Predigtstudien 2022/2023 - 2. Halbband -  - E-Book

Predigtstudien 2022/2023 - 2. Halbband E-Book

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Beschreibung

Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theologinnen/Theologen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.

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Seitenzahl: 490

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Predigtstudien

Herausgegeben

von Birgit Weyel (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,

Wilhelm Gräb, Doris Hiller, Kathrin Oxen,

Christopher Spehr und Christian Stäblein

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände

Darstellungsschema

A-Teil: Texthermeneutik

I Eröffnung

Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?

II Erschließung des Textes

Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?

III Impulse

Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

B-Teil: Situationshermeneutik

IV Entgegnung

Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?

V Erschließung der Hörersituation

Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?

VI Predigtschritte

Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISSN 0079-4961

ISBN 978-3-451-60120-0

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82913-0

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82912-3

Inhalt

18.05.2023 Christi Himmelfahrt

Lukas 24,(44–49)50–53

Höhenflüge

Doris Hiller/Regina Sommer

21.05.2023 6. Sonntag nach Ostern (Exaudi)

1 Samuel 3,1–10

Hinhören!?

Kristin Weingart/Johannes van Oorschot

28.05.2023 Pfingstsonntag

1 Korinther 2,12–16

Leben aus Erfahrung, aber nicht ohne Vision

Horst Gorski/Wilfried Engemann

29.05.2023 Pfingstmontag

Johannes 4,19–26

Wenn Jakobs Brünnlein fließet

Helge Martens/Christian Butt

04.06.2023 Trinitatis

Jesaja 6,1–8(9–13)

Bleiben Sie zuversichtlich!

Christian Stäblein/Wilhelm Gräb

11.06.2023 1. Sonntag nach Trinitatis

1 Johannes 4,(13–16a)16b–21

Liebeslieder

Matthias Lemme/Christian Nottmeier

18.06.2023 2. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 14,(15)16–24

Kommt, es ist alles bereit

Michael Schneider/Kristian Fechtner

25.06.2023 3. Sonntag nach Trinitatis

Jona (3,10)4,1–11

Erbarmen gegen die Erwartung – Grund unserer Freude

Felix Roleder/Jörg Schneider

02.07.2023 4. Sonntag nach Trinitatis

1 Petrus 3,8–17

Gesegnet, Segnen, Segen-Sein

Christopher Spehr/Angela Rascher

09.07.2023 5. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 1,35–51

Begegnung gesucht, Gemeinschaft gefunden

Johannes Vortisch/Anna-Maria Semper

16.07.2023 6. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 43,1–7

Wichtigtuerei

Katharina Krause/Verena Mätzke

23.07.2023 7. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 2,41–47

Bleibt alles anders

Holger Treutmann/Marie-Luise Karle

30.07.2023 8. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 5,13–16

Licht und Salz …?

Jan Petersen/Roger Jensen

06.08.2023 9. Sonntag nach Trinitatis

1 Könige 3,5–15(16–28)

Man hört nur mit dem Herzen gut

Beate Kobler/Maria Katharina Moser

13.08.2023 10. Sonntag nach Trinitatis/Israelsonntag: Kirche und Israel

5 Mose 4,5–20

Die Freude über die lebendige Tora

Hans-Ulrich Probst/Hans-Ulrich Gehring

20.08.2023 11. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 7,36–50

Kann denn Liebe Sünde sein?

Marcel Brenner/Stephan Seidelmann

27.08.2023 12. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 29,17–24

Träum weiter – aber realistisch!

Rainer Mogk/Bernhard Liess

03.09.2023 13. Sonntag nach Trinitatis

1 Johannes 4,7–12

Liebe-voll

Antonia Rumpf/Christine Siegl

10.09.2023 14. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 17,11–19

Dankbarer Glaube

Martin Vetter/Susanne Wolf

17.09.2023 15. Sonntag nach Trinitatis

1 Mose 15,1–6

Leben im Glauben

Heinz-Dieter Neef/Birgit Weyel

24.09.2023 16. Sonntag nach Trinitatis

Hebräer 10,35–36(37–38)39

Nicht wütend, nicht müde, sondern vertrauend

Klaus-Dieter Kaiser/Rüdiger Sachau

01.10.2023 17. Sonntag nach Trinitatis

Markus 9,17–27

Vier Grenzerfahrungen und beinahe ein Todesfall

Carsten Claußen/Traugott Roser

01.10.2023 Erntedankfest

Lukas 12,(13–14)15–21

Dankbare Narren

Christoph Vogel/Christian Witt

08.10.2023 18. Sonntag nach Trinitatis

2 Mose 20,1–17

Gottes An-Gebote zur Freiheit

Stefanie Arnheim/Katharina Fenner

15.10.2023 19. Sonntag nach Trinitatis

Jakobus 5,13–16

In allen Zeiten verbunden bleiben

Sabine Winkelmann/Ricarda Schnelle

22.10.2023 20. Sonntag nach Trinitatis

Markus 10,2–9(10–12)13–16

Anspruchslos glauben und verantwortlich leben

Lars Charbonnier/Peter Meyer

29.10.2023 21. Sonntag nach Trinitatis

1 Mose 13,1–12(13–18)

Eine Trennung und ein Dennoch

Anna Böllert/Lars Christian Heinemann

31.10.2023 Gedenktag der Reformation

Matthäus 5,1–10(11–12)

Der Verein der Unglücklichen

Kathrin Oxen/Jan Roßmanek

05.11.2023 22. Sonntag nach Trinitatis

1 Johannes 2,12–14

Gegen den Rost

Barbara Hanusa/Samuel Lacher

12.11.2023 Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Römer 8,18–25

Die Hoffnung, von der wir leben und aus der wir handeln

Ravinder Salooja/Uwe Hauser

19.11.2023 Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres

Matthäus 25,31–46

Glutkern des Christentums

Christa Usarski/Michael Kösling

22.11.2023 Buß- und Bettag

Ezechiel 22,23–31

Sprachen der Sichtbarmachung

Frank Dettinger/Manuel Stetter

26.11.2023 Letzter Sonntag des Kirchenjahres: Ewigkeitssonntag

2 Petrus 3,(3–7)8–13

Teelichter und Gottes Geduld

Wolfgang Vögele/Uwe Hauser

26.11.2023 Letzter Sonntag des Kirchenjahres: Totensonntag

Daniel 12,1b–3

Eingeschrieben in Gottes Handschrift

Reinhard Mawick/Martin Hofmann

Vergleichstabelle zur neuen Perikopenreihe V

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Christi Himmelfahrt – 18.05.2023

A

Lukas 24,(44–49)50–53

Höhenflüge

Doris Hiller

I Eröffnung: Alle Hände fliegen hoch

Ein Kinderspiel – Alle … fliegen hoch. So ausgelassen hat man die Jünger:innen selten gesehen. Das Erschrecken über die Erscheinung des Auferstandenen (Lk 24,37) ist der Leichtigkeit des Seins gewichen. Erst lauschen sie konzentriert den Worten, ungeduldig trommeln die Finger auf die Tischplatte. Ein himmlisch-aufregendes Vorspiel. Dann Ausbruch der Freude: Hände fliegen hoch – zum Segen der Menschen und zum Lob Gottes. So kann es weitergehen – gegen alle Erdenschwere. Himmelfahrt – ein Kinderspiel!? Am Ende des Lukasevangeliums klingt es so. Am Ende wird die Geschichte hochfliegend neu in Gang gesetzt.

II Erschließung des Textes: Kein Grund zum Abheben

Predigen im lk. Geschichtswerk ist theologische Erzählkunst. Sie eignet sich nicht zum Einschlafen; ist alles andere als der »Kinderfrauenberuf«, mit dem Eberhard Jüngel die Aufgabe des Erzählens der Gute-Nacht-Geschichte umschreibt (Jüngel, 427). Was als Qualitätsmerkmal für das abendliche Ritual gilt, ist nichts für das Evangelium und dessen Kommunikation: Nicht Hinlegen, sondern Aufstehen ist angesagt. Wenn eine Geschichte erzählen heißt: »auf deren einmalige und unwiderrufliche Wirklichkeit im Rückgang auf ihre vergangene Möglichkeit, aus der sie kam, und mit Rücksicht auf ihre zukünftigen Möglichkeiten eingehen und gerade so der vergangenen Wirklichkeit Zukunft gewähren« (Jüngel, 417), dann ist Himmelfahrt die richtige Zeit und der richtige Ort dafür. Bethanien, jener Berggarten der Geschichte, nun im Lichte der Auferstehung betrachtet, verbindet Ende und Anfang. Erzählen öffnet in verdichteten Zeiträumen den Himmel. Und was der Gegenwartstheologe so wortreich umschreibt, kann der Evangelist in einem einzigen Verb markieren, das zum Ausweis für seine Theologie wird: Spannende Geschichten orientieren sich am göttlichen dei (Lk 24,44), das auch hier wieder das himmlisch Mögliche im irdisch Not-wendigen anzeigt. Wat mutt, dat mutt – göttlich zumal.

a) Die Geschichte überschlägt sich. – Na dann gute Nacht, zappenduster: Als Jesus zuletzt mit ihnen hinausging, war es finster. Es ist die Gegend, wo das Ende seinen Anfang nahm. Was so hochfliegend begann, endet im Nichts des Todes. Bethanien ist am Ölberg lokalisiert. Vermutlich ist Gethsemane mit seinem düsteren Schattenspiel nicht weit. Historisch-geographisch Genaues weiß man nicht. Die ganze Szene jetzt spielt in Jerusalem. Ob die Emmaus-Jünger mit ihren freudigen Herzen schon zurück sind, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Jedenfalls wird eine weitere Begegnung mit dem Auferstandenen erzählt. Die Motivsprache lässt an den Abend des Ostertages denken. Da allerdings keine Zeitangabe gemacht wird, ist die narrative Verbindung mit dem Himmelfahrtsbericht aus Apg 1 auch möglich. Dort gibt Lukas den vorangehenden Erscheinungen des Auferstandenen 40 Tage Zeit. Zeit, die es braucht, die Wüsten der Welt und des Lebens zu durchwandern, um zu erkennen, worauf es wirklich ankommt, damit Neues möglich wird: Erzählzeit.

Die Kraft (dynamis), die im LkEv aus der Höhe kommt, ist begrifflich dieselbe, auch wenn sie in Apg 1 im Heiligen Geist einen Namen hat. Die gebotene Zeugenschaft verbindet die Texte, die den pfingstlichen Geschichtsbogen auf Zukunft stellen und so das lukanische Geschichts- bzw. Geschichtenwerk weiterschreiben. Aber auch der Überschlag in die Vergangenheit nicht nur der irdisch-unmittelbaren Jesus-Geschichte, sondern der Gottesgeschichte vom Anfang der Zeiten findet Halt. Jesus geht. Sie folgen nach bzw. werden geführt. Jesus bleibt dort (Lk 22,39) wie hier (V.50) der Initiator des Weggeschehens. Wer Zeuge sein will, muss hinterhergehen, auch denen, die geschichtlich vorausgegangen sind: Was von ihm gesagt ist (24,27) bzw. von mir geschrieben steht (V.44), ist allen zugänglich. Daraus muss dogmatisch kein heilsgeschichtliches System zementiert werden, das auch noch ungute Erfüllungsmechanismen aufruft. Statisches liegt dem Gott, der Dynamik verheißt, nicht. Auch das Verstehen, das Jesus öffnet, ist beweglicher als stures Wissen. Deshalb erzählt Lukas und zählt nicht allein Faktisches auf.

b) Faustpfand. – Ich verstehe – also bin ich, mag die aufgeklärte Hermeneutin, auch im Erinnern von Apg 8, sagen. So steht’s geschrieben: Das ist alles, was zu sagen ist. Der Evangelist formuliert als Summarium, was exegetisch gerne als »letzte Worte« Jesu bezeichnet wird. Was literarisch stimmt, ist theologisch bedeutsam, denn es sind nicht die letzten Worte des Gekreuzigten, sondern die ersten Worte des Auferstandenen. Die Worte Jesu bringen die Erzählung nicht zum Abschluss. Sie geben vielmehr Aufschluss über das Wie-Weiter. Auch der Neubeginn lebt von der Energie des Althergebrachten. Schon auf dem Weg nach Emmaus legt der Auferstandene die Schrift aus: Mose und die Propheten. Dass jetzt noch die Psalmen Erwähnung finden, mag eine Reminiszenz an die letzten Worte am Kreuz sein, die Lukas auch mit Psalmworten verbindet. Es mag aber auch ein Hinweis sein, dass nicht nur die Geschichte, sondern auch die Kommunikation zwischen Gott und Mensch – das Gebet – weitergehen wird. Die ersten Worte des Auferstandenen summieren die bleibenden Worte des Irdischen: Christologie und Soteriologie in zwei Sätzen, damit ihr bei aller Auferstehungsfreude die Vergebung der Sünden nicht vergesst.

Das lässt sich nicht begreifen und festhalten, auch wenn die Worte handlich daherkommen. Als Bekenntnis sind sie ein Faustpfand, der Geschichte entliehen, damit es die Jünger bezeugen können. Kreuz und Auferstehung und was sie bedeuten: Das Faustpfand eines jeden Christen wird zum Auftragswort. Auch hier schlägt Lukas in den Worten Jesu einen Erzählton an. Kein Imperativ wie das matthäische »Gehet hin in alle Welt«, sondern Indikativ: Von nun an seid ihr Zeugen. Die Zeit verschmilzt mit dem Raum: von Jerusalem an. Hier ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.

c) Freudentaumel. – Erzählen kann – wenn man die oben genannte Definition zugrunde legt – mitunter schwindelerregend sein. Wenn Umkehr (metanoia, V.47) Richtungswechsel bedeutet, dann liefert die Perikope als ganze und in der vorgeschlagenen geklammerten Form ziemlich viele metaphorische Umwendungen. Zunächst die klassisch theologische Zuwendung: Gott wendet sich in Jesus Christus dem Menschen zu, damit dieser sich zu Gott wenden kann. Wo man sich in einer Beziehung in die Augen schauen kann, ist Vergebung möglich. Dafür sollen die Jünger einstehen. Das Stehen-Bleiben ist nötig, damit sie aufschauen können. Wer aufschaut, hat einen freien Blick zu der Kraft, die aus der Höhe kommt. Ob Lukas auch deshalb die Psalmen erwähnt, weil ihn die ganze Szenerie an Ps 121 erinnert? In ihm klingen auch Segensworte an. Denn jetzt heben sich die Hände. Spannend ist die Vorstellung, dass Jesus im Akt des Segnens in den Himmel auffährt. Auch wenn irdisch von Abschied die Rede ist, bleibt der Kontakt, der die Gegenbewegung zum Abschied einleitet. Zwar fallen die Jünger zum Gebet nieder, aber sogleich ändert sich erneut die Richtung. Es ist nicht die niedergedrückte Stimmung des Abschiednehmens, sondern die hochfahrende Emotion der Freude, die dann mit dem Wochenpsalm (Ps 47) verbunden werden kann, den die liturgische Kommission für den Gottesdienst vorschlägt. Auch hier: Jesus ist Initiator der Bewegung. Wer ihm nachgehen bzw. -sehen will, wird aufgerichtet. Die Freude lebt aus der befreiten Erwartung: Da kommt noch was!

III Impulse: O Heiland, reiß die Himmel auf

Himmelfahrt kennt seit jeher die Ermüdungserscheinungen der Welt, die behaftet sind mit der Frage: Wie wird es weitergehen? Die rasche Folge der Krisenphänomene der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts macht die ganze Welt zum Armenhaus (Bethanien). Himmelschreiend ist das, verzweifelte Arme ragen in den luftleeren Raum und die 40 Tage, um die Lukas die Himmelfahrtserzählung in Apg 1 erweitert, sind längst auch im metaphorischen Empfinden vorbei. Das Leben gleicht einem Himmelfahrtskommando und auch 2023 wird der Himmel nicht nur meteorologisch wolkenverhangen sein. Ist es nicht vielmehr Zeit, nicht nur alle Jahre wieder, sondern alle Tage wieder adventliche Töne anzustimmen? O, Heiland reiß die Himmel auf …, verbunden mit der verzweifelten Frage: Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?

Himmelfahrt konterkariert die adventliche Bitte nicht. Mag Religionskritik auch den Zynismus der Götter bestätigt sehen, wenn die Antwort auf das »Herab vom Himmel lauf« das Sich-Entziehen des Göttlichen vor aller Augen ist. Sieht da nicht auch der Glaubenszweifel hin? Doch wie beim eingangs erwähnten »Hände-hoch-Kinderspiel« kommt es auf das genaue Hinhören an. Die Erzählung des Glaubens geht anders. Was adventlich begonnen hat, setzt sich himmlisch fort. Allerdings nicht als göttliche Komödie oder Wolkenspiel unter Absehung der Menschheit. Gottes Kommen in die Welt ist keine Stippvisite, deren Ende die Kirche dann auch noch mit einem Feiertag belegt: Sonntag da, Donnerstag schon wieder weg. Lukas, der Ohrenzeuge und Schriftkundige, schafft mit seiner Erzählfreude ein so dichtes Gewebe der Gottesgeschichte, dass der Himmel offen bleibt und die Erde nicht fällt.

Das Magnificat, jenes Lied der Maria, das die Antwort auf die Frage nach dem Trost der ganzen Welt ist, findet im Niederfallen der Jünger seinen Widerhall. Das ist der sichere Grund des Glaubens, von dem Lukas berichten will, weil die Geschichte weitererzählt werden muss. Eingebettet in das göttliche dei lässt sich gegen den Augenschein und angesichts des pfingstlichen Advents aufstehen und dennoch jubeln: »Gottes Sein bleibt im Kommen.« (Jüngel, 415)

Literatur: Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 51986; Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas (ÖTK 3,2), Gütersloh 1977; Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas (NTD 3), Göttingen 191986.

B

Regina Sommer

IV Entgegnung: Ekstase pur

A benennt das Thema der Texterschließung mit »Kein Grund zum Abheben«. Am Ende des Lukasevangeliums gibt es aber jede Menge Gründe zum Abheben: Ein tot Geglaubter ist nicht tot, sondern verabschiedet sich segnend gen Himmel. Wenn das kein Grund zum Abheben, zum Verrücktwerden ist! Klaus Berger beschreibt die Jünger und Jüngerinnen bezogen auf Lk 24,50–53 als »Ekstatiker […], Chaoten der dritten Art – wir stellen uns diesen Abschied leicht zu feierlich vor, wie das Ende eines Staatsbesuchs, die Jünger ordentlich versammelt. Aber wie zu Ostern geht es um etwas Leichtsinniges, Irreguläres: Dass ein Toter nicht tot ist (wie es sich gehören würde), dass Gott doch mit den Toten ist, den er verlassen zu haben schien.« (Berger, 153)

Der Himmel kommt ganz nah auf die Erde – das haben die Jüngerinnen und Jünger im Zusammensein mit Jesus erlebt. Mit ihm haben sie die Kraft aus der Höhe (V.49) erfahren, die Kranke heil, Resignierte hoffnungsvoll und sogar – das erleben sie jetzt – Tote wieder lebendig machen kann. Diese dynamis-Erfahrung reißt heraus aus dem Gewohnten, verwandelt, lässt Grenzen überschreiten – damals wie heute.

V Erschließung der Hörersituation: Die Hände zum Himmel, kommt lasst uns fröhlich sein!

Christi Himmelfahrt ist von den christlichen Feiertagen derjenige, der kulturell am deutlichsten umgewidmet worden ist. Als Vatertag oder in den östlichen Bundesländern als Herrentag oder Männertag begangen führt er größere und kleinere Gruppen mit Bollerwagen und Bier hinaus in die Natur. Den Himmelfahrtstag draußen in der Natur zu begehen, ist allerdings von jeher Brauch. »Flurgänge und Umritte draußen auf den Wiesen, in den Wäldern und auf Berghöhen gehören zu regionalen Traditionen der Volkskultur – man feiert den offenen Himmel unter dem freien Himmel.« (Fechtner, 112) Himmelfahrt steht für Entgrenzung, für Ausbruch und Aufbruch aus den üblichen Räumen, für eine Transzendierung des Alltags. Dies lässt sich auch in der volkstümlichen Umwidmung wiederfinden. Im nordhessischen Willingen treffen sich am Vatertag alljährlich hunderte junge Menschen, um drei Tage zu trinken und zu feiern. »Und dann die Hände zum Himmel, kommt lasst und fröhlich sein. Wir klatschen zusammen und keiner ist allein« – so lautet der Refrain eines Schlagers von den Kolibris, zu dem die berauschte Masse tanzt und singt. Man mag das pubertär und abstoßend finden. Phänomenologisch erinnert die Verfassung der Vatertagsgemeinde jedoch an die Ekstase der Jünger, die in Lk 24 beschrieben wird. Der Unterschied scheint darin zu bestehen, dass die alltagsunterbrechende Wirkung der Vatertagsekstase nicht auf Dauer gestellt werden kann bzw. (vermutlich) keine dauerhafte Veränderung bewirkt. Dies ist beim Freudentaumel der Jünger nach der Erzählung des Lukas anders. Die durch die Begegnung mit dem auferstandenen Christus ausgelöste Freude entwickelt sich zu dauerhaftem Lobpreis. In der Fortsetzung der Apostelgeschichte folgt auf die Himmelfahrtserfahrung die Gabe des Geistes, eine Erfahrung mit ebenfalls ekstatischen Auswirkungen, die Umstehende als rauschhaften Zustand deuten (Apg 2,13).

Für die Predigt an Himmelfahrt erscheint es mir wichtig und gewinnbringend, die Sehnsucht nach Entgrenzung und nach Alltagsunterbrechung, die am Vatertag deutlich wird, aufzunehmen und mit dem Freudentaumel anlässlich der Himmelfahrtserfahrung zu verbinden. Dabei ist die Spannung mit zu bedenken, die auch A thematisiert: Der Freudentaumel entsteht angesichts eines schmerzhaften Abschieds. Das Gotteslob erschallt in unheilen Zuständen. Dennoch bewirkt die Ekstase der Jünger eine dauerhafte Perspektivveränderung (metanoia, V.47). Unter den segnenden Händen Christi erscheint die Welt in einem neuen Licht. Gewalt, Schmerz und Tod haben nicht das letzte Wort, Unrecht und Ungerechtigkeit sind nicht von Dauer. Alles kann und wird sich ändern, weil Gott sein Volk besucht und erlöst hat – wie Maria (Lk 1,46–55) und Zacharias (Lk 1,68–79) singen. In dieses Jubellied einzustimmen, dazu ermutigt die Lukasgeschichte – nicht nur an Himmelfahrt.

VI Predigtschritte: Dass du mich einstimmen lässt in deinen Jubel

a) Zeit zum Abheben: Ein Einstieg in die Predigt wäre entweder mit einem »Vatertagszenario« möglich (s. o.) oder mit Bezug auf den Film »Der Rausch« von Thomas Vinterberg. In diesem Film, in dem vier Lehrer das Experiment verabreden, immer einen Alkoholpegel von 0,5 Promille einzuhalten, geht es ebenfalls um die Sehnsucht nach entgrenzenden Erfahrungen vor dem Hintergrund persönlicher Krisen und eines belastenden Alltags. Von dort aus wäre die Himmelfahrtsgeschichte in den Blick zu nehmen.

b) Himmelhoch jauchzend – zum Tode betrübt: Die Ambivalenzen der Himmelfahrtserfahrung sind sodann stark zu machen: Der Freudentaumel entsteht inmitten eines schmerzhaften Abschieds. »Himmelhoch jauchzend – zum Tode betrübt« – so drückt es Johann Wolfgang von Goethe in einem Gedicht aus:

»Klärchens Lied

Freudvoll

Und leidvoll,

Gedankenvoll sein,

Hangen

Und bangen

In schwebender Pein,

Himmelhoch jauchzend,

Zum Tode betrübt –

Glücklich allein

Ist die Seele, die liebt.«

Der Segen Christi wird über die, die ihm nachfolgen ausgebreitet. Die Zuwendung im Segen umfasst beides: Freud und Leid, das Verbindende und das Trennende, Schmerz und Sehnsucht. Das gibt Mut und Kraft in den Herausforderungen des Alltags und unserer Welt. Mit dem Kommen Christi ist die Hoffnung verbunden, dass sich die Dinge grundlegend ändern können (vgl. die Lobgesänge Marias und des Zacharias). Das Lukasevangelium erzählt von vielen Beispielen, die zeigen, wie Jesus diese neue Perspektive eröffnet und danach handelt. Dass auch der Tod überwunden werden kann, ist das Unerhörte, das die Nachfolgenden in Ekstase versetzt.

c) Dass du mich einstimmen lässt … das erhebt meine Seele: Im Einstimmen in das Gotteslob verändert sich die Blickrichtung. In der Gemeinschaft der Schwestern und Brüder feiern wir die Gegenwart Christi: Die Hände zum Himmel, kommt lasst uns fröhlich sein! Noch ist nicht alles gut, aber es kann, es wird gut werden. Anzeichen des Wandels können wir uns gegenseitig erzählen. Hoffnungsgeschichten, die zeigen: Der Himmel ist nah, Gottes Reich ist mitten unter uns!

Literatur: Klaus Berger, Wie ein Vogel ist das Wort. Wirklichkeit des Menschen und Parteilichkeit des Herzens nach Texten der Bibel, Stuttgart 1987, 152–157; Kristian Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres. Vom Sinn der Feste und Zeiten, Gütersloh 2007; Henning Luther, Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags, in: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 239–256.

Film: »Der Rausch« (Thomas Vinterberg, Dänemark 2020).

Internet: Gedicht »Klärchens Lied« von Johann Wolfgang von Goethe, https://www.zgedichte.de/gedichte/johann-wolfgang-von-goethe/klaerchens-lied.html (zuletzt abgerufen am 09.11.2022).

6. Sonntag nach Ostern (Exaudi) – 21.05.2023

A

1 Samuel 3,1–10

Hinhören!?

Kristin Weingart

I Eröffnung: Zeitenwende

Im biblischen Geschichtsbild markiert die Epoche Samuels eine Zeit des Übergangs. Alte Institutionen gehen unter und werden durch neue abgelöst. An die Stelle der jeweils individuell von Gott erwählten Richter als charismatische Rettergestalten treten die Könige mit einer dynastisch legitimierten Herrscherfolge. Die Tage des Heiligtums von Silo als Standort der Bundeslade ebenso wie der Eliden als Priesterfamilie sind gezählt. Der Tempel in Jerusalem erscheint am Horizont, wo die Lade ihre bleibende Ruhestätte finden und andere Priester amtieren werden.

Die Geschichten, die in dieser Zeit spielen, kreisen um Samuel, eine vielschichtige Gestalt, die eine Fülle an Rollen auf sich vereint: Er ist Priester und Richter, Königsmacher und Königskritiker und – bei alledem – auch noch ein Prophet. Samuel steht mit seinen vielen Rollen zwischen den Zeiten; er gehört nicht mehr zur alten Epoche, kommt aber auch in der neuen noch nicht an. Als Priester designiert und ausgebildet (1Sam 2,18; 3,1) wird in seiner Zeit das Heiligtum in Silo an Bedeutung verlieren. Als letzter Richter und Streiter für die Theokratie wird er zum Wegbereiter der Monarchie. Manchmal wirkt er später wie eine tragische Gestalt, die am Ende die Welt nicht mehr versteht. In 1Sam 3,1–10 ist es jedoch noch nicht so weit; hier geht es um den jungen Samuel, der in mancher Hinsicht die Welt noch nicht versteht.

Bei dieser Fülle an Rollen verwundert es nicht, dass sich die Samuelbücher viel Zeit nehmen, um Samuel einzuführen. In 1Sam 1 geht es um die besonderen Umstände seiner Geburt, in 1Sam 2 um sein Hineinwachsen in und seine Legitimation für das Priesteramt. In 1Sam 3 kommt diejenige Rolle hinzu, die sich am ehesten ungebrochen durch die Samuelerzählungen zieht – die Rolle Samuels als von Gott berufener Prophet.

II Erschließung des Textes: Eine Berufungserzählung

1. Das verlöschende Licht

Der Text setzt mit der Diagnose einer gottlosen Zeit ein: »Das Wort des Herrn war selten in jenen Tagen, es gab kaum eine Vision.« (1Sam 3,1) Ein derartiger Erzählanfang weckt Fragen (Wie kam es dazu?) und Erwartungen (Wird es so bleiben? Was hat dies mit dem Knaben Samuel zu tun, von dem nun schon so viel die Rede war?). Zu den Hintergründen liefert der Text keine einfache Erklärung, aber gibt doch verschiedene Hinweise, allesamt Symptome dieser krisenhaft erlebten Zeitenwende: (1) Religiöse Institutionen bzw. Amtsträger versagen. Die Söhne Elis sorgen sich weder um Gott noch die Gemeinde, sondern nur um ihr eigenes Wohlergehen (1Sam 2,29). Der Kult verweist nicht mehr auf Gott, sondern wird zum Selbstzweck bzw. Versorgungsinstitut der Amtsträger. (2) Die maßgebliche Persönlichkeit kann ihr Amt aus Altersgründen nicht mehr ausfüllen. Der hochangesehene Priester Eli bietet dem bösen Treiben seiner Söhne keinen Einhalt. Damit rechtfertigt er nicht nur deren Tun vor all jenen, die zum Heiligtum in Silo kommen, nein, er stellt sie auch über sein Amt als Priester. »Du ehrst deine Söhne mehr als mich« (1Sam 2,29), so klagt Gott Eli mittels eines zu ihm gesandten Gottesmannes an. Elis Augen sind aber auch zu schwach geworden, um selbst noch sehen zu können. Das mag eine normale Begleiterscheinung des hohen Alters sein, hier hat es aber auch eine theologische Tiefendimension. 1Sam 3,1 macht die Gottesferne und den Mangel an Gottesworten am Ausbleiben von Visionen fest. Das schwindende Sehvermögen Elis wirkt sich also auch auf das innere Sehen, die visionäre Gottesschau aus. (3) V.1 deutet noch eine weitere Möglichkeit an: Die fehlende Sichtbarkeit Gottes, d. h. die Gottesfinsternis, könnte auch von ihm selbst verursacht sein. Der Gedanke, dass sich Gott zurückzieht, sich selbst verbirgt und nicht gefunden werden will, ist auch in anderen Texten belegt, ganz eindrücklich z. B. in Hos 5,6.

Völlig dunkel ist es jedoch noch nicht. 1Sam 3,3 erzählt, dass die Lampe Gottes noch nicht verloschen war. Hier mag es ganz praktisch um die Bestimmung der Tages- bzw. Nachtzeit anhand der Abläufe im Heiligtum gehen. Vermutlich leuchtete die Lampe die ganze Nacht, so dass wohl an eine Zeit kurz vor der Morgendämmerung gedacht ist. Aber dass der äußerst knapp erzählende Text diese Information nennt, hängt vielleicht auch an einer metaphorischen Anknüpfung. Der sich um Eli ausbreitenden Dunkelheit steht das Bild des Lichts entgegen, das immerhin noch leuchtet und ausgerechnet dann und dort, wo sich nun der junge Samuel räumlich in größter Nähe Gottes befindet, im Heiligtum bei der Bundeslade.

2. Berufung – ganz wörtlich

Die entscheidende Szene in 1Sam 3,4–10 ist auf den ersten Blick völlig unspektakulär; erzählt wie eine alltägliche Begebenheit, eine nette kleine Verwechslung, die schließlich aufgelöst wird. Ganz schlicht, knapp und ohne viel Aufhebens kommt sie daher und ist doch sehr kunstvoll gestaltet. Da braucht es zwei plus einen plus noch einen Anlauf – zwei vergebliche, den zur Erkenntnis führenden dritten und dann den erfolgreichen. So wird die Spannung erhöht und die Auflösung verzögert, und so können auch manche Punkte durch Wiederholung oder Nuancierung betont werden.

So zeigt sich z. B. der Informationsüberschuss, den die Leser*innen gegenüber Samuel haben. Über die wiederholte Redeeinleitung »Und JHWH rief Samuel« (3,4, vgl. 3,6.8) wissen erstere, dass es Gott ist, der Samuel anspricht. Samuel weiß es erst nicht, wir können ihm (und Eli) dabei zuschauen, wie es ihnen klar wird. Die Wiederholungen erlauben auch eine subtile Zeichnung Samuels. Beim ersten Rufen rennt er mit einem »Hier bin ich« zu Eli. Beim zweiten Mal »geht« er nur noch, beim dritten Mal muss er eigens »aufstehen« und dann erst »gehen«. Er wird immer zögerlicher, merkt vielleicht, dass hier etwas nicht stimmt, kommt aber selbst doch nicht zur entscheidenden Erkenntnis.

Unspektakulär an der Oberfläche geht es hier aber doch um ein Geschehen, das das Alltägliche tiefgreifend durchbricht: Gott macht sich bemerkbar in der menschlichen Lebenswelt. Dies geschieht nun gerade nicht vermittelt durch das Sehen, so wie es das Wortfeld des Lichts, der Augen und der Vision nahelegen würde. Hier geht es um das Hören, also ein anderes Medium. Dass die Gottesfinsternis auf diese Weise endet, geht gegen jede Erwartung, auch jene, die bei uns Leser*innen über die Verse 1–3 geweckt worden war. Samuels Begriffsstutzigkeit ist damit freilich gleich doppelt entschuldigt. Er konnte Derartiges mangels fehlender Gottesoffenbarungen noch gar nicht erlebt haben, und der allgemeine Erwartungshorizont richtete sich eher auf die Gottesschau als das Gotteshören. Das Hören des Rufes ist hier jedoch das Entscheidende, denn es geht um Samuels Berufung. Er wird über diesen Ruf zum Propheten, der zunächst Eli und später ganz Israel (3,21) Gottes Wort verkündigt.

III Impulse: Hören lernen

1. Aufmerksamkeit in bewegten Zeiten

Krisenzeiten sind Zeiten der Gottesferne. So wurden und werden sie oft erlebt, wovon nicht zuletzt viele Klagepsalmen Zeugnis geben. Die Ursachen der Krise stellen sich meist vielschichtig und komplex dar, so wie in 1Sam 3: ein Ineinander von individueller Schwäche und institutionellem Versagen, dazu noch manches Unerklärliche und Unverfügbare. Aber ist Gott wirklich fern oder scheint es nur so? Dringt er vielleicht nicht durch in den Aufgeregtheiten des Krisenmodus? Bei Samuel ist das vermisste »Wort Gottes« dann schließlich doch zu hören – in den Ohren eines jungen Tempeldieners und fern von allem Getriebe in der nächtlichen Stille des Tempels.

2. Der gute Lehrer

1Sam 3,1–10 ist eine Berufungserzählung. Sie erklärt, wie Samuel zu einer seiner Rollen, vielleicht zu seiner wichtigsten Rolle gekommen ist: Samuel ist ein Prophet. Er hat diese Rolle nicht gesucht und nicht erwartet, er war vielmehr auf eine ganz andere vorbereitet und ausgerichtet. Er sollte ja eigentlich Priester werden, so wie sein Lehrmeister Eli.

Als aufmerksam Hörender brachte er aber eine wichtige Anlage für das Prophetenamt mit. Das allein reichte aber nicht aus. Ebenso nötig war ein guter Lehrer, wie es Eli hier ist. Samuel war zunächst allein auf ihn bezogen, vermutete, dass die entscheidende Stimme die seines Lehrers war. Eli konnte ihm schließlich die Ohren richtig öffnen und ihm erklären, was geschah – ein Lehrer, der den Schüler über die eigene Rolle hinauswachsen lässt und ihn letztlich auf Gott verweist.

3. Die Stimme Gottes

Gott macht sich nicht so bemerkbar, wie es erwartet wird. Zur Zeit Elis und am Heiligtum von Silo rechnete man mit Visionen und erlebt schmerzlich deren Ausbleiben. Gott selbst erscheint dann in einer Audition, als ein Rufer, der geduldig mehrfache Anläufe unternimmt, bis er zu Samuel durchdringt.

Gott macht sich aber auch nicht so bemerkbar, dass es sogleich erkennbar ist. Sein Rufen ähnelt so sehr der Stimme seines Lehrers, dass Samuel beide gleich mehrfach verwechseln kann. Es ist ein übermenschliches, aber keineswegs unmenschliches Rufen, eines das die göttliche Stimme verwechselbar, aber auch nahbar macht. Ein rabbinischer Midrasch erzählt Ähnliches von der Berufung des Mose (Shemot Rabba 3 zu Ex 3,4–6, vgl. Dietrich, 194): Als Gott Mose berufen wollte, fragte er sich, wie er ihn anrufen solle. Ruft er zu laut, wird er erschrecken; ruft er zu leise, wird er überhört werden. Er entscheidet sich, Mose mit der Stimme von dessen Vater zu rufen. Als Mose dann sagte: »Hier bin ich. Was wünscht mein Vater?«, da antwortete Gott: »Ich bin nicht dein Vater, sondern der Gott deines Vaters.«

Literatur: Walter Dietrich, 1Samuel 1–12 (BK VIII/1), Neukirchen-Vluyn 2010; Rainer Kessler, Samuel. Priester und Richter, Königsmacher und Prophet (BG 18), Leipzig 2007; Erich Zenger, »Gib deinem Knecht ein hörendes Herz!« Von der messianischen Kraft des rechten Hörens, in: E. Zenger, Mit Gott ums Leben kämpfen. Das Erste Testament als Lern- und Lebensbuch, hg. v. Paul Deselaers und Christoph Dohmen, Freiburg u. a. 2020, 34–48.

B

Johannes van Oorschot

IV Entgegnung

A eröffnet eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten in der Darstellung des Textes. A spricht von »Zeitenwende« und einer »Zeit des Übergangs«. Der Bibeltext diagnostiziert eine »gottlose Zeit«, in der das Licht Gottes beinahe verloschen ist. Von »individueller Schwäche und institutionellem Versagen« ist später auch die Rede. Kaum kann ich mich erwehren, zu überprüfen wie diese Begriffe zur Gegenwartsanalyse taugen. Schon der Vergleich zwischen der damaligen und der heutigen Situation inspiriert zum Nachdenken. Doch in die Analyse der Gegenwart schiebt sich die Berufungsgeschichte: Da ist das »Wort Gottes dann schließlich doch zu hören«. Jemand ist »aufmerksam Hörender« und hat nicht zuletzt auch einen »guten Lehrer«. Die Berufung lässt es einfach erscheinen. Scheint eine Lösung zu präsentieren: Hört nur genau hin und vertraut den Lehrern! War die Krise doch nicht so krisenhaft? Was die Erfahrung Samuels bei den Hörerinnen und Hörern auslöst und wie sie in ihrer Welt relevant werden kann, bleibt für mich zu klären.

V Erschließung der Hörersituation

Im Jahr 2022 zumindest hatte das Wort Zeitenwende, das A verwendet, Konjunktur. Die russische Invasion der Ukraine hat die Sicht auf Selbstverständlichkeiten verändert. Auch das Wort Krisenzeit dürfte am 6. Sonntag nach Ostern 2023 noch Anklänge finden. Nach dem Winter wird sich gezeigt haben, wie sich die Energiekrise über den Winter entwickelt hat und in welcher Weise die Coronakrise den Winter geprägt hat. Die bleibende Herausforderung der Klimakrise, deren Wirkungen im Alltag immer spürbarer werden, kommt hinzu. Wie die Menschen diese Krisen erlebt haben und welchen Umgang auch die Kirchen(gemeinden) gefunden haben, dürfte den Prediger:innen vor Ort vor Augen stehen. Jedenfalls scheint der Hintergrund der Berufungserzählung von Samuel Anklänge in der heutigen Lebenswelt zu finden.

Auf welche Resonanz die Deutung dieser Krise(n) und das religiöse Framing des Erlebens trifft, ist eine weitere Frage. Anders gesagt: Es ist zu schauen, ob die Hörer:innen die diversen als krisenhaft erfahrenen Zusammenhänge der Welt als ein Konglomerat von »individueller Schwäche und institutionellem Versagen« (A) wahrnehmen. Und noch einmal eine andere Frage ist, ob diese Erfahrungen als Anzeichen für das »Verlöschen des göttlichen Lichtes« (A) gelesen werden. Gerade für die zweite Deutung wäre sicherlich zwischen dem Blick auf die allgemeinen Veränderungen in der religiösen Landschaft – wie auch immer man zu Thesen zur Säkularisierung steht – und dem religiösen Framing von Energie-, Umwelt oder Coronakrise zu unterscheiden.

Aber nicht nur der Vergleich der gesellschaftlichen Situationen drängt sich auf. Soll der Predigttext Relevanz für das alltägliche Leben gewinnen, braucht es auch den Blick auf die Strukturen individuellen Erlebens, in deren Horizont Samuels Berufung zum Propheten verstanden wird. Wie wird das eigene Selbst-Werden mit dem Prophet-Werden Samuels verbunden? Meine These lautet, dass das Erlebnis, zu dem zu werden, was man ist bzw. sein wird, durchaus anders und kontrastreich zur Geschichte von Samuel erlebt wird. Dort gibt es – im Gegensatz zum eigenen Erleben – Arbeit an der eigenen Identität, die auf Gottes Durchbrechen des Alltags basiert – tatsächliche Auditionen. Es gibt den vertrauenswürdigen Lehrmeister und damit eben doch vertrauenswürdige Institutionen, die Samuel von der alleinigen Verantwortung seiner Identitätsarbeit entlasten. Und so steht am Ende eine göttlich legitimierte Rollenklarheit: Samuel ist Prophet geworden. Der Midrasch verweist auf die Verwechslungsgefahr – Gott nutzt die Stimme seines Vaters um zu Mose zu sprechen. (Psychoanalytisch geschulte Personen hätten hierzu bestimmt mehr zu sagen.) Aber das Zögern Samuels, wie A es beschreibt, wird überwunden und Samuel gewinnt so viel Sicherheit, dass er sich komplett unter die ihn beanspruchende Stimme stellt: »Dein Knecht hört.« Vielleicht ist der Blick der Leser:innen auf Samuel also geprägt von Sehnsucht oder Eifersucht. Vielleicht versteht man diese Geschichte als Versprechen, dass eine ähnliche Berufung, eine Identitätsarbeit, an deren Ende diese Sicherheit liegt, im Möglichkeitsraum der Menschen liegt. Eine Sehnsucht, Gott selbst durch Audition im Alltag zu hören. Aber vielleicht reagieren Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen auch mit Eifersucht, Ablehnung oder einem Vorwurf an Gott. Der Psalm des Sonntags erfasst die Anfrage, die ich formulieren will, besser: »Mein Herz hält dir vor dein Wort: ›Ihr sollt mein Antlitz suchen.‹ Darum suche ich, Herr, dein Antlitz.« (Ps 27,8)

Glaubt man der Statistik, scheint eine diffuse Erwartung an schicksalhafte Fügung und göttliches Wirken im Alltag zumindest bei einem Teil der Bevölkerung weiter vorhanden (je 52 % stimmen der Frage zu, ob es Wunder und schicksalhafte Fügungen gibt; vgl. FAZ). Analysen über die Identitätsarbeit legen allerdings deutlich mehr Distanz zum Text und einer göttlich legitimierten Ursprungserzählung eines Selbst nahe: Das Bild von der Identitätsarbeit als Patchwork-Projekt kann auch in einer Predigt vor Augen führen, wie die Arbeit an den eigenen Identitäts-Flicken risikobehaftet und unabschließbar bleibt (vgl. Heiner Keupp): Menschen stricken ihre eigene Identität. Grundlage ihrer Arbeit ist nicht der eine (rote) Faden, der sich durch das ganze Leben zieht, sondern viele unterschiedliche Versatzstücke. Verantwortlich für die Zusammenstellung bleibt der einzelne Mensch – die Gesellschaft stellt nur die Versatzstücke bereit, die es in Eigenverantwortung zu vernähen gilt. Die Praktiken, in denen sich dieses »hybride Subjekt« formt, sind von Widersprüchen und Spannungen durchzogen (vgl. Andreas Reckwitz). Henning Luthers Rede vom Fragment und dem Scheitern des bürgerlichen Subjekts kommt in den Sinn – die Gesellschaft löst ihr Versprechen nach Selbstbestimmung nicht ein (Henning Luther). Versteht man die Berufung von Samuel als Berufung zum Beruf, ist der Hinweis weniger pathetisch, dass gerade einmal 14 % der Berufstätigen noch nie ihren Arbeitgeber gewechselt haben – wenige sind also wie Samuel zu einem Beruf berufen (vgl. Statista). Patchwork-Arbeit, Eigenverantwortung und Fragmentarität enthalten jedoch auch einen (relativen) Zugewinn an Freiheit: Denn die Gesellschaft zwingt weniger in lebenslange Rollenklischees. Bestandteile der Identität – seien es Geschlechter-, Familien- oder andere Bilder – werden kritisierbar.

In der Predigt an den Resonanzen zwischen der Berufungsgeschichte und den unterschiedlichen Aspekten der Lebenswelt zu arbeiten, scheint mir vielversprechend. Die Berufungsgeschichte kann eine Sehnsucht nach Sicherheit, wie sie Gottes Stimme verheißt, auslösen. Oder aber man hört die Berufungsgeschichte auf dem Appell-Ohr: Höre für deine Arbeit am Selbst wie Samuel auf Gott! Ein Appell, der meines Erachtens den Text fremd macht, wenn er nicht mit den Realitäten der Lebenswelt konfrontiert wird.

VI Predigtschritte

Diese Predigt will die Berufung des Samuel nicht als Antwort auf die kollektive Krisenerfahrungen bearbeiten, sondern als beispielhafte Erzählung über das Selbst-Werden eines Menschen. Sie will Gefühle und Gedanken ausdrücken, die sich einstellen, wenn das Nachdenken über die eigenen Lebensentscheidungen der Geschichte von Samuels göttlicher Berufung begegnet. Dabei bietet der Sonntag Exaudi den Rahmen, um die Spannungen von göttlichem Wort, Berufung und erlebter Identitätsarbeit zu inszenieren. Unter dem Thema der wartenden Gemeinde, liegt der Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten: Jesus ist in den Himmel gefahren – aber der Heilige Geist ist noch nicht gesandt. Die Gemeinde steht in einer Zwischenzeit, ist gewissermaßen vor-pfingstlich für diesen Moment auf sich selbst gestellt. Ein Resonanzraum für die Erfahrung, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein bzw. Sehnsucht nach göttlicher Begleitung zu spüren. Diese Erfahrungsdimension auch im Blick auf die eigene, christliche Identität zu normalisieren, kann ein erster Schritt der Predigt sein. Der Predigttext – wie auch die anderen Lesungstexte, der Psalm oder die Lieder – schlägt demgegenüber hoffnungsvollere Töne an. Bezeugt andere Erfahrungen, die Menschen (vielleicht auch erst im Rückblick) in ihrem Leben erkennen und mit Gott verbinden.

Die Wahl eines Lebensentwurfs bzw. Berufswegs im Laufe des Erwachsenwerdens verknüpft Geschichte mit der Lebenswelt. Ist eine geteilte Erfahrung. Wie geht bzw. ging es nach dem Ende der Schulzeit weiter? Welche Abzweigungen wurden genommen, an welchen Weggabelungen gehadert und welche Pfade blieben unbeschritten? Ist so das Thema gesetzt, kann die Predigt darüber sprechen, welche Hoffnungen und Sehnsüchte, aber auch welche Probleme und Widerstände es auslöst, diese Entscheidung als Berufung – mit Samuel als Wechselspiel von Hinhören, Verwechslung, Lehrer und sprechendem Gott – zu verstehen. Stolz über Erreichtes, Trauer über Zurückgelassenes, Dankbarkeit für Bewahrung, Wut über Unmögliches.

Literatur: Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Frankfurt 2020.

Internet: Heiner Keupp, Patchworkidentität – Riskante Chance bei prekären Ressourcen, abrufbar: https://www.ipp-muenchen.de/texte/keupp_dortmund.pdf;Thomas Petersen, Christliche Kultur ohne Christen. Zum letzten Mal Weihnachten mit einer christlichen Bevölkerungsmehrheit?, in: FAZ, 22. Dez. 2021, Seite 8, https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/FAZ_Dezember2021_Christen.pdf;Statista, »Wie häufig haben Sie in Ihrem Arbeitsleben schon den Arbeitgeber gewechselt?«, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28914/umfrage/haeufigkeit-der-arbeitsplatzwechsel/ (alle zuletzt abgerufen am 02.10.2022).

Pfingstsonntag – 28.05.2023

A

1 Korinther 2,12–16

Leben aus Erfahrung, aber nicht ohne Vision

Horst Gorski

I Eröffnung: Streit in der Großstadt, zwischen Vielfalt und Rechthaberei

Welche Wirklichkeit erschließt uns der Heilige Geist? Welche Sicht auf unser Leben erschließt er uns? Fraglos klafft ein Graben zwischen der volkskirchlichen Erwartung nach einem fröhlichen Pfingstgottesdienst im lieblichen Mai und dem geistlichen Anspruch dieses Textes. Eine Gemeinde in einer griechischen Hafenstadt des 1. Jahrhunderts, konfrontiert mit Einwanderern, die verschiedenen Kulten und Philosophien anhängen; ein Missionar, der aus der Ferne sieht, wie die von ihm gepflanzte Botschaft unter die Räder von Parteiungen zu geraten droht; ein Text, der süffisant mit Anspielungen auf verschiedene Traditionen und Philosophien spielt – und der schließlich mit einem hermeneutischen Kunstgriff sich selbst autorisiert. Die Kunst der Predigt dürfte darin liegen, sich einen tiefen Einstieg in die Exegese zuzumuten, um den Hörern schließlich einen klaren, verständlichen Gedanken zu vermitteln.

II Erschließung des Textes: Prolegomena zu einer Phänomenologie des Heiligen Geistes

Nach verbreiteter Forschungsmeinung hat Paulus die Gemeinde in Korinth im Jahre 51 gegründet und schreibt den 1Kor etwa drei Jahre später aus Ephesus. In der Geschichte der historisch-kritischen Exegese gibt es zu kaum einem Text so viele Hypothesen wie zu 1Kor. Legion sind die Vorschläge, ihn in mehrere Briefe zu zerlegen und die Reihenfolge der Stücke zu sortieren. Die neuere Forschung sieht hiervon ab. Dennoch bleibt die Auslegung hoch komplex, weil einerseits offensichtlich ist, dass Paulus sich mit verschiedenen Konflikten und Fragestellungen in der Gemeinde auseinandersetzt. Andererseits ist unsicher, wie seine Gegner und die Parteiungen religions- oder philosophiegeschichtlich einzuordnen sind. Mehrere Schlüsselbegriffe wie »Weisheit« (sophia), »geistlich« (pneumatikos), »psychisch« (psychikos), »Sinn« (nous) begegnen allein in unserem kleinen Abschnitt, und jeder einzelne kann traditionsgeschichtlich unterschiedlich zugeordnet werden: zu der alttestamentlich-jüdischen Weisheitsspekulation, der jüdisch-hellenistischen dualistischen Weisheit, der Gnosis oder der Apokalyptik (Zeller, 145–150).

Während früher Theorien Konjunktur hatten, die die Begriffe alle einer einzigen Tradition zuordneten und damit eine bestimmte Parteiung als Gegner des Paulus konstruierten, werden heute eher differenzierte Zuordnungen vertreten. Treffend dürfte schon Hans Conzelmanns Bemerkung sein, dass die verschiedenen popularphilosophischen Richtungen in Korinth »auf der Straße aufzulesen waren« (Conzelmann, 30). Insofern kann man Korinth durchaus mit dem Deutschland der Gegenwart vergleichen: Ein bisschen Christentum, freigeistiger Humanismus, Meditation, Kapitalismus, soziale Marktwirtschaft, Liberalismus, Rechtspopulismen – auch in heutigen Predigten arbeiten wir mit Bezugnahmen und Anspielungen auf alles Mögliche, ohne dass dies so klar zu sortieren wäre. Wer dies 2000 Jahre später analysieren wollte, hätte Mühe. Man kann aber fragen, ob dies für die hermeneutische Erschließung der theologischen Relevanz des Textes überhaupt von Bedeutung ist. Für sie ist wichtiger, den Fokus der Aussage zu erschließen, der durch all diese Details hindurch sichtbar wird.

Zur Einzelexegese

Nachdem Paulus in 1Kor 1,18–2,5 alle menschliche Weisheit aus der Sicht des Kreuzes als Torheit bezeichnet hat, dreht er ab 2,6 rhetorisch gegen seine Gegner den Spieß um: Auch er könne von Weisheit reden – aber nur unter den Vollkommenen. Er spielt mit Mehrdeutigkeiten: Wer die »Wir« sind, ob nur die Apostel oder alle Getauften und nur die besonders Verständigen, das bleibt offen. Seinen Lesern bleibt es überlassen, wie sie sich zuordnen und ob sie meinen, den Geist Gottes, von dem Paulus spricht, zu haben.

Theologisch bedeutsam ist die Wendung »damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt ist« (V.12). Diese Bestimmung des »Geistes aus Gott« (als Gegensatz zu »Geist der Welt«) wehrt einer schwärmerischspekulativen Deutung und der Ablösung der Geisterfahrung von der Christologie. Es geht um das Erkennen der Gnadengaben, die Christus uns schenkt. In charisthenta ist charis enthalten (Schrage, 260).

Ein Auslegungsproblem stellt pneumatikois (V.13) dar. Denn grammatisch kann man es entweder als Maskulinum lesen: »indem wir geistlichen (Menschen) Geistliches auslegen« (Zeller, 130); oder als Neutrum: »indem wir Geistliches mit Geistlichem prüfen« (Schrage, 239). Entsprechend ist dies entweder die Frage an die Leser, ob sie zu solchen geistlichen Menschen gehören; oder es geht um das Kriterium geistlicher Rede, die nur an Geistlichem gemessen werden kann.

Ebenfalls erklärungsbedürftig ist die Gegenüberstellung pneumatikos – psychikos (V.14f.). Sie ist bei Paulus singulär und begegnet als feste Prägung erst später in der Gnosis. In der jüdischen Tradition ist der Mensch nach Gen 2,7 eine »lebendige Seele«. Eine Abwertung des Seelischen ist aus dieser Tradition nicht zu erklären. Luther übersetzt »der natürliche Mensch«, was wohl den Sinn gut trifft: Paulus denkt nicht dualistisch, aber denkt an den natürlichen, erlösungsbedürftigen Menschen (ausführlich Zeller, 146f.).

Ungewöhnlich ist der Begriff nous Christou (V.16). Paulus übernimmt nous als Übersetzung von hebr. rûach mit dem Zitat Jes 40,13 aus der LXX (Schrage, 266). Die Anwendung auf Christus ist singulär. Zu erwarten wäre Geist Christi. Die Übersetzungen schwanken zwischen Geist, Denken und Sinn. Wichtig ist, beide Male denselben Begriff zu benutzen, weil sonst die Pointe undeutlich wird: Weil wir Christi Sinn haben, können wir seinen Sinn ergründen.

Die Spitze der Argumentation geht folglich so: Auch ich kann über Weisheit reden. Aber die wahre Weisheit ist nur dem Pneumatiker erkennbar, der den Sinn Christi erkannt hat. Und das bin (alleine) ich. Folglich kann meine Weisheit von niemandem beurteilt werden. Johan S. Vos hat dies »eine Immunitätserklärung des Pneumatikers« genannt (zitiert bei Zeller, 143).

III Impulse: Fläschchen mit der Aufschrift »Vorsicht, infektiös!«

Am alten Stuttgarter Hauptbahnhof hing eine Neon-Installation von Joseph Kosuth, in Leuchtschrift der Satz »dass die Furcht zu irren, schon der Irrtum selbst ist«. Dieses Zitat aus der Einleitung von Hegels »Phänomenologie des Geistes« lautet vollständig: »Inzwischen, wenn die Besorgnis, in Irrtum zu geraten, ein Misstrauen in die Wissenschaft setzt, welche ohne dergleichen Bedenklichkeiten ans Werk selbst geht und wirklich erkennt, so ist nicht abzusehen, warum nicht umgekehrt ein Misstrauen in dies Misstrauen gesetzt und besorgt werden soll, dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.« Dies ist gewissermaßen das erkenntnistheoretische Credo des Deutschen Idealismus, das mit ihrer Subjektivierung von Wahrheit bis in die Gegenwart nachwirkt: Das Subjekt ist die einzige Instanz, die seine Erkenntnis reflektieren kann. Deshalb führe auch Kants Trennung von erkennendem Subjekt und objektiver Erkenntnis nicht weiter, weil sie auf einer Meta-Ebene doch als Einheit von Subjekt und Erkenntnis rekonstruiert werden müsse. Diese Erkenntnis Hegels ist so richtig wie heikel. Denn nur, wenn wiederum diese Meta-Ebene von einem Betrachter der nächsten Ebene mitreflektiert wird, wird Wissenschaft daraus. Wenn man sich diese Meta-Reflexion der eigenen Erkenntnisbedingungen aber erspart, wird eine schlichte kommunikative Schließung daraus, wie sie in der Gegenwart im Trumpismus, aber auch in den Social Media zu beobachten ist: »Was ich sage, ist die Wahrheit, weil ich es als meine Wahrheit behaupte.« Insofern haben wir es bei der Argumentation des Paulus mit einem ebenso aktuellen wie heiklen und geradezu infektiösen Gegenstand zu tun.

Als Fokus der Predigt kann gesetzt werden, wie wir über das Leben im Geist so sprechen können, dass wir uns nicht in Rechthaberei zerstreiten.

In der Predigt könnte dies so gestaltet werden:

Wenn es möglich wäre, den Heiligen Geist in Flaschen zu füllen, dann bekämen Sie heute jede und jeder ein Fläschchen davon. Zum Mitnehmen, zum persönlichen Gebrauch. Wenn Sie es öffnen würden, entstünde ein Wunder: Wir alle würden in verschiedenen Sprachen reden und trotzdem verstehen, was der andere sagt. Es wären Feuerflammen über unseren Köpfen zu sehen oder fröhlich tanzend auf unseren Zungen. Ein Hauch von Begeisterung durchzöge den Raum. Doch wenn wir anfangen würden, ins Gespräch zu kommen, würde jede und jeder sagen: »Ich habe den Heiligen Geist! Nein ich, nein ich … Und nur ich kann über die Wahrheit des Glaubens urteilen. Ich bin Christus am nächsten …« So könnte es nützlich sein, auf den Fläschchen ein Giftzeichen anzubringen: »Vorsicht, infektiös!« Was Paulus uns vormacht, ist zur Nachahmung nur begrenzt geeignet. Im Streit mit seinen Widersachern in Korinth beruft er sich darauf, dass nur der, der die Gedanken Christi genau kennt, die Wahrheit beurteilen kann. Und das ist er selbst.

Liedvorschlag: Hineh ma tow uma naim (Schön ist’s, wenn Brüder und Schwestern friedlich beisammen wohnen), Melodie aus Israel, Text: Dieter Trautwein (nach Ps 133,1).

Literatur: Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 1969; Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (PhB 414), Hamburg 1986 (Nachdruck); Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII/1), Zürich, Braunschweig, Neukirchen-Vluyn 1991; Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010.

B

Wilfried Engemann

IV Entgegnung

A versteht sich darauf, wichtige pneumatologische Register neutestamentlicher Exegese zu ziehen, sie nacheinander anzuspielen und entsprechende theologische Fragen anklingen zu lassen, die im Laufe der Christentumsgeschichte mit der Erfahrung und Erörterung des Heiligen Geistes verbunden wurden. Doch welches Lebensthema lässt sich aus diesen »Prolegomena zu einer Phänomenologie des Heiligen Geistes« intonieren, in denen ein abstrakter Begriff auf den anderen bezogen wird: Gott und Mensch, Geheimnis und Deutung, Torheit und Erkenntnis, die Welt und wir? Festzustellen, dass wir in diesem theologischen System auf der richtigen Seite stehen, genügt nicht. Wer predigt, sollte um der Anwesenden willen und in ihrem Interesse das Wort ergreifen, es muss also um Fragen gehen, die tatsächlich in ihrem Interesse liegen – auch und gerade in einer Predigt am Pfingstsonntag.

Die Pfingstgeschichte rückt die Urszene des Anfangs der Kirche als ein Sprachgeschehen in den Blick, bei dem Reden, Hören und Verstehen konkreter Inhalte die entscheidende Rolle spielen (vgl. Weidner, 89f.). Die zur Annäherung an diesen Vorgang bzw. diese Prämisse ausgesuchte Perikope ist freilich nicht gerade die erste Wahl, was mit ihrer ideologischen Argumentationsstruktur zusammenhängt. A bilanziert: »Auch ich [Paulus] kann über Weisheit reden. Aber die wahre Weisheit ist nur dem Pneumatiker erkennbar, der den Sinn Christi erkannt hat. Und das bin (alleine) ich. Folglich kann meine Weisheit von niemandem beurteilt werden.« In 1Kor 2,12–16 wird viel behauptet, wenig argumentiert; das unterstellte Unverständnis der anderen wird zur eigenen Unwiderlegbarkeit in Beziehung gesetzt. Dies alles um solcher Gehalte wie »Geist aus Gott«, »geistliche Dinge« und um der Feststellung der eigenen Identität willen: Wir sind im Unterschied zum Rest der Menschheit dadurch ausgezeichnet, »Christi Sinn zu haben« usw. Ideologische Rede zeichnet sich dadurch aus, dass sie viel behauptet, wenig erklärt, vage Begriffe benutzt und stets so tut, als gäbe es enorm Wichtiges zu vermitteln, was wiederum nur denen zugänglich sei, die sich damit ohnehin schon auskennen oder entsprechend disponiert sind (vgl. Eco, 25–36). Mangelndes Verstehen geht nie zu Lasten des Sprechers. Wer nicht versteht, ist selber schuld. Das Ganze gipfelt in der päpstlich anmutenden Prämisse, dass »der geistliche Mensch alles beurteilt, aber selbst von niemandem beurteilt werden kann« (V.14).

Den homiletischen Prinzipien einer dialogischen Predigtkultur werden diese Grundsätze nicht gerecht. Das müssen sie auch gar nicht! Wer mit diesem Text predigt, sollte aber nicht so tun wollen, als wäre es so. Ohne dies der Gemeinde vorzujammern, dürfen wir als Predigende gelten lassen, es mit einer als Predigttext wenig geeigneten Perikope zu tun zu haben, was in diesem Fall nicht aus Verstehensschwierigkeiten resultiert, sondern mit ihrer inhaltlichen Positionierung zusammenhängt. Wer heute predigt, steht vor der Herausforderung, sich gerade nicht gewohnheitsmäßig an die vermeintlich Geistbegabten zu wenden; es gilt, die Unterscheidung zwischen »Kerngemeinde« und »Randständigen«, Getauften und Neugierigen usw. gerade nicht als homiletisches Prinzip zu gebrauchen, sondern nach Möglichkeit für jedermann verständlich zu reden. Viele Pfingstpredigten strotzen (in der Erwartung, vor »geistlichen Menschen« zu sprechen?) von theologischen Betrachtungen rund um den Heiligen Geist.

Demgegenüber stehen wir – an einem Pfingstsonntag wie an jedem anderen Sonntag auch – vor der Herausforderung, Menschen an ihr Leben heranzuführen, sie darin zu unterstützen, im Gottesdienst als Mensch zum Vorschein kommen zu können, und gemeinsam zu vergegenwärtigen, was es mit einem Leben aus Glauben auf sich hat. In einer Predigt tun wir das mit Bezug auf die Traditionen des Christentums, zu Pfingsten auch mit Bezug auf die Sache mit dem Heiligen Geist. Aber wozu bringen wir diese Kategorie ins Spiel?

V Erschließung der Hörersituation

A setzt zu Recht den Fokus seines hermeneutischen Interesses auf den nous Christou (V.16) – klassisch als Denkart, Denkrichtung oder [intuitiver] Verstand im Sinne eines Ensembles von Urteilsprinzipien zu übersetzen. Pfingsten hat demnach mit der Wahrnehmung und Aneignung der Denkart Jesu zu tun, mit dem Verstehen und Leben seiner eigensinnigen Grundsätze, markant formuliert in seinen auf die Erfahrungen von Freiheit und Liebe bezogenen Lebensmaximen. Der Fokus des Interesses schwenkt zu Pfingsten von der Geschichte und dem Geschick Jesu zur Situation der Gemeinde heute, wobei Gegenwart und Zukunft der Gemeinde als Fortsetzung der Heilsgeschichte in den Blick kommen.

Das erste Pfingsten wird als ein Begeisterung auslösendes, Glauben stärkendes, Kräfte mobilisierendes, von Visionen beseeltes, Gemeinschaft stiftendes Sprachgeschehen überliefert. Das veranlasst dazu, nach Inhalten und Argumenten eines leidenschaftlichen Lebens aus Glauben zu fragen. Der nous Christou (V.16), pfingstliches Denken, ist u. a. von einem typischen Enthusiasmus bestimmt, von einer in die Zukunft gerichteten, weit ausgreifenden Vorstellungswelt, in der Menschen nicht nur den Geist empfangen, sondern Christus bzw. Gott in sich tragen. Das macht Glaubende zu »Enthusiasten«: Enthousiasmos bedeutet wörtlich »der Gottheit voll« bzw. »in Gott seiend«. Das Denken, Planen und Tun, die Erwartungen und Visionen der entheoi, der Enthusiasten, der Gotterfüllten, sind von einer überschwänglichen Begeisterung bestimmt, die von den Prinzipien des nous Christou gleichsam angeheizt werden (vgl. 2Kor 13,5; Kol 1,27; 1Joh 4,4.12 u. ö.).

Als Ergebnis von Pfingsten gewinnen Menschen neue Aussichten, sie erleben, wie sich ihr Leben in die Zukunft hinein öffnet, wie ihre eingefrorene Gegenwart auftaut. Dass sie Christen sind, heißt für sie, sich für ihre eigenen Erwartungen selbst in Anspruch nehmen zu lassen, für Versöhnung und Vergebung, für Frieden und Gerechtigkeit. Mit einer theologia oder religio triumphans hat das nichts zu tun. Für Christen bedeutet es keinen Bruch mit dem enthusiastischen Grundgefühl ihres Glaubens, wenn sie leiden, sich riskieren, für andere einstehen oder aus Glaubens- und Gewissensgründen offenen Auges Nachteile in Kauf nehmen. Mitleid, Erbarmen, Feindesliebe, Dankbarkeit, Hingabe – vgl. die Seligpreisungen (Mt 5,3–12) als cantus firmus des nous Christou – stehen nicht im Widerspruch zu einem erfüllten Leben: eine gute Basis für neue Pfingstgeschichten, in denen Bewegendes passiert.

VI Predigtschritte

Eine Pfingstpredigt, deren biblischer Bezugstext die Denkart Jesu (nous Christou) gleichsam als Mantra des Christseins ins Spiel bringt (V.16) und dabei mit weitreichenden Behauptungen in die Vollen greift, sollte die für Pfingsten ebenfalls typische Kategorie des Übersetzens und Verstehens nicht Außer acht lassen. Doch was gilt es nun in einer Predigt mit diesem Text neu zu verstehen? »Dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist« (V.12), meint Paulus. Bei diesen Geschenken geht es m.E. nicht um etwas, was die (hier im Text und heute in der Predigt angesprochene) Gemeinde noch nicht hätte. Pfingsten hat in seiner Wirkung (1.) viel mit der erneuten bzw. vertieften Aneignung schon gewonnener, leicht verschütt gehender Erfahrungen eines Lebens aus Glauben zu tun. Andererseits (2.) ist auch der visionäre Blick auf das Verheißene, auf die Konsequenzen des Aufbruchs in der Kraft des Geistes ein Geschenk. Mit dieser doppelten Perspektive steige ich in die Predigt ein:

[Predigteinstieg:] Liebe Gemeinde! Den mehr oder weniger zahlreichen Klassentreffen, die wir im Laufe eines Lebens besuchen, ging einst der große Tag des Aufbruchs voraus. Ob einfach als letzter Schultag oder als Fest begangen: Man ging mit begründeten Aussichten, mit zarten Hoffnungen und heimlichen oder laut ausposaunten Wünschen auseinander. Man unterstellte, dass wir neugierig wären aufs Leben, gut vorbereitet und motiviert, ausgestattet mit den notwendigen Kompetenzen und entsprechend hohen, ja überschwänglichen Erwartungen. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Enthusiasmus war zu spüren: Ich werde ... Du wirst ... Wir werden ... Es bestand jedenfalls kein Mangel an durchdachten Visionen.

Als hätte man abrupt damit aufgehört, sich mit künftigen Erwartungen zu befassen und von entsprechenden Vorgefühlen zu schwärmen, werden bei späteren Klassentreffen immer wieder die alten Geschichten aufgewärmt und dieselben Dias bzw. Filme gezeigt. Dabei steht uns doch jenseits des 50. Lebensjahres (allein schon aus Sicht der Neurobiologie) »die bessere Hälfte des Lebens« noch bevor (Hirschhausen/Esch, 52–77). Ich erinnere mich, wie ein ansonsten eher zurückhaltender Klassenkamerad bei einem dieser Treffen zum allgemeinen Erstaunen aufstand, sein Glas erhob und »auf die neuen Ufer« anstieß, zu denen wir unterwegs wären. »Können wir vielleicht einmal darüber reden, welche das sind?«, fragte er zaghaft in die Runde.

Pfingsten hat eine vergleichbare Doppelperspektive: Die Gemeinde erinnert sich zu ihrem Gründungsdatum an das, was sie zusammengeführt und bisher zusammengehalten hat, an überraschende Erfahrungen eines Lebens aus Glauben, in dem Freiheit und Liebe als Dimensionen der Weite und Tiefe ihres Lebens zum Tragen gekommen sind. Diese Erfahrungen werden nicht nur von Paulus immer wieder als die Wirkungen des Geistes beschrieben. Sie am eigenen Leibe zu erfahren, ist nicht das mühevoll erarbeitete Resultat von Selbstoptimierung oder religiöser Anstrengung, sondern Geschenk.

Doch zur erneuten Aneignung dessen, »was uns von Gott geschenkt ist« (V.12), gehören nicht nur Schlüsselgeschichten des Lebens, mit denen wir erzählen können, in welchem Maße wir (Gott sei Dank!) von Freiheit und Liebe abhängen, was uns wiederum die Erfahrung von Gegenwärtigkeit beschert. Der dem Pfingstgeschehen innewohnende Enthusiasmus (vgl. Apg 2,11–36) artikuliert sich auch als eine visionäre Kraft, die zu imaginieren vermag, womit wir als Glaubende aus guten Gründen rechnen können, wohin wir also unterwegs sind. Dass »die Denkart Jesu« Menschen so ergreift, dass sie z. B. unduldsam werden gegenüber unnötigem Leid, dass sie mit der Wahrheit nicht hinterm Berg halten, dass sie sich den Luxus eines reinen [d. h. unzerrissenen] Herzens leisten und ihrem Gewissen folgen (Mt 5,3–12), das alles sind Indikatoren eines »pfingstlichen Glaubens«, ohne die wir den Himmel aus dem Blick verlieren. Also reden wir davon: Welchen Erwartungen verdanken wir, dass wir heute hier sind? Und mit welchen Erwartungen sind wir »allen Ernstes« als Glaubende unterwegs?

Literatur: Umberto Eco, Cinque scritti morali, Milano 1997; Eckart v. Hirschhausen/Tobias Esch, Die bessere Hälfte. Worauf wir uns mitten im Leben freuen können, Hamburg 2018; Daniel Weidner, Redegewalt und doppelte Übersetzung. Pfingsten als Urszene christlichen Sprechens, BThZ 39 (2022), 76–94.

Pfingstmontag – 29.05.2023

A

Johannes 4,19–26

Wenn Jakobs Brünnlein fließet

Helge Martens

I Eröffnung: Der Pastor und der Förster

»Wer meint, Gott in der Natur finden zu können, kann sich ja auch vom Förster begraben lassen.« Ja, es ist schon eine Kränkung für uns arme Predigende, wenn Menschen glauben, sie könnten auch außerhalb unserer Gottesdienste Gott erleben, anbeten oder wie oder wo auch immer ihre Gottesbeziehung leben.

Ob in der römisch-katholischen oder evangelischen Kirche, ob im Wald, ob in Moschee oder Synagoge oder wo und wie geprägt auch immer, ist bedeutungslos, jede Veräußerlichung sogar hinderlich. Weil sie im Vorgegebenen, dem Domestizierten, das Heil sucht, in der Tradition, in der Vätertradition, am Jakobsbrunnen, der eben nur Wasser gibt, das wieder durstig macht, aber nicht in uns zur Quelle wird, die ins ewige Leben quillt, also sinnstiftend sein kann.

Immerhin auch das Wasser des Jakobsbrunnens löscht Durst: Wenn ich in meiner Haltlosigkeit Halt in der Tradition finde, dann gibt das Halt, dann gibt das Sicherheit, für verängstigte Seelen eine Möglichkeit. Wer wollte das schlechtreden?

Die Freiheit, der Jesus hier das Wort redet, ist auch anstrengend. Denn Anbetung »im Geist und in der Wahrheit« ist eben nichts Festgelegtes, auf das ich mich zurück-(be)-ziehen könnte, sondern ist Offenheit für das, was kommt, mich an-weht und sich mir bewahrheitet, je und je ent-birgt, keine Wahrheit im Sinne von richtig oder falsch, sondern jene, die mich be-wahr-t und vor Ver-wahr-losung schützt.

II Erschließung des Textes: Ein Aufschlag für geistige Freiheit

Das Johannesevangelium ist eine programmatische Konstruktion: Nach Setzung der Göttlichkeit Jesu (1,1–14) und Abgrenzung von der Gesetzesreligion (1,17), der Bezeugung durch Johannes, den Täufer (1,15.16.19–34), und der Berufung der ersten Jünger (1,35–51), wird in Joh 2, der Hochzeit zu Kana, der Vorrang des Weines vor dem Wasser (!) gefeiert und es folgt der erste antiinstitutionelle Aufschlag (es sei denn, man will schon 1,17 so verstehen): die sog. Tempelreinigung. Das ist erstaunlich, erfolgt diese bei den Synoptikern doch erst zu Beginn der Passionserzählungen, wo sie in historischer Sicht auch hingehören dürfte, war doch mutmaßlich dieser jesuanische Terrorakt im Tempel der Grund für seine Hinrichtung.

Hier also gleich zu Anfang der Zentralangriff auf den Kult, denn darum geht es, Wechsler und Opfertierhändler waren für den Kult unumgänglich.

Es folgt in Joh 3 der erste Aufschlag zum Gegenentwurf: das Gespräch mit Nikodemus um die Neugeburt aus Wasser und Geist. Dabei wird Wasser nur einmal erwähnt, der Geist dreimal. Auch das kann man als zumindest kritische Haltung gegenüber beginnender Institutionalisierung in den Gemeinden werten: Auf den Geist kommt es an, nicht auf das (Tauf-)Wasser (vgl. 4,2; auch Abendmahl kommt bei Johannes nicht vor, es sei denn, man liest es in die Brotworte hinein).

Entscheidend ist die Neugeburt aus dem Geist, der wie der Wind (beide Male pneuma) weht, wo er will. Es geht also um die Unverfügbarkeit des neuen Lebens, oder anders: um die Unverfügbarkeit Gottes, denn »Gott ist Geist« (V.24).

In Joh 4, in dem Gespräch der Samaritanerin am Jakobsbrunnen, also zugleich an die Tradition anknüpfend und diese erweiternd (er spricht mit einer Frau [!] [s. V.27] aus Samarien [!]), wobei Joh (leider) das weit verbreitete polemische Klischee aus 2Kön 17 bedient, nach dem die Samaritaner ein Volk von Synkretisten und damit JHWH-untreu seien (vgl. für weiteres M. Böhm, Wibilex).

Entscheidend ist, dass beide Anbetungsorte, also jedwede Form der institutionalisierten Religion obsolet ist und noch wird (V.23). Und das wird geklärt an der Quelle der Tradition, dem Brunnen des Jakob, dem Stammvater Israels.

Der zentrale Vers der Predigtperikope ist der V.24. So absolut gesetzt, kann Geist nur verstanden werden aus Kap. 3, und es bleibt noch das Wahrheitsverständnis zu klären.

Der Wahrheitsbegriff (a-lētheia) ist ein Zentralbegriff im Joh: Gleich im Prolog (1,14.17) wird die soteriologische Dimension deutlich: Mit Christus als dem Fleisch gewordenen Logos kamen »Gnade und Wahrheit« in die Welt, die aber nicht von allen erkannt und angenommen wurden (1,10f.). Die Wahrheit kann im Joh geradezu mit Jesus identifiziert werden: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich« (Joh 14,6). Er ist das wahre Licht (1,9), das wahre Brot (6,32–35), sein Fleisch wahre Speise, sein Blut wahrer Trank zum ewigen Leben (6,51ff.), er ist der wahre Weinstock (15,1). Kurz, Christus ist – weil in der Einheit mit Gott, dem Vater, die Wahrheit, der Lehrer der Wahrheit, die zum (ewigen) Leben führt, also das ganze Heil bringt. Offensichtlich ist dabei, dass a-lētheia, das Nicht-Verborgene, nur den Glaubenden nicht verborgen ist, allen anderen aber ja. Man könnte daher auch sagen: Für die, denen der Glaube an Jesus Christus die Wahrheit ist, ist der Glaube an Jesus Christus die Wahrheit.