Preppy - Er wird dich zerstören - T. M. Frazier - E-Book

Preppy - Er wird dich zerstören E-Book

T. M. Frazier

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Beschreibung

Sein Körper war die Sünde selbst. Und die Macht, die Samuel über mich hatte, konnte nur aus der Hölle selbst stammen.

Seit Preppy nach langer Zeit endlich aus seinem finsteren Gefängnis befreit wurde, lebt er in einer Welt, die er einmal geliebt hat - an die er sich aber nicht mehr erinnern kann. Sein Lachen hat jede Unbeschwertheit von damals verloren, sein Blick verrät den inneren Kampf, den er jeden Tag mit sich ausfechtet, und die Menschen, die seine Familie sein wollen, fühlen sich für ihn wie Fremde an.

Alle außer einer. Dre. Das Mädchen mit den dunkelsten Augen, die er je gesehen hat, und einer noch dunkleren Seele. Das Mädchen, das er nicht haben kann. Zumindest nicht mehr. Und das Mädchen, für das Aufgeben keine Option ist, wenn es Samuel Clearwater geht.

"Preppy ist großartig!" Kylie Scott, Spiegel-Bestseller-Autorin

Band 6 der King-Reihe von USA-Today-Bestseller-Autorin T. M. Frazier




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Seitenzahl: 359

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungZitatAnmerkung der AutorinProlog123456789101112131415161718192021222324252627DankDie AutorinWeitere Bücher von T. M. Frazier bei LYXImpressum

T. M. FRAZIER

Preppy – Er wird dich zerstören

Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann

Zu diesem Buch

Sein Körper war die Sünde selbst. Und die Macht, die Samuel über mich hatte, konnte nur aus der Hölle selbst stammen.

Seit Preppy nach langer Zeit endlich aus seinem finsteren Gefängnis befreit worden war, lebt er in einer Welt, die er einmal geliebt hat – an die er sich aber nicht mehr erinnern kann. Sein Lachen hat jede Unbeschwertheit von damals verloren, sein Blick verrät den inneren Kampf, den er jeden Tag mit sich ausficht, und die Menschen, die seine Familie sein wollen, fühlen sich für ihn wie Fremde an. Alle außer einer. Dre. Das Mädchen mit den dunkelsten Augen, die er je gesehen hat, und einer noch dunkleren Seele. Das Mädchen, das er nicht haben kann. Zumindest nicht mehr. Und das Mädchen, für das Aufgeben keine Option ist, wenn es um Samuel Clearwater geht.

Für die meisten Menschen ist der Tod das Ende ihrer Geschichte. Für Preppy und Dre ist der Tod erst der Anfang!

Für Logan & Charley

Jedermann stirbt, aber nicht jeder hat wirklich gelebt.

William Wallace (in Braveheart)

Anmerkung der Autorin

Meine lieben fabelhaften Leserinnen und Leser,

Preppy und Dre haben ziemlich viel zu erzählen. Darum präsentiere ich euch ihre Story in mehreren Teilen. Es ist nicht nur eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, sondern auch eine Geschichte über Familie, Treue und die Art Liebe, die über romantische Liebe hinausgeht.

Für Preppy geht es darum, dass er in eine Welt zurückgeworfen wird, in der er lange Zeit nicht gewesen ist. Nun, nachdem sich so vieles verändert hat, versucht er herauszufinden, welche Rolle er künftig in dieser Welt spielen soll.

Dres Thema ist es, ihren eigenen Weg zu finden und zu begreifen, wer sie wirklich ist, indem sie herausfindet, was sie sich vom Leben wünscht.

Ich sage euch das, weil die beiden nicht in jeder Szene gleichzeitig vorkommen. Was ich euch erzählen möchte, ist zu umfangreich, als dass ich mich nur auf den romantischen Teil der Geschichte konzentrieren könnte. Und weil ihr Preppy so liebt, möchte ich euch alles von ihm zeigen, nicht nur eine Seite.

Keine Sorge, es gibt jede Menge Romantik, aber eben auch noch sehr viel mehr.

Ich liebe euch alle. Vielen Dank für eure Unterstützung, die es mir ermöglicht, meinen Traum zu leben. Ich hoffe, ihr liebt den zweiten Teil von Preppys Geschichte ebenso sehr, wie ich es genossen habe, ihn zu schreiben. Ich freue mich, euch bald den dritten Teil vorzulegen.

Alles Liebe,

T. M. Frazier

Prolog

PREPPY

Da hinten ist dieses Licht. Es ist hell, glühend heiß, und es blendet mich höllisch. Es befindet sich gerade eben außerhalb meiner Reichweite. Nur einen Hauch. Ich kann darüber reden. Ich kann darüber nachdenken, aber es kommt mir fast vor, als wäre es nicht echt. Als wäre es nicht wirklich da, verdammt, und das macht mich verrückt, denn alles, was ich denken kann, ist, dass ich danach greifen will.

Dass ich nach dir greifen will.

Denn wie heißt es in meinem Brief: DU bist mein Licht, wenn mich nur noch Dunkelheit umgibt.

Ich versuche es nicht zu beachten, dieses Echo meines Namens, der jenseits von Zeit und Raum gerufen wird, denn verflucht sei der Tod.

Verflucht sei alles, was mich davon abzuhalten versucht, den Weg zurück zu dir zu finden. Wenn und falls ich je von den Ketten befreit werde, die mich an das Tor zur Hölle fesseln, dann komme ich zu dir, Doc, daran kann es keinen Zweifel geben.

Denn du bist es, die mich in all diesen Monaten am Leben erhalten hat.

Wegen dir will ich weiterleben.

Was manchmal verdammt schwer ist, denn wenn der Tod nach mir ruft, klingt er wie ein alter Freund, der mir Trost spenden will, und es wäre so einfach, sich trösten zu lassen. Aber du kennst mich, besser als irgendjemand sonst wahrscheinlich, und ich habe noch nie zu der Sorte Mann gehört, die den leichteren Weg geht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich beschlossen habe, stattdessen den Weg zurück zu dir zu gehen.

Zu uns.

Der Sensenmann wollte mich holen und hat verlangt, dass ich ihm die Hand reiche. Er hat behauptet, er sei mein Freund, mein Gefährte im Tod.

Ich konnte nicht anders, ich habe diesem Wichser ins Gesicht gelacht und ihm erzählt, dass seine Schwester super blasen kann. Glücklicherweise hat er mich gleich wieder zurück über den Fluss und auf meinen lustigen Weg geschickt.

Zurück ins Leben.

Zurück zu Möglichkeiten.

Vor langer Zeit – ich war noch ein dürres, kleines Nichts, das von einem Schulhofschläger verprügelt wurde – lernte ich jemanden kennen, der mich verteidigte, als niemand sonst dazu bereit war. Noch am selben Tag heckten wir einen Plan aus. Wir würden unser eigener Boss sein. Dass wir nur Kinder waren, spielte keine Rolle, denn wir meinten es ernst, und genauso ernst meine ich es auch jetzt noch, in diesem verdammten Augenblick.

Und darum habe ich, als ich dem verfickten Ende meines Lebens ins Auge sehen musste, dem Sensenmann ins Gesicht gespuckt.

Denn ich heiße Samuel Clearwater, und ich lasse mir von niemandem etwas befehlen.

Nicht mal vom Tod.

1

DRE

»Was soll das heißen?«, fragte Ray. Sie kam zu mir herüber an Preppys Bett und stellte sich neben mich. Nach seinem plötzlichen Ausbruch hatte er erneut das Bewusstsein verloren, und ich war noch verwirrter als zu dem Zeitpunkt, als ich zur Tür hereingekommen war und festgestellt hatte, dass er lebte. »Warum nennt er dich seine Frau?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich … ich weiß es wirklich nicht«, antwortete ich, unfähig, mich auf ihre Frage zu konzentrieren, und immer noch erschüttert von der Tatsache, dass Preppy am Leben war. Übel zugerichtet und kaum noch er selbst.

Aber am Leben.

»Wahrscheinlich war das völliger Unsinn«, sagte Bear, der in der Tür stand. »In den letzten Tagen hat er immer wieder mal irgendwas gemurmelt. Einer der Ärzte hält das für ein Zeichen, dass sein Körper weit genug verheilt ist, um sich allmählich aus dem Koma zu kämpfen. Er sagt, es könnte noch ein paar Wochen dauern, aber es ist immerhin ein Zeichen.«

»Schon möglich. Die anderen beiden Quacksalber glauben aber, dass es vielleicht nur Reflexe sind und überhaupt nichts zu bedeuten hat«, fügte King mit skeptischer Miene hinzu.

»Wie … wie ist … wie ist das überhaupt möglich?«, fragte ich und hielt mir eine Hand vor den offen stehenden Mund. Ich beugte mich über Preppys Körper, als wollte ich überprüfen, ob er wirklich echt war oder ob mich meine tränenden Augen täuschten. Seine Brust hob und senkte sich, und sein Atem klang wie die schönste Musik, die ich je gehört hatte.

Ray zögerte, bevor sie antwortete, und ich hatte den Eindruck, dass meine Anwesenheit sie erneut mit Misstrauen erfüllte. Sie starrte auf meine Hand, die Preppy berührte. Offensichtlich war sie die Einzige, die meine Absichten infrage stellte, denn die anderen drei, King, Bear und Thia, die bei uns gewesen waren, waren hinausgegangen und hatten uns beide allein in dem Zimmer zurückgelassen.

Nicht allein.

Mit Preppy.

Ich nahm seine Hand, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und dankte dem Universum, während ich gleichzeitig den Drang unterdrückte, laut aufzuschluchzen.

»Er war …« Ray blickte auf den Boden und scharrte mit den Füßen. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und setzte erneut an: »Er war die ganze Zeit hier. In Logan’s Beach.« Es klang, als könnte sie es selbst noch immer nicht glauben.

Mir stockte der Atem. »Was? Warum? Wo denn?«

»Wir wissen nicht viel über die Einzelheiten. Nur, dass er ganz in der Nähe festgehalten wurde. Und der Typ, der ihn gefangen gehalten hat, muss eine Menge Leute in der Tasche gehabt haben, wenn er uns alle in dem Glauben lassen konnte, dass Preppy tot sei.«

»Was hat die Polizei gesagt?«

Ray legte den Kopf schief, und mir dämmerte, wie dämlich sich meine Frage angehört haben musste. »Sag mal, wie gut kennst du Preppy eigentlich?«

»Gut genug, um zu wissen, dass es idiotisch war, nach der Rolle der Polizei zu fragen«, sagte ich und lächelte sie schmallippig an.

Ray nickte, als hätte ich ihre Frage korrekt beantwortet. »King und Bear hängen sich richtig rein. Sie trauen niemandem, sie wollen sich selbst um die Sache kümmern. In letzter Zeit sind sie meistens bis Sonnenaufgang wach geblieben und haben alle möglichen Theorien durchgespielt. Sie haben die Aktivitäten vieler Leute zurückverfolgt, um herauszufinden, wer noch damit zu tun haben könnte.« Sie deutete auf Preppy. »Aber nur er weiß, was da unten passiert ist, und das war mit Sicherheit nichts Gutes. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass er großes Glück hat, überhaupt noch am Leben zu sein. Wir alle haben Glück, dass er noch lebt.«

»Ja, das stimmt«, sagte ich und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Preppy, dessen Augenbrauen sich über seiner Nasenwurzel trafen und ein spitzes V bildeten, als befände er sich in einem Albtraum, aus dem er nicht erwachen konnte.

»Du sagst, du bist eine Freundin von ihm?«, fragte Ray erneut, als bräuchte sie noch mehr Erklärungen als die, die ich ihr bereits gegeben hatte.

Damit waren wir schon mal zu zweit.

»Wir haben uns vor langer Zeit kennengelernt«, sagte ich, ohne zu wissen, was diesmal die richtige Antwort war. Ich hatte keine Ahnung, was wir füreinander gewesen waren, ich wusste nur, was nicht aus uns geworden war. »Preppy hat mir mal das Leben gerettet«, sagte ich, um ihr wenigstens etwas über meine Verbindung zu ihm zu erzählen. »Mehr als einmal.« Ich lachte und wischte mir eine Träne von der Wange.

Plötzlich fuhr Preppy mit einem entsetzten Schrei vom Bett auf. Blitzschnell schossen seine Arme hervor, und bevor ich das verängstigte Schluchzen hinunterschlucken konnte, das aus meinem Mund zu kommen drohte, hatten seine Hände sich fest um meinen Hals geschlossen. Er fing an zu drücken, drückte zu, bis ich Sterne sah und meine Luftröhre sich unter seinem gnadenlosen Griff verschloss.

Der Druck hinter meinen Augen wuchs, und ich hatte das Gefühl, dass sie mir gleich aus dem Kopf springen würden. Ich fühlte, wie die Blutgefäße unter der unnachgiebigen Umklammerung wütend zu zerplatzen begannen.

Ich konnte nicht mal schreien. Brutal stieß Preppy mich zurück. Meine Schulterblätter schmerzten, als ich gegen die Wand knallte. Eine bunte Plastikuhr fiel vom Haken und prallte von meinem Kopf ab, bevor sie auf dem Boden landete. Die Uhr dudelte eine gespenstische Version von Someday My Prince Will Come, während Preppy mir ins Gesicht starrte, zähneknirschend, die Sehnen an seinem Hals zum Zerreißen gespannt. Ich suchte in seinen Augen nach einem Anzeichen des Erkennens, aber da war nichts. An seinem toten Blick erkannte ich, dass nicht ich es war, die er sah, dass ich für ihn gar nicht existierte. Er drückte mir die Kehle noch fester zu. Seine Hüften pressten mich an die Wand. Sekündlich wurde ich schwächer. Ich konnte mich nicht wehren. Diesen Kampf konnte ich nicht gewinnen.

Ich würde sterben, und hätte ich lachen können, hätte ich das in jenem Augenblick getan, denn mein letzter Gedanke war, dass ich Preppy vor meinem Tod wenigstens noch einmal gesehen hatte, auch wenn er derjenige war, der mich umbrachte.

Als wäre seine Hand an meiner Kehle das Halsband und seine Arme die Leine, zog er mich von der Wand weg, und eine Sekunde lang glaubte ich schon, er würde mich loslassen.

Stattdessen knallte er mich wieder an die Wand, noch heftiger jetzt. Diesmal flogen Malbücher aus einem Regal auf uns herab. Schreie waren zu hören, eine Legion lautloser männlicher und weiblicher Stimmen, aber sie verstummten so schnell, wie sie sich erhoben hatten.

Plötzlich war der Druck an meinem Hals weg. Ich fiel auf den Boden, rang nach Luft, scheinbar vergeblich. Meine flachen Atemzüge schmerzten, als hätte jemand meine Kehle in Brand gesteckt. Ziemlich beschissene Art zu atmen.

Aber wenigstens atmete ich. Langsam kehrte mein Sehvermögen zurück, und die Stimmen, die wenige Sekunden zuvor noch so weit weg zu sein schienen, erklangen nun direkt vor mir.

King und Bear hielten Preppy an den Schultern fest. Sie zerrten ihn zur gegenüberliegenden Wand, auf das Bett zu. Er schrie, laut und schrecklich fuhr es mir in die Knochen. Erst als sie ihn auf das Bett gedrückt hatten, brachte er vollständige Wörter heraus. »Arschlöcher, runter von mir! Ich kann nicht. Ich kann nicht!« Seine Schreie verwandelten sich in Schluchzer, und ich sah, wie nach und nach jede Widerstandskraft aus seinem Körper wich. Er verdrehte die Augen, seine Muskeln erschlafften. Nach wenigen Sekunden hob und senkte sich seine Brust regelmäßig; er war zu einem bewusstlosen Haufen magerer Glieder geworden, die von der Matratze herabbaumelten.

In der Sekunde, in der mir klar wurde, dass er in Sicherheit war, rannte ich aus dem Raum, die Hände um meinen verletzten Hals gelegt. Ich stürmte zur Haustür hinaus, vorübergehend geblendet vom Sonnenlicht und von ihm.

»Warte!«, rief Ray mir hinterher, aber ich blieb nicht stehen. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, bis ich endlich im Wagen saß und doppelt so schnell die Straße hinunterraste, wie es erlaubt war.

Ich fuhr auf den erstbesten Parkplatz. Eine Drogerie. Ich würgte den Motor ab und legte den Kopf aufs Lenkrad. Schluchzte. Schreie, erleichtert und verwirrt zugleich, brachen aus mir heraus wie aus einem Vulkan voller aufgestauter Gefühle. Nachdem ich ein paar Minuten dort im Wagen gesessen hatte, riss ich mich endlich so weit zusammen, dass ich mich aufrecht hinsetzen und auf die Uhr blicken konnte. Nein, es waren gar nicht nur ein paar Minuten gewesen.

Ich stand hier seit mehreren Stunden.

Mit den Fingern wischte ich mir die Tränen von den Wangen. Dann, wie aus dem Nichts, als hätte ich keine Kontrolle mehr über meine Gefühle oder Reaktionen, fing ich an zu lachen. Preppy … lebte.

Er lebte.

Mein Lachen wurde lauter. Manisch. Ein schrilles Kichern, in dem ich mich selbst kaum wiedererkannte. Die ganze Situation war unglaublich. Regelrecht unwirklich. Absurd. Surreal. Schön.

Ein verdammtes Wunder.

So viel zum Thema Abschließen.

2

DRE

Ich stand auf der Zufahrt vor Mirnas Haus und atmete tief ein. All die Gerüche, die ich in den vergangenen Jahren vermisst hatte, nahm ich in mich auf. Das salzige Wasser des nicht allzu weit entfernten Golfs von Mexiko, die Orangen auf den zehn oder zwölf Plantagen in der nächsten Stadt, und der köstliche Duft nach gegrilltem Fleisch, der von einer Feuerstelle an der Straße herüberwehte und den ich in der Luft fast schmecken konnte.

Das Aroma von Logan’s Beach.

Der Duft meiner Heimat.

Aber irgendwie fühlte es sich seltsam an. Als hätte der Himmel nicht so blau sein sollen. Auch hätten keine Schäfchenwolken wie aus dem Bilderbuch über diesen Himmel ziehen sollen. Es fühlte sich falsch an, dass die Ampeln immer noch von Rot auf Grün und wieder zurücksprangen, und dass auf der Straße Kinder auf rostigen Rädern den Eiswagen verfolgten, aus dessen zerbeulten Lautsprechern die eindringliche Melodie irgendeines Gute-Laune-Lieds ertönte.

Ganz zu schweigen von den verdammten Kirchenglocken.

Das Lustige am Leben ist doch: Sogar, wenn etwas absolut Weltbewegendes passiert, etwas, das dich bis ins Mark erschüttert und aus der Bahn wirft – die Welt um dich herum kriegt es irgendwie nicht mit.

Oder es interessiert sie einen Dreck.

Da stand ich jedenfalls in der glühend heißen Sonne, an einem wundervollen Tag mitten im Sommer, und wartete darauf, von dem Meteoriten getroffen zu werden, der die Dinosaurier getötet hatte. Meine Nerven lagen blank, sie zuckten, als wäre es nicht schon Jahre her, dass ich zuletzt meinem Verlangen nach Heroin nachgegeben hatte. Ich liebte alles an Logan’s Beach, aber ich konnte es einfach nicht genießen. Fast fühlte ich mich schuldig, weil ich all diese fantastischen Dinge riechen konnte, während Preppy das nicht konnte. Nicht, solange er in diesem Bett lag, und wahrscheinlich auch nicht an dem Ort, an dem er das letzte Jahr verbracht hatte.

Ich musste meinen Grübeleien ein Ende setzen, bevor sie mich noch überholten. Ich kniff die Augen zu und schüttelte die zahllosen schrecklichen Gedanken ab, die mir durch den Kopf rasten.

Ausgerechnet in diesem Moment rannten zwei Kinder, lachend wie tollwütige Hyänen, die Straße hinunter. Einer der Jungen saß auf einem Fahrrad und zog den anderen, der auf einem Skateboard stand, hinter sich her. Die beiden erinnerten mich daran, wie viel Spaß ich früher immer mit meiner Stiefschwester gehabt hatte.

In Gedanken zeigte ich ihnen den Mittelfinger.

Natürlich nicht, weil sie es verdienten, sondern weil ich keine Ahnung hatte, wie ich einen Fuß vor den anderen setzen sollte, während sie die beste Zeit ihres Lebens genossen.

Vielleicht sollte ich einfach ein bisschen mit ihnen abhängen.

Ich schätze, es war gut, dass die Welt sich weiterdrehte, denn wäre sie stehen geblieben und hätte so ausgesehen wie ich in meinem Inneren, dann hätte ich keinen blauen Himmel und keine Fahrräder, sondern Zombies und den Weltuntergang vor Augen gehabt.

Reiß dich zusammen, Dre, beschimpfte ich mich selbst. Du musst dich konzentrieren. Für Dad.

»Hey, Dre, bist du noch da?«, fragte Brandon und wedelte mit einer Hand dicht vor meinem Gesicht herum. »Du bist ja völlig weggetreten.«

Ich schlug seine Hand weg, und er lachte. »Tut mir leid, ich bin gerade mit den Gedanken komplett woanders.«

»Wir müssen das nicht unbedingt heute erledigen«, sagte Brandon. »Was da passiert ist, scheint ziemlich heftig zu sein. Das würde jedem zu schaffen machen, du musst nicht …«

»Nein, ich werde es tun. Mit irgendetwas muss ich meinen Kopf beschäftigen, sonst werde ich noch verrückt, weil ich dauernd an …« Ich zögerte und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»… an ihn denke«, beendete Brandon den Satz für mich. Er wusste immer, was ich als Nächstes sagen wollte, und er ließ nicht zu, dass ich meiner Neigung nachgab und die Dinge in mich hineinfraß. »Du fragst dich, wie es jetzt weitergehen soll, stimmt’s? Jetzt, wo du weißt, dass er noch lebt?« In seiner Stimme lag keine Missbilligung. Nur Besorgnis.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich meine … Ja?«

Brandon verdrehte die Augen, fasste mich an den Schultern und drehte mich so, dass ich ihm ins Gesicht sehen musste. Wieder wedelte er mit der Hand, als wollte er sagen: Nun spuck’s schon aus! Ich wusste, dass er mich zum Weiterreden aufforderte, denn das tat er immer, wenn ich bockig war und schwieg. Also atmete ich tief ein und sagte: »Was ich meinte, war: Ja, ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob er je wieder gesund wird, nicht einmal die Ärzte wissen das. Darum will ein Teil von mir nicht glauben, dass er lebt, denn das könnte sich ja auch wieder ändern …« Meine Stimme brach, und ich senkte den Blick auf den Kiesboden.

»Hey, sieh mich an«, sagte Brandon. Er hob mein Kinn an und zwang mich, ihm wieder in die Augen zu sehen. »Sprich weiter.«

»Und sogar, wenn er …« Ich räusperte mich. »… überlebt. Das ändert gar nichts. Es ändert nichts daran, dass er mich weggebracht hat. Dass er absichtlich Dinge gesagt und getan hat, die mich verletzt haben, weil er mich nicht wollte.«

»Doch, er wollte dich. Er hat dir diesen Brief geschrieben, und zwar Jahre, nachdem du fortgegangen bist.«

»Ja, aber das ist jetzt auch schon wieder ein Jahr her. Wer weiß, was Preppy inzwischen für lebensverändernde Situationen durchlebt hat. Selbst wenn all das keine Rolle spielte, gäbe es immer noch einen triftigen Grund dafür, dass zwischen uns nie eitel Sonnenschein herrschen wird. Können wir also jetzt bitte wieder über das Haus reden?«, fragte ich und lächelte auf eine alberne, ungeschickte Art, die meine oberen und unteren Zähne entblößte, sodass mein Gesicht aussah, als steckte es in einem Windkanal.

»Okay. Aber es ist noch nicht vorbei, wir reden noch mal darüber«, sagte Brandon und kniff mir leicht in die Wange, damit mein Gesicht wieder seinen normalen Ausdruck annahm.

»Oh ja! Versprochen?«, fragte ich sarkastisch.

»Klugscheißerin«, murmelte er. Brandon deutete mit dem Kinn auf das Haus. »Weißt du, dein Dad verlangt das hier nicht von dir«, erklärte er. »Und ich bin mir sicher, dass er ziemlich sauer wäre, wenn er es wüsste.«

»Na, dann erzählen wir es ihm eben nicht.«

»Ich dachte, bei diesem Narcotics-Anonymous-Programm lernt ihr auch, dass ihr nicht lügen sollt.«

»Na, hör mal, ich habe ja nicht behauptet, ich wollte mir sein Auto für einen Trip zur Shopping-Mall leihen, während ich tatsächlich vorhabe, es einer illegalen Autowerkstatt zu verkaufen, um meine Tagesration an Drogen zu finanzieren. Ich lüge nicht mal; ich verschweige ihm nur die Wahrheit, und zwar zu seinem Wohl, nicht zu seinem Schaden.«

»Na, Hauptsache, du kannst nachts noch ruhig schlafen«, sagte Brandon und verdrehte theatralisch die Augen. Er schob sich die Ärmel seines Button-down-Hemds über die Unterarme hoch. »Du solltest mit deiner Therapeutin darüber reden, Andrea. Ich bin sicher, sie wird dir etwas zur Logik der Begründung sagen, die du dir da zurechtgelegt hast.«

»Lass bloß Edna aus dem Spiel«, warnte ich ihn scherzhaft und wedelte mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum.

Ich schirmte meine Augen gegen die Sonne ab, als ich mich von Brandon abwandte, um zärtlich zu etwas anderem aufzublicken, das ich liebte. Ein viel älteres Wesen, mit viel mehr Abnutzungsspuren.

Mirnas Haus.

Und, weil Preppy Wort gehalten hatte, mein Haus.

Als wäre ich auf dem Weg zu einem ersten Date, setzte mein Herz einen Schlag aus. Schon beim Näherkommen sah ich die Kerben im Pfosten der Veranda, mit denen mein Großvater zu markieren pflegte, wie groß sein Enkelkind geworden war. Ich sah die Lampe an der Seite des Hauses, die schief hing, seitdem ich einmal Pfeil und Bogen ausprobiert hatte, ein Geburtstagsgeschenk von meiner Großmutter. Mir gefiel sogar, wie sich die Bäume vor dem Haus alle nach links neigten, Folge eines Hurrikans, der in dem Sommer getobt hatte, in dem ich neun Jahre alt geworden war. Das Haus, meine alte Freundin, war leicht reparaturbedürftig, weil es einige Jahre lang vernachlässigt worden war, aber ich fand es nach wie vor schön. Und so würde es immer bleiben.

Obwohl es mir nicht mehr sehr lange gehören würde.

Die Stufe der Verandatreppe, die ich repariert hatte, hatte sich schon wieder verzogen. Diesmal wölbte sie sich an der Außenseite nach oben wie ein Flügel, es sah aus, als wollte die Stufe sogleich abheben und wegfliegen. Das Dach hatte etliche Schindeln eingebüßt, an deren Stelle fleckige, ausgeblichene Teerpappe hervorlugte.

Das ganze Haus war so etwas wie eine Figur im Roman meines Lebens.

Eine wichtige Figur.

Während der gesamten Entwöhnungszeit und als ich am örtlichen College darauf hinarbeitete, mein Abitur nachzuholen, hatte ich ständig an dieses Haus gedacht. Nach dem Abschluss wollte ich dauerhaft in Logan’s Beach leben. Ich würde das Haus renovieren und zu einem Ort machen, auf den ich stolz sein konnte in dieser Stadt, von der ich mich nie ganz lösen konnte.

Was auch immer geschehen mochte, Logan’s Beach war ein Teil von mir.

Der Ort, an dem mein Leben fast geendet hätte und an dem es gerade neu begann.

Doch wenn ich durch das Leben nach der Entwöhnung irgendetwas gelernt hatte, dann war es, dass Pläne sich ändern und dass man sich den Gegebenheiten anpassen muss. Und jetzt lautete das oberste Gebot: das Haus verkaufen, um Dad zu helfen.

»Du hast schon immer gesagt, dass du dieses Haus liebst«, sagte Brandon und ließ mit gerümpfter Nase den Blick darüberschweifen, als könnte er nicht verstehen, warum ein heruntergekommenes Häuschen an einer gottverlassenen Straße in einer Kleinstadt mit zwei Straßenlaternen und drei Stoppschildern überhaupt irgendjemanden reizen konnte.

»Ich liebe es wirklich«, bekräftigte ich. »Aber meinen Dad liebe ich noch mehr. Zu verkaufen ist das Mindeste, das ich für ihn tun kann.«

»Dre, es ist nicht deine Schuld, dass sein Laden nicht läuft«, erklärte Brandon. »Er betreibt einen Buchladen in einer Welt, die sich darauf verlegt hat, Bücher nur noch online bei Bookazon dot com zu kaufen.«

»Ich weiß. Aber es ist sehr wohl meine Schuld, dass er eine zweite Hypothek aufgenommen hat, um mich in die Reha zu schicken, und dann noch ein Privatdarlehen, damit ich zur Schule gehen kann. Er hat Mirna hergeholt, sodass sie in unserer Nähe in einer sehr teuren Einrichtung leben konnte, und er hat sämtliche Kosten dafür getragen, weil ich ihr in den letzten Tagen ihres Lebens nahe sein wollte. Wegen mir ertrinkt er jetzt in Schulden. Vielleicht bin ich nicht der Grund, warum sein Laden pleitegeht, aber es liegt sehr wohl an mir, dass er sein Haus verliert«, sagte ich mit erstickter Stimme, weil ich daran denken musste, wie viel Schmerz meine Abhängigkeit, meine Lügen und meine Gleichgültigkeit ihm im Laufe der Jahre zugefügt hatten.

Brandon schob die Daumen in die Gürtelschlaufen und betrachtete mich mit hochgezogenen Brauen. Er blickte erst das Haus an, dann wieder mich. Verwirrt und irgendwie fehl am Platz. Schweißflecken bildeten sich am Kragen seines weißen Anzughemds, dessen Stoff zu dick war für die feuchte Hitze Südfloridas. Die Luftfeuchtigkeit sorgte dafür, dass ihm das normalerweise glatt gekämmte dunkle Haar in allen möglichen und unmöglichen Winkeln vom Kopf abstand. Seine übertrieben gebräunte Haut hob sich gegen das weiße Hemd ab, das er aus dem Bund seiner Jeans gezogen hatte und mit dem er nun heftig auf und ab wedelte, um für etwas Abkühlung zu sorgen. Wenn ich ihm noch länger zusah, würde er wahrscheinlich einfach hier auf der Zufahrt schmelzen.

Ich näherte mich der Veranda und prüfte mit meinem Turnschuh die erste verzogene Stufe. Das Holz zerkrümelte beim geringsten Druck.

»Dad braucht meine Hilfe. Aber er wird mich nicht darum bitten. Du weißt, wie stur er ist, du hast lange genug für ihn gearbeitet. Außerdem betrachtet er mich immer noch als Kind, als Abhängige, und will mich auf keinen Fall unter Druck setzen.« Ich überprüfte zwei weitere Stufen, die ein bisschen mehr aushielten als die, die sich gerade in Holzstaub aufgelöst hatte. »Ich glaube, er hat Angst, dass ich wieder rückfällig werde.« Ich hüpfte die Stufen hinunter und ging zur Garage. Mit einer Hand strich ich über das Tor der Garage, die nur Platz für einen einzigen Wagen bot, und hinterließ einen Streifen in der Staubschicht, mit der es überzogen war. Erinnerte mich an all die Dinge, die mein Großvater mir in dieser Garage beigebracht hatte. Streichen, schweißen, bohren.

»Dein Dad liebt dich«, sagte Brandon, als ich mich wieder zu ihm auf die Veranda gesellte. Vorsichtig folgte er mir die Stufen hinauf, setzte den Fuß genau auf die Stellen, auf die ich getreten war, um nicht einzubrechen und mit den Füßen im Kriechzwischenraum zu landen.

»Ich weiß. Und ich liebe meinen Dad. Genau darum mache ich das hier. Und ohne die Mahnungen, die ich in der Küchenschublade gefunden habe, ohne die Klageschrift der Hypothekenbank in seinem Schreibtisch wüsste ich immer noch nicht, dass er gerade dabei ist, sein Haus zu verlieren.«

»Trotzdem. Dieses Haus bedeutet dir so viel. Du siehst aus, als würdest du hier am liebsten den Boden küssen, verdammt«, sagte Brandon und lachte.

»Mit dem Küssen bin ich mir nicht so sicher.« Ich erwiderte sein Lächeln. »Aber es bedeutet mir viel. Und so wird es immer sein«, gab ich zu. »Trotzdem. Wenn ich eher gewusst hätte, was Dad gerade durchmacht, hätte ich es schon viel früher verkauft. Er hätte niemals …«

»Hör auf, Dre. Du hast die Reha gebraucht. Du musstest deinen Hintern in die Schule bewegen. Dein Dad hat getan, was richtig für dich war. Er hat dir nichts gesagt, weil er nicht will, dass du dir Sorgen machst. Ich dachte, du hättest aufgehört, dir dauernd Vorwürfe zu machen? Gehört das nicht auch zu diesem Therapie- und Entzugsprogramm der NA?« Brandon zog mich an sich und gab mir einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel, bevor er mich wieder losließ. Wir beide hatten keine Geheimnisse voreinander. Er kannte all meine dunklen Seiten, und ich kannte seine, obwohl Brandon nie etwas Schlimmeres verbrochen hatte, als bei einer Klassenarbeit in der sechsten Klasse zu mogeln.

»Danke, Quietschi«, sagte ich und nannte ihn bei seinem Spitznamen. Der stammte von quietschsauber. »Ich arbeite noch daran.«

Beim Aufschließen der Haustür ließ ich mir Zeit und erinnerte mich daran, wie Mirna mich früher immer auf der anderen Seite erwartet hatte, um mich mit einem Lächeln und ihren fabelhaften Cookies zu begrüßen. Es kam mir falsch vor, dass sie nicht mehr da war. Im Haus und auf der Welt.

Mirna war ein halbes Jahr zuvor gestorben.

»Also gut. Wenn du unbedingt verkaufen willst, dann helfe ich dir beim Renovieren«, sagte Brandon und strich sich mit beiden Händen die braunen Haare glatt. Er knöpfte sich das Hemd auf, und noch mehr Schweiß kam zum Vorschein. Das weiße Tanktop unter dem Hemd war völlig durchnässt. »Also, was soll ich tun?«

Mit hochgezogenen Brauen musterte ich ihn. »Du? Du willst mir helfen? Was verstehst du denn vom Renovieren?«

»Überhaupt nichts«, gab er lachend zu, und seine dunkelgrauen Augen leuchteten vor Belustigung. Sein breites Lächeln entblößte mehr strahlend weiße Zähne, als eigentlich in einem Mund Platz haben sollten. »Aber du kennst dich damit aus, du kannst mir zeigen, wie es geht. Ich lerne schnell. Und außerdem: Was hast du denn geglaubt, warum ich mich auf den weiten Weg hierher gemacht habe?«

»Weil mein Dad dich gebeten hat, den Babysitter für mich zu spielen«, antwortete ich aufrichtig.

»Nein, um dich moralisch zu unterstützen, und als Heimwerker«, sagte Brandon. Ich versuchte, nicht laut zu lachen. Das letzte Mal hatte ich Brandon etwas Praktisches tun sehen, als er ein Bild aufhängte. Nach drei Minuten war es von der Wand gefallen.

Ich hatte es wieder aufgehängt.

An dem Haus war viel zu tun, bis es wieder in verkaufsfähigem Zustand sein würde, und die Zeit arbeitete gegen mich. Ich konnte jede Hilfe gebrauchen, und in diesem Augenblick war Brandon der Einzige, der mir Hilfe anbot. »Okay, Brandon, dann mal los. Ich bin Tim, der Heimwerkerkönig, und du bist Al.«

»Muss das sein?«, quengelte Brandon. »Al trägt karierte Hemden.«

»Und jede Menge Bart«, witzelte ich, aber mein Lächeln verschwand augenblicklich, als ich das Wohnzimmer betrat und mich das heftigste Déjà-vu überfiel, das ich je erlebt hatte. Und dann kamen die Erinnerungen, eine nach der anderen, so deutlich, als durchlebte ich alles noch einmal. Ich sitze im Wohnzimmer und versuche, meine Großmutter zu linken, flüchte vor Preppys Kugelhagel in den Wald, meditiere im Garten mit Mirna und schlafe in Preppys Armen in meinem kleinen Bett.

Kalte Schauer liefen mir über den Rücken.

Als ich gerade die Küche erreicht hatte und weitere Szenen in meinem Geist Gestalt annahmen, räusperte sich hinter uns jemand. Ich fuhr herum und sah Ray in der Tür stehen. Ihr langes, blondes Haar hing glatt herunter, aber die Brise, die über die Veranda wehte, sorgte dafür, dass sie sich dauernd widerspenstige Strähnen hinter die Ohren schieben musste. Sie trug ein schlichtes weißes Tanktop und abgeschnittene Jeans. Ein Baby, etwa ein halbes Jahr alt und ganz in rosa gekleidet, saß auf Rays Hüfte. Das Kind hatte genauso hellblaue Augen wie sie.

Mein Herz zog sich zusammen, als das Kleine gurrte und an dem kronenförmigen Anhänger zog, den Ray an einer Kette um den Hals trug. »Hi, Ray, komm rein«, sagte ich, und sofort wanderten meine Gedanken wieder zu Preppy.

»Ist alles in Ordnung?« Ich bemühte mich, die aufkeimende Panik in meiner Stimme zu unterdrücken.

»Ja, alles okay. Ich wollte nur vorbeikommen und dir sagen, dass es mir leidtut, was heute Morgen mit Preppy passiert ist«, sagte Ray. Sie sah sich in dem leeren Zimmer um und wiegte dabei weiter das glucksende Baby.

»Es war nicht deine Schuld. Niemand ist schuld daran«, sagte ich. »Warte mal … Woher weißt du eigentlich, dass ich hier bin?«

»Kleinstadt«, sagte sie achselzuckend. »Du musst nur einen Stein in die richtige Richtung werfen.«

»Hi, ich bin Brandon«, sagte Brandon und reichte Ray die Hand.

»Hi, freut mich, dich kennenzulernen«, erwiderte sie. »Ich bin Ray, und das hier ist die kleine Nicole Grace.«

»Ah, Grace wie Grace?«, fragte ich, während Brandon und Ray sich die Hände schüttelten.

Ray legte den Kopf schief. »Ja, wie die einzig wahre«, sagte sie und versteckte ihre misstrauische Reaktion hinter einem weiteren Lächeln.

»Oh, freut mich, dich kennenzulernen, Nicole Grace«, plapperte Brandon mit aufgesetzter Kleinkinderstimme. Mit dem Daumen schüttelte er dem Baby die Hand.

»Tut mir leid. Ich hätte euch einander vorstellen sollen«, entschuldigte ich mich. »Ich habe nur gerade furchtbar viel im Kopf, und gute Manieren gehören offenbar nicht dazu.«

»Kein Problem«, sagte Ray und begann, durch das Zimmer zu schlendern. Sie betrachtete die nackten Wände und die Holzbalken, die unter der tiefen Decke verliefen. »Ich habe das Verkaufsschild im Wagen gesehen. Ist das dein Haus? Willst du es verkaufen?«

Ich nickte. »Es hat meiner Großmutter gehört.« Ich schob die Hände in die Gesäßtaschen und wippte auf den Füßen vor und zurück, froh, wieder in dem Haus zu sein, und sei es auch nur für kurze Zeit.

»Es ist schön hier«, sagte Ray und bewunderte durch das schmutzige Küchenfenster den Garten. Obwohl das Haus ein einziges Durcheinander war, glaubte ich ihr, dass sie das Kompliment aufrichtig meinte, denn sie sah sich um, als könnte sie in dem Haus das erkennen, was wieder daraus werden konnte, und nicht das, was es gerade war. »Ich werde mich mal umhören, und wenn ich erfahre, dass jemand ein Haus kaufen möchte, schicke ich ihn zu dir«, schlug sie vor.

»Okay, dann zeige ich dir alles, damit du auch weißt, wohin du die Leute schickst«, sagte ich und ging ihr voran über den Flur. Ray folgte mir dichtauf. »Aber ich warne dich. Das Haus ist nicht besonders groß, die Besichtigung ist also schnell vorbei.«

Ray lachte, das Kind ebenfalls.

»Ich hole das restliche Zeug aus dem Wagen«, sagte Brandon und lief auch schon zur Haustür hinaus.

»Mein Großvater hat dieses Haus gebaut«, erklärte ich. »Es gibt drei Schlafzimmer und zwei Badezimmer, obwohl man das von außen nicht vermuten würde, ich weiß.« Ich öffnete die erste Tür auf dem Flur. »Das hier war früher mein Zimmer.« Ray steckte kurz den Kopf zur Tür hinein, und ich schloss sie wieder. Ich würde noch reichlich Zeit haben, um dort zu sitzen und auf die Erdbeer-Tapete und die ausgeblichenen gelben Gardinen zu starren, und vor meinem Gast wollte ich nicht in Tränen ausbrechen.

»Hast du also auch hier gewohnt?«, fragte Ray.

»Nur im Sommer, als ich noch ein Kind war. Aber heute bin ich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder hier.« Ich zeigte ihr das Bad, das vom Flur abging, und Mirnas altes Zimmer, bevor ich die Tür am Ende des Korridors öffnete. Die Gerätschaften des ehemaligen Gewächshauses waren zwar schon lange verschwunden, aber überall deuteten irgendwelche Dinge darauf hin, dass es einmal hier gewesen war. Die Haken in der Decke. Die Nägel in den Wänden, an denen die Leitungen miteinander verbunden waren.

»Daher kennst du Preppy also«, stellte Ray nüchtern fest und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen.

»Ja, könnte man so sagen«, gab ich zu.

»Als du zu uns gekommen bist, hast du wirklich nicht gewusst, dass Preppy noch lebt, oder?«, fragte Ray.

»Es war der größte Schock meines Lebens«, sagte ich. »Ich kann es immer noch nicht glauben.« Damit zog ich die Tür zu und ging Ray voran in die Küche. Ich berührte meinen Hals, fühlte die geschwollenen, geröteten Stellen, die Preppys Hände auf meiner Haut hinterlassen hatten.

Ich öffnete die Schiebetür aus Glas, die in den Garten führte. Zwischen den verwitterten Holzbrettern der Terrasse gab es große Lücken, in denen Unkraut wuchs. Der Rasen, auf dem Mirna mir das Meditieren beigebracht hatte, war verwildert und hatte irgendwann begonnen, nahtlos in das dahinterliegende Feld überzugehen. In der Ferne pfiff ein Zug.

»Okay«, sagte Ray, die offenbar über meine Antwort nachgedacht hatte. Sie setzte das Baby vor sich auf die Küchentheke und lächelte das hinreißende, pausbäckige Kind an. »Das war ja wirklich eine Wahnsinnstour durch das Haus.«

Ich blickte auf das Baby, das sich Rays Finger in den Mund gesteckt hatte und mit zahnlosen Gaumen darauf herumkaute. »Darf ich?«, fragte ich zögernd und streckte die Arme aus.

»Oh, natürlich«, sagte Ray. Sie hob Nicole Grace von der Theke und legte sie mir in die Arme. Meine Brust verkrampfte sich, ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie war das Schönste, das ich je gesehen hatte.

»Wahrscheinlich kannst du gar nicht aufhören, sie anzusehen, oder?«, fragte ich, als ich das kleine Mädchen zärtlich an mich drückte.

»Ja, und ihr Daddy auch. Wir sind ständig müde, aber sie ist die Mühe absolut wert«, sagte Ray. »Das sind sie alle.« Sie schob eine winzige Locke des babyweichen Haars auf Nicoles kleinem Kopf zurück. »Hast du Kinder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe vor einiger Zeit erfahren, dass ich keine bekommen kann.«

»Das tut mir leid«, sagte Ray. Sie musste gespürt haben, dass ich nicht weiter darüber reden wollte, denn sie wechselte rasch das Thema.

»Ich muss noch ein paar Besorgungen machen«, sagte Ray. »Aber wie wär’s, wenn wir uns später am Nachmittag wiedersehen, wenn ich die Kinder von der Schule geholt und bei King abgesetzt habe? Ein kleines Gespräch unter Frauen. Ich habe echt die Nase voll davon, dauernd über Windeleimer und Stillkissen zu reden.«

»Klingt gut«, sagte ich.

»Brauchst du hier vielleicht Hilfe?« Ray sah sich im Haus um, auf die Tapeten, die sich von den Wänden lösten, und auf die Risse im Putz. »King und Bear sind auch ziemlich geschickt. Sie würden dir bestimmt helfen. Und Bear verfügt über eine ganze Truppe von Kerlen, die für ein oder zwei Bierchen gern mit anfassen.«

Widerstrebend gab ich Ray ihr Baby zurück und ging den beiden voran durch die offene Haustür hinaus. Ray tastete sich vorsichtig die baufälligen Stufen hinunter. Ich blickte zu meinem Helfer hinüber, der sich immer noch abmühte, um das ZU-VERKAUFEN-Schild aus dem Kofferraum des Mietwagens zu zerren. »Weißt du was, Ray, vielleicht nehme ich dich einfach beim Wort«, sagte ich mit einem Lächeln, das sie erwiderte.

»Gute Idee. Der Typ da drüben ist nämlich echt süß, aber er scheint einer zu sein, der einen Hammer nicht mal erkennt, wenn er ihm auf den Kopf fällt.«

»Leider hast du da absolut recht«, sagte Brandon verärgert, als er das Schild endlich aus dem Wagen befreit hatte. Am Kragen und in den Achselhöhlen wies sein Anzughemd dunkle, kreisförmige Schweißflecken auf.

»Ach verdammt, fast hätte ich vergessen, warum ich überhaupt hergekommen bin. Mann, manchmal ist dieses Still-Alzheimer echt heftig«, sagte Ray und lief eilig zu dem alten Ford Pick-up hinüber, der am Rand des Rasens vor dem Haus stand. Sie griff auf der Beifahrerseite durch das offene Fenster und kam mit einem gefalteten Blatt Papier zurück. »Ich habe darüber nachgedacht, was Preppy vorhin gesagt hat. Dass du angeblich seine Frau bist.«

»Das hat er nur gesagt, weil er so verwirrt ist«, behauptete ich und wiederholte damit dieselbe Erklärung, die ich ihr schon am Morgen präsentiert hatte.

»Nein, das glaube ich nicht«, widersprach Ray. Sie entfaltete das Blatt Papier und gab es mir. Es war eine Fotokopie der Heiratsurkunde, die ich für Preppy angefertigt hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du verstehst das falsch. Dieses Dokument habe ich mir nur ausgedacht. Es ist eine Fälschung. Die Unterschriften. Die Trauzeugen. Alles gefälscht«, erklärte ich. Als ich das Blatt Papier senkte, sah ich, dass Ray mich anstarrte und mir nach wie vor nicht zu glauben schien. »Preppy brauchte das, als er versucht hat, das Sorgerecht für Kings Tochter zu bekommen, es ist wirklich nicht echt. Es gab keine Hochzeit. Keinen Pfarrer. Absolut gar nichts. Es ist … einfach nicht echt«, wiederholte ich das Wort in dem Bemühen, mich ihr verständlich zu machen.

Ray tippte auf eine Stelle in der unteren rechten Ecke des Papiers, direkt über dem amtlichen Stempel des Bezirks, einem Stempel, der auf einem Originaldokument leicht erhaben gewesen wäre. Den hatte ich dort nicht hingesetzt.

»Diese Kopie habe ich heute Morgen vom Standesamt bekommen«, fuhr Ray fort. »Und deren Meinung nach … ist dieses Ding hier verdammt echt.«

»Scheiße«, fluchte ich und drehte das Blatt Papier um, als könnte ich mehr erfahren, indem ich auf die leere Seite starrte. »Damit sind wir …«

»In den Augen des Staates Florida? Verheiratet«, beendete Ray den Satz für mich und zwinkerte mir zu. »Glückwunsch, Dre. Du bist Mrs Samuel Clearwater.«

3

PREPPY

Der Atem hoffnungsvollen Geflüsters strich mir über die Haut. Kleine Explosionen von Luft ließen sie fast schmerzhaft prickeln, als jemand sanft meinen Arm anhob und zwei Finger fest auf die Innenseite meines Handgelenks legte. Ich wurde eingemummelt und wieder ausgepackt, durchlief verschiedene Stadien der Vermummung und war in ungewohnte Weichheit gehüllt. Die Luft um mich herum war frisch und leicht, ohne jede Spur der klebrigen Schwüle, an die ich mich gewöhnt hatte und die mir in Hals und Lunge steckte, die Art von feuchter Luft, in der man am bestialischen Gestank von Schimmel und Fäulnis zu ersticken drohte.

Das Geräusch von starkem Regen, der auf ein Fenster irgendwo über mir prasselte, ließ meine Trommelfelle klingeln. Donner grollte und fuhr mir in die schmerzenden Knochen. Gleich darauf folgte ein Blitz, der vor meinen geschlossenen Lidern aufleuchtete, als wollte er der Welt meinen neuen, halb bewussten Zustand verkünden.

Oder vielleicht auch nur mir.

»Sieh mal, seine Lider flattern wieder«, stellte eine weibliche Stimme fest. »Vielleicht ist es jetzt so weit.« Eine Sekunde lang stellte ich mir das dunkelhaarige Mädchen mit den schwarzen Augen und roten Lippen vor. Die eine, an die ich so oft dachte, dass ich mich allmählich fragte, ob es sie jemals gegeben hatte oder ob sie nur ein Teil einer Fantasie war, mit der ich mir die Zeit vertrieben hatte. Aber als die Stimme weitersprach, verblasste das Bild meines Mädchens, und Erkennen breitete sich in mir aus.

Doe.

Mein Adrenalinspiegel stieg steil an, ebenso wie das dringende Bedürfnis, endlich aufzustehen und in Verbindung mit der Welt um mich herum zu treten. Mit der Welt, die ich mit jeder Faser meines verdammten Seins vermisst und von der ich nicht geglaubt hatte, jemals wieder das Vergnügen zu haben, in ihr zu existieren. Ich fühlte mich, als wäre Freitagnacht, und all meine Freunde gingen aus, stürzten sich Hals über Kopf in irgendwelche großartigen Erlebnisse, und nur ich musste zu Hause bleiben, mir am nächsten Morgen ihre Geschichten anhören und mich beschissen und ausgeschlossen fühlen.

Es kam mir vor, als wäre ich selbst abends sehr lange unterwegs gewesen, nur, dass auch Vergewaltigungen und ständige Folter auf dem Programm gestanden hatten. So oder so hatte ich eine Menge aufzuholen. Aber dann fiel mir wieder ein, dass nicht immer alles war, was es zu sein schien. Ich zögerte und nahm mir eine Sekunde Zeit, um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass alles, was ich empfand, und die Stimme, die ich hörte, auch das Produkt meiner Fantasie sein konnten wie schon unzählige Male zuvor. Dass die Wahrscheinlichkeit, niemand zu sehen, wenn ich die Augen aufschlug, oder aber den verfickten Teufel selbst, sehr viel größer war als die, dass es ein Freund von mir sein würde.