danach ist das Wahrzeichen der Intelligenz das »Fühlhorn der Schnecke ›mit dem tastenden Gesicht‹« (Horkheimer u. Adorno, 1944/1969, S. 274). Vor einem Hindernis wird dies jedoch sogleich in die »schützende Hut des Körpers zurückgezogen« und wagt sich erst zaghaft wieder hervor. Solch erster tastender Blick ist immer leicht zu brechen, und das endgültig verscheuchte Tier wird scheu und dumm: »Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken.« Übertragen wir dieses Gleichnis auf die kindliche Entwicklung, so wird deutlich: »Dummheit ist ein Wundmal« (Horkheimer u. Adorno, 1944/1969, S. 274). Aus heutiger Sicht ließe sich damit formulieren: Sie ist das Fanal misslungener Mentalisierung.

Bei aller begründeten Euphorie, die die Rezeption der Mentalisierung in klinischen wie außerklinischen Feldern im Schnittpunkt von Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychologie und nicht zuletzt Pädagogik ausgelöst hat, so seien doch drei mögliche Untiefen in den Blick genommen:

1 Die Untiefe der kognitiven Vereinseitigung

Die aktuelle Theoriedebatte ist sehr stark auf das Thema Mentalisierung ausgerichtet, und die darin aufscheinende Verbindung von kognitiven, affektiven und Beziehungsaspekten stellt eine wertvolle und unabdingbare Bereicherung der ursprünglichen kognitionstheoretischen Sicht im Sinne der Theory of Mind dar. Allerdings nimmt diese ursprüngliche Referenztheorie bis heute keinerlei Bezug zum triebhaften Unbewussten, was sich jetzt auch auf unserem angestammten Terrain auszuwirken droht (Stark, 2009, S. 652 ff.). Bleibt nämlich Mentalisierung zu sehr an dieser Tradition orientiert, fällt sie womöglich einer kognitionslastigen Verkürzung zum Opfer. Das Subjekt der Psychoanalyse ist jedoch nicht bis ins Letzte bestimmbar, »da das Unbewusste etwas ist, was man wirklich nicht weiß« (Langnickel u. Link, 2018, S. 126 ff.). Insofern ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, sich zu sehr von diesem Paradigma zu distanzieren. Auch Schultz-Venrath (2013) bezeichnet das Triebmodell und die Annahme eines dynamischen Unbewussten als Kennzeichen der Psychoanalyse, wobei er gleichwohl die Nähe des Mentalisierungsmodells zu psychoanalytischen Intersubjektivitätskonzepten betont. Wenn hernach ausreichend berücksichtigt wird, dass die biografische Entwicklung des Selbst »als körper- oder leibgebundene – intersubjektive – Kommunikation« beginnt, und das metakognitive Vermögen zum Lesen von Gedanken und Handlungen anderer nicht zugunsten einer affektentleerten Symbolisierungsfähigkeit überdehnt wird, bleibt das Modell anschlussfähig (Schultz-Venrath, 2013, S. 56 ff.). Als Resümee lässt sich das Problem einer erkenntnistheoretischen Verkürzung, die zu falschen Schlussfolgerungen verleitet, trotzdem wie folgt festmachen: »Das Unbewusste bestimmt das Bewusstsein stärker als umgekehrt« (Roth, 2019, S. 26). Insofern ist jedes Mentalisierungskonzept zwingend ans Affektleben zu binden.

2 Die Untiefe der Verengung auf eine dyadische Mutter-Kind-Figur

Den ursprünglichen Vorstellungen von Mentalisierung war eine enge Fokussierung auf die frühe Mutter-Kind-Dyade zu eigen. Insbesondere der Rolle des Vaters ging dabei etwas Essenzielles verloren – wie nicht zuletzt das »Dänemark«-Beispiel veranschaulicht. Empirische Studien belegen sehr wohl den Stellenwert triadischer Beziehungen für die Entwicklung des Kindes von Geburt an (von Klitzing, 2002; Heberle, 2006, S. 36 f.). Jenseits des innerfamilialen Triangulierungsmoments von Vater, Mutter und Kind wäre zudem den verschiedenen Gruppenaspekten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Aus gruppenanalytischer Sicht empfiehlt Schultz-Venrath (2013) ein Gruppensetting, weil dort keine dyadische, sondern eine polydyadische Spiegelung des individuellen Erlebens stattfinde und die assoziative kommunikative Spirale zwischen den Gruppenteilnehmerinnen1 dem Einzelnen helfe, das Unaussprechliche auszusprechen und über das Mentalisieren schließlich zu symbolisieren (Schultz-Venrath, 2013, S. 220). Bezogen auf die pädagogische Arbeit mit (schwierigen) Kindern und Jugendlichen rät Hechler eine mentalisierungsbasierte Gruppenanalyse als pädagogisches Förderangebot an (Hechler, 2013, S. 326 ff.; Langnickel u. Link 2018, S. 128). Und da Pädagogik gemeinhin als Gruppengeschehen gestaltet ist, sollten wir diese hoch interessanten Gedanken in unsere Praxis übernehmen, gerade weil dort die Tiefendimensionen des Gruppengeschehens immer noch viel zu wenig berücksichtigt werden (Naumann, 2014).

3 Die Untiefe der unreflektierten Anwendung manualisierter Konzepte

Allenthalben wird in pädagogischen, aber auch therapeutischen Kontexten nach der Zur-Verfügung-Stellung von handlungsbasierten Manualen gerufen. Dies gilt in besonderem Maße für die Unterrichtsgestaltung, die Gewaltprävention oder die Arbeit mit »schwierigen« Kindern, wozu vor allem dissoziale, emotional instabile oder jene mit einer Autismus-Spektrum-Störung zählen. Um das Ausmaß der Beeinträchtigung möglichst präzise einschätzen zu können, gibt indessen der vorfindliche Grad an Mentalisierungsfähigkeit – eingedenk der Berücksichtigung der Wirkmächtigkeit der malignen Kontextbedingungen – eine überaus geeignete differenzialdiagnostische Grundlage ab. Vor dem Hintergrund einer offensichtlich immer unüberschaubareren Praxis mit hohem Komplexitätsgrad scheinen dagegen Handlungsanweisungen der Ausweg aus einer bedrohlich erlebten Überforderung zu sein. Auch Eltern rufen in ihrer Verzweiflung häufig nach Ratgebern. Immer gerät aber eine derlei verkürzte Rezeption mit dem Anspruch auf eine mentalisierungsbasierte Haltung in einen eklatanten Widerspruch. An deren Anfang stehen nämlich das Aushaltenkönnen des Nichtwissens und die Grundfähigkeit, so lange über ein Kind und die Beziehung zu ihm nachzudenken, bis eine Ahnung über latente Sinnstrukturen manifester Verhaltensweisen aufkommt. Hier landen wir wieder beim potenziellen Raum und der Rêverie. Die Gefahr besteht, dass einer eindimensionalen, technizistisch verkürzten Anwendung der vorgelegten Konzepte das Wort geredet wird. Dies gilt vor allem für ungeübtes pädagogisches Personal, wie ein Beispiel im Umgang mit Erkenntnissen der Bindungsforschung dokumentiert. So erkennen gut ausgebildete Fachkräfte, dass sie sich geschmeichelt fühlen, wenn ein Kind des unsicher-vermeidenden Typus zu ihnen eine gute Beziehung aufbaut, während es zur Mutter relativ distanziert bleibt. Allerdings nutzen sie diese Erkenntnis nicht zur eigenen Selbstwertsteigerung, sondern zur Anbahnung einer stabilen und belastbaren Beziehung. Dagegen erachten nicht gut ausgebildete Fachkräfte diese Verhaltensweise irrtümlich als eine geglückte Überleitung in die Fremdbetreuung auf der Grundlage einer sicheren Bindung und sehen nicht die strategische Absicht dahinter, die eigene Beängstigung zu bannen (Zach, 2012, S. 66 ff.).

Kurzum: Aus Mangel, von eigenen abstrakten Symbolisierungs- und Reflexionskompetenzen Gebrauch machen zu können, verbleibt man auf der konkretistischen Ebene unmittelbaren Handelns. Solche Fehlinterpretationen tun der Pädagogik nicht gut. Gleiche Bedenken sind daher auch für die Aufstellung und insbesondere Verwendung manualisierter Mentalisierungsentwürfe vorzubringen.

Eingedenk all dieser zur Vorsicht ratenden Mahnungen ist die Übertragung des ursprünglich für ein psychoanalytisch-psychotherapeutisches Setting geschaffenen Mentalisierungskonzepts aufs pädagogische Terrain von unschätzbarem Wert, nicht zuletzt, um Entwicklungsblockaden überwinden zu helfen. Wie sagt doch Fonagy (2018) so treffend: »Durch eingeschränktes Mentalisieren wird daher eine überdauernde Barriere für das Lernen errichtet« (S. 12).

Insofern ist es besonders anerkennenswert, dass die einzelnen Beiträge dieses Bandes diesem Ansinnen Rechnung tragen, den pädagogischen Alltag differenziert ausleuchten und die enorme Weiterentwicklung auf diesem Praxisfeld offenbaren. Es ist erfreulich, dass neben den klassischen Fragestellungen, etwa auf die Schule wie die berufliche Situation der pädagogischen Fachkräfte selbst bezogen, auch Kinder und Jugendliche aus eher randständigen sozialen Milieus bzw. in besonderen Lebenslagen einen Platz finden. Im Mittelpunkt all dieser Überlegungen steht, dass Mentalisierung sowohl eine selbstreflexive als auch eine interpersonale Komponente umfasst und es dem Kind erlaubt, die innere von der äußeren Realität sowie innere emotionale von interpersonalen Vorgängen zu unterscheiden (Leuzinger-Bohleber et al., 2011, S. 999; Gerspach, 2012, S. 69). Eine derartig vielschichtige Problemstellung ist eigentlich nur über ein eingehendes tiefenhermeneutisches Verstehen pädagogischer Prozesse zu ergründen, und deshalb ist diese Schrift umso wertvoller. Sie leistet einen profunden Beitrag zur doppelten epistemologischen Aufgabe, eine theoretische Erkenntnis zu konzeptionalisieren, auf welche Weise ein Kind eine bedeutungsbasierte Erkenntnis von sich und den anderen erwirbt.

Literatur

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Dornes, M. (2006). Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. Frankfurt a. M.: Fischer.

Fonagy, P. (2018). Geleitwort: Eingeschränkte Mentalisierung: eine bedeutende Barriere für das Lernen. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 9–13). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Gerspach, M. (2009). Psychoanalytische Heilpädagogik. Ein systematischer Überblick. Stuttgart: Kohlhammer.

Gerspach, M. (2012). »… an der Szene teilhaben und doch innere Distanz dazu gewinnen« (Aloys Leber). Szenisches Verstehen und fördernder Dialog heute. In J. Heilmann, H. Krebs, A. Eggert-Schmid Noerr (Hrsg.), Außenseiter integrieren. Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung (S. 47–79). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Gerspach, M. (2018). Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik. Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern. Stuttgart: Kohlhammer.

Halmer, H. (2012). Kurzfassung Bion: Transformation durch Lernen (PSV 26.3.2012). http://www.psychoanalyse-innsbruck.at/images/Kurzfassung_Bion_2_Vortrag_PSV_26.3._2012.pdf (Zugriff am 01.10.2019).

Heberle, B. (2006). Die frühe Vater-Kind-Beziehung. In F. Dammasch, H.-G. Metzger (Hrsg.), Die Bedeutung des Vaters. Psychoanalytische Perspektiven (S. 20–41). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

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Piaget, J. (1936/1975). Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett-Cotta.

Piaget, J. (1995). Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes. Hrsg. und übers. von A. Leber. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Roth, G. (2019). Neurobiologische Grundlagen unbewusster Prozesse und deren Bedeutung für die Psychotherapie. In B. Haslinger, B. Janta (Hrsg.), Der unbewusste Mensch. Zwischen Psychoanalyse und neurobiologischer Evidenz (S. 23–53). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Schultz-Venrath, U. (2013) Lehrbuch Mentalisieren. Psychotherapien wirksam gestalten. Stuttgart: Klett-Cotta.

Stark, T. (2009). Die Widerspenstigkeit des Subjekts. Zur »quasi-natürlichen Kraft des Negativen« (A. Honneth). Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 63 (7), 683–703.

Winnicott, D. W. (1965). The maturational processes and the facilitating environment. London: Hogarth.

Winnicott, D. W. (1965/1990). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt a. M.: Fischer. Winnicott, D. W. (1971/1993). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

Zach, U. (2012). Bindungsdiagnostik für Vorschulkinder. In M. Stokowy, N. Sahhar (Hrsg.), Bindung und Gefahr. Das Dynamische Reifungsmodell der Bindung und Anpassung (S. 57–85). Gießen: Psychosozial-Verlag.

1 Die Formulierungen in diesem Buch wechseln willkürlich zwischen weiblicher und männlicher Form. Gemeint sind immer beide Geschlechter.

Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik – eine Hinführung

Stephan Gingelmaier und Holger Kirsch

Der Mentalisierungsansatz ist eine innovative Theorie und betont die Fähigkeit, dem eigenen und dem Verhalten anderer eine Bedeutung zuzuschreiben, indem mentale Zustände (z. B. Emotionen, Wünsche oder Gedanken) unterstellt werden, die dem Verhalten zugrunde liegen.

Die Fähigkeit zu mentalisieren entwickelt sich in der Kindheit bis in die Adoleszenz entlang der Beziehungserfahrungen. Sie ist eine der entscheidenden Grundlagen der Entwicklung des Selbst und der Emotionsregulierung. Anhaltende oder schwere Kindheitsbelastungen (z. B. Traumata) können die Fähigkeit zu mentalisieren vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigen. Unter erhöhtem emotionalem Arousal (Stress) ist es Menschen nur noch bedingt möglich, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen oder eine reflektierende Problemlösung zu verwirklichen.

Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit oder besonderer Stressvulnerabilität zeigen häufig Aufmerksamkeitsprobleme oder ein herausforderndes Verhalten in der Schule, der Familie oder gegenüber Gleichaltrigen. Dieses Verhalten besser zu verstehen und Stress besser regulieren zu können, ist eine Voraussetzung für soziales Lernen und beeinflusst Schulerfolg, soziale Teilhabe und Resilienz.

Schon früh hat die Arbeitsgruppe um Peter Fonagy (Twemlow u. Fonagy, 2009; Allen, Fonagy u. Bateman, 2011) vorgeschlagen, das Mentalisierungskonzept in sozialen Systemen, also außerhalb klinischer und psychotherapeutischer Settings, anzuwenden. Schule und berufliche Förderung, Kindertagesstätten oder stationäre Jugendhilfe, soziale Gruppenarbeit, Beratung, Elternarbeit und viele andere Handlungsfelder können vom Mentalisierungsansatz profitieren. Denn eine Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit führt zu stabileren und tragfähigeren Beziehungen (mit Professionellen, Peers, Eltern und Familie) und zu höherer psychosozialer Resilienz.

Mentalisieren ist der Schlüssel zu menschlichen Interaktionen, die soziale Kommunikation und soziales Lernen erfordern (Fonagy, 2018, S. 11). Ausgehend von Fonagy (2018) ist Mentalisieren das Herzstück des Austausches von Informationen und dadurch der Kern von Bildung und Erziehung, aber auch dessen Subjekt. Für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen rücken zwei Wirkmechanismen in den Vordergrund.

Erstens die Förderung des sozialen Lernens, insbesondere des epistemischen Vertrauens. Das heißt, da die Vermittlung von kulturellen Fertigkeiten und Wissen notwendig ist, um sich in unserer komplexen Welt zurechtzufinden, brauchen wir Bezugspersonen als Lehrpersonen (wie pädagogische Fachkräfte), denen wir als sichere Informationsquellen emotional und kognitiv vertrauen können (»Ich glaube dir, wie du es sagst, was du sagst!«). »Wenn jemand den Eindruck hat, dass ein ›Lehrer‹ im weiteren Sinne auf ihn eingeht – man sich ausreichend durch das Gegenüber mentalisiert fühlt, baut das die notwendige Brücke zwischen dem Lehrenden und Lernenden« (Fonagy, 2018, S. 10). Kunstvoll-feinfühlige und zugleich effektive Pädagogen sind dazu in der Lage, »ihre« Kinder und Jugendlichen zu mentalisieren und darüber epistemisches Vertrauen zu fördern.

Zweitens ist es notwendig, die Mentalisierungsfähigkeit von Pädagoginnen zu stärken, da deren oftmals stressinduzierendes Arbeitsumfeld die Fähigkeit zu mentalisieren unterminieren kann.

Das nun vorliegende »Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik« bildet den zweiten Teil einer Trilogie. Während im ersten Band, dem »Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik« (Gingelmaier, Taubner u. Ramberg, 2018), Grundlagen der Mentalisierungstheorie in ihrer Anwendung auf die Pädagogik vermittelt wurden, werden im Praxisbuch Alltagssituationen aus pädagogischen Institutionen oder anderen Bereichen, in denen Erziehung und Bildung stattfindet, lebendig dargestellt. Die Auswahl geht von oft zu Unrecht übersehenen oder vergessenen (»unkomplizierten«) Mentalisierungsvorgängen bis hin zu konflikthaften Einbrüchen der Mentalisierungsfähigkeit bei pädagogischen Fachkräften, in deren Institutionen oder bei Kindern und Jugendlichen. Sowohl dyadische als auch gruppenbezogene und institutionelle Fallbeispiele werden geschildert und mit der Theorie verbunden. Ziel des Buches ist es, Mentalisierung in verschiedenen Feldern und Facetten der praktischen Pädagogik darzustellen und sowohl pädagogisch wie auch mentalisierungstheoretisch gewinnbringend zu diskutieren.

Die Rezeption und Diskussion neuerer Erkenntnisse aus der evolutionären Anthropologie (z. B. Tomasello, 2014), der Forschung zu sozialen Kognitionen oder der transkulturellen Psychologie (z. B. Otto u. Keller, 2014; Keller 2015) waren Anlass für eine Tagung des Netzwerkes mentalisierungsbasierte Pädagogik mit dem Titel »Soziales Lernen, Beziehung & Mentalisieren (So_Be_Me)« im Oktober 2019 in Ludwigsburg. Die herausragenden Vorträge von Peter Fonagy, Michael Tomasello, Isabell Dziobek, Heidi Keller und Felix Brauner sollen nun in einem dritten Band (mit dem Arbeitstitel) »Ausblick mentalisierungsbasierte Pädagogik« der Trilogie herausgebracht werden.

Den Herausgebern ist durchaus bewusst, dass die Vermittlung von theoretischen Grundlagen und Praxisbeispielen über Literatur allein nicht ausreicht, um die eigene Mentalisierungsfähigkeit zu verbessern. Dazu braucht es die Reflexion der eigenen Tätigkeit (z. B. durch Supervision), Übungen, Rollenspiele und einiges mehr. Daher möchten wir an dieser Stelle auf die Arbeit des Netzwerkes MentEd Mentalisierungsbasierte Pädagogik (www.mented.de) hinweisen. Die internationale, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG GI 1274/1-1) und im Rahmen des Erasmus+-Programms (2019-1-DE01-KA203-004967) der Europäischen Kommission geförderte Arbeitsgruppe aus Forschenden hat sich die Aufgabe gestellt, die praxisrelevanten Aspekte des Mentalisierungsansatzes in einem Curriculum zur Fortbildung von Fachkräften in der Sozialen Arbeit (z. B. Kinder- und Jugendhilfe), Schule und Kindheitspädagogik umzusetzen und damit zur Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte beizutragen. Berufsbezogene Selbsterfahrung und die Reflexion des institutionellen Umfeldes fördern das Erkennen und den Umgang mit Stress und Konflikten und tragen zur inklusiven Bildung und Teilhabe von (benachteiligten) Kindern und Jugendlichen und zur Gesundheitsförderung bei. Da die aktuelle Forschung die Erfolge des Mentalisierungstrainings demonstrieren kann, soll ein Modellcurriculum für die Umsetzung in den Niederlanden, England, Deutschland und Österreich entwickelt werden. Das für interessierte Fachkräfte leicht zugänglich gemachte Curriculum soll als europaweiter Vorreiter für Fort- und Weiterbildungen von pädagogischen Fachkräften gelten. Ebenso werden interessierte Hochschullehrende darüber informiert, wie die Lehrinhalte und Lernmaterialien in der Hochschulausbildung pädagogischer Fachkräfte integriert werden können.

Für diesen Band wollen wir uns aus dem bereits genannten Netzwerk Mented.de insbesondere bei Axel Ramberg für sein wirklich großes Engagement, das er zu unserem Bedauern für dieses Buch einstellen musste, danken! Darüber hinaus bedanken wir uns überaus herzlich bei allen unseren kreativen und zuverlässigen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit sowie Manfred Gerspach, der das Geleitwort sehr spontan und wunderbar umgesetzt hat. Nicht zuletzt gilt unser großer Dank Elena Johanna Koch für die schnelle, wertvolle und stets korrekte Redaktionsarbeit, die uns sehr entlastet und geholfen hat.

Nun wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine spannende und anregungsreiche Lektüre und würden uns freuen, wenn Sie in einen konstruktivkritischen Austausch mit uns und anderen über dieses Buch treten würden.

Literatur

Allen, J. G., Fonagy, P., Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta.

Fonagy, P. (2018). Geleitwort: Eingeschränkte Mentalisierung: eine bedeutsame Barriere für das Lernen. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 9–13). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Keller, H. (2015). Die Entwicklung der Generation Ich. Eine psychologische Analyse aktueller Erziehungsleitbilder. Heidelberg: Springer.

Otto, H., Keller, H. (Hrsg.) (2014). Different faces of attachment. Cambridge/New York: Cambridge University Press.

Tomasello, M. (2014). Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Berlin: Suhrkamp.

Twemlow, S. W., Fonagy, P. (2009). Vom gewalterfüllten sozialen System zum mentalisierenden System: Ein Experiment in Schulen. In J. G. Allen, P. Fonagy (Hrsg.), Mentalisierungsgestützte Therapie (S. 399–421). Stuttgart: Klett-Cotta.

Teil I

Theorie des Mentalisierens für pädagogische Felder

Einführung in das Konzept der Mentalisierung

Axel Ramberg und Tobias Nolte

Um sich im pädagogischen Kontext offen und verstehend Kindern und Jugendlichen zuwenden zu können, bedarf es eines reflexiven Professionsverständnisses für pädagogische Fachkräfte, welches sowohl die eigene Person, das Gegenüber und die Beziehung zwischen beiden mit in den Blick nimmt. Hierzu liefert das Mentalisierungskonzept wichtige Anhaltspunkte, da es zum einen reflexive Prozesse bezüglich der eigenen Haltung anstößt und andererseits zu einem vertieften Verständnis von Beziehung und Beziehungsgestaltung im pädagogischen Feld führt. Im folgenden Aufsatz sollen dementsprechend das Konzept des Mentalisierens dargestellt und die wichtigsten Kernaussagen zusammengefasst werden. Dazu gehören nicht nur entwicklungspsychologische Grundlagen und Begriffsbestimmungen, sondern auch theoretische Bezüge sowie angrenzende Konzepte.

The ability to attune to children and adolescents in educational settings with openness and understanding requires a reflective approach to and notion of the pedagogical profession that takes into account the professional, their counterpart as well as the relationship between them. The concept of mentalisation can offer crucial aspects to shew light on these areas as, on the one hand, it encourages reflective processes with regards to one’s own stance and, on the other hand, it leads to a deepened understanding of relationships and their management in educational fields. In the following chapter we will introduce the conceptualisations of mentalising and its building blocks. This entails developmental psychology foundations but also theoretical links with neighbouring concepts.

1 Vorbemerkung

Mentalisierung beschreibt die fundamentale menschliche Fähigkeit, mentale Zustände als eben solche zu erfassen und in den Kontext zwischenmenschlicher Beziehung zu setzen. Mentalisierung ist somit der zentrale Baustein für das Gelingen von Interaktion und Kommunikation. Es ist leicht ersichtlich, dass diese Aspekte in vielerlei Hinsicht Relevanz haben, im pädagogischen Rahmen darüber hinaus aber ausschlaggebend dafür sind, wie erfolgreich mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird. Unabhängig vom jeweiligen pädagogischen Setting ist es unabdingbar, dass pädagogische Fachkräfte eine Bewusstheit für mentale Prozesse etablieren sollten. Dabei ist das Hervorheben der Notwendigkeit, (selbst-)reflexive Prozesse in pädagogischen Handlungsfeldern zu generieren und als Bestandteil professionellen Handelns zu verstehen, nicht neu. Bereits Johann Friedrich Herbart betont 1806 in seiner »Allgemeinen Pädagogik« die Bedeutung einer pädagogischen Reflexion (Ricken, 2010). Auch Korczak appelliert 1919 an die Selbstreflexion von Pädagogen und leitet diese mit der Aufforderung des delphischen Orakels ein: »Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest« (Korczak, 1919/2008, S. 156). Die Fähigkeit zur reflexiven Auseinandersetzung von Beziehungsprozessen ist damit im pädagogischen Setting (wie natürlich auch im psychotherapeutischen) eine zwingend notwendige, da es nur so möglich wird, einen verstehenden Zugang zu den Kindern und Jugendlichen zu schaffen, um daraus abgeleitet individuell abgestimmte und fördernde Handlungspraktiken zu entwickeln. Diese Fähigkeit setzt des Weiteren auch die Bewusstmachung der Anteile der pädagogischen Fachkraft am intersubjektiven pädagogischen Kommunikationsprozess mit Kindern und Jugendlichen voraus. Im vorliegenden Praxisbuch werden hierfür verschiedene konkrete Beispiele dargestellt, die als gemeinsamen Fokus die Frage nach gelingenden oder nichtgelingenden Mentalisierungsprozessen in pädagogischen Bezügen haben. Neben dieser Darstellung praktischer Erfahrung und Erprobung von Mentalisierung scheint aber auch die theoretische Fundierung des Mentalisierungskonzepts bedeutsam, da diese einerseits das entsprechende Vokabular des Konzepts bereitstellt und zum anderen einen Reflexionsrahmen bietet, der es im Verlauf dieses Bandes ermöglicht, praktische Beispiele vertieft mentalisierend zu verstehen. Im Folgenden sollen hierfür Grundlagen geschaffen werden. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, wie sich der Begriff des Mentalisierens ideengeschichtlich entwickelt hat, sondern auch, wie Mentalisieren an sich entsteht, was gelingendes Mentalisieren ausmacht und wozu es befähigt. Hierfür wird auch das Konzept des epistemischen Vertrauens beschrieben, das für die Pädagogik so wichtige Prozesse des Verstehens und Vermittelns von Wissen fördern kann.

2 Der Begriff der Mentalisierung

Als Mentalisierung wird allgemein der Prozess beschrieben, durch den die Erkenntnis ermöglicht wird, dass »unser Geist unsere Weltanschauung vermittelt« (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2008). Dabei steht die Fähigkeit zur Mentalisierung in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Selbst. Durch die konstruktivistisch-entwicklungspsychologische Grundausrichtung dieser Definition ergibt sich innerhalb des Mentalisierungskonzepts eine erkenntnistheoretische Perspektive, die mit der »cartesianischen Doktrin der ›Autorität der Ersten Person‹« bricht und mentale Urheberschaft nicht als angeboren, sondern »als eine sich entwickelnde und konstruierte Fähigkeit« (S. 11) versteht – Mentalisieren als erlernbare Funktion.

Die Vermittlung der Weltanschauung gelingt nach Allen, Fonagy und Bateman (2011) durch die aufmerksame »Beachtung und Reflexion des eigenen psychischen Zustands und der psychischen Verfassung anderer Menschen« (S. 21). Damit ist in erster Linie ein »Sich-Vergegenwärtigen« angesprochen. Zentral in allen Definitionen bleiben die beiden Bereiche der Gedanken und Gefühle. Da es sich um einen aktiven Prozess handelt, wird meist auch vom Mentalisieren gesprochen (Schultz-Venrath u. Döring, 2011). Die Beachtung des eigenen Selbst sowie der anderen ist dabei ein weiteres Kriterium des Mentalisierens.

Allen et al. (2011) beschreiben neben dem Aspekt der Vergegenwärtigung noch eine Reihe anderer Prozesse, die das Mentalisieren beleuchten können. Dazu gehören beispielsweise die Entwicklung und Pflege des achtsamen Umgangs mit eigenen und fremden psychischen Zuständen oder auch das Erkennen von Missverständnissen sowie ein gewisser Grad an Offenheit und Neugier hinsichtlich psychischer Phänomene. Umgekehrt bedeutet dies gleichzeitig, dass eine mentalisierende Interpretation der Umwelt und des Umfeldes dazu führt, dass man diesen viel weniger ausgeliefert ist (Gingelmaier, 2019).

Brockmann und Kirsch (2010) definieren Mentalisieren in Anlehnung an Allen et al. als die Fähigkeit, »sich selbst von außen zu sehen und den anderen von innen« (S. 52). Damit ist in erster Linie die Fähigkeit zur Interpretation von eigenem oder fremdem Verhalten gemeint, welchem wiederum intentionale innere Zustände wie Affekte, Motive, Gefühle oder Wünsche und Überzeugungen zugrunde liegen. Dabei hilft eine passende Interpretation in der Beziehung nicht nur beim Verstehen des eigenen und fremden Verhaltens, sondern führt gleichzeitig auch zu einer allgemeinen Klärung und Beruhigung in der Interaktion. Brockmann und Kirsch (2010) drücken dies wie folgt aus: »Sich missverstanden zu fühlen, erzeugt heftige Gefühle, die zu Rückzug, Feindseligkeiten, Zwang, Überfürsorge und Zurückweisung führen« (S. 54). Eine ausgewogene Mentalisierungsfähigkeit in wichtigen interpersonellen Beziehungen ermöglicht daher Kommunikation als relevante zwischenmenschliche Bedeutungszuschreibung. Sie erlaubt Perspektiveneinnahme und -übernahme, weshalb häufig auch der spielerisch-imaginierende Aspekt des Mentalisierens betont wird. Die Fähigkeit, unterschiedliche Standpunkte zum Erklären von beobachtetem Verhalten einnehmen zu können und nicht nur eine, sondern mehrere mentalistisch verstandene Ursachen für das Verhalten in Betracht zu ziehen, ist ein Kernaspekt des Mentalisierens.

3 Verwandte Konzepte

Das Konzept des Mentalisierens wird von Allen und Fonagy (2009) nicht als grundlegend neues, sondern vielmehr als elementare (therapeutische) Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung beschrieben, da es »die fundamentale menschliche Fähigkeit, die Psyche als Psyche zu begreifen« (Allen u. Fonagy, 2009, S. 15), ins Zentrum der Überlegungen stellt. Damit lösen sie das Mentalisieren aus dem rein klinischen Setting und ermöglichen so auch Rückschlüsse für nichtklinische Bereiche – wie beispielsweise die Beziehungsarbeit und -gestaltung in pädagogischen Feldern. Allen et al. (2011) nennen als Beispiele für Mentalisieren außerhalb eines therapeutischen Kontextes neben anderen das Beruhigen eines ängstlichen Kindes, die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu schlichten, oder das Verständnis eigenen Ärgers aufgrund einer Bitte. Entsprechend diesem Verständnis gibt es eine Reihe von Konzepten, die mit dem Mentalisieren inhaltlich verwandt sind und ähnliche Ausgangspunkte für einen achtsamen Umgang mit sich und dem Gegenüber postulieren. Im Folgenden sollen daher kurz die drei wichtigsten Konzepte dargestellt werden.

3.1 Metakognition

Flavell (1979) prägte den Begriff der Metakognition, mit dem er die Fähigkeit beschreibt, eigenes Wissen oder kognitive Prozesse zum Verständnis kognitiver Phänomene einzusetzen. Es geht demnach um die Frage, welches Wissen oder welche Vorstellungen eine Person dazu einsetzt, um zu verstehen, wie sich kognitive Faktoren einer anderen oder der eigenen Person aufeinander auswirken. Aus dieser Erkenntnis heraus kann die Person dann Schlussfolgerungen ziehen, um letztlich zu einem Ergebnis mittels dieses metakognitiven Prozesses zu gelangen (Flavell, 1979). Somit wird im Konzept der Metakognition vorrangig das Denken über das Denken angesprochen, was zu einer Abgrenzung gegenüber dem Mentalisierungskonzept führt. Jost, Kruglanski und Nesort (1998) erweitern dieses Verständnis um das Nachdenken über subjektive Zustände und weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch das Nachdenken über Emotionen im Bereich der Metakognition eine Rolle spielt. So verstanden gibt es eine breitere Deckung beider Konzepte (Allen et al., 2011).

3.2 Achtsamkeit – Mindfulness

Der Begriff der Achtsamkeit (im Englischen »mindfulness«) lässt sich in erster Linie beschreiben als ein Zustand der besonderen geistigen Aufmerksamkeit und des besonderen Gewahrseins (Allen et al., 2011). Das Konzept hat seinen Ursprung im Buddhismus. Hier werden vier Erfahrungsebenen genannt, durch die sich die erhöhte Wahrnehmung der Person vermitteln kann: Körpersensationen, Gefühle, Gedanken oder Verhalten (Feldman u. Kuyken, 2019). Diese vier Dimensionen können sich dabei auf jegliche Art von Objekten beziehen. So kann man »auf eine Blume achtgeben oder auf das eigene Atmen« (Allen et al., 2011, S. 85 f.). Damit ist das Konzept der Achtsamkeit weiter gefasst als das Mentalisieren. Es werden nicht nur mentale Zustände, sondern eben auch dingliche Teile der Umwelt achtsam betrachtet. Eine Annäherung beider Konzepte findet dort statt, wo sich die Achtsamkeit explizit auf die Psyche und damit innere Zustände wie eine bestimmte Gefühlsregung bezieht (Allen, 2009). So ließe sich Mentalisierung als »Achtsamkeit für die Psyche [mindfulness of mind]« (Allen, 2009, S. 41) verstehen. Letztlich fokussiert sich der Prozess der Achtsamkeit vorrangig auf das Hier und Jetzt, was wiederum eine engere Definition bedeutet, da sich das Mentalisieren auch auf vergangene und zukünftige mentale Zustände und vor allem solche, die in direkter Interaktion mit anderen entstehen, bezieht.

3.3 Empathie

Der Begriff »Empathie« kommt vom griechischen »empátheia« und bedeutet »mitfühlen«. Dementsprechend beschreibt Empathie den Prozess, in dem Gedanken oder Gefühlszustände eines anderen erkannt werden, was wiederum zu eigenen, dem Erleben des anderen gegenüber angemessenen Emotionen oder Handlungsdispositionen führt (Allen et al., 2011). Dieses Einfühlen oder auch Mitfühlen ist somit als Teilbereich des Mentalisierens zu verstehen, denn es beschreibt zunächst auf emotionaler Ebene den Prozess, durch den eine emotionale Reaktion im Selbst durch die Wahrnehmung einer Emotion im anderen ausgelöst wird (Baron-Cohen, 2005). Dass dieser Prozess dabei stark von den jeweils eigenen emotionalen Erfahrungen und somit vorhandenen Repräsentanzen ebendieser abhängt, ist schnell ersichtlich. Denn wenn »unsere eigenen Repräsentationen emotionaler Situationen denen eines anderen Menschen […] sehr genau entsprechen, können wir uns relativ exakt und mühelos einfühlen« (Allen et al., 2011, S. 89). Besitzen wir diese Erfahrungen nicht, wird es unter Umständen weitaus schwieriger und erfordert mehr bewusste Aufmerksamkeit, um die Gefühle des anderen zu verstehen. Dies ist letztlich der Prozess, der im Mentalisierungskonzept unter dem Begriff des »expliziten Mentalisierens« (s. Punkt 6) verstanden wird.

4 Theoretische Wurzeln des Mentalisierungskonzepts

Der Mentalisierungsansatz lässt sich – wie die zuvor genannten Konzepte – auf verschiedene theoretische Ursprünge zurückführen, die alle einen wichtigen Anteil an der Entstehung des Konzepts hatten. Es sind dies die Psychoanalyse, die Bindungstheorie und die soziale Kognitionspsychologie mit dem Schwerpunkt der Theory-of-Mind-Forschung (Holmes, 2009). Alle drei Theorien schließen dabei auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit ein (Strauß u. Nolte, 2020) und liefern wichtige Kernaussagen, die im Rahmen des Mentalisierungskonzepts zum Tragen kommen.

Abbildung 1: Bezugstheorien des Mentalisierungskonzepts

Bedeutsam sind hier die Überschneidungspunkte zwischen den theoretischen Positionen (Abbildung 1), aus denen sich letztlich das Mentalisierungskonzept bildet. Entsprechend liefern die jeweiligen Theorien unterschiedliche Impulse: »Während die Psychoanalyse bedeutende Aussagen darüber liefert, was intrapsychisch und damit größtenteils dynamisch unbewusst beim Mentalisieren vor sich geht, sagt die Bindungstheorie im Bezug zum Mentalisierungskonzept etwas über das ›Wie‹ aus, nämlich wie sich zwischen Mutter und Kind entlang der sicheren Bindung das Mentalisieren etabliert. Wann diese Fähigkeiten etabliert werden, lässt sich anhand der Forschungsergebnisse der Theory-of-Mind-Forschung mittlerweile sehr genau sagen« (Ramberg u. Gingelmaier, 2016, S. 82). Innerhalb des Mentalisierungskonzepts werden alle theoretischen Aspekte erstmals integrativ konzeptualisiert und vereint.

Im Folgenden sollen die drei genannten Ursprünge des Mentalisierungskonzepts dargestellt werden, damit die anschließende Erläuterung des Mentalisierens nachvollziehbarer wird. Dabei wird zu Beginn die Psychoanalyse erörtert, da sie als zentral bedeutsam für das Mentalisierungskonzept und die weiteren theoretischen Richtungen erscheint. Darauf aufbauend wird die eng mit der Psychoanalyse zusammenhängende Bindungstheorie sowie im Anschluss die Theory-of-Mind-Forschung, die ihrerseits Überschneidungen zu Psychoanalyse und Bindungstheorie aufweist, beschrieben.

4.1 Psychoanalyse

Die psychoanalytische Theorie ist einer der Grundpfeiler im Konzept der Mentalisierung. Allen et al. (2011) sehen die Psychoanalyse als den zentralen Ursprung des Mentalisierungskonzepts an und verstehen es deshalb als Teil derselben. Trotz der mittlerweile großen Anzahl verschiedener theoretischer Positionen, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts innerhalb der Psychoanalyse entwickelt haben, ist die Betrachtung der Auswirkungen unbewusster psychischer Prozesse auf das Denken und das Verhalten eines Menschen in allen Ansätzen ein zentraler Aspekt (Fonagy u. Target, 2006). Vier psychoanalytische Teilbereiche stehen dabei in besonders enger Verbindung zum Mentalisierungskonzept, da sie der Transformation zunächst un- bzw. vorbewusster Affekte zu bewusstseinsfähigen Denk- und Reflexionsprozessen große Bedeutung einräumen. Gemeint sind Freuds Theorie zum Primär- und Sekundärvorgang, Bions Ideen zur Entwicklung des Denkens, die Konzepte verschiedener französischer Psychoanalytiker zur Entstehung von Psychosomatosen sowie Winnicotts Gedanken zur frühen Objektbeziehung zwischen Säugling und Mutter. Während Freud seine Ideen zur Umwandlung primärprozesshafter Vorgänge, die in erster Linie »irrational, impulsiv und primitiv« (Tyson u. Tyson, 2009, S. 173) sind, in sekundärprozesshaftes Denken, welches aus Freuds Sicht die reife Denkidentität darstellt (Freud, 1900/2000), vorrangig in seinem topografischen Modell von Unbewusstem und Bewusstem ansiedelt, entwickelt Bion (1992b) erstmals eine eigenständige psychoanalytische Idee des Denkens und seiner Entstehung innerhalb von Mutter-Kind-Interaktionen. Interessant für die Ideen innerhalb des Mentalisierungskonzepts ist dabei der Übergang von sogenannten β-Elementen, die ausschließlich im Erleben verhaftet sind und nicht gedacht werden können, zu α-Elementen, die sich »zur Speicherung und für die Erfordernisse der Traumgedanken« (Bion, 1992b, S. 52) eignen. Dieser Übergang gelingt nach Bion durch die sogenannte Alpha-Funktion, eine Art Verarbeitungs- oder Metabolisierungsprozess der primitiven kindlichen Zustände, welcher in Bions Modell von der Mutter übernommen wird. Diese hat in Bezug auf das Kleinkind eine regulatorische Aufgabe inne: Sie stellt sich dem Kind als »Behälter« (Container; Bion, 1992a, S. 146) bereit, um die möglichen ß-Elemente des Säuglings aufzunehmen und diese stellvertretend für ihn zu verarbeiten. Letztlich versteht Bion (2002) die Denkfähigkeit als eine Kapazität zum Ertragen von Frustrationen und Versagungen, die, wenn sie sich in der frühen Mutter-Kind-Beziehung gut entwickeln kann, dazu dient, Entbehrungen erträglich zu machen, und die, wenn der frühe Prozess scheitert, die Ausbildung von reifen Gedanken unter Stress erschwert. Ersteres ist entscheidend für das Konzept der Mentalisierung, denn auch dort wird davon ausgegangen, dass Mentalisieren dabei hilft, »auf Befriedigung drängende Bedürfnisse und starke Emotionen zu modulieren und erträglicher zu machen«, also Affekte zu regulieren (Allen et al., 2011, S. 30). Neben Freud und Bion finden sich vor allem im Bereich der französisch-psychoanalytischen Fachliteratur im Rahmen psychosomatischer Diskurse der 1960er Jahre weitere Ideen zur Mentalisierung (Allen et al., 2011). Das vorrangige Interesse dieses psychoanalytischen Zweiges bestand darin, »zu einem besseren Verständnis psychosomatischer Erkrankungen zu gelangen, insbesondere zur Erklärung des damit einhergehenden konkretistischen Denkstils dieser Patienten« (Taubner, 2008, S. 93). So spricht beispielsweise Marty (1968) von der Bedeutung mentaler Organisationsmechanismen wie Symbolisierung, Assoziation oder Verschiebung für die Überwindung somatischer Verarbeitungsweisen unbewusster Triebspannungen (Marty, 1968). Auch Luquet (1981) verwendet den Begriff der Mentalisierung, um höher strukturierte Denkprozesse, die zur Ausbildung von Sprache wichtig sind, zu beschreiben. Deutlich wird dabei, dass sich der Begriff der Mentalisierung vordergründig auf die bereits bei Freud beschriebene »Transformation körperlicher (somatischer und motorischer) Vorgänge in psychisches Erleben« (Allen et al., 2011, S. 30) und somit auf Repräsentationsprozesse bezieht. Mit den Arbeiten von Lecours und Bouchard (1997) findet eine erste konkretere Beschreibung der Entwicklung des Mentalisierens statt. Unter dem erstmals verwendeten Begriff der Mentalisation beschreiben sie einen detaillierten Prozess, in dem frühe Trieb- und Affekterfahrungen in Kategorien und Repräsentationen transformiert und dadurch zunehmend moduliert und toleriert werden können (Lecours u. Bouchard, 1997). Damit folgen sie, sowie auch Bion, der Freud’schen Idee einer Umwandlung somatischen Geschehens in etwas Psychisches (Allen et al., 2011). Dieser Prozess wird im Gegensatz zum heutigen Verständnis des Mentalisierens allerdings noch individuumszentriert und nicht beziehungsorientiert verstanden, wodurch ein wesentlicher Unterschied zum Konzept nach Fonagy deutlich wird. Die Erweiterung des Mentalisierens um die Bedeutung von Beziehung, Bezugspersonen und bedeutungsvollen Anderen wurde erst mit der Integration der Arbeiten von Winnicott (2006) vorangetrieben. Winnicott (2006) prägte hier vor allem die Begriffe des Haltens, der ausreichend guten Bemutterung oder Fürsorge sowie des mütterlichen Spiegelns. Während sich das Halten und die ausreichend gute Bemutterung vor allem auf die angemessene Fürsorge zum Schutze des Säuglings beziehen, dient das mütterliche Spiegeln dazu, die Entwicklung des Selbst beim Säugling und Kleinkind zu begleiten (Winnicott, 2006). Diese Ideen wurden im Rahmen der Bindungstheorie noch weiter differenziert.

4.2 Bindungstheorie

Um ein vertieftes Verständnis der Entwicklung frühkindlicher Denkprozesse sowie der Fähigkeit zur Affektregulierung zu erhalten, ist es im Sinne des Mentalisierungskonzepts unverzichtbar, die Entwicklung der Beziehung zwischen Säugling und primärer Bezugsperson mit in den Blick zu nehmen. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat sich hier die Bindungstheorie als vorrangiges theoretisches Bezugssystem entwickelt (Daudert, 2001). Die Bindungstheorie wurde in den 1960er und 1970er Jahren vom englischen Psychoanalytiker John Bowlby (1907–1990) in maßgeblicher Kooperation mit der Kanadierin Mary Ainsworth (1913–1999) entwickelt und ist nach Fonagy (2009) »etwas fast Einzigartiges unter psychoanalytischen Theorien«, weil sie aus seiner Sicht »die Kluft zwischen allgemeiner Psychologie und klinischer psychodynamischer Theorie überbrückt« (Fonagy, 2009, S. 11). Dies erklärt eventuell auch das seit einiger Zeit zunehmend große Interesse an jener Theorie in verschiedensten Wissenschaftsgebieten. Bindung wird zunächst verstanden als ein Teil eines komplexen Beziehungssystems zwischen Mutter und Kind, der sich als emotionales Band »bereits im ersten Lebensjahr etabliert und bis in spätere Lebensphasen