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Beschreibung

Was gilt noch als sexuell gesund, wo beginnt ein sexuelles Problem und ab wann ist es eine sexuelle Störung? Erfahren Sie von Experten, was sexuelle Gesundheit von sexueller Störung differenzieren hilft, wie Sie diagnostisch vorgehen können und welche Behandlungsmöglichkeiten Sie haben. - Ausführliche Darstellung aller Facetten der Sexualität mit ihren verschiedenen Ausprägungen und Störungen - Praxisnahe Beschreibung der medizinischen und psychotherapeutischen Methoden zur Behandlung einzelner Problembereiche und Störungsbilder

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Praxisbuch Sexuelle Störungen

Sexuelle Gesundheit, Sexualmedizin, Psychotherapie sexueller Störungen

Peer Briken, Michael Berner

Mit Beiträgen von

Raphaela Basdekis-Jozsa, Michael Berner, Wolfgang Berner, Johannes Bitzer, Peer Briken, Elmar Brähler, Norbert H. Brockmeyer, Ulrich Clement, Arne Dekker, Angelika Eck, Fritjof von Franqué, Peter Fromberger, David García Núñez, Margret Hauch, Andreas Hill, Cindy Höhn, Kirsten Jordan, Vivian Jückstock, Christian Leiber, Georg Hermann Lüers, Silja Matthiesen, Bernd Meyenburg, Jürgen Leo Müller, Timo O. Nieder, Martin Rettenberger, Diana Richter, Hertha Richter-Appelt, Hannah Maren Schmidt, Verena Schönbucher, Katinka Schweizer, Uwe Sielert, Volkmar Sigusch, Bernhard Strauß, Hans Peter Zahradnik

Vorwort

Über kaum einen Bereich menschlichen Empfindens und Verhaltens wird in Bezug auf Gesundheit, Medizin und Psychotherapie so emotional gestritten, wie wenn es um das Thema Sexualität geht. Keiner weiß genau, was sexuell gesund ist, wo ein sexuelles Problem beginnt oder aufhört und wo eine sexuelle Störung anfängt.

Gibt es Grenzen der Geschlechter, wie viel Überwindung von Grenzen tut zur Freiheit not und wo bieten klare Grenzen der Not Einhalt? Was ist überhaupt Sexualwissenschaft, wann ist sie klinisch, wofür braucht es Sexualmedizin oder Psychotherapie bei sexuellen Störungen?

Wer sich mit Sexualwissenschaft beschäftigt und gleichzeitig praktisch mit Menschen zu tun hat, die wegen sexueller Probleme, Störungen oder Krankheiten Hilfe suchen, kann sich schnell verloren fühlen. In das interdisziplinäre Fach der Sexualwissenschaft können sich nahezu unbegrenzt andere Wissenschaftszweige, wie z.B. die Sozial- und Kulturwissenschaften, die Biologie, die Rechtswissenschaften, die Medizin und die Psychologie, einbringen. Das Fach kann in dieser Herangehensweise so weit erscheinen, dass die praktische Arbeit mit Klienten oder Patienten abschreckt. Sexualität war nie ein sicheres Terrain und wird es auch nicht werden. Immer wieder wird das, was Experten festlegen, infrage gestellt werden.

Gerade deswegen wollten wir mit Blick darauf, welche Schwierigkeiten wir selbst zu Beginn unserer medizinischen und psychotherapeutischen Arbeit in diesem Gebiet hatten, ein Buch herausgeben, dass Unsicherheiten und Kontroversen zulässt und dennoch die praktische Arbeit lehren kann. Wir selbst haben ein solches Buch bisher vermisst.

Hinzu kommt, dass klinisch sexualwissenschaftliche Themen in den Studiengängen Medizin und Psychologie immer noch zu spärlich vertreten sind. Nur an wenigen Universitäten im deutschsprachigen Raum ist es möglich, sich sexualmedizinisch oder in der Psychotherapie für sexuell gestörte Patienten weiterbilden zu lassen.

Wir sind daher froh, dass es uns gelungen ist, namhafte Experten aus den verschiedenen deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz) und den verschiedenen relevanten Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung DGfS; Referat Sexualmedizin der DGPPN; Deutsche STI-Fachgesellschaft; Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft DGSMTW) als Autoren für dieses Buch zu gewinnen.

Sie beschäftigen sich im ersten Teil des Buches mit den sozialen, biologischen und psychologischen Grundlagen der Sexualität, stellen sexuelle Entwicklung dar, fragen nach sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität – danach, was sexuelle Gesundheit von sexueller Störung differenzieren hilft und wie diagnostisch vorgegangen werden kann.

Im speziellen Teil geht es um die Versorgung einzelner Problembereiche oder Störungsbilder – vor allem mit medizinischen und psychotherapeutischen Methoden.

Wir möchten die Leser einladen, uns Rückmeldungen zu dem Buch zu geben – und zwar zur Frage der Wissenschaftlichkeit und Praxistauglichkeit. Nur so können wir in einem sich wandelnden Prozess versuchen, Schritt zu halten und den Herausforderungen einer integrativen, wissenschaftlich fundierten Herangehensweise an sexuelle Probleme und Störungen gerecht zu werden. Für die Durchsicht und verlagsseitige Betreuung danken wir Frau Katharina Esmarch, Georg Thieme Verlag, und für die externe Herstellung Frau Julia Walch. Ohne ihre tatkräftige Mitarbeit wäre das Buch kaum fertiggestellt worden.

Peer BrikenMichael Berner

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Grundlagen

1.1 Kultureller Wandel der sexuellen Verhältnisse

1.1.1 Historischer Rückblick

1.1.2 3 sexuelle Revolutionen

1.1.3 Libido carnalis versus Generatio prolis

1.1.4 Geschlechterdifferenz versus Triebschicksal

1.1.5 Prothetisierungen und Gewaltdiskurs

1.1.6 Dispersion der sexuellen Fragmente

1.1.7 Neoallianzen

1.1.8 Neosexualitäten

1.1.9 Liebes- und Sexualleben als Gesundheitsgewinn

1.2 Anatomische und funktionelle Grundlagen

1.2.1 Vorbemerkung

1.2.2 Männliche Genitalorgane

1.2.3 Männlicher und weiblicher Beckenboden

1.2.4 Weibliche Genitalorgane

1.2.5 Nervale Regulation der Sexualorgane

1.2.6 Phasen der Sexuellen Reaktion

1.2.7 Entwicklung der äußeren Genitalorgane und Intersexualität

1.3 Hormone und neuroendokrine Regulation der Sexualität

1.3.1 Einleitung

1.3.2 Hormonelle Faktoren mit Einfluss auf die Sexualität des Mannes

1.3.3 Hormonelle Faktoren mit Einfluss auf die Sexualität der Frau

1.3.4 Pheromone

1.3.5 Ein übergreifendes neuroendokrines Regulationsmodell von sexueller Aktivität und Bindung

1.4 Neurobiologie der Sexualität und sexueller Störungen

1.4.1 Einleitung

1.4.2 Historischer Überblick

1.4.3 Neurotransmitter, Neuropeptide und Hormone

1.4.4 Das Modell der dualen Kontrolle der Sexualität

1.4.5 Das 4-Komponenten-Modell sexuellen Erlebens

1.4.6 Neurobiologische Korrelate des sexuellen Reaktionszyklus

1.4.7 Geschlechtsdifferenzen, Homo- versus Heterosexualität

1.4.8 Neurobiologische Korrelate von sexuellen Funktionsstörungen

1.4.9 Paraphile und hypersexuelle Störungen

1.5 Sexuelle Entwicklung

1.5.1 Einleitung

1.5.2 Methodische Vorüberlegungen

1.5.3 Theoretische Modelle zur sexuellen Entwicklung

1.5.4 Kindersexualität

1.5.5 Jugendsexualität

1.6 Sexualität und Internet

1.6.1 Grundlagen

1.6.2 Sexualbezogene Informations- und Aufklärungsangebote

1.6.3 Suche nach Sexual- und Beziehungspartnern

1.6.4 Online-Sex

1.6.5 Internetpornografie

1.7 Sexualpädagogik und sexuelle Bildung

1.7.1 Begriffliche Klärungen

1.7.2 Konzeptionelle Diskurse in der Sexualpädagogik

1.7.3 Themen der Sexualpädagogik

1.7.4 Handlungsfelder und Handlungsmodalitäten der Sexualpädagogik

1.8 Sexuelle Orientierung

1.8.1 Definitionen und Häufigkeiten – Stabilität und Fluidität

1.8.2 Wieso, weshalb, warum? – Die Frage nach den Ursachen

1.8.3 Besonderheiten nicht heterosexueller Entwicklungen mit Bezug zur klinischen Praxis

1.8.4 Zusammenfassung und Ausblick

1.9 Geschlechtsidentität in Theorie und klinischer Praxis

1.9.1 Einleitung

1.9.2 Begrifflicher Kontext: Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle, Sexuelle Orientierung

1.9.3 Weitere Definitionen

1.9.4 Die biologische Dimension der Geschlechtsidentität

1.9.5 Psychologische Entwicklungsmodelle

1.9.6 Neuere psychodynamische Perspektiven zur Geschlechtsentwicklung

1.9.7 Biosozialer Interaktionismus – das biosoziale Modell der Geschlechtsdifferenzierung

1.9.8 Lerntheoretische und kognitive Ansätze

1.9.9 Soziologische Dimensionen

1.9.10 Bedeutung für die psychotherapeutische und sexualmedizinische Praxis

1.10 Sexuelle Gesundheit und sexuelle Störung

1.10.1 Sexuelle Gesundheit

1.10.2 Problem – Symptom – Syndrom – Diagnose

1.10.3 Sexuelle Störungen

1.10.4 Was füllt die Lücke zwischen Sexuellen Störungen und Sexueller Gesundheit?

1.11 Diagnostik sexueller Störungen

1.11.1 Schwierigkeiten der Diagnostik sexuellen Verhaltens und Erlebens

1.11.2 Diagnostische Leitlinien

1.11.3 Standardisierte Methoden zur Diagnostik

1.11.4 Ausgewählte Beispiele

2 Klinik und Therapie sexueller Störungen

2.1 Sexuelle Funktionsstörungen

2.1.1 Einleitung, Definition

2.1.2 Klassifikation

2.1.3 Die Störungsbilder

2.1.4 Ätiologie

2.1.5 Diagnostik

2.1.6 Therapie

2.2 Somatische Faktoren und sexuelle Probleme der Frau

2.2.1 Einleitung/Definitionen

2.2.2 Wirkebenen von körperlichen Erkrankungen und deren Therapien auf das sexuelle Erleben und die sexuellen Funktionen

2.2.3 Empirische Befunde bei wichtigen Erkrankungen

2.2.4 Praktisches Vorgehen

2.2.5 Therapiekonzepte und Therapieformen

2.3 Somatische Faktoren und sexuelle Probleme des Mannes

2.3.1 Einleitung/Definition

2.3.2 Einfluss verschiedener somatischer Faktoren auf die Sexualität des Mannes

2.3.3 Diagnostik und Diagnosekriterien

2.3.4 Somatisch orientierte Therapieansätze

2.4 Sexualität und sexuelle Probleme bei Menschen mit Krebserkrankungen

2.4.1 Einleitung

2.4.2 Krebsspezifische Faktoren und sexuelle Beeinträchtigungen

2.4.3 Prävalenz sexueller Probleme bei Personen mit und nach Krebserkrankungen

2.4.4 Therapieansätze

2.5 Sexuelle Störungen bei psychiatrischen Erkrankungen

2.5.1 Einleitung

2.5.2 Sexuelle Störungen bei spezifischen psychiatrischen Störungsbildern

2.5.3 Empfehlungen für die Praxis

2.6 Psychotherapie sexueller Funktionsstörungen nach dem Hamburger Modell

2.6.1 Einleitung

2.6.2 Überblick über das therapeutische Vorgehen

2.6.3 Setting

2.6.4 Therapeutisches Vorgehen

2.6.5 Zentrale Modifikationen und Akzentverschiebungen

2.7 Systemische Sexualtherapie

2.7.1 Einleitung – Paartherapie des Begehrens

2.7.2 Grundkonzepte

2.7.3 Biografie und Entwicklung

2.7.4 Ambivalenz

2.7.5 Vom „Nicht-Können“ zum „anders wollen“

2.7.6 Symptom und Bedeutung: Eindeutiger und mehrdeutiger Zusammenhang

2.7.7 Therapieprozess

2.8 Sexuell übertragbare Infektionen

2.8.1 Einleitung

2.8.2 Epidemiologie von STI

2.8.3 Einzelne Erreger

2.9 Spezifische Behandlungsaspekte bei nicht-heterosexuellen Menschen

2.9.1 Einleitung

2.9.2 Die therapeutische Seite: Die affirmative Haltung

2.9.3 Die Klientinnen- und Klientenseite: Das Coming-out

2.9.4 Themen ums Prä-Coming-out: Bewusstwerdung der eigenen Nicht-Heterosexualität

2.9.5 Themen ums Coming-out: Wann und mit wem über sich reden?

2.9.6 Fragen nach dem Coming-out: Die „neue“ Normalität

2.10 Transgender: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie

2.10.1 Einleitung

2.10.2 Definitionen

2.10.3 Sex und Gender

2.10.4 Diagnosen in den Klassifikationssystemen

2.10.5 Komorbidität

2.10.6 Epidemiologie

2.10.7 Erklärungsversuche

2.10.8 Therapie der Geschlechtsdysphorie

2.10.9 Transsexuellengesetz: Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit

2.10.10 Veränderungen der medizinischen und juristischen Betrachtung der Transsexualität: Ein Paradigmenwechsel

2.11 Intersexualität/DSD: Neue Perspektiven auf geschlechtliche Körpervielfalt

2.11.1 Definitionen, Nomenklatur und Prävalenz

2.11.2 Klassifikation unterschiedlicher Formen von Intersexualität

2.11.3 Medizinische Diagnostik, Behandlung und Behandlungskritik

2.11.4 Ethische Richtlinien

2.12 Sexuelle Störungen und Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen

2.12.1 Sexuelle Störungen

2.12.2 Geschlechtsdysphorie

2.13 Paraphilie und hypersexuelle Störungen

2.13.1 Einleitung und Begrifflichkeiten

2.13.2 Epidemiologie

2.13.3 Diagnostik und Differenzialdiagnostik

2.13.4 Ätiologie

2.13.5 Therapie

2.14 Sexualdelinquenz und Therapie

2.14.1 Einleitung

2.14.2 Epidemiologie

2.14.3 Historische Entwicklung

2.14.4 Rehabilitationsmodelle

2.14.5 Diagnostik und Behandlungsplanung

2.14.6 Behandlungssetting

2.14.7 Therapieformen

3 Begutachtung bei sexuellen Störungen

3.1 Einführung

3.1.1 Begriffsdefinition

3.2 Juristische Grundlagen

3.2.1 Juristische Eingangsmerkmale

3.3 Qualitätsstandards in der Schuldfähigkeitsbegutachtung

3.3.1 Mindestanforderungen

3.4 Allgemeine Vorgehensweise in der Beantwortung der Fragestellungen

3.5 Diagnostik

3.5.1 Differenzierte Sexualanamnese

3.5.2 Körperliche Untersuchung

3.5.3 Testinstrumente

3.6 Beurteilung des Schweregrades der vorliegenden sexuellen Störung

3.7 Beurteilung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei schwerer paraphiler Störung

3.7.1 Merkmale und Kriterien von Steuerungsfähigkeit

3.7.2 Abstufungen hinsichtlich der Schuldfähigkeit

3.7.3 Verminderte Steuerungsfähigkeit

3.8 Kriminalprognose

3.8.1 Qualitätsstandards in der Prognosebegutachtung

3.8.2 Methodische Grundlagen der Prognosebegutachtung

3.8.3 Anwendung standardisierter Prognoseinstrumente in der Begutachtungspraxis

3.8.4 Von der Vorhersage zum Verständnis

4 Literatur

Autorenvorstellung

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Grundlagen

1.1 Kultureller Wandel der sexuellen Verhältnisse

V. Sigusch

1.1.1 Historischer Rückblick

Das, was wir immer noch „Sexualität“ nennen, existiert als kulturell-symbolische Form und als Begriff erst seit etwa 200 Jahren, also seit wenigen Generationen, und zwar nur im europäisch-amerikanischen Gesellschaftskreis als ein allgemein Durchgesetztes und isoliert Dramatisiertes ► [830]. Dass sich das Hauptwort „Sexualität“ weder in der Bibel noch bei Homer, noch bei Shakespeare findet, ist für die kritische Sexualwissenschaft kein Nebenbefund, sondern die Sache selbst. Erst im 19. Jahrhundert erhält die kulturelle Sexualform den ihr angemessenen Namen, einen Kollektivsingular, der die zahllosen Vorgänger von Amor bis Venus verschlingt. Erst dann wird das Adjektiv „sexuell“ wie das Adjektiv „modern“ in den europäischen Sprachen substantiviert: „Sexualität“ gibt es zuerst bei den Pflanzen, dann bei den Tieren – eine epistemische Mitgift, die nach wie vor kausale Schatten wirft.

Als theoretisches, ästhetisches und moralisch-praktisches Problem ist „Sexualität“ Bestandteil einer profanen Kultur, die an jener Schnittstelle entstand, welche der Zerfall der religiösen Weltsicht und das Aufkommen der Waren und Wissenproduzierenden Experimental- und Tauschgesellschaft im Abendland bilden. Was vordem unreflektiert als Verkündigung oder „Immer schon so“ zusammenfiel, brach auseinander. Die Trümmer, Selbstbewusstsein, Seele, Sexualität, wurden reflektiert und bildeten einen ganz anderen Schein. Als sich die epistemische von der religiösen Sphäre absonderte, entstand das Gefühl der Sexualität als solcher. Das war die Stunde von Erfahrungs-Seelenkunde, Psycho-Analyse und Sexual-Wissenschaft.

Unsere Sexualität, d.h. eine allgemeine Sexualform, konnte nur entstehen, weil die Not der Menschen nicht mehr überwiegend Hungersnot war und weil gleichzeitig alle menschlichen Vermögen isoliert und als solche vergesellschaftet wurden. Nach und nach konnte die „sexuelle Frage“, nur ein Teil der „sozialen“, nicht mehr darauf begrenzt werden, Zwittrigkeit zu beseitigen und die Fort-„Pflanzung“ je nach herrschendem Kalkül an- oder abzustellen. Am Ende des 19. Jahrhunderts fiel die sexuelle Frage mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Glück und Leidenschaft, nach erregter Harmonie, nach dem Verhältnis von Mensch zu Mensch als einem menschlichen zusammen.

Dazu konnte es nur kommen, weil die Bourgeoisie die Idee der freien, gleichen individuellen Geschlechtsliebe als einen neuen sittlichen Maßstab in die Welt gesetzt hatte: Liebe als ein Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau, Liebe als freie Übereinkunft autonomer Subjekte, die Gegenliebe beim geliebten Menschen voraussetzt, Liebesverhältnisse als Gewissensverhältnisse von Dauer wie von Intensität. Mentalitäten und Begriffe der Veränderung entstanden: Bewegung, Krise, Entwicklung, Fortschritt, Emanzipation, Revolution usw. Da aber der autonome Bürger, der schon im Prozess seines Entstehens zerfiel, mit der Wirklichkeit entzweit blieb, wie Hegel schrieb, nicht zuletzt, wie wir heute wissen, weil er das weibliche Geschlecht zum Sexus sequior degradierte, verschwand die Not des Lebens nicht, verloren die Menschen das Gefühl des Unbehagens in der Kultur nicht. Und so schleppten sie sich von sexueller Revolution zu sexueller Revolution.

1.1.2 3 sexuelle Revolutionen

Schauen wir in die Geschichte, stoßen wir in den reichen Ländern des Westens auf 3 sogenannte sexuelle Revolutionen. Die erste fand um 1905 statt, als Sigmund Freuds berühmte Abhandlungen zu einer Sexualtheorie erschienen ► [278], die zweite um 1968 und die dritte, die ich die „neosexuelle Revolution“ genannt habe (► [827], [825], [828], ► [832], ► [834], [834]), begleitet uns eher schleichend seit den 1980er Jahren. Zur Zeit der sexuellen Revolution um 1968 wurde die Sexualität mit einer solchen Mächtigkeit ausgestattet, dass einige davon überzeugt waren, durch ihre Entfesselung die ganze Gesellschaft stürzen zu können. Andere verklärten die Sexualität zur menschlichen Glücksmöglichkeit schlechthin. Generell sollte sie so früh, so oft, so vielfältig und so intensiv wie nur irgend möglich praktiziert werden. Generativität, Monogamie, Treue, Virginität und Askese waren Inbegriff und Ausfluss der zu bekämpfenden Repression. Dass mit der „Befreiung“ erhebliche Fremd- und Selbstzwänge, neue Probleme und alte Ängste einhergingen, wollten die Propagandisten nicht wahrhaben. Sie verlangten Geschlechtsverkehr in der Schule.

Heute ist von dieser Überschätzung des Sexuellen keine Rede mehr. Die hohe symbolische Bedeutung, die die Sexualität im 20. Jahrhundert hatte, ist deutlich reduziert worden. Das, was die Generationen der ersten und zweiten sexuellen Revolution als Lust, Rausch, Ekstase und Transgression erlebten oder ersehnten, problematisieren unsere jüngeren Patienten unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz, der sexuellen Übergriffigkeit, der Missbrauchserfahrung, der Gewaltanwendung und der Infektionsgefahr infolge des Einbruchs der Krankheit AIDS.

Merke

Bei der Beratung und Behandlung von Patienten mit sexuellen oder geschlechtlichen Problemen ist immer zu beachten, welcher Generation die Patienten angehören und selbstverständlich auch, in welcher Kultur sie aufgewachsen sind. Bei hierzulande aufgewachsenen Patienten jedenfalls können sehr differente sexogenerische Zeit- bzw. Strukturschichten vorliegen, je nachdem, welche sexuelle Revolution ihre Eindrücke hinterlassen hat. Natürlich können sich in einem langen Leben die Zeit- bzw. Strukturschichten auch kombinieren und einander überlappen. Damit ist auch gesagt, dass die kulturellen Veränderungen zwar Generationen allgemein zugeordnet werden können, nicht aber Individuen.

1.1.3 Libido carnalis versus Generatio prolis

Nach der Trennung einer heute immer noch ganz selbstverständlich „sexuell“ genannten Sphäre von einer logischerweise nunmehr nichtsexuellen, die, wie erwähnt, bereits vor Jahrhunderten erfolgte und grosso modo mit der kulturellen Geburt „unserer“ Sexualität zusammenfällt, wurde v.a. durch technologische Errungenschaften die Libido carnalis von der Generatio prolis, d.h. die sexuelle von der reproduktiven Sphäre dissoziiert – und zwar so gründlich, dass wir zeitweise annahmen, sie hätten überhaupt nichts miteinander zu tun. Die Herausnahme der reproduktiven aus der sexuellen Sphäre stellt so etwas wie „die zweite kulturelle Geburt“ der Sexualität dar, und das bedeutet: Geburt einer scheinbar eigentlichen, „reinen“ Sexualität.

1.1.3.1 Fortpflanzungstechnologien

Nach und nach wurde selbstverständlich auch die nunmehr isolierte Sphäre der Fortpflanzung selbst fragmentiert – mit enormen Auswirkungen. Mittlerweile wird dem Fetus, in früheren Zeiten nichts als ein Anhängsel des weiblichen Körpers, ein Eigenleben zugeschrieben, sind Befruchtung und Embryonalentwicklung prinzipiell aus dem weiblichen Körper herausverlagert, werden Keimzellen und Embryonen auf eine Weise transferiert, die die bisherigen, als unüberwindbar angesehenen Schranken der Keimbahn, der Blutsbande und der Generationenfolge durchbrechen und alte Naturzwänge überwinden. Die Technik des Klonens lässt erstmalig menschliche „Parthenogenese“ als möglich erscheinen, eine „Selbstzeugung“, an der die Theoretiker der Autopoiesis ihre helle Freude haben dürften. Dieser technologische „Quantensprung“ bedeutet, dass die Fortpflanzung nicht nur unsexuell, sondern auch ungeschlechtlich erfolgen kann. Die Geschlechter werden dadurch auf eine neue Weise prinzipiell getrennt: Frauen und Männer sind existenziell nicht mehr unverrückbar aufeinander verwiesen und biotisch nicht mehr unverrückbar aufeinander angewiesen.

Während das Klonen des Menschen eine weitgehend abstrakte Sache ist, obgleich bereits 1993 menschliche Embryonen geklont worden sind, produzieren die neuen, bereits massenhaft angewandten Fortpflanzungstechnologien konkrete, vollkommen neuartige und disperse Keimbahn- und Familienrelationen: z.B. kann eine Großmutter das von ihrem Schwiegersohn befruchtete Ei ihrer Tochter austragen, sodass sie ihr Enkelkind gebiert. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, durch die ein Samenspender, eine Eispenderin, eine Leihmutter und die zukünftigen „sozialen Eltern“ trennend verbunden werden, werden in den reichen Ländern nicht mehr die biotischen, bei uns bisher leiblich genannten Eltern das Punctum saliens und von größter Bedeutung sein, sondern die sozialen Eltern.

1.1.4 Geschlechterdifferenz versus Triebschicksal

Was ist nun für die dritte, die neosexuelle Revolution charakteristisch? Bemerkenswert ist zunächst, dass dieser Prozess der Umwertungen, Umschreibungen und Kreationen zwar relativ leise und langsam verlaufen ist, wahrscheinlich aber noch einschneidender sein wird als die vorausgegangenen lauten Revolten des 20. Jahrhunderts.

Durch die neosexuelle Revolution ist die scheinbare Einheit Sexualität erneut zerschlagen und neu zusammengesetzt worden. Bestand die Paläosexualität v.a. aus Trieb, Orgasmus und dem heterosexuellen Paar, bestehen die Neosexualitäten v.a. aus Geschlechterdifferenz, Selbstliebe, Thrills und Prothetisierungen. Hinsichtlich der Transformationen sind weniger klassische empirische Daten zu Koitusfrequenzen usw. von Interesse als vielmehr die Frage, wie Begehren und Leidenschaft umkodiert und wohin sie verschoben werden: in alte oder in neuartige sexuelle Selbstbezüglichkeiten z.B., in öffentliche sexuelle Inszenierungen, in vollkommen neuartige oder heimliche Süchtigkeiten dank Internet, in nonsexuelle Thrills oder in aggressive Aktionen. So stellen sich möglicherweise Gewaltformen neben die Sexualformen oder lösen sie kulturell ab, weil die intendierte Erregung, die dann nicht mehr sexuell genannt werden könnte, von größer werdenden Menschengruppen nicht mittels Libido und Verliebung, sondern mittels Destrudo und Hass erreicht wird.

1.1.4.1 Genuisierung und Gender-Diskurs

Auf die historisch weit zurückreichende Trennung der reproduktiven von der sexuellen Sphäre folgte in den 1970er und v.a. 1980er Jahren eine Dissoziation der sexuellen von der geschlechtlichen Sphäre, die für die neosexuelle Revolution ganz besonders charakteristisch ist. Die weibliche (und damit auch die männliche) Sexualität wurde neuerlich „genuiert“, d.h. kategorial und paradigmatisch auf die Geschlechtlichkeit bezogen. Das Mann-Frau-Verhältnis wurde grundsätzlich problematisiert, und alles Andromorphe, einschließlich der Blicke und Begriffe, wurde, bis hinein in Logik und Mathematik ► [409], dekonstruiert. Angestoßen vom politischen und wissenschaftlichen Feminismus, wurden auch in der Sexualwissenschaft die alten Sexualverhältnisse zunehmend zum Geschlechterverhältnis umgeschrieben. Der springende Punkt war jetzt für viele nicht mehr der Sexualtrieb mit seinem „Schicksal“, sondern das Geschlecht mit seiner „Differenz“. Folglich konnten viele Sexualität ohne Trieb denken, nicht aber ohne Geschlecht. „Gender studies“, die wie Pilze aus dem Diskursboden schossen, drängten die psychoanalytische Trieblehre in den Hintergrund. Sogar Perversionen, einst der Inbegriff des sexuell Triebhaften, wurden zu einer Geschlechtsidentitätsstörung entsexualisiert.

Interessanterweise hat der feministische Gender-Diskurs seine bisher übersehenen Wurzeln in einer sexuologischen Differenzierung, die im Wesentlichen klinisch motiviert war und bereits in den 1950er und 1960er Jahren v.a. von Intersexualismusforschern vorgenommen worden ist ► [589]. Unterschieden wurde in dieser Debatte das Körpergeschlecht („sex“) vom Geschlechtsrollenverhalten („gender role“) und dieses von der Geschlechtsidentität („gender identity“; vgl. auch Kap. ► 1.8 und Kap. ► 1.9), Dimensionen der Geschlechtlichkeit, die vordem unhinterfragt zusammenfielen. Zu den Resultaten gehört, dass heute ein ehemaliger Mann, im Betroffenen-Jargon ein „Bio-Mann“, als Frau, im Szene-Jargon als „Neo-Frau“, eine ehemalige Frau als Mann heiraten kann, und zwar lege artis. Es wird also versucht, diese Trennung wieder rechtlich und sozial durch Inversion ungeschehen zu machen, weil sie kulturell ans Existenzielle geht. Zeitgleich aber diversifizieren sich die beiden großen Paläogeschlechter, nicht zuletzt dank Internet, zu Neogeschlechtern wie Agender, Neutrois, Gender Blenders, Androgyne, Bigender, Trigender, Transgender, Intergender, Pangender, Questioning, Genderfuck, Demigirl, Demiguy usw., kurzum zu „genderqueer identities“, sagen wir: zu Liquid gender.

Während die genannten Brüche nur relativ wenige Menschen beschäftigen, faszinieren oder zerreißen, hat die gegenwärtige Trennung der geschlechtlichen von der sexuellen Sphäre eine neuartige, als historisch überfällig angesehene Dissoziation der sexuellen Sphäre selbst zur Folge, die die beiden Großgeschlechter insgesamt betrifft. Denn es gibt jetzt nicht nur eine Sexualität, sondern zunächst einmal die männliche und die weibliche, die nicht mehr das Negativ der männlichen ist.

Für die Theoretikerinnen, die im Sex-and-Gender-Diskurs den Ton angaben, waren schließlich im Verlauf der neosexuellen Revolution beide, Sex und Gender, durch und durch kulturell konstruiert, bar jeder Natur und folglich hintergehbar und veränderbar. Die Theoriebildung aber wurde dadurch kompliziert, dass Frauen, die weder weiß noch mittelständisch sind oder sich nicht als heterosexuell bezeichnen, auf ihren anderen Lebenswirklichkeiten bestanden. Denn tatsächlich werden Großkategorien wie Gender oder Frausein durch fundierende Differenzen, die mit der Ethnie, mit der sozialen Klasse oder der sexuellen Präferenz zusammenhängen, epistemologisch wie politisch grundsätzlich infrage gestellt.

1.1.5 Prothetisierungen und Gewaltdiskurs

Eine weitere Dissoziation, die nur kurz erwähnt sei, betrifft die Separation der Sphäre des sexuellen Erlebens von der Sphäre der körperlichen Reaktion. Indem Mediziner eine Erektion des Penis mechanisch, medikamentös oder chirurgisch herstellen, trennen sie Verlangen, Erektion und Potenz auf künstliche Weise voneinander. Ein Mann kann dann ohne gespürtes Verlangen und oft auch ohne jene psychophysischen Sensationen, die dem sexuellen Erleben bisher eigen zu sein schienen, „sexuell funktionieren“ und den Geschlechtsakt als das praktizieren, was er in unserer Kultur einer wesentlichen Tendenz nach immer war: Vollzug. Der Traum der Mediziner von der perfekten Prothetisierung der sexuellen Funktionen, deren Verkörperungen den Körper zur Leiche machen, also auch Entkörperungen sind, korrespondiert mit dem allgemeinen Traum von der Prävention des Somatischen und der Überwindung des Körpers. Abzulesen ist diese kulturelle Tendenz momentan am Telefon-Sex, an Fake sex und Internetsex (Kap. ► 1.6).

Die letzte Dissoziation, die ich erwähnen möchte, schied bei uns im Verlauf der 1980er Jahre, v.a. angestoßen vom politischen Feminismus, die alte Sphäre der Libido von der alten Sphäre der Destrudo. Durch diesen Prozess wurde die aggressive und trennende Seite der Sexualität von der zärtlichen und vereinigenden so gründlich abgelöst, bis jene diese uniform überblenden konnte. Die einen historischen Moment lang als „rein“ imaginierte Sexualität wurde wieder manifest „unrein“. Die Schatten, die die Angst-, Ekel-, Scham- und Schuldgefühle werfen, wurden so dunkel und breit, dass viele Frauen und folglich auch Männer keinen Lichtstrahl mehr sahen. Gefühle der Nähe, der Freude, der Zärtlichkeit, der Exzitation, des Stolzes, der Lust, der Zuneigung und des Wohlseins drohten in einem diskursiven Affektsturm aus Hass, Wut, Neid, Bitterkeit, Rache, Angst und Furcht zu ersticken. Die Stichworte, die wir alle kennen, lauteten und lauten: frauenverachtende Porno- und Sexografie, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, alltäglicher Sexismus, Inzest, Vergewaltigung, sexueller Kindesmissbrauch usw. (► [243], ► [702], [824], ► [833], ► [835]).

1.1.6 Dispersion der sexuellen Fragmente

Der Prozess der kulturellen Dissoziation der alten Scheineinheit Sexualität hat Hand in Hand mit der möglichst allseitigen Kommerzialisierung und Mediatisierung der Sphären zu einer gewaltigen Zerstreuung der Partikel, Fragmente, Segmente und Lebensweisen geführt, die ich sexuelle Dispersion nenne. Einerseits werden die Individuen durch den Prozess der Dispersion entwurzelt und anonymisiert, andererseits werden sie durch ihn vernetzt und unterhaltsam zerstreut. Indem neue Konstrukte entstehen, die alte Verkrampfungen, Zweifel und Befürchtungen beseitigen, können sich andere ausbreiten. Es gibt jetzt bei uns eine sexuelle und geschlechtliche Buntscheckigkeit, von der frühere Generationen nicht einmal träumen konnten.

Durch die Kommerzialisierung von Sexualität und Geschlecht wird die Dispersion gewissermaßen physisch und damit greifbar. Sie ist der Versuch, möglichst viele Fragmente und Segmente in die Warenförmigkeit zu pressen, von der medialen Selbstentlarvung über die Flirtschule, die Partnervermittlung, die Produktion von Keuschheitsgürteln oder Massagestäben in „weiblicher“ Delfinform über den Sextourismus und die Kinderprostitution bis hin zum Embryonenhandel.

Konkret zeigt ein empirischer Blick ins Fernsehen oder ins Internet, wie groß die Dispersität der dissoziierten Teile inzwischen ist. Dort findet die Veröffentlichung aller Intimitäten statt, die irgendwie fassbar sind, unter der Versicherung, sie blieben ganz persönlich. Das Motto lautet: „Ich bekenne“. Wildfremde sagen Wildfremden die persönlichsten Dinge und verschaffen sich offenbar dadurch das Gefühl, noch am Leben zu sein. Elektronisch aufbereitet, ist ganz offensichtlich weiterhin der alte Beichtzwang am Werk. Durch die angedeuteten Prozesse werden die Freud‘schen Partialtriebe erst so richtig dispers, und der Genitalprimat rückt in noch größere Ferne. Gleichzeitig wird den alten Perversionen ebenso der Garaus gemacht wie sie, als normalisierte Lüste, neu fabriziert werden.

1.1.7 Neoallianzen

Schließlich sei auf einige Tendenzen hingewiesen, die unter dem Stichwort Diversifikation der Intimbeziehungen zusammengefasst werden könnten. Ich meine das Schrumpfen, Deregulieren und Entwerten der traditionellen Familie und das Vervielfältigen der Beziehungs- und Lebensformen. Durch diese Prozesse wurden die Dissoziationen und Zerstreuungen, von denen die Rede war, ebenso ermöglicht wie sie von ihnen angestoßen worden sind oder mit ihnen zusammenfallen.

Bekanntlich ist die so genannte Kernfamilie im Verlauf einiger Jahrhunderte drastisch geschrumpft. Bestand das „Ganze Haus“ aus 10, 20, 100 Personen, bewegen wir uns seit einigen Jahrzehnten auf eine Kleinstfamilie zu. Immer mehr Einzelpersonen sind zu ihrer eigenen Familie geworden. Die Triade Vater-Mutter-Kind, noch vor 2 Generationen der Inbegriff der Familie, ist in einem ungeahnten Ausmaß kulturell verblasst. Dem Schrumpfen der traditionellen Familie ging eine prinzipielle Trennung von Ehe und Familie voraus, d.h. Mann/Frau hat auch dann ganz naturwüchsig eine Familie, wenn Mann/Frau nicht verheiratet ist.

An einem empirisch nachweisbaren Wandel kann dieser Deregulierung- und Entwertungsprozess abgelesen werden, ein Wandel, der sich seit dem Ende der 1960er Jahre z.T. rasant vollzog (► [542], ► [649], ► [759], ► [761], ► [799]): Abnahme der Heiratsrate, Zunahme der Scheidungsrate, Abnahme der Kinderzahl pro Partnerschaft und Ehe, Zunahme der partnerschaftlichen (früher nicht- oder außerehelich genannten) Geburten, Zunahme der 1- und 2-Personen-Haushalte, Zunahme der alleinerziehenden Mütter und ganz allmählich auch Väter, die den Übergang von der Klein- zur Kleinstfamilie anzeigen, Aufkommen von 3- und Mehr-Personen-Haushalten unterschiedlicher Motivations- und Interessenlage, deren Mitglieder nicht miteinander verwandt sind.

Im Verlauf dieses Wandels wurde die soziale und emotionale Bedeutung der Herkunftsfamilie durch die zunehmende Aufwertung subkultureller und freundschaftlicher Bindungen vom Jugendalter bis zum Tod erheblich reduziert, zumindest in den oberen Mittelschichten. Diese selbstgewählten und selbsterhaltenen Bindungen ließen die überkommenen Blutsbande verblassen. Heute stehen Freundinnen und Freunde vielen näher als die eigenen Geschwister.

1.1.8 Neosexualitäten

1.1.8.1 Differenzierung von Hetero- und Homosexualität

Die Vervielfältigung der sozial akzeptierten Beziehungs- und Lebensformen hat zu einer Differenzierung sowohl der alten Hetero- wie der alten Homosexualität geführt, deren vordem monolithischer Charakter sich damit empirisch als theoretisch in dem Sinn erweist: dass er kulturell produziert worden ist. Sexuelle und geschlechtliche Empfindungsweisen, die früher der Heterosexualität, der Homosexualität oder der Perversion zugeschlagen worden sind, weil keine anderen Raster zur Verfügung standen, treten aus deren Bannkreis heraus, definieren und pluralisieren sich selbst als Lebensweisen. Alte Krankheitsentitäten wie Fetischismus oder Sadomasochismus (► [382], ► [831]) zerfallen und treten als Neosexualitäten auf den Plan. Welches Erleben und Verhalten weiterhin oder erst jetzt als krank anzusehen ist, weil zwanghaft oder süchtig, bedarf einer neuen Justierung (► [124], ► [129]; Kap. ► 1.10, ► 2.13).

Die neuen Selbstpraktiken, wie z.B. bisexuelle, transgenderistische, sadomasochistische oder fetischistische, sind insofern typische Neosexualitäten, als das triebhaft Sexuelle im alten Sinn nicht mehr im Vordergrund steht. Sie sind zugleich sexuell und nichtsexuell, weil Selbstwertgefühl, Befriedigung und Homöostase nicht nur aus der perversen Fetischisierung, aus der Mystifikation der Triebliebe und dem Phantasma der orgastischen Verschmelzung beim Geschlechtsverkehr gezogen werden, sondern ebenso oder stärker aus dem Thrill, der mit der nichtsexuellen Selbstpreisgabe und der narzisstischen Selbsterfindung einhergeht. Und schließlich oszillieren sie zwischen fest und flüssig, identisch und unidentisch und sind oft sehr viel passagerer als ihre fixierten Vorgänger.

Empirisch und greifbar wurde all das bisher v.a. auf den Love Parades und Raver Parties. Dort inserierten sich die Neosexuellen als verführerische Sexualsubjekte und laszive Sexualobjekte, vermieden aber in der Regel leibhafte sexuelle Begegnungen alter Art. Offenbar inszenierte sich in solchen Events und Invents ein kollektiver Zeitgeist-Wunsch nach konfliktfreier Sexualität, wie ihn Reiche 1997 (► [688]) aus dem Gender-Diskurs herausgelesen hat. Beschworen wird eine altruistische Gemeinschaft, doch jede und jeder distanziert sich zugleich durch Outfit und Verhalten von der Gemeinschaft, ist sich narzisstisch und egoistisch selbst am nächsten. Alle Teilnehmer fallen aus dem Rahmen und sind gerade dadurch eingebunden und formiert. Offenbar wird heute die gewünschte Beziehungsdisziplin durch allerlei Aufputschungen und Drapierungen erträglich gemacht. Auf jeden Fall wird die oft undramatische und zudem romantische Beziehungsliebe immer deutlicher von dramatischen Events der Selbstinszenierung und Selbstliebe flankiert. Insofern sind Love Parades und Raver Parties ein Inbegriff der Neosexualitäten: Werktags wird sauber und korrekt funktioniert, am Wochenende aber wird mithilfe von Designerdrogen, die den Körper von der Seele dissoziieren und Out-of-body-experiences gestatten, millionenfach eine Techno-Sau durch die Stadt getrieben, die nur noch von fern an die Verheißungen und Risiken des „Gartens der Lüste“ erinnert.

1.1.8.2 Transsexualismus und Zissexualismus

Von den erwähnten Neosexualitäten unterscheidet sich der Transsexualismus (Kap. ► 2.10) mit operativem Geschlechtswechsel in mehrfacher Hinsicht, v.a. wohl, weil er eher ein sich fixierendes Neogeschlecht als eine flexible Neosexualität ist. Das Neo-Logische am Transsexualismus ist, dass er sein eigentlich immer schon logisches Gegenstück, das ich Zissexualismus ([824], ► [829], ► [838]) genannt habe, grundsätzlich ins Zwielicht rückt. Denn wenn es ein Trans, ein Jenseits (des Körpergeschlechts) gibt, muss es auch ein Cis, ein Diesseits geben. Indem der Transsexualismus beweist, dass auch Sex/Gender ein kulturell Zusammengesetztes und psychosozial Vermitteltes ist, fallen Körper- und Seelengeschlecht bei den Zissexuellen, die bisher die einzig Gesunden und Normalen waren, nicht mehr fraglos und scheinbar natural zusammen. Das aber geht ans kulturell Eingemachte.

1.1.8.3 Online-Sexualität (E- und Cybersex)

Neosexualitäten im emergenten, engsten Sinn sind v.a. Sexualformen wie Internetsexualität oder Online-Sexualität (vgl. dazuKap. ► 1.6), die durch eine neue Technologie wie das World Wide Web samt der neuen Welt einer Webciety erst möglich geworden sind (► [201], ► [216], ► [236], ► [754]). Diese neue Anthropotechnik ist extrem erfolgreich, weil sie grundsätzlich alle Menschen verbindet. Sie ermöglicht die neosexuellen Prozesse der Zerstreuung, Zerteilung und Vervielfältigung, die ich hier als Dispersion sexueller Fragmente, Dissoziation sexogenerischer Sphären und Diversifikation bisheriger Beziehungen angedeutet habe, in einem Ausmaß und mit einer Auswirkung, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Die Bewohner von Digitalia boosten, sharen, bloggen, twittern, chatten, posten, trollen und sexen, was das Zeug hält, sie tummeln sich auf, an und in Gesprächsforen, Newsgroups, Instant Messaging, wie z.B. Skype, Online-Communities, virtuellen Pinnwänden, Statusupdates usw., leben nicht nur mit, sondern im Netz, sind gewissermaßen Netizen.

Von E-Sex spreche ich, wenn es nicht um Solosex mithilfe von Internetsexografie und nicht um noch so neuartige Online-Angebote von Pornografie oder anderen Sexartikeln, von Prostitution oder Sexualinformationen geht, sondern um virtuell-reale Sexualkontakte bis hin zum Orgasmus mittels zügigem Text- und/oder Bildwechsel. Diese Sexualkontakte können gelegentlich oder über längere Zeiträume stattfinden. Von Cybersex (kurz C6 oder CS genannt) sollte gesprochen werden, wenn es – Stichwort: Tele- oder Cyberdildonik – um eine noch nicht zu sich gekommene Kombination aus virtuell-realer Erotik und real-mechanischer Stimulation mittels Datenhelmen, Datenhandschuhen, Ganzkörperdatenanzügen, digitalen dreidimensionalen SpielgefährtInnen usw. geht (► [247], ► [697]). Ohne Zweifel hat die neue Medientechnik des World Wide Web ein revolutionäres Potenzial, offensichtlich sogar stärker als es Buchdruck, Telefon, Radio und Fernsehen je hatten, ein Potenzial, das die kritische Sexualforschung noch einmal ernsthaft aufblühen lassen könnte.

1.1.8.4 Objektophilie und Asexualität

Doch es gibt auch, genauso paradox, wie die Gesamtlage ist ► [831], ganz andere Formen, z.B. die so genannte Objektophilie, bei der ein toter Gegenstand sexuell begehrt wird. Auch sie ist eine sich entfaltende erotisch-sinnliche Form, die in die gegenwärtige, auf tote Gegenstände fixierte Gesellschaft passt wie der Schlüssel in das Schloss. Und es gibt z.B. organisierte, sich v.a. dank Internet zu Wort meldende Asexuelle, die uns daran erinnern, dass das einst begonnene sexuelle Zeitalter auch wieder verschwinden könnte (► [827], ► [831]).

Insgesamt ist mit der Rationalisierung, der Zerstreuung, der Kommerzialisierung und dem Zwang zur Vielfalt eine generelle Banalisierung des Sexuellen verbunden. Kulturell ist Sexualität etwas weitgehend Selbstverständliches geworden wie Mobilität oder Egoität. Aus dem Revolutionären Eros zur Zeit des Fordismus ist Lean sexuality geworden, die sich der postfordistischen Lean production zur Seite stellt ► [826]. Das allgemeine Modell der neosexuellen Revolution kann als Selfsex bezeichnet werden, der selbstdiszipliniert und selbstoptimiert ist. Dazu passen die neosexuellen Selbstpraktiken, die sich mit großer Selbstverständlichkeit inszenieren. Dazu passt auch der diskursive Lärm um die Potenzpille Viagra, die endlich den Mannheitstraum der Versteifung auf Knopfdruck erfüllen soll, indem sie eine entscheidende Dissoziation verheißt: die der Angst von der Sexualität, sodass ein selbstregulierter Designersex ungestört performiert werden könnte.

Einschneidender scheinen mir aber in diesem Zusammenhang die Ergebnisse empirischer Studien (z.B. ► [504], ► [758]) zu sein, nach denen die Selbstbefriedigung in heterosexuellen Beziehungen, die als „befriedigend“ bezeichnet werden, zu einer eigenständigen Sexualform geworden ist. Offensichtlich hat die Selbstbefriedigung für viele junge Frauen und Männer nicht mehr den alten Not- und Surrogatcharakter.

1.1.9 Liebes- und Sexualleben als Gesundheitsgewinn

Ein ebenso erregendes wie befriedigendes Geschlechts-, Liebes- und Sexualleben ist sehr viel heilsamer als viele Medikamente. Dieser Gesundheitsgewinn ist nachweislich enorm (► [827], ► [834]). Das Verrückte aber ist, dass selbst Ärzte und Psychologen in der Regel nicht darauf achten – einerseits, weil dieser Lebensbereich mit Scham besetzt ist, andererseits, weil in Studium und Ausbildung Sexualmedizin und Sexualpsychologie nach wie vor allenfalls am Rande vorkommen. Die Kolleginnen und Kollegen, die die Bedeutung des Sexuallebens für die Gesundheit erkannt haben, müssen sich folglich das notwendige Fachwissen selbst auf dem Weg der freiwilligen Fortbildung besorgen.

Merke

Eine notwendige Erkenntnis ist, dass das, was unter Sexualität verstanden und als Sexualität gelebt wird, einem ständigen kulturellen Prozess der Umkodierung, Transformation und Umwertung und damit einer ständigen Veränderung unterliegt. Dem Alltagsbewusstsein aber scheint es immer noch so, als sei die Sexualität ihrer Struktur nach eine unveränderbare, von Natur gegebene Einheit. Tatsächlich aber ist sie ein veränderbar Zusammengesetztes.

Deshalb erörtern alle modernen Geschlechts- und Sexualtheorien die Frage, was sexogenerisch „essenziell“ und was „konstruiert“ sei. Auch unsere Vorstellungen von gesunder und kranker Sexualität ändern sich ständig (Kap. ► 1.10). Unübersehbar ist, dass Menschen unserer Kultur immer wieder das, was unveränderbar schien, mit anderen Bedeutungen versehen. So erleben sie verpönte sexuelle Praktiken wie den Oralverkehr „auf einmal“ als ganz normal. Sigmund Freud nannte solche Praktiken noch „pervers“. Einige Jahrzehnte später wies Alfred C. Kinsey nach, dass sie in der Normalbevölkerung weit verbreitet sind. Von diesem Schock konnten sich viele Amerikaner bis heute nicht moralisch erholen.

Verwunderlich ist der Wandel nicht, wenn wir daran denken, wie sehr sich in den letzten 2 Jahrhunderten beispielsweise das Zeitempfinden, das Lebensgefühl oder die so genannten Kulturtechniken verändert haben. Von der Welt und von uns selbst haben wir heute eine Vorstellung, die mit der der vergangenen Generationen kaum zu vergleichen ist. Wir essen, wohnen, fühlen, arbeiten, lieben und leiden heute anders, wir leben und sterben anders.

Auch die Moral hat sich gewandelt. Die alte Lustmaximierungsmoral und die noch ältere Ehe- und Versorgungsmoral sind in eine individuell zu gestaltende und zu verantwortende Moral transferiert worden, deren deklarierte Hauptkriterien Geschlechts- und Liebessymmetrie sind. Wir nennen die neue Moral Verhandlungs- oder Konsensmoral. Erlaubt ist das, was alle Beteiligten wünschen oder akzeptieren. Das macht die Menschen umgänglicher, bringt sie aber zugleich auf Distanz. Denn wenn es keine allgemein verbindliche Moral gibt, sind dem Egoismus Tür und Tor geöffnet.

1.2 Anatomische und funktionelle Grundlagen

G. Lüers

1.2.1 Vorbemerkung

Die Anatomie der Genitalorgane wird hier nur in ihrer Bedeutung für die Sexualmedizin dargestellt. Daher soll v.a. die funktionelle Anatomie der äußeren Genitalorgane sowie des Beckenbodens und der Scheide beschrieben werden.

1.2.2 Männliche Genitalorgane

1.2.2.1 Übersicht

Die männlichen Genitalorgane bestehen aus den Hoden (Testes), in denen die Spermien und die männlichen Sexualhormone produziert werden und aus einem Gangsystem aus Nebenhoden (Epididymis mit Ductus epididymidis), Samenleiter (Ductus deferens) und Harnsamenröhre (Urethra), über das die Spermien nach außen geleitet werden. In dieses Gangsystem münden als akzessorische Geschlechtsdrüsen 2 Bläschendrüsen (Glandulae vesiculosae), die Vorsteherdrüse (Prostata) sowie 2 Cowper-Drüsen (Glandulae bulbourethrales). Die Bläschendrüsen liegen im Becken hinter der Harnblase (► Abb. 1.1a) und bilden etwa zwei Drittel des Ejakulats. Ihr Sekret vermittelt die gelartige Konsistenz des ganz frischen Ejakulats. Die Prostata liegt unter der Harnblase und umschließt dort die Harnröhre. Ihr Sekret bildet etwa ein Drittel des Ejakulats (► Abb. 1.1a) und enthält Proteine für dessen Verflüssigung nach der Ejakulation. Die Cowper-Drüsen liegen im unteren Beckenboden und bilden ein visköses Sekret, das bei sexueller Erregung oft vor der Ejakulation als Präejakulat oder „Lusttropfen“ aus Mündung der Urethra austritt. Der Penis bildet zusammen mit dem Hodensack (Scrotum) und den darin befindlichen Hoden sowie den Nebenhoden und dem Anfangsteil des Samenleiters die äußeren Genitalorgane des Mannes (► Abb. 1.1a).

Genitalorgane des Mannes.

Abb. 1.1 a–c Aufbau und Funktion des Penis. (Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker, 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2005)

1.2.2.2 Penis

Der Penis besteht im Wesentlichen aus den Schwellkörpern und der Harnsamenröhre. Sie dient im erschlafften Zustand als Harnröhre und im erigierten Zustand als Samenröhre. Man unterscheidet die Peniswurzel, die fest an den Beckenknochen (Schambein, Os pubis) und dem Beckenboden verankert ist, von einem Penisschaft, der frei von der Schambeinregion herabhängt. Im erigierten Zustand hat der Penis eine durchschnittliche Länge von etwa 14–15 cm, wobei Längen von 10–18 cm häufig sind.

3 Schwellkörper bilden den inneren Stützapparat des Penis (► Abb. 1.1a). Die paarig ausgebildeten Penisschwellkörper (Corpora cavernosa) sind im Penisschaft bindegewebig verbunden und weichen im Bereich der Peniswurzeln als 2 Schenkel (Crura penis) auseinander. Diese Schenkel sind mit den unteren Schambeinästen (knöchernes Becken, Ramus inferior ossis pubis) fest verbunden. Im Penisschaft liegen die Corpora cavernosa an der Oberseite (Dorsum penis). Direkt anliegend befindet sich der unpaare Harnröhrenschwellkörper (Corpus spongiosum) an der Unterseite des Penisschafts (► Abb. 1.1a, b). Er umhüllt die Harnsamenröhre (Pars spongiosa der Urethra masculina) und ist im Bereich der Peniswurzel bindegewebig fest mit dem Beckenboden (Diaphragma urogenitale) verwachsen.

An der Penisspitze geht das Corpus spongiosum in die Eichel (Glans penis) über, die sich nach oben kappenförmig über die Enden der Corpora cavernosa legt (► Abb. 1.1a). In der Glans penis befindet sich die Mündung der Harnsamenröhre (Ostium utethrae externum). Im Bereich der Peniswurzel sind die Schwellkörper von quergestreiften Muskeln überzogen, über die Druck auf die Schwellkörper ausgeübt werden kann (Mm. ischiocavernosi bedecken die Corpora cavernosa und Mm. bulbospongiosi das Corpus spongiosum). Die Schwellkörper und die begleitenden Blutgefäße sind von 2 bindegewebigen Hüllen (Fascia penis profunda und superficialis) umgeben und außen von leicht verschieblicher Haut bedeckt, die an der Penisspitze die Vorhaut (Praeputium) bildet. An der Unterseite der Glans penis verbindet eine kleine Hautfalte (Frenulum) die Glans mit der Vorhaut.

Schwellkörper bestehen aus einem Netz von kavernösen, mit einem Endothel ausgekleideten Räumen. Diese werden von Blut durchströmt und sind in Abhängigkeit vom Füllungszustand unterschiedlich weit. Große Blutfülle führt dabei zu starker Schwellung. In den Wänden der kavernösen Räume befinden sich v.a. im Corpus cavernosum neben dem Bindegewebe auch dichte Bündel glatter Muskelzellen. Die Schwellkörper des Penis sind jeweils von einer derben bindegewebigen Hülle (Tunica albuginea) umgeben, die bei den Corpora cavernosa besonders kräftig ausgebildet ist (► Abb. 1.1b). Eine Füllung der kavernösen Bluträume führt deshalb beim Penis erst zu einer Größenzunahme der Schwellkörper (Tumeszenz) und dann bei steigender Wandspannung der Tunica albuginea auch zu einer Drucksteigerung innerhalb der Schwellkörper und dadurch zu deren Versteifung (Rigidität). Der Druck kann während der Erektion in den Corpora cavernosa auf mehr als das 10-Fache des systolischen Blutdrucks ansteigen. Innerhalb des Corpus spongiosum ist der Druck während der Erektion geringer, sodass die darin verlaufende Harnsamenröhre auch bei maximaler Erektion noch für das Ejakulat durchgängig bleibt.

Das Ejakulat besteht aus Zellen (Spermien und wenige Leukozyten) und dem Seminalplasma. Es hat ein Volumen von 2–5 ml und enthält ~ 4×107 Spermien/ml, welche motil sind und etwa 3 mm/min zurücklegen können. Im Seminalplasma befinden sich Enzyme wie saure Phosphatase, PSA, oder Transglutaminase sowie Abwehrfaktoren und Moleküle wie Fruktose, Prostaglandine und Elektrolyte.

1.2.2.3 Leitungsbahnen der männlichen Genitalregion

Die Blutversorgung für den Penis stammt aus der A. pudenda interna. Sie tritt von dorsal (Foramen ischiadicum minus) in die Perinealregion ein und versorgt mit ihren Endästen, der A. profunda penis, A. bulbi penis und A. dorsalis penis, den Penis und seine Schwellkörper. Die paarige A. profunda penis verläuft innerhalb der Corpora cavernosa (► Abb. 1.1b). Von ihr zweigen kleine spiralig gewundene Äste ab (Aa. helicinae), die in die kavernösen Räume münden. Durch die Spannung der glatten Muskulatur in den Gefäßwänden und in den Wänden dieser Räume ist der Blutzufluss in das Corpus cavernosum normalerweise gering (erschlaffter Zustand). Eine Entspannung der glatten Muskulatur ermöglicht dann eine stärkere Blutfüllung der Corpora cavernosa. Das Corpus spongiosum mit der Urethra wird durch die A. bulbi penis versorgt, während die Haut und die Glans penis durch die paarige A. dorsalis penis versorgt werden.

Das venöse Blut der Schwellkörper wird teilweise in die V. pudenda interna sowie in das im Becken liegende Venengeflecht (Plexus venosus prostaticus) drainiert. Oberflächliche Venen führen das Blut auch in die Leistenregion.

Die sensible Innervation des Penis und der Dammregion (Regio perinealis) erfolgt ebenso wie die motorische Innervation der Beckenbodenmuskulatur über Äste des N. pudendus ( ► Abb. 1.1c, N. dorsalis penis und Nn. perineales). Im Bereich des Mons pubis wird die Haut über Fasern des N. ilioinguinalis sensibel innerviert, während bei der sensiblen Innervation der vorderen Anteile des Scrotums Fasern aus dem N. ilioinguinalis sowie aus dem N. genitofemoralis beteiligt sind. Die vegetative Innervation für die glatte Muskulatur der Genitalorgane sowie für die akzessorischen Geschlechtsdrüsen stammt aus dem Plexus hypogastricus inferior. Hier mischen sich u.a. parasympathische Fasern aus den N. splancnici pelvici mit lumbalen sympathischen Fasern aus dem Plexus hypogastricus superior (► Abb. 1.1c). Fasern für die Innervation des Penis liegen der Prostata im kleinen Becken eng an (Plexus prostaticus). Sie können bei Operationen in diesem Bereich leicht beschädigt werden, was Erektionsstörungen zur Folge hat.

1.2.3 Männlicher und weiblicher Beckenboden

Der Beckenboden besteht aus 2 Muskelschichten, welche den Bauch- und Beckenraum nach unten abschließen. Die obere Schicht (Diaphragma pelvis) bildet hauptsächlich der M. levator ani (► Abb. 1.2c), der sich nach dem Verlauf der Muskelfasern noch in den M. puborectalis, M. pubococcygeus und den M. ischicoccygeus unterteilen lässt. Zwischen dem M. puborectalis beider Seiten verbleibt in der Mitte des Diaphragma pelvis ein Spalt (Levatorenspalt), durch den Harnröhre und das Rektum sowie bei der Frau zusätzlich die Scheide durch den Beckenboden nach unten durchtreten. Die medial gelegenen Fasern des M. puborectalis umfassen das Rectum an der Hinterseite und können es bei Kontraktion einengen und nach vorne anheben. Zusätzlich ziehen Muskelfaserbündel von beiden Seiten auch vor das Rectum und bilden dort mit etwas Bindegewebe das Centrum tendineum perinei, das im Dammbereich des Beckenbodens die Durchtrittsstelle des Rektums von der des Urogenitaltrakts trennt (► Abb. 1.2c). Beim weiblichen Beckenboden umfassen diese Muskelfasern als M. pubovaginalis die Scheide dorsal. Sie werden willkürlich kontrolliert und können die Vagina dicht an ihrer Mündung nach vorn komprimieren und dadurch einengen. Die Ursprungslinie des M. levator ani liegt im Becken höher als der Ansatz am Centrum tendineum perinei und am Steißbein (Os coccygis), sodass das Diaphragma pelvis das Becken nach unten trichterförmig verschließt.

Die untere Schicht des Beckenbodens (Diaphragma urogenitale oder Membrana perinei) wird durch den M. transversus perinei profundus gebildet (► Abb. 1.2b). Es handelt sich um eine dünne Muskelplatte, welche die vordere Hälfte des Beckenbodens von der Symphyse bis zum Centrum tendineum perinei zusätzlich verstärkt. Auch hier tritt die Harnröhre und bei der Frau zusätzlich die Scheide hindurch. An der Durchtrittsstelle der Harnröhre ziehen Muskelfasern zirkulär um die Harnröhre und bilden den äußeren willkürlichen Schließmuskel (M. sphincter urethrae externus). Auch die Vagina wird bei ihrem Durchtritt durch das Diaphragma urogenitale von quergestreiften Muskelfasern umschlossen, sodass sie bei Kontraktion dieser Muskelfasern eingeengt werden kann, auch wenn es sich nicht um einen klassischen Schließmuskel handelt.

Beckenboden, weiblicher.

Abb. 1.2 a–c Weibliche Genitalorgane und Beckenboden. (Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie bzw. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2005)

1.2.4 Weibliche Genitalorgane

1.2.4.1 Übersicht

Die inneren weiblichen Genitalorgane bestehen aus den Eierstöcken (Ovarien), in denen die Eizellen heranreifen und auch die größte Menge der Sexualhormone (Östrogene und Progesteron) produziert werden, sowie einem „Gangsystem“ aus den Eileitern (Tuba uterina), der Gebärmutter (Uterus) und der Scheide (Vagina). Die Organe des Gangsystems dienen den Spermien als Weg zum Ort der Befruchtung und der Frucht als Weg nach außen. Während der Schwangerschaft ist der Uterus der Ort für die Entwicklung von Embryo und Fetus. Der Gebärmutterhals (Cervix uteri) bildet bei der Geburt zusammen mit der Vagina einen Teil des Geburtskanals. Wenn keine Schwangerschaft vorliegt, unterliegen diese Organe bei der geschlechtsreifen Frau zyklischen Veränderungen, die der Vorbereitung auf eine Schwangerschaft dienen (ovarieller und menstrueller Zyklus). Die Vagina mündet in den Scheidenvorhof (Vestibulum vaginae), der von den äußeren Genitalorganen wie den Schamlippen und den weiblichen Schwellkörpern begrenzt wird. Zusätzlich münden in den Scheidenvorhof auch die akzessorischen Geschlechtsdrüsen (Glandulae vestibulares) und befeuchten diesen mit ihrem Sekret.

1.2.4.2 Äußere weibliche Genitalorgane

Die äußeren Genitalorgane werden in ihrer Gesamtheit als Vulva bezeichnet. Sie bestehen aus dem Schamberg (Mons pubis), aus den paarigen großen und kleinen Schamlippen (Labia majora und minora) und den weiblichen Schwellkörpern (Corpus cavernosum clitoridis und Bulbus vestibuli) welche den Scheidenvorhof (Vestibulum vaginae) begrenzen. In das Vestibulum vaginae münden die Harnröhre (Urethra) und Scheide (Vagina) sowie akzessorische Drüsen (Glandulae vestibulares und paraurethrales), die ihr Sekret in den Scheidenvorhof abgeben (► Abb. 1.2a).

Der Scheidenvorhof (Vestibulum vaginae) wird vorn (ventral) von dem Kitzler (Klitoris mit Glans clitoridis), an den Seiten von den Labia minora und hinten (dorsal) durch eine Verbindung zwischen den Schamlippen beider Seiten (Commissura labiorum posterior) begrenzt. Im vorderen Bereich des Vestibulum vaginae mündet die Harnröhre sowie die kleinen Vorhofdrüsen (Glandulae vestibulares minores), während sich im hinteren Bereich die Mündung der Scheide (Ostium vaginae) befindet.

Seitlich vom Ostium vaginae münden die großen Vorhofdrüsen (Glandulae vestibulares majores oder Bartholin-Drüsen). Das Sekret der Vorhofdrüsen dient v.a. der Befeuchtung des Scheidenvorhofs bei sexueller Erregung. In ihrem Aufbau und ihrer Funktion ähneln sie den Cowper-Drüsen beim Mann. Zusätzlich gibt es im Bereich um die Harnröhre noch unregelmäßig ausgebildete paraurethrale Drüsen (Glandulae paraurethrales oder Skene-Drüsen). Sie weisen in ihrem Aufbau und ihrer Entwicklung eine Ähnlichkeit zur Prostata auf und können ihr Sekret beim Orgasmus abgeben.

Die Labia minora sind zwei schmale Hautfalten, die das Vestibulum vaginae unmittelbar begrenzen. Sie sind sehr gut innerviert und enthalten viele Talgdrüsen. Die Labia minora beider Seiten legen sich normalerweise aneinander und verdecken so das Vestibulum vaginae. Nach ventral teilen sich die Labia minora noch einmal in 2 Falten. Die innere Falte (Frenulum clitoridis) zieht zur Klitoris, während die äußeren Anteile beider Seiten eine kapuzenartige Vorhaut (Praeputium clitoridis) bilden, welche die Klitoris ventral bedeckt (► Abb. 1.2a).

Die Klitoris ist der äußerlich sichtbare Teil eines Schwellkörpers, der ähnlich dem Penisschwellkörper aus einem Körper oder Schaft (Corpus cavernosum clitoridis) und 2 Schenkeln (Crura clitoridis) besteht (► Abb. 1.2b). Wie das Corpus cavernosum beim Mann besteht dieser Schwellkörper bei der Frau aus kavernösen Bluträumen und ist von einer Tunica albuginea umgeben. Die Schenkel sind am knöchernen Becken (Ramus inferior des Os pubis) befestigt und von je einem M. ischiocavernosus bedeckt (► Abb. 1.2b). Im Bereich der Schambeinfuge (Symphysis pubica) verbinden sich die Crura clitoridis zu einem kurzen Klitorisschaft (2,5–3 cm), der nach unten gebogen ist und an seinem Ende in die Glans clitoris übergeht. Diese ist sensibel ausgesprochen gut innerviert und dadurch sehr empfindlich.

Im subkutanen Bindegewebe liegen die Vorhofschwellkörper (Bulbus vestibuli) auf beiden Seiten des Scheidenvorhofs in der Tiefe der Schamlippen. Der Bulbus vestibuli ist dorsal etwas verdickt und wird vom M. bulbospongiosus bedeckt. Er entspricht dem Corpus bulbospongiosum beim Mann. Eine vermehrte Blutfülle und Schwellung der Bulbi vestibulares unterstützt die Öffnung der Labien bei sexueller Erregung.

Die Labia majora sind breite Hautfalten, welche die Labia minora und das Vestibulum vaginae umfassen. Die Labia majora beider Seiten berühren sich oft in der Mitte und bedecken dadurch die Labia minora. Die kleinen Schamlippen können aber auch so prominent sein, dass sie zwischen den Labia majora nach unten herausragen. Auf den Labia majora beginnt die Schambehaarung, die sich nach kranial bis auf den Mons pubis erstreckt.

1.2.4.3 Vagina

Die Vagina ist ein fibromuskuläres, schlauchförmiges und etwa 8–10 cm langes Hohlorgan. Sie ist stark dehnbar und wird während der Geburt zu einem Teil des Geburtskanals (perinataler Kopfdurchmesser ~10 cm). Die Vagina verbindet die Scheidenöffnung (Ostium vaginae) im Scheidenvorhof mit der Gebärmutter (Uterus) im kleinen Becken. Sie verläuft von der Öffnung nach oben und hinten (dorsocranial) und liegt dort zwischen der Harnblase und dem Rektum (► Abb. 1.2b). Sie ist von einem Bindegewebe (Parakolpium) umgeben, in dem viele kleine Blutgefäße (venöse Plexus) und vegetative Nervenfasern verlaufen. Mit ihrem Scheidengewölbe (Fornix vaginae) umfasst sie den Gebärmutterhals (Cervix uteri), der dadurch mit seinem Gebärmuttermund, der Portio vaginalis cervicis, in die Vagina hineinragt. Die Hinterwand der Fornix grenzt direkt an die Bauch- und Beckenhöhle (Douglas-Raum).

Im Bereich des Ostium vaginae befindet sich das sog. Jungfernhäutchen (Hymen), von dem in der Regel als Rest nur kleine Hautfältchen (Carunculae hymenales) zu sehen sind. Etwas oberhalb der Öffnung tritt die Vagina durch den Beckenboden. Hier wird sie von zarten Muskelfasern umschlossen, die bei Kontraktion eine Verengung bewirken (s. Kap. ► 1.2.3).

Die Wand der Vagina besteht aus einer Schleimhaut (Tunica mucosa) und einer zarten Muskelschicht (Tunica muscularis), zwischen denen sich eine Bindegewebsschicht (Tela submucosa) befindet. Die Schleimhaut der Vagina bildet eine Reihe von quergestellten flachen Falten, die als Rugae vaginales bezeichnet werden. Die Oberfläche wird durch ein mehrschichtig unverhorntes Plattenepithel gebildet. Die Epithelzellen speichern Glykogen unter dem Einfluss von Östrogen und werden in Abhängigkeit vom ovariellen Zyklus unterschiedlich stark abgeschilfert. Der Abbau des Glykogens durch Bakterien der natürlichen Scheidenflora führt zu Bildung von Milchsäure (Laktat). Die damit verbundene Ansäuerung des Scheidenmilieus gehört zu den unspezifischen Abwehrmechanismen gegen andere Mikroorganismen.

Im Bindegewebe unterhalb des Epithels befinden sich v.a. im mündungsnahen Bereich ausgedehnte Venenplexus, die bei starker Blutfüllung eine Schwellung der Vaginalwand bewirken und beim Koitus auch als orgastische Manschette bezeichnet werden. Zusätzlich führt diese Schwellung auch zu einer geringen Flüssigkeitsausscheidung über die Epithelbarriere hinweg (Transsudation), wodurch die Vagina bei sexueller Erregung stärker befeuchtet wird. In der Muskelschicht befinden sich zarte Bündel glatter Muskelzellen, die nicht der willkürlichen Kontrolle unterliegen. Sie sind geflechtartig angeordnet, sodass eine relativ große passive Dehnung möglich ist.

Merke

Im Rahmen des Klimakteriums kommt es zum Absinken der Östrogenspiegel und dadurch neben den klimakterischen Symptomen auch zu strukturellen und funktionellen Veränderungen der Genitalorgane. Die Vagina und Vulva werden trockener, was sich negativ auf die Orgasmusfähigkeit auswirken kann. Zusätzlich führt die verminderte epitheliale Glykogeneinlagerung zum Anstieg des vaginalen pH und in Folge zu einer erhöhten Infektanfälligkeit (atrophische Kolpitis).

1.2.4.4 Leitungsbahnen der weiblichen Genitalregion

Die Blutversorgung der äußeren weiblichen Genitalorgane stammt überwiegend aus der A. pudenda interna. Sie versorgt mit ihren Ästen die Dammregion und mit kleinen Endästen (A. dorsalis clitoridis und A. bulbi vestibuli) auch die Schwellkörper. Der Uterus wird durch die A. uterina versorgt. Aus der A. uterina entspringen auch Rami vaginales zur Versorgung der Vagina. Weitere Rr. vaginales können den Arterien der Harnblase oder des Rektums (A. vesicalis inferior und A. rectalis media) entspringen. Die venöse Drainage der äußeren weiblichen Genitalorgane erfolgt über die V. pudenda und auch z.T. über die ausgedehnten venösen Plexus im kleinen Becken.

Die sensible Innervation der weiblichen Dammregion mit der Klitoris und den Labien erfolgt über den N. pudendus. Fasern des N. pudendus erstrecken sich aber auch in die Vagina hinein. Über diese Fasern werden v.a. aus dem unteren Bereich der Vagina Informationen über Dehnung, Druck, Schmerz und Temperatur weitergeleitet. Fasern für motorische Innervation der Beckenbodenmuskulatur kommen ebenfalls aus dem N. pudendus. Im Bereich des Mons pubis und der Labia majora wird die Haut über Fasern des N. ilioinguinalis und des N. genitofemoralis sensibel innerviert. Die vegetative Innervation für die glatte Muskulatur und die akzessorischen Geschlechtsdrüsen stammt aus dem Plexus hypogastricus inferior. Hier mischen sich parasympathische Fasern aus den N. splanchnici pelvici mit sympathischen Fasern aus dem Plexus hypogastricus inferior und gelangen über den Plexus uterovaginalis zu Uterus und Vagina. Bei Operationen im kleinen Becken können sie leicht verletzt werden.

1.2.5 Nervale Regulation der Sexualorgane

1.2.5.1 Männliche Genitalorgane

Im Nervensystem werden grundsätzlich ein dem Bewusstsein zugängliches somatisches System (Sensibilität und Willkürmotorik) und ein vegetatives oder unwillkürliches System (Sympathikus und Parasympathikus) unterschieden. An der Regulation der Funktionen der Genitalorgane beim Geschlechtsakt sind beide Systeme in einem koordinierten Zusammenspiel beteiligt. Sensible Nervenfasern leiten Erregungen von taktilen Reizen und von Schmerz- oder Temperaturreizen aus dem Penis über den N. pudendus in das Rückenmark, wo die Erregungen umgeschaltet und in das Gehirn weitergeleitet werden. Bereits im Erektionszentrum (Segmente S2–4) des Rückenmarks werden diese Erregungen aber auch auf efferente parasympathische Neurone umgeschaltet, die mit den Nn. splanchnici pelvici (auch Nn. erigentes) in den Penis gelangen und dort eine Erektion auslösen können (► Abb. 1.1c und ► Abb. 1.3).

Das Erektionszentrum erhält zusätzlich über absteigende Bahnen auch Erregungen aus höheren Zentren. So werden Informationen von anderen sensiblen Reizen (erogene Zonen), visuellen oder akustischen Reizen sowie v.a. emotionale und psychische Faktoren im Gehirn (limbisches System und Hypothalamus) integriert und beeinflussen die Aktivität des spinalen Erektionszentrums. In den Schwellkörpern führt die parasympathische Erregung zu einer Erweiterung der Arterien und dadurch zu einem vermehrten Blutzufluss. Bei zunehmender Wandspannung der Tunica albuginea werden zusätzlich die Venen, die durch sie hindurchtreten, komprimiert, sodass die Füllung der kavernösen Bluträume noch zunimmt.

Die Wirkung des Parasympathikus in der glatten Muskulatur der Schwellkörperarterien beruht auf einer durch Stickstoffmonoxid (NO)-vermittelten Aktivierung der Guanylatcyclase. Dieses Enzym katalysiert die Umwandlung von Guanosyltriphosphat (GTP) in zyklisches Gunanosylmonophosphat (cGMP), welches durch Relaxierung der glatten Muskulatur in den zuführenden Arterien zur lokalen Gefäßerweiterung führt. Das cGMP wird durch Phosphodiesterasen wieder abgebaut. Durch eine Hemmung des Abbaus von cGMP kann die lokale Erhöhung der cGMP-Spiegel verstärkt und verlängert werden, sodass es entsprechend zu einer Verstärkung und Verlängerung der Erektion kommt. Dies wird mit Phosphodiesterasehemmern wie Sildenafil für die Therapie der erektilen Dysfunktion genutzt Kap. ► 2.3, und Kap. ► 2.1.

Die Ejakulation wird überwiegend durch den Sympathikus kontrolliert (► Abb. 1.1c und ► Abb. 1.3). Sympathische Nervenfasern gelangen aus dem Ejakulationszentrum des Rückenmarks (Segmente Th12–L2) über den sympathischen Grenzstrang und den Plexus hypogastricus inferior zu Nebenhoden, Samenleiter, Bläschendrüse und Prostata. Eine Erregung dieser Fasern führt zur Kontraktion der glatten Muskulatur in diesen Organen und dadurch zur Abgabe des Ejakulats in die Harnsamenröhre (Emission). Unterstützt durch die rhythmische Kontraktion der quergestreiften Schwellkörpermuskulatur (M. bulbospongiosus) bei gleichzeitigem Verschluss des inneren Blasenschließmuskels (M. sphincter urethrae internus) kommt es zur kraftvollen Ejakulation (► Abb. 1.3). Die Ejakulation kann von einem subjektiven Gefühl des Höhepunkts (Orgasmus) begleitet sein.

Genitalorgane, neuronale Versorgung.

Abb. 1.3 Neuronale Regulation der Genitalorgane. (Quelle: Gekle et al. Taschenatlas Physiologie. Stuttgart: Thieme; 2010)

1.2.5.2 Weibliche Genitalorgane

Die neuronale Kontrolle der Funktion der äußeren weiblichen Genitalorgane ist weniger gut untersucht. Sie erfolgt auf spinaler Ebene analog zur Regulation der äußeren männlichen Genitalorgane. Sensible Erregungen werden überwiegend von der Klitoris, aber auch von der gesamten Perinealregion über den N. pudendus zum Rückenmark (Segmente S2–4) geleitet und nach Weiterleitung in das Gehirn meist als sexuell stimulierend wahrgenommen. Bereits auf Rückenmarkebene erfolgt ebenfalls eine Verschaltung auf parasympathische Neurone, die über eine Regulation der Durchblutung zu einer Vergrößerung der Schwellkörper (Klitoris und Bulbus vestibuli) und der vaginalen Venenplexus sowie zur Sekretion der Vorhofdrüsen führt (► Abb. 1.2). Der Orgasmus der Frau ist begleitet von Kontraktionen der willkürlichen Beckenboden- und Schwellkörpermuskulatur, die durch somatomotorische Fasern des N. pudendus erregt wird. Er wird erlebt als ein schönes und überwältigendes Gefühl der Erfüllung.

Bei beiden Geschlechtern werden bei sexueller Erregung und Orgasmus in der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) auch Hormone wie Prolaktin und Oxytocin ausgeschüttet, die für Aspekte des emotionalen Erlebens und der Partnerbindung verantwortlich gemacht werden (Kap. ► 1.3). Erhöhte Oxytocinspiegel können die Kontraktion der glatten Muskulatur in den inneren Genitalorganen unterstützen und beim Uterus Kontraktionen auslösen, die auch nach dem Orgasmus noch spürbar sind.

1.2.6 Phasen der Sexuellen Reaktion

Der sexuelle Reaktionszyklus wird klassisch in 4 Phasen eingeteilt:

Erregungsphase,

Plateauphase,

Orgasmusphase und

Rückbildungsphase.

Heute wird häufig eine vorausgehende Phase des Verlangens (Appetenzphase) dazugezählt. Diese Phasen werden grundsätzlich bei Männern und Frauen ähnlich durchlaufen, wobei es bei Frauen eine größere Variabilität in der Ausprägung der Phasen gibt. Im sexuellen Erleben werden sie nicht als getrennte Phasen, sondern als ein Kontinuum wahrgenommen.

1.2.6.1 Erregungsphase

Die Erregungsphase ist von deutlichen körperlichen Reaktionen begleitet. Beim Mann entwickelt sich eine Erektion und zusätzlich kann es schon zur Sekretion der Cowper-Drüsen (s. o.) kommen. Auch bei der Frau kommt es zu einer Steigerung der Blutfülle in den Schwellkörpern mit einer Erektion der Klitoris und einer Schwellung der Labien. Zusätzlich wird über das Vaginalepithel eine Flüssigkeit (Transsudat) abgegeben, die zu einer Befeuchtung der Vagina führt. Die Reaktionen der Erregungsphase sind nicht auf die Genitalorgane beschränkt. Blutdruck und Puls steigen leicht an. Es kommt zu einer Erektion der Brustwarzen (Mamillen) und manchmal wird eine regionale Hautrötung („sex flush“) beobachtet. Die Erregungsphase dauert in Abhängigkeit von der Situation unterschiedlich lang. Sie kann einige Minuten, aber auch über 1 h dauern.

1.2.6.2 Plateauphase

Die Erregungsphase geht in eine Plateauphase über, wenn ein Erregungsgrad erreicht ist, bei dem es zum Orgasmus kommen kann. Beim Mann sezernieren die Cowper-Drüsen ein Präejakulat. Puls und Blutdruck steigen noch weiter an. Bei der Frau werden die venösen Plexus der Vaginalwand stärker durchblutet und schwellen v.a. im mündungsnahen Bereich der Vagina an (orgastische Manschette). Der Scheideneingang und -vorhof werden zusätzlich durch die Sekretion der Vorhofdrüsen befeuchtet und die Klitoris wird wieder unter ihre Vorhaut zurückgezogen.

1.2.6.3 Orgasmusphase

Der Orgasmus ist der Höhepunkt des sexuellen Erlebens. Bei beiden Geschlechtern kommt es zu rhythmischen Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur. Beim Mann wird der Orgasmus in der Regel von einer Ejakulation (s.o.) mit Kontraktionen der glatten Muskulatur von Samenleitern und akzessorischen Geschlechtsdrüsen begleitet. Die rhythmischen Kontraktionen dauern oft nur einige Sekunden bevor die Rückbildungsphase einsetzt. Bei der Frau kommt es zu etwa 3–15 Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur und der glatten Muskulatur der Vaginalwand. Der Orgasmus ist bei manchen Frauen von einer Sekretion der Skene-Drüsen begleitet. Die Erregung kann auf hohem Niveau erhalten bleiben, sodass mehrere Orgasmen in kurzer Folge möglich sind. Auch die begleitenden körperlichen Reaktionen erreichen mit einem Anstieg von Blutdruck, Puls- und Atemfrequenz, „sex flush“ und Schweißsekretion einen Höhepunkt.

1.2.6.4 Rückbildungsphase

Die Rückbildungsphase ist durch eine Abnahme der sympathischen und parasympathischen Erregung gekennzeichnet. Es kommt zur Abnahme der Durchblutung der Schwellkörper und zu deren Erschlaffung (Detumeszenz). Gleichzeitig setzt eine allgemeine Entspannung ein. Vor allem bei Männern folgt eine Phase, in der eine erneute Erektion unwahrscheinlich ist (Refraktärzeit).

1.2.7 Entwicklung der äußeren Genitalorgane und Intersexualität

Das genetische (chromosomale) Geschlecht wird durch die Geschlechtschromosomen der Spermien (X oder Y) bei der Befruchtung festgelegt. Während der Embryonalentwicklung entsteht zunächst eine primitive Anlage der äußeren Genitalorgane, die für beide Geschlechter gleich ist. Bei der weiteren embryonalen und postnatalen Entwicklung der Genitalorgane kann es zu Störungen der Geschlechtsdifferenzierung kommen, sodass Mischformen zwischen weiblichem und männlichem Phänotyp entstehen (strukturelle Intersexualität, Kap. ► 2.11).

Die gemeinsame primitive Anlage der äußeren Genitalorgane entsteht während der frühen Embryonalentwicklung bis zum Alter von 5–7 Wochen. Sie besteht aus einem unpaaren Genitalhöcker sowie den paarigen Genitalfalten und Genitalwülsten, die den Sinus urogenitalis, die gemeinsame Mündung von Harn- und Genitaltrakt, seitlich begrenzen (► Abb. 1.4). Bereits in der 10. Woche haben sich diese Strukturen geschlechtsspezifisch weiterentwickelt.

Bei den weiblichen Föten differenziert sich der Genitalhöcker zur Klitoris, während sich die Genitalfalten und -wülste zu den Labia minora und -majora weiterentwickeln und den Scheidenvorhof mit der Öffnung der Scheide und der Mündung der Harnröhre umfassen (► Tab. 1.1). Strukturell bleibt dabei eine Ähnlichkeit zur primitiven Genitalanlage erhalten.

Tab. 1.1

 Übersicht über die Geschlechtsdifferenzierung.

Weibliche Differenzierung

Embryonale Anlage

Männliche Differenzierung

Klitoris mit Crus clitoridis

Genitalhöcker

Corpora cavernosa mit den Crura penis

Labia minora mit Bulbus vestibuli

Genitalfalten

Corpus spongiosum mit der Glans penis

Labia majora

Genitalwülste

Scrotum

Bei den männlichen Föten verlängert sich der Genitalhöcker und differenziert zum Corpus cavernosum. Die seitlich davon gelegenen Genitalfalten schließen sich nach unten um den Sinus urogenitalis, fusionieren dort und entwickeln sich weiter zum Corpus spongiosum, sodass dabei eine verlängerte innerhalb des Corpus spongiosum gelegene Harnröhre entsteht. Genitalhöcker und -falten entwickeln sich damit gemeinsam zum Penis. Auch die beiden Genitalwülste verbinden sich medial und bilden das Scrotum für die spätere Aufnahme der Hoden.

Äußeres Genitale, Entwicklung.

Abb. 1.4 Entwicklung der äußeren Genitalorgane. (Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2005)

Die Ursachen für eine Störung der Geschlechtsentwicklung sind vielfältig und für eine detaillierte Beschreibung muss auf umfangreichere Fachliteratur verwiesen werden. Hier soll nur das Spektrum der Phänotypen exemplarisch dargestellt werden. Störungen der Geschlechtsentwicklung führen zur Ausbildung von Mischformen zwischen Anlagen, die typisch für die männliche oder weibliche Entwicklung sind und können sowohl die inneren als auch die äußeren Genitale betreffen. Neben der sehr seltenen Entwicklung von Personen mit echtem Hermaphroditismus, bei denen Gonadenanlagen beider Geschlechter gebildet werden, gibt es beim Menschen häufiger die Ausbildung eines Pseudohermaphroditismus. Dabei wird das genetische Geschlecht teilweise durch die Ausbildung von Merkmalen des anderen Geschlechts überdeckt (Intersexualität). In Bezug auf die äußeren Genitalorgane kommen in der Ausprägung des Phänotyps Mischformen von rein weiblich bis rein männlich vor. Der Phänotyp der äußeren Genitalorgane bedingt oft die sozial anerkannte Geschlechterzuordnung (Gender) und beeinflusst damit auch die Entwicklung des individuell empfundenen Geschlechts (Geschlechtsidentität).

Beim männlichen Pseudohermaphroditismus (vgl. Kap. ► 2.11 für die Nomenklatur) besteht ein männliches genetisches Geschlecht. Aufgrund einer fehlenden Hemmung der weiblichen Genitalentwicklung oder einer verminderten Testosteronsynthese oder Testosteronwirkung kommt es zur Ausbildung eines überwiegend weiblichen äußeren Genitale mit einem persistierenden Sinus urogenitalis (► Abb. 1.3). In den Hodenanlagen, welche dann häufig in der Leiste liegen (Canalis inguinalis), findet keine reguläre Spermatogenese statt.

Beim weiblichen Pseudohermaphroditismus (vgl. Kap. ► 2.11 für die Nomenklatur) besteht ein weibliches genetisches Geschlecht. Die häufigste Ursache ist das Adrenogenitale Syndrom, bei dem in der Nebennierenrinde meist als Folge eines Enzymdefekts (21-Hydroxylase) vermehrt Androgene produziert werden. Betroffene Frauen (v. a. mit zusätzlich vorliegendem Salzverlustsyndrom) entwickeln unbehandelt ein virilisiertes äußeres Genitale. Die Klitoris ist im Extremfall penisartig vergrößert und die Labia majora sind in der Mittellinie zusammengewachsen (Ausbildung einer Raphe wie bei der Entwicklung des Scrotums,► Abb. 1.3). Der Sinus urogenitalis kann dann zwischen der vergrößerten Klitoris und den fusionierten Labia majora bis auf eine kleine Öffnung eingeengt sein.

1.3 Hormone und neuroendokrine Regulation der Sexualität

H.P. Zahradnik, M. Berner

1.3.1 Einleitung

Das Wissen um