Praxisbuch Sucht -  - E-Book

Praxisbuch Sucht E-Book

0,0
99,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Therapie von Patienten mit Suchterkrankungen

Stoffgebundene und Verhaltenssüchte erfolgreich therapieren – dieses praxisorientierte Buch bringt Anfängern als auch Fortgeschrittenen die Therapie von Patienten mit Suchterkrankungen näher. Es erleichtert Ihnen den Einstieg in die Arbeit der Suchtkrankenversorgung und schafft Grundlage für eine Spezialisierung in Suchttherapie oder Suchtmedizin. Stoffgebundene sowie nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten werden erläutert, wobei der Schwerpunkt auf den häufigsten und stoffgebundenen Süchten liegt.

Der erste Teil behandelt die Entstehung und die Diagnostik sowie psychotherapeutische und medikamentöse Verfahren zur Behandlung von Süchten.

Im speziellen Teil werden alle wesentlichen stoffgebundenen Süchte und Verhaltenssüchte einzeln anhand einer einheitlichen Gliederung vorgestellt – mit Besonderheiten in der Therapie von Jugendlichen. So erhalten Sie eine umfassende und aktuelle Darstellung des momentanen Forschungsstandes und die Empfehlungen von Experten im Bereich der Suchttherapie und Suchtforschung.

Diese Neuauflage ist komplett überarbeitet und aktualisiert, enthält neue Substanzen und Verfahren und umfassendere Informationen zu Verhaltenssüchten. Neben den breiten Einsatzmöglichkeiten im Behandlungsalltag eignet sie sich zur Prüfungsvorbereitung auf die Qualifikation „Suchtmedizinische Grundversorgung“.

Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Mit der kostenlosen eRef App haben Sie zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 910

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Praxisbuch Sucht

Therapie der stoffgebundenen und Verhaltenssüchte im Jugend- und Erwachsenenalter

Herausgegeben von

Anil Batra, Oliver Bilke-Hentsch

Mit Beiträgen von

Michael Berner, Gallus Bischof, Ralf Demmel, Silke Diestelkamp, Kenneth M. Dürsteler, Andreas Gantner, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Martin Grosshans*, Stefan Gutwinski, Martin Hautzinger, Ursula Havemann-Reinecke, Andreas Heinz, Leopold Hermle, Eva Hoch, Falk Kiefer, Charlotte Kläusler-Senn, Jens Kleinert, Anne Koopmann, Eva Kuhn (geb. Voth)*, Johannes Lindenmeyer, Peter Lindinger, Karl Mann*, Astrid Müller, Christian Müller*, Kai W. Müller, Götz Mundle, Kay Uwe Petersen, Michael Rath, Olaf Reis, Bruno Rhiner, Nina Romanczuk-Seiferth, Norbert Scherbaum, Hannah Maren Schmidt*, Stephan Stevens*, Rainer Thomasius, Edelhard Thoms, Marc Vogel, Friederike D. Wernz, Klaus Wölfling

*Autoren aus Vorauflage

3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

28 Abbildungen

Vorwort zur 3. Auflage

Wenn die Herausgeber sowie die Autorinnen und Autoren der nunmehr 3. Auflage des „Praxisbuch Sucht“ auf die letzten 10 Jahre seit Erscheinen der Erstauflage zurückblicken, sind die wissenschaftlichen und klinischen Fortschritte für die Patientinnen und Patienten beachtlich.

Wie bereits in der 2. Auflage festzustellen war, haben sich im Bereich der Grundlagenforschung, des sozialen und klinischen Verständnisses, aber auch insbesondere der Therapiemethoden trotz des allgemeinen Kostendrucks und der Ökonomisierung in den psychosozialen und medizinischen Bereichen deutliche Verbesserungen und Differenzierungen ergeben.

Bestimmte wellenartige Verläufe von Nutzungsmustern, Preis- und Marktentwicklungen, aber auch Modeerscheinungen machen es für die Suchtmedizin notwendig, über alle Suchtformen und alle Suchtmittel gleichermaßen informiert zu sein und somit stets auf soziale und gesellschaftliche Gegebenheiten reagieren zu können.

Die Opiatwelle in den USA oder die weite Verbreitung von Kokain als leistungssteigernder Droge seien hier nur als Beispiele genannt. Ebenso ändern sich auch dank empirischer Befunde, gesellschaftlicher oder politischer Haltungen Grundeinstellungen der Fachpersonen beispielsweise gegenüber dem Gefährlichkeitspotenzial von Cannabis oder von Computer-Games im Vergleich zum Gefährlichkeitspotenzial von sozialen Medien.

Die sog. stoffungebundenen Süchte sind mittlerweile auch durch die Klassifizierungen im DSM-5 und jetzt in der ICD-11, aber vor allem durch die Grundlagenergebnisse in Bezug auf die Ähnlichkeiten mit den stoffgebundenen Süchten integraler Bestandteil der Suchtmedizin und Suchtpsychiatrie, weswegen sie auch in dieser 3. Auflage integriert werden.

Mit der Weiterentwicklung der störungsspezifischen Psychotherapie, die auch die Funktionalität des Konsums in den „therapeutischen Fokus“ nimmt, hat die Diagnostik und Behandlung einer psychiatrischen Komorbidität an Bedeutung gewonnen.

Ab Frühjahr 2020 ist nun auch für die Medizin und Psychiatrie der Suchterkrankungen mit der Covid-SARS-2-Pandemie ein weiterer gravierender und sicher noch länger wirksamer Risikofaktor hinzugetreten. Auch wenn es erste empirische Ergebnisse zu den Auswirkungen der Covid-Pandemie auf Patientengruppen mit Abhängigkeitsstörungen gibt, lässt sich Anfang 2022 hier kein vollständiges Bild darstellen, weswegen Herausgeber und Autoren auf hypothetische Annahmen verzichtet haben. Die Auswirkung auf die Verfügbarkeit suchtspezifischer Beratungs- und Behandlungsangebote sind spürbar: Die Pandemie hat immerhin zu einer begrüßenswerten Zunahme onlinebasierter Angebote geführt – eine Entwicklung, die immer noch im Fluss ist und die Chance beinhaltet, auch bei einer ungünstigen Infrastruktur niederschwellige Angebote aufbauen zu können.

Es wird Aufgabe der Diagnostiker, Berater und Therapeuten sein, auch die weiteren Auswirkungen der Pandemie mit in die jeweiligen individuellen Interventionsansätze zu integrieren und auf diese Weise das mittlerweile erreichte hohe Niveau der Behandlung von Menschen mit Suchterkrankungen zu sichern und weiterzuentwickeln.

Tübingen, Luzern/Schweiz im Sommer 2022 Batra, Bilke-Hentsch

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Vorwort zur 3. Auflage

1 Allgemeine Grundlagen

1.1 Diagnostik und Klassifikation

1.1.1 Einleitung

1.1.2 Allgemeine störungsbezogene Diagnostik

1.1.3 Spezielle Diagnostik im Kindes- und Jugendalter

1.1.4 Literatur

1.2 S3-Leitlinien in der Behandlung von Menschen mit Suchterkrankungen

1.2.1 Systematik von Behandlungsleitlinien

1.2.2 Geschichte der Behandlungsleitlinien für die evidenzbasierte Suchtmedizin

1.2.3 Vor- und Nachteile, Problematik der Aktualität von Leitlinien

1.2.4 Literatur

1.3 Suchtentwicklung: Einflussfaktoren, Entwicklungsdynamik

1.3.1 Risiken und Schutzfaktoren

1.3.2 Entwicklungsdynamische Aspekte

1.3.3 Literatur

1.4 Biologische Grundlagen der Suchtentwicklung

1.4.1 Einleitung

1.4.2 Substanzgebrauchsstörungen

1.4.3 Nicht substanzbezogene Störungen

1.4.4 Literatur

1.5 Lerntheoretische Konstrukte zur Erklärung der Suchtentwicklung

1.5.1 Einleitung

1.5.2 Lern- und Anpassungsprozesse in initialen Konsumphasen

1.5.3 Psychotrope Substanzen als Verstärker

1.5.4 Kognitive Einflüsse auf die Substanzwirkung

1.5.5 Wirkungsveränderungen psychotroper Substanzen durch habituellen Konsum

1.5.6 Besonderheiten bei Verhaltenssüchten

1.5.7 Literatur

1.6 Neuropsychologische Aspekte der Entwicklung von substanzungebundenen Süchten

1.6.1 Einleitung

1.6.2 Ähnlichkeiten in Vulnerabilitäten und Charakteristiken von Verhaltenssüchten

1.6.3 Neuroadaptionen des dopaminergen Verstärkungssystems beruhen auf Lernmechanismen

1.6.4 Lernmechanismen führen zu automatisierten Handlungsroutinen – verankert im Suchtgedächtnis

1.6.5 Sensitivierung des Belohnungssystems – Korrelat des Suchtgedächtnisses

1.6.6 Frühe und späte Phasen in der Ätiologie von Verhaltenssüchten – I-PACE-Modell

1.6.7 Literatur

1.7 Grundzüge der Systemischen Suchtbehandlung

1.7.1 Frühe familientherapeutische Sicht

1.7.2 Behandlungsgründe

1.7.3 Ansätze

1.7.4 Definition und theoretische Prämissen

1.7.5 Stärken

1.7.6 Therapeutische Grundhaltung und Beziehung

1.7.7 Methoden

1.7.8 Literatur

1.8 Motivationstheorien

1.8.1 Einleitung

1.8.2 Traditionelle Vorstellung von Behandlungsmotivation

1.8.3 Intrapsychische Motivationstheorien

1.8.4 Interpersonelle Motivationstheorien

1.8.5 Verhaltensökonomische Motivationstheorie

1.8.6 Literatur

2 Psychotherapeutische Verfahren

2.1 Psychoedukation

2.1.1 Einleitung

2.1.2 Anwendung

2.1.3 Bibliotherapie

2.1.4 Webbasierte und interaktive Programme

2.1.5 Ziele

2.1.6 Literatur

2.2 Motivational Interviewing – Psychotherapie auf Augenhöhe

2.2.1 Definition

2.2.2 Therapeutische Beziehung

2.2.3 Change Talk

2.2.4 Sustain Talk (Konfrontation vermeiden)

2.2.5 Sustain Talk (Widerstände abschwächen)

2.2.6 Confidence Talk (Zuversicht fördern)

2.2.7 Literatur

2.3 Kognitive Therapie

2.3.1 Einleitung

2.3.2 Grundlagen

2.3.3 Gesamtbehandlungsplan

2.3.4 Literatur

2.4 Cue Exposure

2.4.1 Theoretischer Hintergrund

2.4.2 Paradigma

2.4.3 Konkrete Durchführung der Exposition in vivo

2.4.4 Kontraindikationen

2.4.5 Empirische Erfolgskontrolle

2.4.6 Literatur

2.5 Cognitive Bias Modification (CBM)

2.5.1 Theoretischer Hintergrund

2.5.2 Paradigma

2.5.3 Konkrete Durchführung

2.5.4 Kontraindikationen

2.5.5 Empirische Erfolgskontrolle

2.5.6 Ausblick

2.5.7 Literatur

2.6 Dritte-Welle-Verfahren

2.6.1 Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention – das MBRP-Programm

2.6.2 Dialektisch-Behaviorale Therapie der Sucht (DBT-S)

2.7 Psychodynamisch orientierte Therapieformen

2.7.1 Einleitung

2.7.2 Psychodynamische Aspekte der Therapie

2.7.3 Literatur

2.8 Multidimensionale Familientherapie (MDFT)

2.8.1 Einleitung

2.8.2 Evidenzbasiertes systemisches Behandlungsmodell

2.8.3 Interventionen in 4 Subsystemen

2.8.4 Therapeutische Sitzungen, Settings und Kontakte

2.8.5 Qualifizierung von MDFT-Teams

2.8.6 Transfer in Deutschland

2.8.7 Literatur

2.9 Multisystemische Therapie

2.9.1 Einleitung

2.9.2 Allgemeines Assessment

2.9.3 Risikofaktoren für Substanzmissbrauch und Behandlungskonsequenzen

2.9.4 Bedarfsanalyse

2.9.5 Einführen von Contingency Management und Einbezug der Eltern

2.9.6 Literatur

2.10 Angehörigenarbeit, Familien- und Paartherapie

2.10.1 Einleitung

2.10.2 Interventionsformen

2.10.3 Literatur

2.11 Community Reinforcement and Family Training (CRAFT)

2.11.1 Einleitung

2.11.2 Ziele

2.11.3 Methoden

2.11.4 Wirksamkeit

2.11.5 Literatur

3 Stoffgebundene Süchte

3.1 Alkohol

3.1.1 Substanzcharakteristik, Wirkungen und Nebenwirkungen

3.1.2 Epidemiologie und soziokulturelle Besonderheiten

3.1.3 Abhängigkeitsentwicklung

3.1.4 Therapie bei Erwachsenen

3.1.5 Akuttherapie bei Kindern und Jugendlichen

3.1.6 Literatur

3.2 Tabak

3.2.1 Substanzcharakteristik, Wirkungen und Nebenwirkungen

3.2.2 Epidemiologie und soziokulturelle Besonderheiten

3.2.3 Abhängigkeitsentwicklung

3.2.4 Motivierung zur Veränderung und Abstinenz

3.2.5 Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums

3.2.6 Literatur

3.3 Cannabis

3.3.1 Substanzcharakteristik

3.3.2 Wirkungen und Nebenwirkungen

3.3.3 Epidemiologie und soziokulturelle Besonderheiten

3.3.4 Abhängigkeitsentwicklung

3.3.5 Akuttherapie

3.3.6 Postakutbehandlung

3.3.7 Literatur

3.4 Opiate und Opioide

3.4.1 Substanzcharakteristik

3.4.2 Wirkungen und Nebenwirkungen

3.4.3 Epidemiologie

3.4.4 Abhängigkeitsentwicklung

3.4.5 Akuttherapie

3.4.6 Postakuttherapie

3.4.7 Prognose der Opiat(Heroin)abhängigkeit

3.4.8 Literatur

3.5 Polytoxikomanie

3.5.1 Charakteristik

3.5.2 Epidemiologie

3.5.3 Abhängigkeitsentwicklung

3.5.4 Therapie

3.5.5 Prognose

3.5.6 Literatur

3.6 Kokain

3.6.1 Einleitung

3.6.2 Epidemiologie

3.6.3 Konsumformen

3.6.4 Pharmakokinetik

3.6.5 Wirkung

3.6.6 Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen

3.6.7 Akutbehandlung

3.6.8 Postakutbehandlung

3.6.9 Literatur

3.7 Amphetamin, Methamphetamin und weitere amphetaminähnliche Stimulanzien

3.7.1 Chemie

3.7.2 Geschichtlicher Exkurs und medizinische Anwendungen

3.7.3 Epidemiologie

3.7.4 Konsummuster und soziokulturelle Besonderheiten

3.7.5 Neurobiologische, psychische und somatische Akutwirkungen

3.7.6 Chronische Wirkungen

3.7.7 Therapie

3.7.8 Besonderheiten bei Jugendlichen

3.7.9 Literatur

3.8 Ecstasy

3.8.1 Substanzcharakteristik

3.8.2 Wirkungen und Nebenwirkungen

3.8.3 Epidemiologie

3.8.4 Abhängigkeitsentwicklung

3.8.5 Akuttherapie

3.8.6 Postakuttherapie

3.8.7 Literatur

3.9 Sedativa und Hypnotika

3.9.1 Einleitung

3.9.2 Epidemiologie

3.9.3 Substanzcharakteristik, Wirkungen und Nebenwirkungen

3.9.4 Abhängigkeitsentwicklung

3.9.5 Akuttherapie

3.9.6 Ärztliche Prophylaxe einer iatrogen begünstigten Medikamentenabhängigkeit

3.9.7 Literatur

3.10 Biodrogen

3.10.1 Substanzcharakteristik

3.10.2 Epidemiologie

3.10.3 Halluzinogeninduzierte psychische Störungen

3.10.4 Akuttherapie

3.10.5 Postakuttherapie

3.10.6 Literatur

3.11 Gammahydroxybuttersäure und Gammabutyrolacton (Liquid Ecstasy)

3.11.1 Substanzcharakteristik

3.11.2 Wirkungen und Nebenwirkungen

3.11.3 Epidemiologie und soziokulturelle Besonderheiten

3.11.4 Abhängigkeitsentwicklung

3.11.5 Akuttherapie

3.11.6 Postakuttherapie

3.11.7 Literatur

3.12 Neue synthetische Drogen (Legal Highs) und Partydrogen

3.12.1 Substanzcharakteristik

3.12.2 Wirkungen und Nebenwirkungen

3.12.3 Epidemiologie

3.12.4 Akuttherapie

3.12.5 Postakuttherapie

3.12.6 Literatur

4 Stoffungebundene Süchte/Verhaltenssüchte

4.1 Glücksspielsucht

4.1.1 Charakteristik, Wirkungen und Nebenwirkungen

4.1.2 Epidemiologie und soziokulturelle Besonderheiten

4.1.3 Abhängigkeitsentwicklung

4.1.4 Akuttherapie

4.1.5 Postakutbehandlung

4.1.6 Weitere niederschwellige Behandlungsangebote

4.1.7 Literatur

4.2 Störung durch Computerspielen und Internetnutzungsstörungen

4.2.1 Definition

4.2.2 Virtuelle Welten im Internet

4.2.3 Spezifische Epidemiologie

4.2.4 Klinische Symptomatik

4.2.5 Komorbidität

4.2.6 Störungsmodelle

4.2.7 Diagnostik

4.2.8 Therapie

4.2.9 Prognose und Ausblick

4.2.10 Literatur

4.3 Suchtartiges Kaufverhalten

4.3.1 Definition

4.3.2 Klassifikation

4.3.3 Epidemiologie

4.3.4 Klinische Symptomatik

4.3.5 Komorbidität

4.3.6 Störungsmodelle

4.3.7 Diagnostik

4.3.8 Therapie

4.3.9 Literatur

4.4 Exzessives Sexualverhalten – sexuelle Impulskontrollstörung

4.4.1 Einleitung und Definition

4.4.2 Epidemiologie

4.4.3 Klinische Symptomatik

4.4.4 Komorbidität

4.4.5 Klassifikation

4.4.6 Ätiologie und Störungsmodelle

4.4.7 Diagnostik

4.4.8 Therapie

4.4.9 Literatur

4.5 Sportsucht und suchtartiges Bewegungsverhalten

4.5.1 Charakteristik und Formen

4.5.2 Epidemiologie der Sportsucht

4.5.3 Abhängigkeitsentwicklung

4.5.4 Diagnostik

4.5.5 Therapie

4.5.6 Ausblick

4.5.7 Literatur

4.6 Arbeitssucht

4.6.1 Definition

4.6.2 Klassifikation

4.6.3 Epidemiologie

4.6.4 Klinische Symptomatik

4.6.5 Komorbidität

4.6.6 Störungsmodelle

4.6.7 Diagnostik

4.6.8 Therapie

4.6.9 Literatur

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum/Access Code

1 Allgemeine Grundlagen

1.1 Diagnostik und Klassifikation

Oliver Bilke-Hentsch, Anil Batra

1.1.1 Einleitung

Eine eingehende multiaxiale Diagnostik auf verschiedenen klinischen Ebenen hat für die Therapieplanung bei Patienten mit substanzbezogenen Störungen, d.h. riskantem, schädlichem oder abhängigem Konsum, eine große Bedeutung. Häufig vorkommende Vorstellungsanlässe mit akuter krisenhafter Zuspitzung (schwere Intoxikation, pathologischer Rausch, Suizidalität, aggressive Durchbrüche, delirante Zustände) und soziale Notlagen (drohende Ausschulung, Arbeitsplatzverlust, Zerbrechen der Partnerschaft, Scheidungen usw.) lassen im klinischen Alltag aufgrund des Handlungsdrucks beim ersten Kontakt oft eine breit und sorgfältig angelegte Diagnostik zur langfristigen Interventionsplanung in den Hintergrund treten.

Daher betonen die Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften die Notwendigkeit einer standardisierten Diagnostik, eine operationalisierte Klassifikation und Erfassung aller relevanten komorbiden Störungen. Trotz der aktuellen Überarbeitung in der ICD-11 stellen die ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, International Classification of Diseases, Version 10) der WHO (Weltgesundheitsorganisation) ▶ [8] sowie im angloamerikanischen Sprachraum und auch im Forschungskontext das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of mental Disorders, Version 5) ▶ [10] die Grundlage der auch sozialrechtlich relevanten Diagnostik und Klassifikation dar.

Ergänzt werden diese Klassifikationssysteme sinnvollerweise durchklinische Interviews, standardisierte, möglichst veränderungssensitive symptom- und syndrombezogene Fragebögen und insbesondere im Kinder- und Jugendbereich auch durch fremdanamnestische Instrumente, z.B. CBCL (Child Behaviour Checklist), TRF (Teacher Report Form), sowie durch familiendiagnostische Verfahren.

Daneben gehört selbstverständlich eine eingehende allgemein-körperliche und neurologische Untersuchung dazu, nicht nur in Bezug auf aktuelle somatische Symptome, sondern auch auf chronifizierende Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Hauterkrankungen. Die körperliche Ebene stellt ▶ im multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter mit einer eigenen Achse je nach Einzelfall einen diagnostischen und interventionellen Schwerpunkt dar.

1.1.2 Allgemeine störungsbezogene Diagnostik

1.1.2.1 ICD-10 und DSM-5

Die ICD-10 kennzeichnet mit dem Code „F1“ substanzbezogene Störungen. Die Differenzierung der verschiedenen Substanzen wird mit der 2. Stelle festgelegt (F1x; ▶ Tab. 1.1 ).

Tab. 1.1 

Klassifikation der substanzbezogenen Störungen nach ICD-10.

Klassifikation

Substanz

F10

Alkohol

F11

Opioide

F12

Cannabinoide

F13

Sedativa/Hypnotika

F14

Kokain

F15

Stimulanzien einschließlich Coffein

F16

Halluzinogene

F17

Tabak

F18

flüssige Lösungsmittel

F19

multipler Substanzgebrauch, Konsum anderer psychotroper Substanzen

Konsumassoziierte Zustände werden auf der 3. Stelle kodiert (F1x.y). Unterschieden werden dabei folgende Zustände:

F1x.0: akute Intoxikationen

F1x.1: schädlicher Gebrauch

F1x.2: Abhängigkeitssyndrom

F1x.3: Entzugssyndrom

F1x.4: Entzugssyndrom mit Delir

F1x.5: psychotische Störung während oder nach dem Substanzgebrauch

F1x.6: amnestisches Syndrom mit einer andauernden Beeinträchtigung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses infolge eines Substanzmittelkonsums

F1x.7: Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten, des Affekts, der Persönlichkeit oder des Verhaltens (z.B. Alkoholdemenz, Flashbacks)

F1x.8: sonstige psychische und Verhaltensstörungen

F1x.9: nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörungen

Ein schädlicher Gebrauch nach ICD-10 wird diagnostiziert, wenn der Substanzkonsum verantwortlich für körperliche, psychische und interpersonelle Konsequenzen ist, eine klar beschreibbare Schädigung vorliegt und die übrigen, nachfolgend beschriebenen Merkmale einer Abhängigkeit nicht erfüllt sind.

Eine Abhängigkeitserkrankung ist charakterisiert durch eine Unfähigkeit zur Abstinenz, einen Verlust der Kontrolle über den geregelten Substanzkonsum, eine Toleranzentwicklung bezüglich der Substanzwirkungen und das Auftreten körperlicher Entzugssymptome ▶ [13].

Merke

Diagnostische Merkmale der Substanzabhängigkeit nach ICD-10

starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren

verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Substanzkonsums

körperliches Entzugssyndrom bei Absetzen oder Reduktion des Substanzkonsums oder Substanzkonsum mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern

Nachweis einer Toleranz (um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen zu erzielen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich)

fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen

anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen

Bei Vorliegen von 3 dieser 6 Kriterien im Verlauf der letzten 12 Monate ist von einer Abhängigkeit auszugehen.

Das DSM-5 hat nach eingehenden kontroversen Diskussionen die bis 2013 klare kategoriale Aufteilung der substanzbezogenen Störungen aus dem DSM-IV (Einteilung von „Sucht und verwandte Störungen“ in „abhängig“ versus „nicht abhängig“ bzw. „missbräuchlichen“ oder „riskanten“ Konsum aufgegeben und eine „quasi-dimensionale“ Einteilung in „mild“, „moderat“ und „schwer“ vorgenommen. Die Störungsdiagnose berücksichtigt nunmehr eine größere Zahl von insgesamt 11 Kriterien.

Merke

Diagnostische Merkmale substanzbezogener Störungen nach DSM-5

wiederholter Substanzgebrauch, der zum Versagen bei wichtigen Verpflichtungen in der Schule, bei der Arbeit oder zuhause führt

wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann

fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme

Toleranzentwicklung charakterisiert durch ausgeprägte Dosissteigerung oder verminderte Wirkung unter derselben Dosis

Entzugssymptome oder deren Linderung bzw. Vermeidung durch Substanzkonsum

Einnahme der Substanz in größeren Mengen oder länger als geplant

anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren

hoher Zeitaufwand für Beschaffung und Konsum der Substanz oder um sich von ihren Wirkungen zu erholen

Aufgabe oder Einschränkung wichtiger Aktivitäten aufgrund des Substanzkonsums

fortgesetzter Konsum trotz körperlicher oder psychischer Probleme

Craving (starkes Verlangen nach der Substanz)

Sind 2–3 dieser Kriterien erfüllt, sind die Voraussetzungen für die Diagnose einer „milden Störung“ gegeben, bei 4–5 Kriterien liegt eine „moderate Störung“ vor, bei mehr als 5 Kriterien eine „schwere Störung“.

Die Vor- und Nachteile der Einteilung im DSM-5 können kontrovers diskutiert werden: Einerseits wird betroffenen Personen schon früher ein Zugang in das Hilfesystem gewährt, und die Entstigmatisierung der Sucht wird vorangetrieben, andererseits werden die beschränkten Ressourcen zwischen Personen mit einer schweren Störung und solchen mit leichteren Formen der Erkrankung aufgeteilt. In jedem Fall wird die künftige suchtbezogene Forschung am Menschen auf der Basis der geänderten Kriterien nicht ohne weiteres mit bisherigen Befunden vergleichbar sein.

1.1.2.2 ICD-11

Die 11. Revision der ICD wurde durch die WHO im Mai 2019 verabschiedet. Seither läuft der Umsetzungsprozess. Auch wenn der Start in Deutschland für Januar 2022 geplant wurde, werden die Überführung des bisherigen Systems und die Einführung der Verschlüsselungsroutinen noch Jahre dauern. Die ICD-11 sieht eine etwas andere Hierarchisierung und Kodierung der Störungsbilder vor.

Was wird sich ändern?

In der ICD-11 wurden substanzbezogene Störungen sowie verhaltensbezogene Abhängigkeitserkrankungen definiert und zusammengefasst. Neben den bekannten Stoffgruppen wurden auch die Stoffklassen aus der ICD-10-Kategorie F55 hier verortet. Die stoffungebundenen Abhängigkeiten werden differenziert in Glücksspiel (gambling disorder) und Onlinespiel (gaming disorder).

Ein riskanter Konsum (psychoaktive Substanzen: QE11; andere spezifische Substanzen: QE1Y) ist nun im Kapitel „Probleme in Verbindung mit dem Gesundheitsverhalten (ICD-11 24) zu finden. Der riskante Konsum ist durch die Menge und Konsumfrequenz, Konsumart und den Kontext gegeben, wenn dadurch schädliche physische oder psychische Konsequenzen für den Konsumenten oder andere Personen entstehen können, aber noch nicht entstanden sind.

Ein schädlicher Gebrauch (6C4x.1) liegt vor, wenn über mindestens einen Monat kontinuierlich oder aber innerhalb eines Jahres wiederholt ein Gebrauchsmuster besteht, das zu einem Schaden der psychischen oder physischen Gesundheit infolge der Intoxikation, der direkten und indirekten toxischen Effekte oder der schädlichen Art der Substanzaufnahme bei der betroffenen Person oder anderen Personen im Umfeld geführt hat.

Alternativ liegt eine Abhängigkeit (6C4x.2) vor, wenn die folgenden Kriterien im Verlauf der letzten 12 Monate oder bei kontinuierlichem Konsum innerhalb eines Monats vorliegen:

starker innerer Drang oder Craving, Substanzen zu konsumieren

eingeschränkte Fähigkeit zur Kontrolle des Konsums

Priorität des Konsums gegenüber anderen Tätigkeiten

anhaltender Konsum trotz eingetretener Schädigung oder negativer Folgen

Toleranz gegenüber den Auswirkungen der Substanz

Entzugssymptome nach Beendigung oder Verringerung des Konsums oder anhaltender Konsum, um Entzugssymptome zu verhindern oder zu lindern.

Einteilung der Begrifflichkeiten

In der neu erscheinen Leitlinie zur Behandlung medikamentenbezogener Störungen ▶ [7] wurde versucht, die Abgrenzung eines „nicht riskanten“ Konsums von einer Abhängigkeitserkrankung unter Verwendung der in den verschiedenen Klassifikationssystemen verwendeten Begrifflichkeiten darzustellen. Dies macht – auch wenn die Systematik aus den Überlegungen im Zusammenhang mit einem Medikamentenkonsum entstanden ist – die Übergänge deutlich ( ▶ Abb. 1.1).

Systematik der Begrifflichkeiten zu Substanzkonsumstörungen.

Abb. 1.1▶ [7]

1.1.2.3 Standardisierte Interviews

Dazu zählt beispielsweise das CIDI (Composite International Interview), ein strukturiertes klinisches Interview für ICD-10. Standardisierte Interviews sind aus den oben genannten klassifikatorischen Systemen abgeleitet und dienen der systematischen Diagnostik der substanzbezogenen Störung und einer weitergehenden psychiatrischen Komorbidität. Sie sind je nach Fallkonstellation reinen Fragebogenverfahren überlegen.

1.1.2.4 Subklassifikation anhand des Konsummusters

Für einzelne Substanzgruppen liegen seit langem Versuche vor, Subklassifikationen auf der Basis des Konsummusters vorzunehmen. So unterteilt die klassische Einschätzung nach Jellinek ▶ [15] aufgrund des Konsummusters zwischenepisodischem Konsum (Epsilontrinker), Spiegeltrinken (Deltatrinker), kontrollverlustigem Konsum mit erhaltener Fähigkeit zur Abstinenz (Gammatrinker) sowie Alphatrinkern und Betatrinkern ohne Abhängigkeit, jedoch mit funktionellem, gesellschaftlichem bzw. konfliktbezogenem Konsum. Auch im Bereich der Tabakabhängigkeit wird zwischen Personen mit einem Dauerkonsum zur Abwendung von körperlichen Entzugssymptomen (sog. Maintainers) sowie einem intermittierenden intensiven Konsum (sog. Peak Seekers) unterschieden.

In der ebenfalls klassischen Typologie nach Cloninger ▶ [2] wird postuliert, dass der Typ 2 aufgrund einer genetischen Determiniertheit – gekennzeichnet durch einen biografisch früh einsetzenden Konsum und typische Persönlichkeitseigenschaften – mit einer schlechten Prognose einhergeht. Eigene Untersuchungen an Rauchern weisen darauf hin, dass mit psychometrischen Maßen Cluster unterschiedlicher Raucher zu definieren sind, so z.B. Raucher mit einer körperlichen Abhängigkeit oder solche mit einer eher selbstunsicheren, depressiven Struktur ▶ [1]. Auch in diesem Fall sind psychopathologische Merkmale (auch ohne jeweiligen eigenen Krankheitswert) geeignet, um eine langfristig schlechtere Prognose vorherzusagen.

Beide Ansätze sind im klinischen Alltag weiterhin pragmatisch und nützlich, dürfen aber nicht zu einer statischen, deterministischen oder stigmatisierenden „Zuteilung“ von Patienten führen, sondern sind dynamisch dem Krankheitsverlauf anzupassen.

1.1.2.5 Tests zur Selbstbeurteilung

Hilfreich für die Frühdiagnostik und für Frühinterventionen sind auch diagnostische Verfahren, die sich auf Selbstbeurteilungsskalen stützen. Speziell für den Bereich der Alkoholabhängigkeit sei derCAGE-Test▶ [18] erwähnt, der in 4 einfachen Fragen (Cut down Drinking? Annoyance? Guilt? Eye Opener?) als Screeninginstrument mögliche Problemkonsumenten identifiziert. Weitere Verfahren sind der MALT (Münchner Alkoholismustest) oder derMAST (Michigan Alcoholism Screening Test).

1.1.2.6 Tests zur Bestimmung des Konsumschweregrads

Neben der oben beschriebenen kategorialen Diagnostik nach ICD-10/-11, die lediglich zwischen den Bedingungen „abhängig“, „schädlicher Gebrauch“, „riskanter Konsum“ (nur in ICD-11) und „unproblematischer Konsum“ unterscheidet, wurde bereits für einige Substanzgruppen eine dimensionale Diagnostik zur Messung des Schweregrads des Konsums bzw. der körperlichen oder psychischen Abhängigkeit entwickelt.

Beispiele dafür sind derAUDIT (Alcohol Use Disorders Identification Test) ▶ [21] und seine Kurzform AUDIT-C▶ [16], die auch in der deutschen S3-Leitlinie ▶ [6] empfohlen werden.

Alternativen sind der LAST (Lübecker Alkoholismus-Screening-Test) ▶ [20] bei Alkoholkranken oder der FTND (Fagerström Test for Nicotine Dependence bei Rauchern) ▶ [12], der in FTCD (Fagerström Test for Cigarette Dependence; deutsch: Fagerström Test für Zigarettenabhängigkeit [FTZA]) umbenannt wurde ▶ [9]. Auch dieser Fragebogen wird in der aktuell gültigen S3-Leitlinie empfohlen ▶ [5]. Mit diesen Skalen werden differenzielle Therapieplanungen (z.B. die Intensität der Nikotinersatztherapie beim entwöhnungswilligen Raucher in Abhängigkeit vom FTZA-Wert) sowie prognostische Abschätzungen möglich.

1.1.2.7 Interview zur Bestimmung des Konsumschweregrads

Mit demEurop-ASI▶ [11], der europäischen Version des ASI (Addiction Severity Index), eines halbstandardisierten Interviews, werden systematisch Informationen zu allen Lebensbereichen erhoben, die durch den Drogen- oder Alkoholkonsum beeinflusst sein könnten. Der Europ-ASI quantifiziert den Suchtmittelkonsum, erfasst aber auch Folgeerscheinungen im körperlichen, psychischen und psychosozialen Bereich und wird in den letzten Jahren in Klinik und Forschung zunehmend häufiger eingesetzt.

1.1.2.8 Fragebögen zur Bestimmung des Konsumverlaufs

Hilfreich für die retrospektive Erfassung des Konsums sind Fragebögen, die für jeden Tag der vergangenen Periode von 30 Tagen (oder mehr) den täglichen Konsum erfragen; bekanntestes Beispiel ist der TLFB (Timeline Follow-back) ▶ [17].

1.1.2.9 Erfassung der Funktionalität des Konsums

Aus lerntheoretischer bzw. verhaltenstherapeutischer Sicht ist die Erfassung der Funktionalität des Konsums von großer Bedeutung ▶ [23]. Gemeint ist damit zum einen die aus dem Konsum resultierende direkte (Geschmack, Genuss, soziale Kontaktaufnahme, Steigerung der emotionalen Befindlichkeit) und indirekte Verstärkung (Vermeidung von aversiv erlebten Emotionen, Verdeckung innerer Konflikte usw.). Zum anderen interessieren die intraindividuelle und interaktionelle Funktionalität im Sinne einer Möglichkeit, soziale Kontakte zu gestalten, Anforderungen bzw. Überforderungen abzuwehren oder Scham, Schuld oder Überforderungsgefühle zu vermeiden.

1.1.2.10 Fragebögen zur Entzugssymptomatik

Die Messung der Entzugssymptomatik ist häufig klinisch relevant, um die Notwendigkeit einer pharmakologischen Intervention beurteilen zu können. Auch dazu liegen für einzelne Substanzgruppen Fragebögen vor, so z.B. für den Alkoholbereich das CIWA-A (Clinical Institute Withdrawal Assessment for Alcohol) ▶ [22] oder dasAWS (Assessment of the Alcohol Withdrawal Syndrome) ▶ [24].

Für den Entzug bei Rauchern ist derQSU (Questionnaire of Smoking Urges) ▶ [3] geeignet, der z.B. Übelkeit, Erbrechen, Tremor, Schweißausbrüche, Ängstlichkeit, Erregung, Kopfschmerzen, Orientierungs- und Wahrnehmungsstörungen unterschiedlicher Sinnesmodalitäten beschreibt.

1.1.2.11 Erfassung der Motivation zum Ausstieg

Ergänzend zu der Diagnostik bezüglich des Umfangs des Substanzmittelkonsums sind im Rahmen des therapeutischen Prozesses Skalen wichtig geworden, die die Veränderungsbereitschaft oder die Motivation zum Ausstieg aus dem Substanzmittelkonsum untersuchen. Die verfügbaren Skalen orientieren sich häufig an dem tradierten Veränderungsmodell von Prochaska und DiClemente ▶ [19] und identifizieren Diskrepanzen zwischen bestehendem Konsummuster und einem latenten Veränderungswunsch.

Im Rahmen der in vielen Leitlinien für den Einsatz bei noch nicht handlungsmotivierten Konsumenten empfohlenen motivationalen Gesprächstechniken ist die Zuordnung des Stadiums der Veränderungsmotivation (Precontemplation, Contemplation, Action, Maintenance) zu einer spezifischen Intervention vorgesehen, um den Patienten gezielt ansprechen und zu einer Veränderung der Sichtweise oder des Konsums motivieren zu können.

1.1.2.12 Direkte Nachweisverfahren

Auf die Darstellung substanzspezifischer Diagnostika, biologischer Marker für gesundheitsschädlichen Konsum (z.B. Transaminasen, CDT [Carbohydrate-deficient Transferrin] oder das mittlere korpuskuläre Volumen) (Mev) sowie die direkten Nachweise des Substanzkonsums über die Bestimmung von Substanzen bzw. Metaboliten (z.B. Urin-Drogenscreening auf illegale Drogen, Ethylglucuronid) oder Surrogatparametern (z.B. Kohlenmonoxid) wird an dieser Stelle verzichtet.

1.1.3 Spezielle Diagnostik im Kindes- und Jugendalter

1.1.3.1 Leitlinien

Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie▶ [4] stellen den notwendigen Diagnoseprozess dezidiert dar.

Störungsspezifische Diagnostik

Dazu gehört die Befragung des Patienten und seiner Eltern (getrennt und zusammen, eventuell zusätzlich andere Familienmitglieder). Seelisch kranke Jugendliche neigen dazu, ihr Konsumverhalten zu bagatellisieren, und die Eltern sind oft nicht über das volle Ausmaß der Problematik informiert. Es muss in jedem Fall eine differenzierte Analyse des Suchtverhaltens erfolgen. Folgende Punkte sind zu erfragen:

alle konsumierten Substanzen mit Beginn des Konsums sowie des regelmäßigen Konsums, Konsumfrequenz, -dauer und -intensität, Konsumgewohnheiten

subjektiv erlebte erwünschte und unerwünschte Substanzwirkungen, bisher erlebte Entzugssymptomatik

Reduktion bestehender psychotischer Symptome durch Drogenkonsum

Intensität der Beschäftigung mit dem Substanzkonsum, Vernachlässigung früherer Freunde und Hobbys zugunsten von Substanzbeschaffung und -konsum

Vergesellschaftung mit Alkohol- und Drogenkonsumierenden und/oder dissozialen Jugendlichen

bisherige negative Konsequenzen des Substanzkonsums in familiärer, schulischer und psychosozialer Hinsicht

kriminelle Aktivitäten (z.B. Diebstähle, Dealen)

bisherige Strafen wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), Eigentumsdelikten oder aggressiven Gewalthandlungen im Zusammenhang mit Substanzkonsum

körperliche Entgiftungen und Entwöhnungen, Abstinenzphasen

Therapieauflagen vonseiten der Schule, der Eltern selbst oder durch Gerichtsbeschluss

riskantes Sexualverhalten (ungeschützter Sexualverkehr, Promiskuität, Prostitution)

erhöhte Impulsivität

sog. Sensation Seeking oder erheblicher Rückzug

Motivation zur Konsumreduktion oder Abstinenz

Ressourcen des Kindes bzw. Jugendlichen

Einholen von Informationen aus der Schule (mit Einverständnis der Eltern!)

aktueller Leistungsstand

Entwicklung der Leistungen (Leistungsknick?)

Fehlzeiten (entschuldigt und unentschuldigt)

auffälliges Verhalten in der Schule (Übermüdung, Verlangsamung, Geistesabwesenheit im Unterricht, inadäquater Affekt, ungewöhnliche affektive Ausbrüche)

Vergesellschaftung mit bereits als delinquent bekannten Jugendlichen

Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte

In diesem Zusammenhang ist Folgendes zu erheben:

pränatale und Geburtsanamnese (auch mütterlicher Nikotin-, Alkohol- oder Drogenmissbrauch)

medizinische Anamnese, insbesondere Beeinträchtigungen des zentralen Nervensystems bzw. Störungen (z.B. Anfallsleiden, Schädel-Hirn-Traumata, zerebrale Infektionen)

Einnahme von (medizinisch indizierten) Medikamenten

allgemeiner Entwicklungsverlauf einschließlich Schul- und Ausbildungskarriere, Klassen- und Schulwechsel, bisherige Schulabschlüsse, höchstes erreichtes Funktionsniveau

soziale Fertigkeiten und soziale Integration

Vorgeschichte bezüglich körperlichen und/oder sexuellen Missbrauchs, Viktimisierung durch Gleichaltrige

Vorgeschichte bezüglich Stieffamilienstatus, Adoptionen, Unterbringung in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe

Störungsrelevante Rahmenbedingungen

Wichtig sind zudem folgende Punkte, die Rahmenbedingungen betreffend:

Umgang mit Zigaretten, Alkohol, Drogen und Medikamenten in der Familie

psychische Störungen in der Familie (einschließlich Störungen durch psychotrope Substanzen)

innerfamiliäre Beziehungen und Kommunikationsstil

Ressourcen und Bewältigungsmechanismen in der Familie

Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung

Armut oder Verwahrlosung im direkten Wohnumfeld

Einstellungen im Freundeskreis des Jugendlichen zu Zigaretten, Alkohol, Drogen und Substanzgebrauch

wichtigste Bezugsperson des betroffenen Jugendlichen, die sein Vertrauen genießt und durch die er ggf. erreicht werden kann

Apparative, Labor- und Testdiagnostik

Die klinische und apparative Untersuchung sollte folgende Punkte umfassen:

körperliche Untersuchung

Feststellung des Allgemeinzustands (Kleidung, äußeres Erscheinungsbild, Zahnstatus, Einstichstellen, gerötete Augen, vegetative Funktionen; auf Misshandlungszeichen achten!)

Untersuchung auf Infektionen, Skabies, Läuse

neurologische Untersuchung

Bei Verdacht auf Drogenabhängigkeit ist auf folgende Merkmale zu achten:

Pupillen: Miosis (Opiate), Mydriasis (Kokain, Amphetamine, Alkaloide)

Haut: Hautkolorit, Einstichstellen, Spritzenabszesse, Thrombophlebitis

Nase: Ulzerationen, Rhinorrhö

Koordination: Gangstörung, Finger-Nase-Versuch (akute Intoxikation)

Herz: Rhythmusstörungen (Amphetamine, Ecstasy, Kokain)

Testpsychologische Diagnostik

Folgende Tests sollten im Rahmen der psychologischen Differenzial- und Komorbiditätsdiagnostik durchgeführt werden:

Standardfragebogen für Eltern bzw. Lehrer bezüglich des Verhaltens des Kindes bzw. Jugendlichen (CBCL, TRF), eventuell Selbsteinschätzung des Jugendlichen (z.B. Youth Self Report [YSR])

Bestimmung des differenziellen Intelligenzniveaus; bei entsprechenden Hinweisen auch Testdiagnostik bezüglich Teilleistungsstörungen der Sprache und/oder der schulischen Fertigkeiten

Untersuchung der neuropsychologischen Funktionen (in der Regel erst nach einem alkohol- bzw. drogenfreien Intervall)

1.1.3.2 Multiaxiales Diagnoseschema

Das MAS (multiaxiales Diagnoseschema nach ICD-10) umfasst neben der klassischen psychiatrischen Störung auf Achse 1 die weiteren entwicklungspsychiatrisch und therapeutisch relevanten Problembereiche. Zentral ist die systematische Identifizierung weiterer entwicklungspsychopathologischer Symptome und Belastungen in jedem Einzelfall durch folgende entwicklungspsychiatrisch relevante Fragen:

Achse 2: Bestehen spezifische Entwicklungsstörungen, vor allem im Bereich der Sprache, der Schriftsprache oder des Rechnens?

Achse 3: Besteht eine Intelligenzminderung?

Achse 4: Bestehen somatische Bedingungen bzw. Erkrankungen, die einen Substanzmissbrauch begünstigen (z.B. hirnorganische Beeinträchtigungen), oder als Folge des Konsums psychotroper Substanzen (Hepatitis, HIV-Infektion, hirnorganische Störungen)?

Achse 5: Bestehen psychosoziale Belastungsfaktoren, die Substanzmissbrauch begünstigen?

Achse 6: Welches psychosoziale Funktionsniveau besteht aktuell bei dem Kind bzw. Jugendlichen?

1.1.3.3 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter

Unabhängig von der im Einzelfall notwendigen Pharmakotherapie und den sozialpsychiatrischen Maßnahmen sowie den bei vielen Störungsbildern notwendigen Trainingsmethoden bzw. verschiedenen verhaltenstherapeutischen Interventionen ist gerade im Bereich der stationären Jugendhilfe das tiefenpsychologische oder psychodynamische Krankheits- und Störungsmodell bei abhängigkeitserkrankten Jugendlichen stark verbreitet.

Aufbauend auf der Psychoanalyse und ihren vielfältigen Weiterentwicklungen wird dem psychodynamischen Krankheitsmodell aber häufig eine gewisse Beliebigkeit und definitorische Ungenauigkeit zugeschrieben. Aus diesem Grund wurde die OPD-KJ (operationalisierte psychodynamische Diagnostik für Kinder und Jugendliche) entwickelt, in Anlehnung an die OPD des Erwachsenenalters. Sie ist ein Therapieplanungsinstrument, das auf den 4 Achsen „Beziehung“, „Konflikt“, „Struktur“ und „Behandlungsvoraussetzungen bzw. Ressourcen“ mit altersspezifischen operationalisierten Ankerbeispielen ermöglicht, einen psychodynamischen Befund in reliabler und valider Weise so zu erheben, dass unterschiedliche Diagnostiker und Therapeuten zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen kommen, trotz aller späteren therapeutischen Varianten.

Beziehungsachse

Über die Achse „Beziehung“ lässt sich in 3 Schritten das typische dysfunktionale und auch positive Beziehungsverhalten von Jugendlichen erfassen, sei es zum Therapeuten, zu Peers oder zu Familienmitgliedern.

In einem bidimensionalen Modell werden die Mischungsverhältnisse von emotionaler Zugewandtheit, Kontrolle und Unabhängigkeit nach bestimmten Kriterien bewertet, so dass ein differenziertes Bild der unterschiedlichen Beziehungsqualitäten der Jugendlichen entsteht.

Konfliktachse

Auf der Konfliktachse wird – bei ausreichend guter psychischer Struktur – erarbeitet, welche die Entwicklung erheblich hemmenden intrapsychischen Konflikte ein Jugendlicher in sich trägt, die sich teilweise in den aktuellen Beziehungen äußern, teilweise aber auch sehr versteckt darunter liegen. So geht es z.B. bei Jugendlichen, die scheinbar um Autonomie ringen und Verselbstständigung suchen, häufig um andere Themenbereiche, wie Selbstwertkonflikte, Versorgungsautarkiekonflikte oder Über-Ich- und Schuldkonflikte.

Strukturachse

Auf der Achse „Struktur“ werden in den 3 Unterbereichen „Steuerungsfähigkeit“, „Selbst- und Objekterleben“ sowie „Kommunikation“ ebenfalls mit altersspezifischen Ankerbeispielen die Fähigkeiten bewertet, die ein Jugendlicher mitbringt, um auf den Boden seiner individuellen biografischen Erfahrung und seiner früheren Objektbeziehungen den anstehenden Entwicklungsaufgaben und aktuellen Beziehungen gerecht zu werden sowie Impulse und Emotionen so zu steuern, dass sie proaktiv in eine zukünftige Beziehungsgestaltung einfließen können.

Achse der Behandlungsvoraussetzungen

Mit der grundsätzlichen Achse der „Behandlungsvoraussetzungen“ werden die subjektiven Krankheitshypothesen, die subjektive Einschätzung der eigenen Befindlichkeit sowie der Leidensdruck einerseits, die faktisch vorhandenen Ressourcen in den Bereichen „Familie“, „Selbstwirksamkeit“, „außerfamiliäre Unterstützung“ und „Peer-Beziehungen“ andererseits sowie die spezifische Therapiemotivation und der Veränderungswille ebenfalls anhand von alterstypischen Ankerbeispielen bewertet.

Erwachsenenbereich

Für den Erwachsenenbereich wurde von Jacobsen et al. ▶ [14] ein OPD-Modul für Abhängigkeitserkrankungen als Erweiterung der OPD-2 vorgeschlagen, das in einer sog. Suchtspirale die Bereiche „Kompensation“, „Habituierung“, „Konsum- bzw. Dosissteigerung“ und „Schädigung“ herausarbeitet. Der individuelle „Fokus Sucht“ bestimmt die psychodynamische Therapieplanung.

Fazit

Die wünschenswerte Methodenintegration auf der diagnostischen Ebene erscheint aus dem Blickwinkel des pragmatischen Klinikers unter Umständen einfacher als die Integration auf einer therapeutischen Ebene, bei der noch viel stärker auch individuelle Faktoren des Therapeuten sowie der jeweiligen Ausbildungs- und Institutionsgeschichte eine Rolle spielen mögen.

Die Benutzung standardisierter und operationalisierter Diagnoseinstrumente kann dabei ein erster Schritt sein, so dass Systeme, wie ICD-10/11, DSM-5, MAS, ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) jeweils ihre eigene Bedeutung in einem abgestimmten Vorgehen haben werden.

Trotz aller Objektivierungen, Klassifikation und Versuche, durch eine Reduktion von Komplexität das teilweise chaotisch empfundene Feld zu ordnen, ist es doch letztlich die einzigartige Persönlichkeit des Klienten, die in all ihren Chancen und Risiken sowie ihren unentdeckten Potenzialen und Ressourcen zu würdigen ist.

1.1.4 Literatur

[1] Batra A, Collins SE, Torchalla I et al. Multidimensional smoker profiles and their prediction of smoking following a pharmacobehavioral intervention. J Subst Abuse Treat 2008; 35: 41–52

[2] Cloninger CR. A systematic method for clinical description and classification of personality variants: A proposal. Arch Gen Psychiatry 1987; 44: 573–588

[3] Cox LS, Tiffany ST, Christen AG. Evaluation of the brief questionnaire of smoking urges (QSU-brief) in laboratory and clinical settings. Nicotine Tob Res 2001; 3: 7–16

[4] Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie e.V. (dgkjp), Hrsg. Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. 3. Aufl. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007

[5] Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-SUCHT), Hrsg. Rauchen und Tabakabhängigkeit: Screening, Diagnostik und Behandlung. Version Dezember 2020. Im Internet: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076–006.html; Stand: 09.12.2021

[6] Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-SUCHT), Hrsg. Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen. Version Dezember 2020. Im Internet: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076–001.html; Stand: 09.12.2021

[7] Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-SUCHT), Hrsg. Medikamentenbezogene Störungen. Version Januar 2021. Im Internet: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038–025.html; Stand: 14.01.2021

[8] Dilling H, Mombour W, Schmidt MH, Hrsg. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 10. Aufl. Bern: Huber; 2015

[9] Fagerström KO. Determinants of tobacco use and renaming the FTND to the Fagerstrom Test for Cigarette Dependence. Nicotine Tob Res 2012; 14: 75–78

[10] Falkai P, Wittchen HU, Döpfner M. Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – DSM-5. Göttingen: Hogrefe; 2015

[11] Gsellhofer B, Küfner H, Vogt M et al. Manual für Training und Durchführung mit dem EuropASI (deutsche Version). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren; 1999

[12] Heatherton TF, Kozlowski LT, Frecker RC et al. The Fagerström Test for Nicotine Dependence: A revision of the Fagerström Tolerance Questionnaire. Br J Addict 1991; 9: 1119–1127

[13] Heinz A, Batra A, Scherbaum N et al. Neurobiologie der Abhängigkeit. Grundlagen und Konsequenzen für Diagnose und Therapie von Suchterkrankungen. Stuttgart: Kohlhammer; 2012

[14] Jacobsen T, Albertini V, Dieckmann A et al. Das OPD-Modul für Abhängigkeitserkrankungen. Suchttherapie 2010; 11: 183–188

[15] Jellinek EM. The disease concept of alcoholism. New Haven: Hillhouse Press; 1960

[16] Levola J, Aalto M. Screening for at-risk drinking in a population reporting symptoms of depression: a validation of the AUDIT, AUDIT-C, and AUDIT-3. Alcohol Clin Exp Res 2015; 7: 1186–1192

[17] Maisto SA, Sobell LC, Cooper AM et al. Comparison of two techniques to obtain retrospective reports of drinking behavior from alcohol abusers. Addict Behav 1982; 1: 33–38

[18] Mayfield D, McLeod G, Hall P. The CAGE questionnaire: Validation of a new alcoholism screening instrument. Am J Psychiatry 1974; 131: 1121–1123

[19] Prochaska JO, DiClemente CC. Towards a comprehensive model of change. In: Miller WR, Heather N, eds. Treating addictive behaviors. New York: Plenum; 1985: 3–27

[20] Rumpf HJ, Hapke U, Hill A et al. Development of a screening questionnaire for the general hospital and general practices. Alcohol Clin Exp Res 1997; 21: 894–898

[21] Saunders JB, Aasland OG, Babor TF et al. Development of the Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT): WHO collaborative project on early detection of persons with harmful alcohol consumption II. Addiction 1993; 88: 791–804

[22] Sullivan JT, Sykora K, Schneiderman J et al. Assessment of alcohol withdrawal: The revised clinical institute withdrawal assessment for alcohol scale (CIWA-Ar). Br J Addict 1989; 84: 1353–1357

[23] Veltrup C, Batra A. Suchterkrankungen. In: Batra A, Wassmann R, Buchkremer G, Verhaltenstherapie – Grundlagen, Methoden, Anwendungsgebiete. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2012: 210–219

[24] Wetterling T, Kanitz RD, Besters B et al. A new rating scale for the assessment of the alcohol-withdrawal syndrome (AWS scale). Alcohol Alcohol 1997; 32: 753–760

1.2 S3-Leitlinien in der Behandlung von Menschen mit Suchterkrankungen

Anil Batra

1.2.1 Systematik von Behandlungsleitlinien

Die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) e.V. (http://www.awmf.org/) ist seit 1995 in koordinierender Funktion für die Entwicklung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie tätig. Die aus dem Entwicklungsprozess resultierenden Behandlungsleitlinien werden in Deutschland über das Internet-Portal der AWMF e.V. gebündelt veröffentlicht. Die Behandlungsleitlinien werden durch Fachgesellschaften erarbeitet und in einem aufwändigen, strukturierten Konsentierungsprozess verabschiedet. Auf der Homepage der AWMF sind aktuell (Mai 2022) 284 sog. S1-Leitlinien, über 334 S2-Leitlinien und 207 S3-Leitlinien zu finden.

Leitlinien sollen „systematisch entwickelte Aussagen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung von Ärzten und ggf. anderen Gesundheitsberufen sowie von Patienten für eine angemessene Vorgehensweise bei vorgegebenen Gesundheitsproblemen“ geben (AWMF und ÄZQ 2007). Leitlinien sind keine „Richtlinien“, insofern sind die darin enthaltenen Empfehlungen als Orientierung zu verstehen, die sich aus einer Auswertung vorhandener Literatur und/oder in einem Expertenkonsensus generieren ließen. Sie dienen der Qualitätsentwicklung und -sicherung, der Verbesserung der medizinischen Versorgung und der Vermittlung des aktuellen Wissensstands. Besonderes Merkmal ist die „Formulierung von klaren Handlungsempfehlungen“, aus denen „Handlungs- und Entscheidungskorridore“ entstehen. Die Entscheidung der Therapeuten, den Empfehlungen zu folgen, ist jedoch von den Umständen im Einzelfall abhängig zu machen.

In die Planung und Organisation der Leitlinie ist die initiierende Fachgesellschaft eingebunden, die vorab beteiligte Interessensgruppen, klinisch relevante Fragestellungen und Regelungen zum Umgang mit Interessenskonflikten festlegt, ehe eine Anmeldung beim AWMF-Leitlinienregister erfolgt.

Die Leitlinienentwicklung selbst ist durch die systematische Evidenzbasierung und strukturierte Konsensfindung (je nach Typus der Leitlinie S1, S2k, S2e oder S3) gekennzeichnet.

Während S1-Leitlinien von einer Expertengruppe in einem Konsens erarbeitet und vom Vorstand der Fachgesellschaft verabschiedet werden, sind Leitlinien der Stufe 2 bereits auf einem höheren methodischen Niveau angesiedelt: S2e beinhaltet eine systematische Literaturrecherche zu den ausgewählten klinischen Fragestellungen und eine evidenzbasierte Erarbeitung von Empfehlungen. S2k beinhalten ein formales Konsensusverfahren mit einem ausgewogenen Panel.

S3-Leitlinien verbinden sowohl die Evidenzbasierung als auch den strukturierten Konsensprozess und berücksichtigen hierbei auf höchstem Niveau auch die formalisierte Erfassung von Interessenskonflikten, Abstimmungsprozessen, die Einbeziehung von Angehörigengruppen und Patientenvertretern.

Sämtliche Leitlinien müssen Transparenz zum Erstellungsprozess herstellen und dabei die Methodik und die Interessenskonfliktregulierung offenlegen. „Potenzielle Interessenskonflikte“ werden in materielle und nicht materielle Interessenskonflikte unterschieden. Die Benennung der potenziellen Interessenskonflikte soll nicht nur direkte Geldzuwendungen in Form von Forschungsförderung, Honorierung für Vorträge oder Beratertätigkeiten durch die Industrie oder andere Geldgeber, sondern auch die Zugehörigkeit zu Fachverbänden, berufspolitischen Gruppierungen, persönlicher Ausbildung u.v.m. beinhalten. Ein „potenzieller Interessenskonflikt“ führt nicht zwingend zu einem Ausschluss von Personen aus dem Erarbeitungsprozess von Leitlinien, sondern dient zunächst nur der Transparenz. Erst nach einer unabhängigen Einschätzung der Schwere des Interessenskonfliktes erfolgt eine gestufte Entscheidung des Steuerungsgremiums hinsichtlich der Möglichkeit einer Beteiligung der Mitwirkenden bei a) Leitungsprozessen, b) Abstimmungsrunden und c) der Erarbeitung von Leitlinieninhalten.

Merke

Übersicht über Leitlinienkategorien der AWMF e.V.

Die Leitlinien der AWMF werden in folgende Kategorien unterteilt (AWMF und ÄZQ 2007):

S1-Leitlinien werden von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet.

S2k- und S3-Leitlinien verwenden eine strukturierte Konsensfindung durch ein Gremium, das als repräsentativ angesehen wird und sowohl Wissenschaftler, Kliniker als auch Patientenvertreter beinhaltet.

S2e- und S3-Leitlinien sind durch die systematische Suche, Auswahl und Bewertung von Literatur (Metaanalysen, Reviews, kontrollierten, randomisierten Studien und Studien anderer Qualitätsstufen) gekennzeichnet.

Empfehlungen einer Leitlinie sind aus den evidenzbasierten Ergebnissen bzw. der formalisierten Konsensfindung abgeleitet, beinhalten eine Aussage über die wissenschaftliche Absicherung sowie den Abstimmungsprozess und geben durch festgelegte Formeln Empfehlungen zum Einsatz bestimmter therapeutischer oder diagnostischer Maßnahmen in den Kategorien „soll“, „sollte“ oder „kann“.

Die Evidenzbewertung erfolgt nach folgenden Kriterien:

Ia: Evidenz auf der Basis von Metaanalysen, randomisierten, kontrollierten Studien (RCT)

Ib: Evidenz aufgrund mindestens einer RCT

IIa: Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, kontrollierten Studien ohne Randomisierung

IIb: Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, quasi experimentellen Studie

III: Evidenz aufgrund einer gut angelegten, nicht experimentellen deskriptiven Studie

IV: Evidenz aufgrund von Meinungen von Experten, Gremien und anderen

Der Ausarbeitung der Empfehlungen wird zugrunde gelegt, dass ein Empfehlungsgrad A („soll“) nur vergeben werden soll, wenn die Empfehlung durch schlüssige Literatur mit Evidenzklassen Ia/Ib begründet ist. Bei einem Empfehlungsgrad der Stärke B („sollte“) sollten die Evidenzklassen IIa–III erfüllt sein, bei dem Empfehlungsgrad der Kategorie O („kann“) sollte die Evidenzklasse IV erfüllt sein. Alternativ kann bei Fehlen von entsprechenden evidenzbasierten Literaturbelegen und Erarbeitung von Empfehlungen im Expertenkonsens ohne systematische Literaturrecherche ein klinischer Konsens formuliert werden (KKP).

1.2.2 Geschichte der Behandlungsleitlinien für die evidenzbasierte Suchtmedizin

Eine erste Behandlungsleitlinie substanzbezogener Störungen wurde am 15.09.2000 initiiert und im Juli 2005 auf der 8. und letzten Konsenskonferenz formal zu Ende gebracht. Anschließend erfolgten Abstimmungsprozesse mit den beteiligten Fachgesellschaften, redaktionelle Bearbeitungen und schließlich die Publikation im Jahre 2006. Beauftragt war eine Projektgruppe der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) e.V. Diese erste Leitlinie enthielt Kapitel zu alkoholbezogenen Störungen, Tabakabhängigkeit, cannabisbezogenen Störungen, opioidbezogenen Störungen, psychischen und verhaltensbezogenen Störungen durch Kokain, Amphetamine, Ecstasy und Halluzinogene sowie zur Medikamentenabhängigkeit ▶ [27].

Die Gültigkeit dieser ersten Leitlinie auf S2-Niveau endete 5 Jahre nach Publikation im Jahre 2011. In der Folge entstanden mehrere neue, substanzspezifische Leitlinienwerke, sämtliche auf dem S3-Niveau:

2015 erfolgte die Publikation der S3-Leitlinie „Screening, Diagnostik und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums“ und der S3-Leitlinie „Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen“.

Im Jahre 2016 publizierte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit, der Bundesärztekammer und der DGPPN die S3-Leitlinie „Metamphetaminbezogene Störungen“ (Registernummer 038–024, gültig bis 20.11.2021).

Nach Auslaufen der oben genannten 1. Auflagen der Leitlinien zu Tabak- und Alkohol- bezogenen Störungen begann im April 2019 ein umfassender Überarbeitungs- und Aktualisierungsprozess, der im Januar 2021 mit der Veröffentlichung der 2. Auflage beider Leitlinien abgeschlossen wurde.

Seither stehen die unter Federführung der DG-Sucht sowie DGPPN erarbeitete Neuauflagen der S3-Leitlinien„Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (Registernummer 076–001) mit einer Kurz- und Langfassung der Leitlinie sowie der S3-Leitlinie„Rauchen und Tabakabhängigkeit: Screening, Diagnostik und Behandlung“ (Registernummer 076–006) mit einer Kurzfassung und Langfassung sowie Kitteltaschenversionen (für Hausärzte, Fachärzte, Psychiater, Personen in stationärer Behandlung sowie Tabakentwöhnungstherapeuten) zum Download auf der Homepage der AWMF zur Verfügung.

Fast zeitgleich wurde – abermals unter Moderation der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sowie der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie – im August 2020 die Leitlinie zu „Medikamentenbezogenen Störungen“ verabschiedet (Registernummer 076–001, gültig bis 31.07.2025). Diese steht mit einer Langfassung der Leitlinie zum Download auf der Homepage zur Verfügung (http://www.awmf.org/). Inhalt der Leitlinie zu medikamentenbezogenen Störungen sind Kapitel zu allgemeinen Aspekten der Definition und Diagnostik, allgemeinen Behandlungsgrundsätzen sowie substanzspezifische Kapitel zu Opioiden, Benzodiazepinen und verwandten Substanzen, Cannabinoiden, Gabapentinoiden, nichtopioiden Analgetika und Stimulanzien sowie zu multiplem Substanzgebrauch.

In die Leitlinie zu den „Medikamentenbezogenen Störungen“ gingen auch umfassende Darstellungen zur medizinischen Rehabilitation, Rückfallprävention, Versorgung von Patienten mit Komorbiditäten sowie zu Kindern von Eltern mit einer Medikamentenabhängigkeit ein.

Merke

Übersicht verfügbarer aktueller Leitlinien (Stand: Juli 2021)

„Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076–001.html)

„Rauchen und Tabakabhängigkeit: Screening, Diagnostik und Behandlung“ (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076–006.html)

„Medikamentenbezogene Störungen“ (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038–025.html)

„Metamphetamin-bezogene Störungen“ (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038–024.html)

In Entwicklung befinden sich darüber hinaus: eine Leitlinie zur Behandlung „Cannabisbezogener Störungen (geplante Fertigstellung: 01.10.2022) auf S3-Niveau, eine Leitlinie zur „Diagnostik und Therapie internetbezogener Störungen“ auf S1-Niveau (geplante Fertigstellung: 2022) sowie eine Leitlinie zu „Opioidbezogenen Störungen“ (S3-Niveau, geplante Fertigstellung: 2024), die jeweils unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie erstellt werden. Die DGPPN e.V. erarbeitet derzeit federführend eine Leitlinie zu „Psychosen mit komorbider substanzbezogener Störung“ (S3-Niveau, geplante Fertigstellung: 30.06.2024).

Der Wissensstand der Leitlinien, an deren Erstellung auch viele Autoren dieses Buches beteiligt waren, findet sich in den jeweiligen methoden- und substanzspezifischen Kapiteln dieses Buches wieder. Das Praxisbuch Sucht orientiert sich eng an den Behandlungsempfehlungen der verfügbaren Leitlinien.

1.2.3 Vor- und Nachteile, Problematik der Aktualität von Leitlinien

Leitlinien sind wichtig und für den klinischen Alltag bedeutsam. Die Behandlungsempfehlungen zum diagnostischen Vorgehen, zu Kurzintervention in der hausärztlichen Praxis, in Beratungsstellen oder im Krankenhaussetting sollen helfen, Risikogruppen besser zu identifizieren, frühzeitig einer Behandlung zuzuführen und damit eine Verschlechterung der Verläufe vor Eintritt in das Hilfesystem zu verhindern. Neben diesen naheliegenden und offenkundigen Vorteilen der Leitlinien, die damit wesentliche Merkmale einer Qualitätssicherung und Qualitätsförderung therapeutischer Prozesse erfüllen, besteht ein Mehrwert durch die Verbesserung von Koordination und Kooperation im Versorgungsprozess, durch die Verschränkung von ambulanten und stationären Bereichen, aber auch durch die Empfehlungen zur Verbesserung der Prävention. Entstigmatisierung und die Wahrnehmungsschärfung für die Belange betroffener Menschen durch verschiedene Disziplinen der Medizin und beteiligter Versorgungsbereiche könnten als Effekt einer breiten Implementierung der Leitlinien gesehen werden.

Doch wo liegen Gefahren von Leitlinien? Kritik an Leitlinien fokussiert vor allem auf eine mögliche Überbewertung und fehlende Übertragbarkeit von Studien auf die (deutsche) Versorgungsrealität. Studien schaffen wissenschaftliche Evidenz aus einer künstlichen und nicht praxiskompatiblen Anwendungsumgebung. Leitlinien, die rein evidenzbasiert ausgerichtet sind, vernachlässigen Aspekte der klinischen Erfahrung. Dem soll allerdings auf S3-Leitlinien-Niveau durch die Verbindung von Expertenwissen, evidenzbasierter Auswertung und Diskussionen der daraus gewonnenen Aussagen in einem konsensorientierten Prozess begegnet werden.

Auch persönliche oder institutionelle potenzielle Interessenskonflikte – sowohl materieller als auch immaterieller Art – werden durch eine systematische Erfassung der Beteiligung der Experten an Studien, aber auch deren Verbindungen zu bestimmten berufspolitisch bedeutsamen Organisationen berücksichtigt.

Merke

Alles in allem gilt: Leitlinien sind keine Richtlinien, sie geben Handlungsempfehlungen und eine Orientierung und ermöglichen eine Qualitätssicherung im Bereich der Medizin und Therapie durch Auswahl von Behandlungswegen, die evidenzbasiert abgesichert und im Konsens von klinischen Experten erarbeitet wurden.

Leitlinien bilden dennoch stets nur den aktuellen Stand des Irrtums ab. Diese Erfahrung machen alle, die im Leitlinienprozess aktiv arbeiten und aus formalen Gründen den Rechercheprozess, die Auswertung von Literatur sowie die Formulierung von Empfehlungen abschließen müssen, um das Gesamtwerk der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Niemals auszuschließen ist, dass unmittelbar nach Fertigstellung der Leitlinienarbeit weitere relevante Studien oder Metaanalysen erscheinen, welche die Evidenz neu zusammenfassen oder wichtige Aspekte einbringen, die bislang noch nicht berücksichtigt werden konnten. Die Leitlinienentwicklung der Zukunft wird angesichts der Flut neuer Entwicklungen in manchen Bereichen einem neuen Prozess weichen müssen, in den Leitlinien unter dem Begriff der „living guideline“ einen Algorithmus für ihre permanente Aktualisierung aufnehmen.

Dieser Prozess ist zeit- und ressourcenaufwändig. Da die Finanzierung von Leitlinien – neben dem hohen ehrenamtlichen Engagement vieler beteiligter Experten – durch die initiierenden oder federführenden Fachgesellschaften auf Dauer bei einem solchen Anspruch bezüglich der Aktualität nicht gesichert werden kann, müssen auch Finanzierungskonzepte unter Einbeziehung von Kostenträgern oder neutralen politischen Geldgebern gefunden werden.

1.2.4 Literatur

[25] Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin. Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin. Leitlinien-Glossar. Begrifflichkeiten und Kommentare zum Programm für Nationale Versorgungsleitlinien. Berlin; 2007

[26] Mann K, Batra A. Vom Lob der „Zitronenkur“ und den Grenzen von S3-Leitlinien. Nervenarzt 2016; 87: 1–3

[27] Schmidt LG, Gastpar M, Falkai P, Gaebel W, Hrsg. Evidenzbasierte Suchtmedizin. Behandlungsleitlinie Substanzbezogenen Störungen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2016

1.3 Suchtentwicklung: Einflussfaktoren, Entwicklungsdynamik

Olaf Reis

1.3.1 Risiken und Schutzfaktoren

Für die Beschreibung von Risiken und Schutzfaktoren einer Suchtentwicklung ist es notwendig, diese in ein Modell der Suchtentwicklung einzubetten. Hierbei begegnen dem Praktiker und dem Wissenschaftler verschiedene Schwierigkeiten, von denen einige im Folgenden aufgezählt werden.

1.3.1.1 Sequenzmodelle

Die Suchtentwicklung selbst wird zum einen unterschiedlich modelliert. Bereits in der Klassifikation nach ICD-10 ist ein einfaches Sequenzmodell enthalten, nach dem missbräuchlicher Konsum der Abhängigkeit vorausgeht. Auch dem DSM-5 liegen Sequenzmodelle zugrunde, wonach die erste krankheitswertige Diagnose die akute Intoxikation ist, die häufig bereits während der Adoleszenz vergeben wird. Viele diagnostische Modelle (und die daran geknüpften Erhebungsinstrumente) erweitern diese Sequenz, indem sie nach der Entwicklung vor dem diagnosepflichtigen Verhalten fragen und z.B. experimentellen (Probier-) Erstkonsum erheben, der sich dann zum Gewohnheitskonsum und Missbrauch fortentwickelt. Das Stufenmodell von Prochaska und DiClemente ▶ [60] wiederum hebt auf interne Repräsentationen der Suchtentwicklung im Konsumenten bezüglich der passenden Interventionen ab, wobei hier die für Suchtentwicklungen typischen Kreisläufe (z.B. Rückfälle) integriert werden.

Die Reihe dieser Beispiele ließe sich fortführen; festzuhalten bleibt, dass Risiken und Schutzfaktoren unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welche Transition in der Suchtentwicklung, beispielsweise die von der Abstinenz zum Probierkonsum oder von der wieder erlangten Abstinenz zum Rückfall, befördert oder behindert wird.

1.3.1.2 Modelle in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen

Zweitens entwickeln verschiedene Wissenschaftsdisziplinen unterschiedliche Modelle für die Entstehung einer Sucht. Während psychologische Modelle vor allem auf Lern-, Bewältigungs-, konfliktdynamische, motivationale oder persönlichkeitsorientierte Aspekte fokussieren, stehen in ▶ biologisch orientierten Modellen Veränderungen der Hirn- und Körperorganik im Vordergrund.

Soziologische Modelle wiederum betonen die makrosoziale Einbettung des Suchtgeschehens. Hierzu gehört auch die Definition der „Sucht“, des „Missbrauchs“ usw., die historisch und regional sehr unterschiedlich ausfallen kann. Auch Rollenzuschreibungen wie etwa die Bewältigung einer „Entwicklungsaufgabe“ oder Drogenkonsum als Ausdruck einer sozialen Position werden an der Schnittstelle von Soziologie und Psychologie modelliert.

Im Alltag lassen sich weiterhin „praktische“ Risiken und Schutzfaktoren ausmachen, wie beispielsweise die Drogenpolitik einer Regierung oder zeitliche Besonderheiten des legalen und illegalen Drogenmarktes, z.B. zum medizinischen, d.h. Krankenkassen-finanzierten Gebrauch von Cannabis in Deutschland seit dem Frühjahr 2017.

1.3.1.3 Unterschiedliche Systemebenen

Zum dritten sind Risiken und Schutzfaktoren – auch unabhängig von der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin – auf unterschiedlichen systemalen Ebenen angesiedelt. Beispielsweise kann ein Risikofaktor wie die genetische Prädisposition zur Bildung von Enzymen zur Alkoholmetabolisierung auf Makroebene unterschiedlich verteilt sein, womit sich unter Umständen unterschiedliche kulturelle Strategien für den Umgang mit Alkohol knüpfen ▶ [72]. Je nachdem, auf welcher Systemebene ein Risiko wirkt, befördert es unterschiedliche Prozesse.

Bronfenbrenner ▶ [35] hat in seinemökologischen Entwicklungsmodell verschiedene Systemebenen beschrieben, die auch für die Modellierung von Entstehung, Aufrechterhaltung und ggf. Beendigung einer Sucht wertvoll sind. Danach lassen sich individuelle, mikrosystemale (Familie, Freunde, Schule, Gemeinde etc.), exosystemale (Nachbarn, Medien, Ämter etc.) und makrosystemale („Kultur“, soziale Werte etc.) Ebenen unterscheiden. Chronosystemische Variablen finden zunehmend Eingang in entwicklungspsychologische Suchtmodelle, insbesondere durch die Verwendung zeitgenauer Maße im sog.en Ecological Momentary Assessment (EMA, z.B. ▶ [66]).

Transaktionale Suchtmodelle wie das triadische System, in dem die Wechselwirkungen von Droge, Person und Umwelt thematisiert werden, z.B. ▶ [42], siedeln Risiken und Schutzfaktoren ebenfalls auf verschiedenen Ebenen an.

Merke

In der wissenschaftlichen Modellierung verschiedener Faktorenebenen steht die Suchtforschung relativ erst am Anfang, jedoch mit einigen viel versprechenden Resultaten ▶ [36], ▶ [54], wobei die erforderlichen Stichprobengrößen diese Art der Forschung sehr erschweren.

1.3.1.4 Unterschiedliche Moderationsprozesse

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Risiko- bzw. Schutzwirkungen mit unterschiedlichen Prozessen beschrieben werden, wobei entsprechend die Definition eines protektiven Faktors unterschiedlich ausfällt. Schon Rutter ▶ [65] wies darauf hin, dass protektive Faktoren nur hinsichtlich bestimmter Risikowirkungen zu definieren seien, und unterschied sie damit von allgemein förderlichen Faktoren, die auch ohne Vorliegen eines Risikos wirken. Derartige umgrenzte protektive Wirkungen sind jedoch schwer zu identifizieren. Rutter wies überdies darauf hin, dass Risiken und Schutzfaktoren noch nichts über die proximalen Prozesse aussagen, über die sie sich verwirklichen. Ein Risikofaktor wie das Vorhandensein drogenkonsumierender Geschwister in einer Familie kann sich über so verschiedene Mechanismen wie Vorbildlernen, gleiche genetische Dispositionen und umweltliche Expositionen (Stressoren) oder eine familiär bedingte Einschränkung alternativer Bewältigungsstrategien erklären lassen.

Risiken und Schutzfaktoren stehen darüber hinaus nicht nur in direkten linearen oder nicht linearen Zusammenhängen, sondern bilden syndromatische Muster. Auf Personseite haben sich hierfür Begriffe wie „Vulnerabilität“ (personale Risikokonstellationen, die das Entstehen einer Sucht wahrscheinlicher machen) und „Resilienz“ (Konstellation von Schutzfaktoren, die die Wahrscheinlichkeit einer Suchtentwicklung mindern) eingebürgert. Studien zu derartigen Mediations- oder Moderationsprozessen von Risiken sind in der Suchtforschung vergleichsweise selten und erfordern einen hohen multidisziplinären und zeitlichen Aufwand.

1.3.1.5 Unterschiedliche Substanzen

Die Modelle zur Suchtentwicklung differieren erheblich nach Substanz. Beispielsweise sind Verharmlosungen oder Übertreibungen der Gefährlichkeit eng an den legalen Status der Substanz gekoppelt. In diesem Sinne ist es sinnvoll, Kompendien wie das vorliegende entlang der Substanzen zu gliedern ▶ [69]. Soll die gesellschaftliche Relevanz von Drogen an ihren sozialen Kosten gemessen werden, so gelten einige wenige Regeln für den Vergleich verschiedener Drogen ( ▶ [69], S. 19 f.):

Die Kosten legaler Drogen übertreffen bei weitem die der illegalen.

Die größten Kosten bei jungen Menschen entstehen durch riskante Konsummuster für Alkohol.

Die Gesundheitskosten bei älteren Menschen entstehen vor allem durch den zurückliegenden lebenslangen Tabak- und Alkoholkonsum.

Männer verursachen weltweit die höheren Gesundheitskosten, wenn alle Drogen zusammen betrachtet werden, allerdings ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen in den Industriestaaten wesentlich kleiner als anderswo.

1.3.1.6 Altersabhängige Risiken und Schutzfaktoren

Eine andere Schwierigkeit bei der Modellierung des Suchtgeschehens liegt in der Entwicklung des Konsumenten selbst, für die das chronologische Alter der am häufigsten verwendete Schätzer ist. Eine Übersicht zu altersabhängigen Risiken und Schutzfaktoren findet sich beispielsweise bei Jordan und Sack ▶ [47]. Ein Risiko wie die Anwesenheit drogenkonsumierender Eltern kann in seiner Wirkung durchaus unterschiedlich sein – je nachdem, ob die Zielperson noch ein Kind oder bereits erwachsen ist.

Merke

Mit anderen Worten: Ein Individuum durchläuft in seiner lebenslangen Entwicklung unterschiedliche vulnerable Phasen, sowohl was die biologische als auch die psychische Empfänglichkeit für Substanzen und Risiken oder Schutzfaktoren angeht.

Die Einsamkeit im höheren Alter lässt die Konsumenten beispielsweise eher nach leicht verfügbaren Drogen greifen, da Mechanismen wie drogenassoziierte Subkulturen (z.B. Aussteiger) und entsprechende Verteilungsmechanismen (Dealer) in geringerem Ausmaß zur Verfügung stehen. Einsamkeit im Jugendalter führt vergleichsweise eher in drogenassoziierte Subkulturen, in denen auch illegale Drogen zugänglich sind.

1.3.1.7 Zusammenfassung

Noch wartet die Wissenschaft von der Suchtentwicklung auf ein Modell, das die hier beschriebenen Aspekte in einer Ökologie der Sucht integriert. Ansätze hierfür gibt es in der deutschen ▶ [71] und internationalen ▶ [36], ▶ [51], ▶ [77] Forschung. In jedem Fall bedarf es eines multidisziplinären, lebenslang orientierten Mehrebenen-Modells, in dem die Transaktionalitäten verschiedener Drogen, Person- und Umweltbedingungen verrechnet werden, wobei biologische, psychische und soziale Wirkmechanismen die Missing Links zwischen Risiko-, Schutz- und Suchtentwicklung bilden.

Die oben genannten Aspekte der Suchtentwicklung sind zu berücksichtigen, wenn im Folgenden eine eher vage, den verschiedenen Anforderungen gegenüber offene Definition von Risiken und Schutzfaktoren für eine Suchtentwicklung formuliert wird.

Definition

Risiken sind solche Bedingungen, die die Entwicklung oder Beibehaltung einer Sucht befördern.

Schutzfaktoren sind Bedingungen, die Wirkungen vorhandener Risiken mindern oder aufheben.

1.3.2 Entwicklungsdynamische Aspekte

Individuelle Entwicklung in der leistungsorientierten Risikogesellschaft lässt sich als lebenslange Bewältigung modellieren ▶ [61]. Für jeden Abschnitt existieren spezifische Anforderungen an den Einzelnen, die gemeinhin als „Entwicklungsaufgaben“ ▶ [44] bezeichnet werden. Jede dieser Entwicklungsaufgaben eröffnet ein Problemfeld mit eigener suchtrelevanter Dynamik. Aus diesem Grund werden später beispielhaft einige Entwicklungsaufgaben des Jugendalters in ihrer Relevanz für eine Suchtentwicklung diskutiert.

1.3.2.1 Einstiegsalter und Entwicklungswege

Das Jugendalter gilt insofern als besonders vulnerable Zeitspanne, als hier die meisten ersten Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen gemacht werden. Das Einstiegsalter für Nikotin lag – trotz zurückgehender Raucherquote seit Ende der 1990er-Jahre – in Deutschland im Jahre 2006 bei 13 Jahren, was ein im internationalen Vergleich eher früher Zeitpunkt ist ▶ [39]. Der Abwärtstrend für Tabakkonsum wird in den letzten Jahren von einem leicht steigenden Trend beim Konsum von E-Zigaretten begleitet (Lebenszeitprävalenz unter 12- bis 17-Jährigen 2012: 9,1%, 2014: 13,2%, 2015: 10,9%, 2016: 11,2%, 2018: 12,4%, 2019: 12,3%) ▶ [58]. E-Zigaretten sind wiederum dazu geeignet, den Einstieg in reguläres Tabakrauchen zu erleichtern, vor allem unter Jugendlichen, die bisher noch nie geraucht haben ▶ [32].

Der Erstkonsum von illegalen Drogen beginnt etwas später, wie bereits die Daten der Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) für 2008 belegen ▶ [38].

Merke

Die bei weitem häufigste erste illegale Droge ist Cannabis, wobei insgesamt 7,5% der 12- bis 17-jährigen Deutschen einschlägige Konsumerfahrungen während des letzten Jahres gemacht haben. Für die 18- bis 25-Jährigen steigt dieser Anteil auf 15,8%. Für jede Altersstufe ist dabei der Anteil konsumerfahrener Jungen höher als der der Mädchen.

Die „Jugend“ als Vorbereitung auf das „Erwachsensein“ hat während des letzten Jahrhunderts in den Industriegesellschaften eine stetige zeitliche Ausdehnung erfahren. Insbesondere erweiterte Ausbildungszeiten verlängern das entwicklungsdynamische „Moratorium“ oft bis weit in die dritte Lebensdekade hinein. Diese mitunter als „emerging adulthood“ bezeichnete verlängerte Adoleszenz ist durch intensives Experimentieren mit Identitäten, beruflichen Optionen und Einstellungen ▶ [33] oder Gesellungsformen ▶ [62] gekennzeichnet. Insofern sind auch spätere „Einstiege“ (nach 18 Jahren) noch geeignet, die Biografie nachhaltig zu stören, beispielsweise durch einen schwierigen Start in das Berufs- oder Familienleben.

Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen werden nur dann wiederholt, wenn sie positiv besetzt sind. Der vom Konsumenten erlebte alterierte Bewusstseinszustand (Rausch) muss geeignet sein, eine Wiederholungsmotivation zu erzeugen. Grundsätzlich sind unterschiedliche Entwicklungswege mit unterschiedlichen Wiederholungsmotivationen bekannt. Weichold ▶ [75] unterscheidet in Anlehnung an Moffitt ▶ [55] zwei Pfade. Die Mehrheit der konsumierenden Jugendlichen (ca. 90%) beginnt mit der (wiederholten) Substanzeinnahme während der Adoleszenz, wobei der Konsum in irgendeiner Art funktional mit der Erfüllung der sog. Entwicklungsaufgaben verknüpft ist.

Eine Minderheit von ca. 10% soll Drogen habituell konsumieren, d.h., der Drogenkonsum wurde früh (vor Beginn der Adoleszenz) als Bestandteil einer sozial devianten Ontogenese gelernt. Die Individuen dieser Gruppe sind oft schon früh multiplen Belastungen ausgesetzt, dabei hoch vulnerabel (z.B. ungünstiges Temperament in der frühen Kindheit, somatische und psychiatrische Erkrankungen in der Kindheit, Beginn einer delinquenten Karriere in der Adoleszenz) und verfügen kaum über Schutzfaktoren. Hier beginnt die Suchtentwicklung früh und ist durch oft lebenslange Stabilität bei verkürzter Lebenserwartung gekennzeichnet. Suchttherapeutische Interventionen gestalten sich in dieser Gruppe wesentlich schwieriger und sind seltener mit funktionalen Aspekten verknüpft. Für die Mehrheit der Jugendlichen jedoch ist der Konsum von Substanzen oder/und die Entwicklung einer nicht stoffgebundenen Sucht funktional an die (Nicht)Erfüllung einer oder mehrerer Entwicklungsaufgaben gebunden.

1.3.2.2 Entwicklungsaufgaben und ihre Relevanz für die Suchtentwicklung

Erwerb der Geschlechterrolle Bereits die oben beschriebenen geschlechtstypischen Prävalenzen verweisen auf vielfältige Assoziationen von Droge und Geschlechtsrolle. Bereits Anderson ▶ [29] konnte zeigen, dass „Konsumentenidentitäten“ regelhaft mit defizitären Geschlechtsidentitäten verbunden sind. Neuere Forschungen (z.B. ▶ [64]) zeigen, dass Alkohol und „Sexyness“ nicht nur die Erwartungen männlicher Jugendlicher betreffen, sondern auch die weiblicher – insbesondere derjenigen, die eigene Reize und Objektivation eher instrumentalisieren. Damit schließt sich Alkohol nicht nur an Stereotypen der männlichen Fremd-, sondern auch der weiblichen Selbstwahrnehmung an, wobei beide Wahrnehmungsmuster medial getriggert werden.

Daneben gibt es Ideen, nach denen die Zunahme riskanter Konsummuster für Alkohol bei Mädchen eine Angleichung von Geschlechtsstereotypen bedeute ▶ [74]. Allerdings zeigen regionalisierte Trenddaten, dass der Anteil riskanter Trinkmuster bei Mädchen seit Beginn des Jahrtausends eher stabil ist ▶ [63].

Gestaltung der Beziehungen zum anderen Geschlecht Grundsätzlich tauchen Angaben wie „Drogen helfen dabei locker zu werden“, „weniger schüchtern zu sein“ usw. in Studien zur Drogenfunktionalität häufig auf. Ganz offensichtlich liegt in der Erleichterung sozialer Zugänge eine universale Funktion von Drogen, unabhängig von Alter und Geschlecht der Konsumenten. Der 2017er Bericht aus dem Youth Risk Behavior Surveillance System ▶ [48] beschreibt für ein Fünftel der US-amerikanischen 9- bis 12-Klässler Alkoholgebrauch vor dem letzten Sex – obgleich der Konsum in diesem Alter nicht gestattet ist. Neben dieser Katalysatorfunktion sind die Risiken akuten Drogengebrauchs für soziale Begegnungen bekannt. Wer sich beispielsweise selbst intoxiziert und dann Opfer eines sexuellen Übergriffs wird, muss mit weniger Mitleid rechnen als das vorsätzlich von anderen – häufig dem Täter – unter Drogen gesetzte Opfer ▶ [31]. Allerdings sind Sexualverbrechen, bei denen Drogen vorsätzlich vom Täter verwendet werden, seltener als solche, bei denen sich das Opfer nach freiwilliger Berauschung selbst exponiert und Tatgelegenheiten produziert, die von häufig ebenfalls berauschten Tätern wahrgenommen werden ▶ [46].

Erlangung einer intrafamiliären Autonomie, emotionale Unabhängigkeit von den Eltern Es gehört zu den fatalsten Paradoxa der Suchtentwicklung, dass ausgerechnet das Streben nach Unabhängigkeit in die Abhängigkeit führen kann. Innerhalb des neu zu verhandelnden Verhältnisses zwischen Adoleszentem und seiner Familie, häufig „Individuation“ genannt, können Drogen eine zentrale Rolle spielen.

Definition

Individuation bezeichnet jene Prozesse, in denen familiäre Verbundenheit (connectedness) und individuelle Unabhängigkeit (separateness, autonomy) konstruiert und balanciert werden.

Für die Heranwachsenden und – je nach Substanz – auch für die Erwachsenen hat der Konsum bestimmter Substanzen transitionale Bedeutung, d.h. Rollen wie „erwachsen sein“ oder „hart sein“ werden mit Substanzkonsum assoziiert. Viele klassische Rollenaspekte des autonomen Erwachsenseins wie eigener Erwerb oder das Gründen eines eigenen Haushalts haben während der Adoleszenzphase noch keine unmittelbare Bedeutung für die jugendliche Individuation, womit Drogen häufig „das letzte Abenteuer“ sind, an dem sich ein Heranwachsender „beweisen“ und von seinen Eltern abheben kann.

Häufig weisen die Herkunftsfamilien von drogenkonsumierenden Jugendlichen unbalancierte Individuationsmuster auf ▶ [67], in denen entweder ein Zuviel an Autonomie (die dann oft nur die Oberfläche einer Entfremdung ist) oder ein Zuviel an Verbundenheit (die dann oft als vereinnahmend oder überbeschützend erlebt wird) vorhanden ist. Unklare Kommunikationsmuster in der Familie, mangelnde Respektierung individueller Grenzen oder manipulative Strategien können geeignet sein, Individuation zu behindern und Drogenkonsum zu befördern ▶ [67].

Auch die elterliche Überwachung („Monitoring“) des Freizeitverhaltens ihrer Kinder – ein häufig zitierter protektiver familiärer Faktor – muss als Bestandteil der dyadischen Individuation gesehen werden. So sagte in einer schwedischen Studie nicht das für sicher gehaltene elterliche Wissen deviante Entwicklungen der Kinder vorher, sondern nur deren Bereitschaft zur Offenheit gegenüber ihren Eltern ▶ [49]. Wie sehr die elterliche Strukturierung des Familienalltags und des Kommunikationsverhaltens sowie jugendlicher Drogenkonsum miteinander verbunden sind, zeigen Interventionsprogramme, die sich an die Eltern und nicht an die Adoleszenten richten ▶ [50].

Akzeptanz des eigenen Körpers und seiner Veränderungen Die während der Adoleszenz stattfindenden gravierenden körperlichen Veränderungen können geeignet sein, Selbstwertproblematiken auszulösen, womit wiederum Risiken einer Suchtentwicklung entstehen. Für diesen Pfad sprechen einige Befunde, nach denen Jugendliche, die sich unattraktiv finden und mit ihrem Körpergewicht unzufrieden sind, häufiger auch Drogen konsumieren ▶ [59]. Offenbar wird die Wahrnehmung derartiger Defizite tatsächlich durch Drogenkonsum moderiert, da jugendliche Konsumenten in Abhängigkeit vom Geschlecht häufiger veränderte Körperwahrnehmungen zeigen ▶ [52]. Während Jungen eher zu körperlichen Überhöhungen (Macht, Kraft) neigen, sind weibliche Konsumenten eher gefährdet, sich noch schutzloser und schwächer zu erleben.

Von einiger Relevanz ist hierbei auch das biologische Reifetempo der Adoleszenten, das auch unabhängig von anderen Risiken wie etwa der elterlichen Bildung wirkt ▶ [45]. Insbesondere wurde verfrühte Reifung als Risiko identifiziert. Beispielsweise weisen sexuell früh gereifte Jungen ein größeres Risiko auf, das Internet für das Downloaden pornografischen Materials zu nutzen ▶ [68], was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, später süchtiges Sexualverhalten zu entwickeln ▶ [34]. Zu späte Reife kann jedoch ebenfalls das Risiko nachfolgenden Suchtverhaltens erhöhen ▶ [75]. Auch hier gilt, dass nicht das biologische Reifetempo „an sich“ die Risikowirkung ausmacht, sondern der eventuell damit entstehende „misfit“ zwischen Individuum und Umwelt.

Erwerb beruflichen Wissens und Vorbereitung auf die Erwerbstätigkeit Der Zusammenhang von Substanzkonsum und schulischem Misserfolg ist für viele Länder und Substanzen beschrieben. Je nach Substanz und Region ist der Zusammenhang unterschiedlich stark. So gibt es viele Belege für eine Risikowirkung starken Rauchens ▶ [28], jedoch widersprüchliche Befunde für Alkohol ▶ [40]. Die Widersprüchlichkeit der Befunde zu Alkohol kann teilweise mit der Wirkung unterschiedlicher Konsummuster erklärt werden, wonach moderater Konsum kein Risiko darstellt. Riskante Trinkmuster wie das Binge Drinking wurden mittlerweile als Risiko für schulischen Misserfolg in Großbritannien identifiziert ▶ [73].

Merke

Die Assoziation von Drogenkonsum und schulischem Misserfolg ist jedoch möglicherweise auf die klassischen Industriegesellschaften beschränkt. In Südafrika, wo wesentlich mehr Jugendliche die Schule vorzeitig verlassen, hat Drogenkonsum keinen zusätzlichen Erklärungswert für die Schulkarriere ▶ [43].

Erlernen eines verantwortlichen Sozialverhaltens, Akzeptanz und Wahrnehmung der Bürgerrolle in der Gesellschaft Bereits die Formulierung dieser Entwicklungsaufgabe schließt den selbst- oder fremdzerstörerischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen als „verantwortungslos“ aus. Dementsprechend gibt es Befunde, nach denen Jugendliche mit vermehrtem sozialem Engagement und zugehörigen Orientierungen auch weniger Cannabis konsumieren ▶ [78].

Auf der anderen Seite scheint Delinquenz eine Art „Rubikon“ im Verhältnis des Jugendlichen zur Bürgerrolle zu sein. Die Aufnahme von Delinquenz als Prädiktor verbessert die Vorhersage von Substanzkonsum „sprunghaft“, auch nachdem Prädiktoren wie Bildung, Herkunft und Alter kontrolliert wurden ▶ [41]