pretty secret - Jenny Emver - E-Book

pretty secret E-Book

Jenny Emver

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Beschreibung

Mein Name ist Jil Evans. Ich bin im letzten Jahr der Highschool und meine größten Probleme sollten die Collegeauswahl und Jungs sein. Stattdessen bin ich einem Rätsel auf der Spur, welches meine Schwester betrifft. Es wird behauptet, sie sei weggelaufen. Aber ich weiß es besser. Ich bin mir sicher, dass etwas passiert ist. Manche sagen, ich hätte etwas mit ihrem Verschwinden zu tun. Andere vermuten, dass ihr Exfreund Travis dahintersteckt. Gemeinsam stoßen wir auf Lakes Geheimnis, welches wunderschön ist und zugleich dramatische Folgen hat ...

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Für Kati und Julia, dafür, dass ich Kolleginnen wie euch nicht gesucht und trotzdem gefunden habe. Mit euch fühlt sich Arbeit nicht wie Arbeit an.

Diese Geschichte ist frei nach einer wahren Begebenheit erzählt. Mehr Informationen findest du auf Seite 327/328.Achtung, dort können für dich Spoiler vorhanden sein, die die nachfolgende Geschichte betreffen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

-prolog-

Mittwoch, 20. Oktober, 11.25 Uhr

Lake Evans warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ihr braunes, schulterlanges Haar trug sie offen und ihre hellbraunen Augen hatte sie mit Wimperntusche betont. Das Mädchen hatte sich extra noch einmal nachgeschminkt, weil sie sich gut fühlen und es nach außen zeigen wollte. Bevor sie sich von dem Spiegel abwandte, warf sie einen Blick nach links zu einer geschlossenen Zimmertür. Diese führte ins Zimmer ihrer Schwester, mit der sie sich gestritten hatte. Beide waren sie sauer aufeinander. Es war nicht das erste Mal, dass sich die beiden Mädchen stritten, doch selten dauerte ihre Versöhnung so lange wie dieses Mal. Im Moment fühlte es sich so an, als wäre die gesamte Welt wütend auf sie.

Ihre Schwester.

Ihr Exfreund, der zeitgleich einer ihrer besten Freunde war.

Ihre beiden besten Freundinnen.

Fehlte nur noch, dass ihre Eltern ebenfalls einen Grund hatten, böse auf sie zu sein. Fänden sie heraus, dass sie heute die Schule geschwänzt und die wichtige Matheprüfung verpasst hatte, wären sie garantiert sauer.

Kopfschüttelnd wendete sich Lake von dem Spiegel ab und drehte der geschlossenen Tür den Rücken zu. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, welches am anderen Ende des kleinen Badezimmers lag, was sie sich mit ihrer Schwester teilte. Dann schob sie ihr Handy in die hintere Hosentasche ihrer Jeans und ging zum Fenster. Die Eltern der beiden Mädchen waren vor etwa einer Stunde zu Bett gegangen und schliefen bereits. So wie Jil, ihre Schwester. Dennoch wollte es Lake nicht riskieren, beim Hinausschleichen erwischt zu werden, und öffnete wie so oft ihr Fenster, wenn sie sich heimlich nachts aus dem Haus stahl. Sie tat es nicht zum ersten Mal und würde es auch nicht zum letzten Mal gemacht haben.

Dachte sie zumindest.

Denn während sie vorsichtig das Rosengitter an der Wand hinunterkletterte und anschließend auf den Kleinwagen an der Straße zulief, wusste sie noch nicht, dass sie dieses Mal nicht zurückkehren würde.

-1-

Siebzehn Stunden zuvor

»Lake Evans! Das kann doch nicht dein verdammter Ernst sein«, schimpfte Mum und sah meine Schwester wütend an.

Ich verkniff mir ein breites Grinsen, denn ich hätte zehn Dollar darauf verwettet, dass Mum genau das sagen würde.

Lake warf mir einen vernichtenden Blick zu, ehe sie wieder unsere Mutter ansah. »Was denn, Mum? Der Rock ist hübsch und er lässt meine Beine irre lang wirken.«

Mum gab ein schnaubendes Geräusch von sich und besah sie mit einem schockierten Blick. »Rock? Meine Liebe, das ist alles andere als ein Rock. Du gehst jetzt auf der Stelle nach oben und ziehst dir etwas an, bei dem man dir nicht bis zu den Mandeln sehen kann.«

Amüsiert beobachtete ich, wie Lake den Rückzug antrat und mit jedem Schritt nach oben ihren Unmut kundtat, indem sie extra laut auf die einzelnen Treppenstufen stampfte. Es kam mindestens zweimal die Woche vor, dass Mum und Lake diese Art von Diskussion vor der Schule führten. Während Dad sich gekonnt aus der Affäre zog, blieb es an Mum, dafür zu sorgen, dass Lake vernünftig aussah. Dabei schien Mum eine eigene Definition dieses Worts zu besitzen, denn alles was über den Kniekehlen endete, war für sie schon zu kurz. Was das anging, lebte sie tatsächlich noch hinter dem Mond.

Nicht, dass ich mich beschweren würde.

Ich hatte nichts für Röcke und anderen Mädchenkram übrig. Ich gehörte nicht zu den It-Girls der Highschool. Für die meisten war ich unsichtbar und damit war ich zufrieden. Meine Mitschüler waren nicht gemein, dafür hätten sie mich beachten müssen. Sie waren mir gegenüber einfach … gleichgültig. Vielleicht konnten sie auch einfach nichts mit mir anfangen, genauso, wie es mir mit ihnen ging.

Während meine Schwester von Beginn an im Club der It-Leute mitmischte, hatte ich erst vor etwa einem Jahr herausgefunden, wofür Kajalstift und Wimperntusche zu gebrauchen waren. Seitdem benutzte ich beides regelmäßig, nicht um andere zu beeindrucken, sondern weil ich es mochte, wie sehr meine smaragdgrünen Augen dadurch betont wurden.

Derweil meine Mitschülerinnen ihre Freizeit in Shoppingzentren und Nagelstudios verbrachten, war ich lieber mit meinem Skateboard und meiner besten Freundin unterwegs. Ich brauchte nicht ein Dutzend Freundinnen, mit denen ich ständig in Kontakt stand. Lieber hatte ich diese eine Freundin, auf die ich mich jederzeit zu zweihundert Prozent verlassen konnte.

Wahrscheinlich konnten sie auch deshalb nichts mit mir anfangen, weil ich nicht ihren Klamottenstil teilte. Während sie sich immerzu die neusten Shoppingtrends berichteten und sie sofort am nächsten Tag umsetzten, war ich eher der Typ, der trug, was ihm im Kleiderschrank entgegen fiel. Wenn ich Lust auf meinen Lieblingspulli hatte, zog ich ihn an. Dazu eine ausgewaschene Jeans und meine heißgeliebten Converse und mein Outfit war perfekt. Mir war es egal, wie meine Haare lagen, Hauptsache, sie behinderten mich nicht beim Skaten.

Tja. So war ich halt.

Ich wusste von Anfang an, was ich wollte. Mum und Dad hatten Lake und mich immer dazu ermutigt, zu dem zu stehen, wer wir waren, was wir fühlten und sagten. Sie standen hinter uns, wenn wir Entscheidungen treffen mussten, und bestärkten uns darin, stets auf unser Bauchgefühl zu vertrauen.

»Bist du bereit für die Matheklausur?«, wendete sich Mum mit einem sanften Tonfall an mich. Es gelang ihr immer, innerhalb von Augenblicken, ihre Tonlagen zu ändern.

»Natürlich nicht. Ich hasse Mathe. Ich werde einfach nie verstehen, warum ich irgendwelche Formeln benötige, um mein Leben zu bewältigen.«

Mum lachte.

»Im Ernst, Mum. Mathe ist eine Bitch und Physik ist ihre beste Freundin.«

»Und was ist dann Chemie?«

»Der böse kleine Bruder?«, fragte ich und runzelte die Stirn.

Aufmunternd sah sie mich an. »Noch knapp zehn Monate, Schatz, dann hast du es geschafft.«

Seufzend kaute ich auf einem Bissen Bagel herum. Ich konnte es kaum erwarten.

Ich klemmte mir mein Skateboard unter den Arm und trat durch die offene Flügeltür ins Schulgebäude. Überall standen meine Mitschüler herum, quatschten, lästerten oder schrieben eilig voneinander die Hausaufgaben ab. Von einer Mädchengruppe schnappte ich auf, dass Harry Styles am Wochenende ein Konzert in New York gab. Sie freuten sich tierisch, weil es einer ihrer Väter geschafft hatte, an Karten zu kommen, obwohl es schon nach zehn Minuten ausverkauft war.

Kopfschüttelnd ging ich an ihnen vorbei.

New York lag knapp zwei Autostunden von hier entfernt. Und obwohl das so war, war ich noch nie dort auf einem ausverkauften Konzert gewesen. Vielleicht lag es daran, dass mir Menschenmassen zuwider waren und ich schnell Panikattacken in ihnen bekam. Ich bevorzugte kleine Gigs von Künstlern, die keine Weltstars waren. Keine Ahnung, wieso das so war, aber ich mochte die großen Stars nicht. Mich störte es, dass, wann immer ich das Radio anschaltete, die gleichen Songs liefen. Deshalb waren in meinen Spotifyplaylists nur Künstler vertreten, die relativ unbekannt waren.

Endlich erreichte ich meinen Spind, der in der Reihe ziemlich am Ende lag und gab schnell die Zahlenkombination ein, um ihn zu öffnen. Dann stellte ich mein Board hinein und nahm mir die Bücher heraus, die ich heute benötigte. Als Erstes würde ich den beschissenen Mathetest hinter mich bringen. Meine Gedanken an das Grauen wurden jäh unterbrochen, als jemand neben mir abrupt zum Stehen kam.

»Hallöchen Sunshine!«

Natürlich musste ich mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer neben mir gestoppt hatte. Auch so wusste ich, dass es meine beste Freundin Jenna war.

»Morgen«, erwiderte ich und setzte mich in Bewegung, wissend, dass mir Jenna folgen würde.

»Keine gute Lau ...«, sie unterbrach sich selbst. »Oh! Der Mathetest.«

»Jep, du bekommst hundert Punkte.«

»Aber wieso? Wir haben doch so viel zusammen gelernt!«

Als Antwort gab ich ein undefinierbares Gemurmel von mir. Wir blieben vor ihrem Spind stehen und ich wartete, bis sie ihre Bücher ebenfalls herausgeholt hatte. Ich lehnte mich gegen die Spinde und beobachtete die anderen Schüler, die noch immer in Grüppchen zusammenstanden. Bisher hatte sich die Atmosphäre auf dem Flur nicht verändert, doch das würde sie in exakt sieben Minuten, wenn es zur ersten Stunde klingelte.

Mein Blick fiel auf Lake, die jetzt eine enge Jeanshose trug, und ihre beiden besten Freundinnen, Tara und Grace. Tara und Lake waren bereits seit dem Sandkasten befreundet und Grace war zu Beginn zur Junior High in die Stadt gezogen. Seitdem waren die drei unzertrennlich. Lake lehnte ebenfalls an den Spinden und schenkte ihre Aufmerksamkeit Tara, die gerade irgendetwas erzählte. Ein Lächeln zierte die Lippen meiner Schwester. Das Gesicht von Grace konnte ich nicht sehen, wusste aber, dass auch sie lächelte. Alle drei waren von ihren Wesen so unterschiedlich, dass ihre enge Freundschaft einem Wunder glich, doch irgendwie funktionierte es zwischen ihnen. Die Mädels liebten sich so abgöttisch, dass es beinahe seltsam war.

Doch davon hatte ich wohl einfach keine Ahnung. Ich meine, ich hatte Jenna lieb und erzählte ihr im Grunde alles, aber wir kamen auch gut ohne einander aus. Okay, wir standen regelmäßig über WhatsApp in Kontakt, weil wir beide keine Freunde vom Telefonieren waren. Mum und Dad waren dankbar dafür, nur eine telefoniersüchtige Tochter zu haben.

Lakes Aufmerksamkeit änderte sich und sie sah an Tara vorbei. Ich folgte ihrem Blick und sah Travis den Gang entlang schlendern. In einer Hand hielt er seine Bücher, die andere hatte er lässig in die vordere Hosentasche geschoben. Sein schwarzer Rucksack hing ihm an einem Riemen über der Schulter. Er hörte seinem besten Freund Asher zu, der auf ihn einredete. Als seine Augen auf Lake trafen, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, ein Funkeln trat in seine indigofarbenen Augen und auf seine Lippen stahl sich dieses kleine halbe Lächeln, wofür einfach jedes Mädchen sterben würde.

Mich eingeschlossen.

Neben mir quatschte Jenna noch immer, doch ich tat gar nicht mehr so, als würde ich ihr zuhören. Meine gesamte Aufmerksamkeit lag auf Travis, der Asher mit einem kurzen Wort stehenließ und auf Lake zuging. Sie schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln und warf Tara einen eindringlichen Blick zu. Travis beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange, wobei dieser ziemlich sicher auf ihrem Mund landen sollte. Doch Lake hatte den Kopf weggedreht und sagte etwas zu ihm.

Ich konnte nicht verstehen, was sie von sich gab.

Wieso hatte sie sich nicht von Travis küssen lassen? Die beiden waren seit zehn Monaten ein Paar. Lake hatte weder gestern Abend noch heute Morgen irgendetwas davon erwähnt, dass etwas zwischen ihnen vorgefallen war. Wir erzählten uns immer alles. Wir standen uns näher als zwei Schwestern, die zufällig auch noch das gleiche Alter teilten und dabei keine Zwillinge waren. Ganz im Gegenteil, wir waren noch enger als Zwillinge. Egal, was geschah, wir vertrauten uns alles an. Und wenn ich ALLES sagte, meinte ich auch alles. Ich wusste alles, was zwischen Travis und ihr vorging.

Dabei war irrelevant, dass ich am liebsten diejenige wäre, die genau das erlebte. Dass ich am liebsten mit Lake die Rollen getauscht hätte. Es gab wohl doch etwas, was zwischen uns geheim war. Ich war in den Freund meiner Schwester verliebt. Schon bevor sie zusammengekommen waren.

War das tragisch?

Und ob.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich, wie Lake Travis an der Hand nahm und ihn mit sich zog. Im gleichen Moment wurde mir die Brille von der Nase gezerrt und ich sah nur noch verschwommen, bis sich ein Gesicht vor mich schob, welches deutlich war.

»Hast du mir in den letzten zwei Minuten auch nur ein Wort zugehört?«, fragte Jenna und in ihren braunen Augen lag ein angefressenes Glitzern.

Schuldbewusst zuckte ich zusammen.

»Ich fass es nicht! Dieses Travis-Geträume muss aufhören. Sofort!«

Wieder fuhr ich zusammen und sah mich hektisch um, ob sie jemand gehört hatte. Natürlich sah ich nur verschwommene Konturen, da Jenna immer noch im Besitz meiner Brille war.

»Kann ich meine Brille wiederhaben?«

Seufzend hielt Jenna sie mir vor die Nase. »Hier.«

»Danke.«

Mit Schwung knallte sie ihre Spindtür zu. Das Scheppern übertönte für einen Moment die Stimmen um uns herum. »Ich meine es ernst, es muss aufhören, Jil. Es ist nicht gesund und er liebt offensichtlich deine Schwester.«

Stumm gab ich ihr Recht und es war ja auch nicht so, als wäre es mir nicht selbst klar. Es war nur so, dass ich meinem bescheuerten Herz nicht vorschreiben konnte, was es zu empfinden hatte. Dieses miese kleine, schrumpelige Ding tat einfach, was es wollte.

»Lass uns zu Mathe gehen, sonst kommen wir noch zu spät.« Jenna schüttelte sich, als wäre es tatsächlich total desaströs, erst beim Klingeln über die Türschwelle zu treten. Für sie gab es nichts Schlimmeres, als sich zu verspäten.

Daher der Matheraum genau von uns gegenüber war, war ihr Auftritt einfach unnötig. Nie im Leben würden wir für die Durchquerung des Korridors fünf Minuten benötigen. Trotzdem folgte ich ihr, schenkte Tara und Grace ein Lächeln, welches sie erwiderten und betrat meine Hölle.

Es war nicht so, als würde ich mich mit Absicht dumm stellen. Doch sobald ich versuchte, eine dieser berüchtigten Formeln anzuwenden, verknotete sich mein Hirn. Zudem hatte Mr Fisher keine Kapazitäten - oder Lust – sich mit Fällen wie mir zu beschäftigen. Manchmal fühlte es sich an, als wäre er genervt von Menschen wie mir, die keine natürliche Matheveranlagung hatten.

Mit Schwung ließ ich mich auf meinem Platz in der Mitte sinken und verstaute die Bücher in meinem Rucksack. Jenna saß schräg vor mir zwei Plätze weiter links und tippte in schnellen Bewegungen auf ihrem Handy herum. Vermutlich schrieb sie ihrem Freund Justin, der im Sommer seinen Abschluss gemacht hatte und nun in New York studierte.

Mr Fisher war noch nicht da, eine Sache, die nicht wirklich ungewöhnlich war. Meistens kam er genau mit dem Klingeln in den Raum und zog seinen Unterricht knallhart durch und ignorierte dabei das lautstark verkündete Stundenende. Bis zum Sommer hatte ich auch Physik bei ihm gehabt und war letztendlich sehr froh, dass ich genug Stunden beisammenhatte, um den Kurs vorzeitig verlassen zu können.

Der Klassenraum füllte sich. Grace und Tara ließen sich ebenfalls auf ihren Plätzen nieder. Mr Fisher kam genau in dem Moment durch die Tür, als die Klingel darüber läutete. Hinter ihm kam Travis in den Raum. Meine Augen wurden wie Magnete von ihm angezogen. Ich konnte überhaupt nichts dagegen machen. Selbst wenn ich mich zwang, in die entgegengesetzte Richtung zu gucken, dauerte es nicht lange, bis meine dummen Augen wieder auf ihm lagen.

Mir fiel sofort auf, dass Travis wütend war. Er hatte die Zähne zusammengebissen, seine Augen wirkten starr und seine Bewegungen waren beherrschter als sonst.

Woher ich das wusste?

Ich war ein Freak.

Sowas von.

Ohne mich eines Blickes zu würdigen, warf er seinen Rucksack auf den kleinen Tisch vor mir und setzte sich auf den dazugehörigen Stuhl. Dabei gab dieser ein schabendes Geräusch von sich. Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich seine angespannte Rückenpartie und fragte mich, was zwischen Lake und ihm vorgefallen war.

Die beiden waren das ultimative Traumpaar. Jeder Kerl an der Highschool beneidete Travis dafür, dass Lake ihn auserwählt hatte. Und es gab eine Menge Mädchen, die eifersüchtig auf Lake waren.

Also, was war zwischen ihnen vorgefallen?

Obwohl Mr Fisher vorne seinen Monolog über den bevorstehenden Test hielt, hörte ich ihm nicht zu. Meine Aufmerksamkeit lag auf der Tür. Darauf, dass Lake ebenfalls noch in diesen Unterricht kommen musste. Wir hatten beinahe alle Fächer gemeinsam.

Sie tat es nicht.

Der Test verlief nicht so übel, wie ich erwartet hatte. Erstaunlicherweise hatte das gemeinsame Lernen mit Jenna was gebracht. Natürlich nahm ich nicht an, dass ich plötzlich ein Matheass werden würde, aber ich würde definitiv nicht durch diesen Test fallen. Es gab also durchaus eine Chance für meine Mathenote.

Doch auch wenn ein Teil meines Hirns damit beschäftigt war, die benötigten Formeln anzuwenden und Diagramme zu zeichnen, machte sich der andere Teil Sorgen. Lake war niemand, die den Unterricht schwänzte. Schon gar nicht, wenn sie einen Test schreiben musste.

Bei der letzten Aufgabe sah ich von meiner Arbeit auf und bemerkte, dass Travis aus dem Fenster starrte. Ich schluckte. Travis war sehr gut in Mathe. War er schon fertig mit dem Test? Der Gedanke war plausibel, doch alles in mir sagte mir, dass dem nicht so war.

Wieder fragte ich mich, was zwischen Lake und Travis vorgefallen war. Hatten sie sich gestritten? Warum sonst sollte Lake schwänzen und Travis aus dem Fenster starren? Wo war Lake? War sie auf dem Mädchenklo und heulte sich dort die Augen aus?

Vorsichtig sah ich in die Richtung von Tara und Grace, die fleißig ihre Tests bearbeiteten. Sie schienen sich keinerlei Sorgen zu machen.

»Die Augen auf Ihren Tisch, Miss Evans!«, blaffte Mr Fisher und ich zuckte überrascht zusammen.

Eigentlich war ich davon ausgegangen, mich unauffällig umzusehen. Schnell drehte ich den Kopf und sah wieder auf das Blatt Papier vor mir. Die Aufgabenstellung verschwamm vor meinen Augen. Mühsam versuchte ich, mich erneut darauf zu konzentrieren, doch es gelang mir nicht.

Als vor mir der Stuhl nach hinten gerückt wurde, sah ich erneut auf. Im gleichen Moment schulterte Travis seinen Rucksack und ging zum Lehrerpult, um dort seinen Test in die dafür vorgesehene grüne Ablage zu legen. Mr Fisher nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis und wendete sich wieder uns zu. Leise schloss Travis die Tür hinter sich.

Bevor mir überhaupt klar war, was ich tat, erhob ich mich. Rasch ließ ich die Tischreihen hinter mir und legte meinen Test ebenfalls in die Ablage. Dabei entdeckte ich, dass Travis‘ Test abgesehen vom Namen und heutigem Datum leer war. Eilig folgte ich Travis hinaus auf den Korridor und entdeckte ihn bereits mehrere Meter entfernt.

»Hey Travis!«, rief ich, wieder ohne zu wissen, was ich vorhatte.

Sobald meine Stimme erklang, blieb er stehen und drehte sich um. »Was willst du, Jil?«

Rasch überbrückte ich die Meter, die uns trennten. »Ist alles okay mit dir?«

»Klar, warum sollte es nicht sein?«

»Weil du einen leeren Mathetest abgegeben hast.«

Sein Blick wanderte über mich. Hart. Abweisend. Traurig. »Spionierst du mir etwa nach?«

»Nein ... ich ...« Ich zögerte und verhaspelte mich. Mit seinem harten Ton hatte ich nicht gerechnet. Normalerweise verstanden wir uns recht gut. Zwar waren wir keine Freunde, aber Fremde waren wir eben auch nicht. Unbewusst straffte ich die Schultern. »Ich habe es durch Zufall gesehen, als ich meinen Test abgegeben habe. Was ist passiert? Wo ist Lake?«

»Geht dich nichts an. Lass mich in Ruhe«, murrte Travis und wollte sich umdrehen, doch ich hinderte ihn daran, indem ich ihm entschlossen am Arm zurückhielt.

»Wo ist Lake?! Sag es mir!«, sagte ich und starrte ihm in die indigoblauen Augen.

»Hast du mir nicht zugehört? Du sollst mich in Ruhe lassen! Es ist mir egal!«, blaffte er und riss sich aus meinem Griff los. Er warf noch einen harten Blick in meine Richtung, vor dem ich instinktiv zurückweichen wollte, doch ich straffte wieder die Schultern und reckte das Kinn. Dann drehte er sich um und marschierte davon.

Für einen Moment sah ich ihm mit gemischten Gefühlen und unzähligen Fragen im Kopf nach. Dann ging ein Ruck durch meinen Körper und ich sah dem immer kleiner werdenden Travis nicht weiter nach. Stattdessen dachte ich darüber nach, wo sich meine Schwester aufhalten könnte. Gleichzeitig zog ich mein Handy aus der hinteren Hosentasche und entsperrte es. Auf meinem Display war eine Nachricht von Mum, die sich erkundigte, wie der Mathetest gelaufen war. Diese ignorierte ich und rief Lakes Nummer auf. Anschließend drückte ich auf anrufen und hielt mir das Handy ans Ohr. Nach nur einem Freizeichen wurde ich sofort an ihre Mailbox verwiesen.

Was zum Teufel?

Lake hatte ihr Handy niemals ausgeschaltet. Das höchste der Gefühle war, dass sie es auf Vibration stellte. Eine Tatsache, die Grandma Nancy regelmäßig zur Weißglut trieb, denn sie konnte Mobiltelefone nicht ausstehen und weigerte sich vehement, diese beim gemeinsamen Sonntagsessen zu akzeptieren. Sie zwang uns jeden Sonntag, unsere Handys auf lautlos zu schalten, doch ich wusste, dass Lake es immer heimlich auf Vibration einstellte. Das leise Surren in ihrer Handtasche blieb Grandma Nancy jedoch jedes Mal verborgen. Vielleicht lag es daran, dass Lake am weitesten von ihr weg saß. Ich wäre damit jedenfalls niemals durchgekommen.

Nachdem Lakes Ansage ihrer Mailbox beendet war, legte ich auf. Ich hasste es, auf diese Teile zu sprechen, und schrieb ihr stattdessen eine Nachricht.

Wo bist du?

09.36 Uhr

Wie paralysiert starrte ich auf mein Handy und wartete darauf, dass der zweite Haken hinter meiner Nachricht erscheinen würde. Minutenlang verharrte ich auf dem Korridor und schreckte auf, als das Klingeln das Stundenende verkündete. Der zweite Haken war noch immer nicht aufgetaucht und ich steckte mein Handy frustriert zurück in die hintere Hosentasche meiner Jeans.

Offenbar musste ich Lake auf altmodische Weise finden.

Die Türen der Klassenräume wurden geöffnet, doch ich ignorierte meine Mitschüler, die auf den Gang strömten, und drehte mich um. Vor der Mathestunde hatte ich nicht mitbekommen, wohin Travis und Lake gegangen waren, doch ich war mir sicher, dass ich es trotzdem wusste. Jeder Schüler hier wusste, dass der Abstellraum für ungestörte Dinge verwendet wurde. In der Regel wurde der Abstellraum nur vom Hausmeister aufgesucht, der erst gegen Mittag seinen Dienst anfing. Also war dieser Raum perfekt, um in Ruhe zu lästern, zu knutschen und ganz andere Dinge zu tun. Zugegeben, es verschwanden jeden Tag unzählige Mitschüler in diesem Raum und ich wollte gar nicht so genau wissen, was sie dort trieben. Allein der Gedanke daran ließ mich schaudern.

Dennoch ging ich auf ihn zu. Während der Matheraum in der Mitte des Korridors lag, befand sich der Abstellraum am südlichen Ende. Als ich vor der Tür ankam, atmete ich tief ein und öffnete die Tür. Vermutlich hatte ich mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was sich meinen Augen wirklich offenbarte.

Nichts.

Zumindest nichts Lebendiges.

Lake war nicht hier.

Missmutig schloss ich die Tür wieder und ging den Korridor zurück, um auf den Mädchentoiletten in der Nähe nachzusehen. Im Alltag kam mir die Highschool nie besonders weitläufig vor, doch in diesem Moment verfluchte ich ihre Größe und die Anzahl der Schüler. Neben mir gab es noch etwa siebenhundert weitere Jugendliche.

Insgesamt lebten in unserem beschaulichen Städtchen Fairwood etwas über achttausend Einwohner. Beschaulich aus dem Grund, weil hier so gut wie nie etwas geschah. Wir hatten keine Falschparker, keine Politessen und keine Verbrechen. Seit zehn Jahren war hier kein Einbruch verübt worden. Wenn man sich auf der Straße begegnete, grüßte man sich und ging dann weiter seiner Wege. Fairwood besaß zwei Supermärkte, eine eigene Tankstelle, einen Buchladen und sogar ein Kino.

Ja, ein Kino. Kaum zu glauben, aber wahr. Zwar liefen dort nur alte Kamellen und wenn man einen aktuellen Film sehen wollte, musste man nach New York fahren, aber wir hatten ein Kino. Darauf waren wir Fairwooder mächtig stolz. Unsere Stadt gab es bereits seit 367 Jahren und auch darauf waren wir stolz. Die meisten Familien waren alteingesessen. Nur selten zogen Fremde her. Ich glaube, die letzte Familie, die hierher gezogen war, war die von Grace gewesen und das war bereits einige Jahre her.

Wieder klingelte es und ich ignorierte es erneut. Endlich kam ich an der ersten Mädchentoilette an. Insgesamt gab es in diesem Gebäude drei Stück. Die Toiletten in der Sportumkleide nicht mitgezählt. Da würde ich zuletzt nachsehen, denn Lake war vom Sportunterricht nicht der größte Fan und mied es, in die Nähe der Sporthalle zu kommen.

Rasch sah ich mich in dem kleinen Raum um, in dem sich Sandra gerade die Hände wusch. Doch bis auf sie war der Raum abgesehen von drei Waschbecken und fünf Toilettenkabinen leer.

»Weißt du, wo Lake ist?«, fragte ich Sandra, die mit uns Chemie und Biologie hatte.

Sie zog Papierhandtücher aus dem Spender und sah mich an. »Leider nicht.«

-2-

Der Fahrtwind pustete mir mein blondes Haar aus dem Gesicht. Gekonnt

hielt ich das Gleichgewicht und hatte kein Problem damit, die Kurve zu nehmen, indem ich etwas in die Knie ging und mich der Kurve entgegen lehnte. Seit zwei Stunden war die Highschool für heute beendet und seitdem war ich auf der Suche nach Lake.

Nachdem ich die gesamte Schule auf den Kopf gestellt und anschließend frustriert in den Unterricht zurückgekehrt war, hatte ich die Minuten gezählt, bis das letzte Klingeln an diesem Tag ertönte. Kurz überlegte ich, Mum und Dad anzurufen und sie zu fragen, ob sie etwas von Lake gehört hatten. Aber dann hätten sie sofort gewusst, dass etwas nicht stimmte und mir Fragen gestellt, auf die ich keine Antworten hatte.

Also musste ich meine Suche ohne ihr Wissen fortsetzen. Doch bevor ich Fairwood nach meiner Schwester absuchte, schaute ich noch bei uns zuhause vorbei, in der Hoffnung, Lake in ihrem Zimmer zu finden.

Natürlich war sie dort auch nicht. Genauso wenig wie im Buchladen, ihrem Lieblingscafé oder im Pavillon, der in der Stadtmitte stand. All das waren ihre Lieblingsorte, bei denen ich sie sonst immer fand, wenn sie traurig war. Was zugegeben nicht besonders oft vorkam. Lake war kein Mädchen der Traurigkeit. Im Gegenteil, sie war immer das sprühende Leben, war ihren Freunden stets loyal und darauf bedacht, das Richtige zu tun. Jeder hatte sie gern.

Wirklich jeder.

Eine Tatsache, die statistisch vielleicht unmöglich war, in diesem Fall aber Hundertprozent stimmte.

Ich bog in unsere Straße ein, in der nur kleine Häuser lagen. Jedes Haus hatte einen Vorgarten, die überall anders gestaltet waren. In unserem Vorgarten befand sich ein Fahnenmast in der Mitte, an dem die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika hing. Dad war bis vor einigen Jahren in der Navy tätig gewesen und hatte dann den Eisenwarenladen seines Vaters übernommen. Evans Eisenwarengeschäft war bereits seit vier Generationen in der Familie.

Mums blauer Jetta parkte schon vor der Garage und das Küchenfenster stand offen. Mir drang ein leckerer Geruch in die Nase und ich wusste sofort, dass Mum wieder ihre abgöttischen, selbstgemachten Ravioli auftischen würde. Das tat sie nur, wenn es etwas zu feiern gab. Das Rezept hatte sie von ihrer Grandma, die aus Italien stammte und im zarten Alter von vier Jahren nach Fairwood gezogen war. Wir selbst waren noch nie in Italien gewesen, aber vielleicht würde es sich nächsten Sommer ändern. Lake und ich würden dann unseren Highschoolabschluss in der Tasche haben und wir waren dabei, Mum und Dad dazu zu überreden, den vorerst letzten Familienurlaub in Europa zu verbringen.

Die letzten Meter ließ ich mein Board ausrollen und kam vor dem Bordstein zum Stehen. So wie ich es schon hunderte Male getan hatte. Mit einem Tritt auf das Ende des Skateboards schnappte es vorne hoch und ich griff danach. Früher hatte ich die Jungs im Park immer darum beneidet, dass es bei ihnen so einfach aussah. Inzwischen konnte ich getrost behaupten, dass es mir genauso leicht fiel. Übung machte eben doch die Meisterin. Langsam ging ich auf mein Zuhause zu und überlegte, was ich Mum über Lakes Fernbleiben sagen sollte.

Das Handy in meiner hinteren Hosentasche gab einen leisen Ton von sich, als ich gerade die Haustür öffnete. Rasch stellte ich mein Board im Flur in die Ecke, wo es immer stand, bis ich es mit nach oben in mein Zimmer nahm. Mein Rucksack landete unbeachtet daneben und ich ging geradewegs in die Küche, weil ich Mum dort hantieren hörte. Gleichzeitig zog ich mein Handy hervor und warf einen Blick auf das leuchtende Display.

»Das ist doch wohl nicht wahr«, murmelte ich und spürte, wie mir Wut durch die Adern raste.

Mums Stimme erklang und ich sah auf. »Hey Schatz. Wie war die Schule? Wo kommst du denn jetzt erst her?«

Während ich Mums Stimme vernahm, fiel mein Blick auf Lake, die am Küchentisch saß und mit den Händen eine Tasse umschlossen hielt. Neben ihr lag ihr Handy, welches sie wohl gerade wieder angeschaltet und mir gnädigerweise eine Nachricht geschickt hatte. Wohlbemerkt, nachdem ich die ganze beschissene Schule und die komplette Stadt nach ihr abgesucht hatte.

»Sie war okay«, erwiderte ich Mum mit zusammengebissenen Zähnen. »Rufst du mich, wenn das Essen fertig ist? Ich bin total erledigt.«

Ohne eine Erwiderung von ihr abzuwarten, schnappte ich mir Board und Rucksack und hechtete die Treppe nach oben. Mein Zimmer lag ganz rechts, dann kam Lakes, dann Mums Arbeitszimmer und schließlich das Schlafzimmer unserer Eltern. Lake und ich teilten ein Badezimmer und Mum und Dad hatten ebenfalls eins für sich. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen und mich aufs Bett geworfen, wurde sie wieder geöffnet und Lake kam ungebeten herein.

Normalerweise war das kein Problem für mich.

Jetzt schon.

Ich war sauer auf sie.

So richtig sauer, wie es noch nie vorgekommen war. Aber ich hatte mir auch noch nie solche Sorgen um sie machen und noch nie die ganze Stadt nach ihr absuchen müssen, weil sie mir immer auf meine Nachrichten antwortete.

Immer. Bis auf heute.

»Geh weg. Ich bin sauer.«

»Jil ...«

»Nein, ich will es nicht hören!«

Gut möglich, dass ich übertrieben reagierte.

»Es tut mir leid, dass ...«

Ich unterbrach sie. »Ich habe ALLES nach dir abgesucht. ALLES! Verdammt noch mal. War eine beschissene Nachricht zu viel verlangt?!«

Lake senkte den Blick und starrte auf meinen Rucksack, der auf dem Boden lag. »War es nicht. Es tut mir leid«, sagte sie und sah mir wieder ins Gesicht.

Langsam richtete ich mich auf. Ihre Entschuldigung ehrte sie, denn ich wusste, sie war ernstgemeint. Aber es erklärte verdammt noch mal nicht, was sie dazu bewogen hatte, einfach abzuhauen. »Was ist passiert?«

Stumm sah sie mich an und blieb mir einer Antwort schuldig. Hilflos warf ich die Hände in die Luft und sprang aus dem Bett. In mir tobten so viele Gefühle, dass ich eigentlich nicht in der Lage sein sollte, sie alle gleichzeitig wahrzunehmen. Aber ich tat es.

»Was ist passiert?«, wiederholte ich meine Frage und überbrückte den wenigen Abstand, der uns trennte. Wie von selbst nahm ich ihre Hände, umklammerte sie und flehte stumm, dass sie mir antworten würde. »Zur Hölle, Lake! Erst kommt Travis wie ein Tornado aus Wut in den Klassenraum, gibt eine leere Mathearbeit ab und macht mich im Korridor dumm an und jetzt verschweigst du mir was! Ehrlich, mein Bedarf ist für heute gedeckt!« Während ich sprach, ließ ich ihre Hände wieder los und brachte Abstand zwischen uns.

Den körperlichen Abstand brauchte ich in dem Moment und gleichzeitig wusste ich, dass er auch unsere mentale Kluft symbolisierte. In der Sekunde konnte ich sie mehr als alles andere fühlen. Meine Schwester hatte ein Geheimnis vor mir. Und so, wie sie mich verzweifelt ansah, wusste ich, dass es keine verdammte Kleinigkeit war.

»Entweder du sagst es mir oder du lässt mich in Ruhe.« Zur Bekräftigung meiner Worte verschränkte ich die Arme vor der Brust.

Enttäuscht sah sie mich an. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper und Wut löste die Enttäuschung ab. »Du meinst, so wie du dich mir anvertraut hast? Denkst du, ich weiß nicht, dass du in meinen Freund verknallt bist?«

Schock raste durch meine Adern und im Spiegel entdeckte ich, dass er sich deutlich auf meinem Gesicht abzeichnete. Unruhig huschten meine Augen zurück zu Lake, die mich kopfschüttelnd ansah.

»Ich schätze, wir beide sind uns doch nicht so nahe, wie ich immer dachte.«

Obwohl sie über einen Meter von mir entfernt stand, fühlte es sich an, als hätte sie mich geschlagen. Wenngleich ich ihre Worte vor nur wenigen Augenblicken selbst gedacht hatte, fühlten sie sich laut ausgesprochen an, als hätten sie die Macht eines ganzen Hurrikans. Die Welle aus Schmerz kam aus den Tiefen meiner Seele und Tränen traten mir in die Augen, die ich mit aller Macht zurückdrängte.

Unwillkürlich zeigte ich auf die Tür. »Raus!«

Auf Lakes Zügen lag Reue und sie wollte noch etwas sagen, doch ich zeigte nochmal mit Nachdruck auf die Tür. Ich wusste, wir würden uns wieder vertragen, das taten wir immer, doch in dem Moment wollte ich keine ihrer Entschuldigungen hören. Alles, was ich wollte, war, mich aufs Bett zu legen und meine mentalen Wunden zu lecken. Gerade war zwischen uns zu viel Wut und zu viel Schmerz. Wir hatten noch genug Zeit, um uns zu versöhnen.

Lake trat rückwärts aus dem Zimmer, tastete blind nach der Türklinke und ließ mich dabei nicht aus den Augen. In ihrem Gesicht lagen genau die Emotionen, die ich auch spürte. Ein Beweis, dass wir uns näherstanden, als wir es gerade noch behaupteten.

Erst als Lake die Tür hinter sich schloss, erlaubte ich mir, mich auf mein Bett zu setzen. Von dort starrte ich auf mein Bücherregal, welches mit dünnen und dicken Exemplaren vollgestopft war und wirkte, als würde es jeden Moment auseinanderbrechen. Daher es aber schon eine ganze Weile so aussah, wusste ich, dass es hielt.

Überall in meinem Zimmer waren Lichterketten verteilt. Sie würden nach und nach angehen und mein Zimmer in gemütliches Licht tauchen.

Woher wusste Lake, dass ich Travis mehr als nur mochte?

Hatte ich mich nicht genug angestrengt, diesen Zustand zu verbergen? In den letzten Wochen hatte ich mir Mühe gegeben, Travis aus meinem Kopf zu bekommen, und war auch recht erfolgreich gewesen. Also was hatte mich verraten? Oder war es ein wer?

Ich hatte es bis auf Jenna niemanden erzählt und Jenna würde mein Geheimnis niemals preisgeben. Das wusste ich einfach. Obwohl ich für einen Augenblick das Bedürfnis hatte, ihr zu schreiben und sie zu fragen, wusste ich es doch. Sie würde es auf gar keinen Fall ausplaudern. Meine Frage würde sie nur unnötig verletzen. Jenna war meine beste Freundin. Heimlichkeiten waren bei uns so sicher, dass sich selbst jegliche Geheimdienste davon eine Scheibe abschneiden konnten.

Aber woher wusste es Lake dann?

So sehr ich auch über die Frage grübelte, fiel mir keine Lösung ein.

Irgendwann rief Mum zum Abendessen. Inzwischen war auch Dad von der Arbeit gekommen. An ein paar Abenden in der Woche überließ er es seinen Angestellten, den Laden zu schließen. Ansonsten verbrachte Dad dort seine Zeit bis zum Feierabend.

Zeitgleich wie ich kam auch Lake aus ihrem Zimmer und wir gingen nacheinander die Treppe hinunter. Mum und Dad saßen bereits am runden Küchentisch und kicherten. Manchmal benahmen sie sich, wie verknallte Teenager. Ihre Hände waren auf dem Tisch miteinander verschränkt und sie strahlten uns an. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, setzten Lake und ich uns zu ihnen an den Tisch.

»Was gibt es zu feiern?«, fragte ich und sah ihnen abwechselnd ins Gesicht.

Kurz zog Mum einen Schmollmund, doch dann strahlte sie wieder wie ein Honigkuchenpferd. »Woher weißt du es?«

»Was? Dass es etwas zu Feiern gibt? Du machst dann immer Grandmas Ravioli.«

Erwartungsvoll lehnte sich Lake auf ihrem Stuhl vor und grinste. »Also, was ist es? Du hast schon so gute Laune, seitdem du zuhause bist!«

Ich warf ihr einen raschen Seitenblick zu. Damit hatte ich eine Antwort darauf, wann sie hier aufgetaucht war. Während ich wahrscheinlich gerade den Buchladen verlassen hatte, war sie gemütlich heimgekommen.

»Also gut, Mädels.« Mum strahlte uns an. »Wie ihr ja wisst, wird Letty in den Ruhestand gehen.«

Fragend sah ich sie an. Letty war Mums Chefin in der Bäckerei, in der sie seit ihrer Jugend arbeitete. Dort hatte sie auch ihre Ausbildung zur Konditorin gemacht und war irgendwann Lettys Stellvertreterin geworden. »Ja und?«

Mum machte mit Absicht eine lange Pause, ehe sie mit der Sprache herausrückte. Von uns allen liebte Mum am meisten dramatische Auftritte. Das hatte ich garantiert nicht von ihr geerbt. »Sie überlässt mir die Bäckerei!«

Augenblicklich entspannte ich mich. Das waren zwar tolle Nachrichten, aber wir hatten schon vorher gewusst, dass Letty mit dem Gedanken spielte. Der andere war, dass sie die Bäckerei verkaufen würde. Jeder der Letty kannte, wusste, dass sie ihr Lebenswerk niemals an jemanden übergeben hätte, der nicht mindestens genauso viel Herzblut in den Laden steckte wie sie. In Mum hatte sie so jemanden gefunden.

»Das ist super, Mum! Herzlichen Glückwunsch«, trällerte Lake und erhob sich, um sie zu umarmen. »Du hast es dir verdient!«

»Danke, Liebling.« Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie Lake aus ihren Armen entließ.

Schließlich erhob ich mich ebenfalls und trat um den runden Tisch herum. »Das hast du wirklich. Letty weiß eben, was gut ist«, murmelte ich und schloss Mum in meine Arme. Ihr zartes Parfüm nach Vanille und Rose kroch mir in die Nase. Diesen Duft benutzte sie schon, seitdem ich klein war. Früher hatte ich mal aus Versehen eines der kleinen Fläschchen umgestoßen und es war von ihrem Schminktisch hinunter auf den Teppich gefallen. Anschließend hatte es wochenlang im ganzen Zimmer danach gerochen.

Dad hatte ihr einfach ein neues Fläschchen gekauft und es mich ihr übergeben lassen. Dadurch war sie nicht mehr ganz so böse auf mich gewesen. Ich weiß noch, wie erleichtert mein fünfjähriges ich darüber war.

»Danke, Schatz«, flüsterte Mum und strich mir über den Rücken, ehe sie sich auch von mir löste. »Dann lasst uns mal essen.«

Das Essen verlief so, wie es für uns typisch war. Die Küche war erfüllt von Gesprächen und Gelächter. Ich wusste nicht, ob unseren Eltern die angespannte Stimmung zwischen Lake und mir auffiel. Falls es der Fall war, kommentierten sie es nicht. Oder wir waren verdammt gute Schauspielerinnen. Wobei ich dafür einfach talentfrei war. So war ich nicht. Während Lake immer höflich und zuvorkommend war, war ich direkt und sagte, was ich dachte.

Wir sprachen über die Schule und Mum fragte, wie der Mathetest gelaufen war. Kurz entstand Schweigen und obwohl ich noch immer sauer auf Lake war, sprang ich in die Bresche. Unsere Eltern wären ziemlich wütend, wenn sie erfuhren, dass Lake den ganzen Tag geschwänzt und dadurch auch den Test verpasst hatte.

»Er war in Ordnung. Ich habe sogar ein ziemlich gutes Gefühl, dass ich dieses Mal nicht durchgefallen bin. Mr Fisher hat ein paar schwierige Aufgaben gestellt, aber ich habe sie durchschaut. Das Lernen mit Jenna hat mir wirklich geholfen.«

Lake sah mich dankbar von der Seite an.

Flüchtig erwiderte ich ihren Blick und widmete mich dann wieder meinem halbvollen Teller.

»Das hört sich gut an. Ich bin gespannt auf dein Ergebnis«, meinte Dad und nahm sein Glas in die Hand.

»Wie war sonst die Schule?«, fragte Mum und schob gleichzeitig mit ihrem Messer kleine Raviolireste auf ihre Gabel.

Bevor ich mir eine Antwort zurechtlegen konnte, sprach Lake bereits. »Sie war okay, keine besonderen Ereignisse. Wie war es im Laden, Dad?«

Gut abgewehrt, dachte ich.

Natürlich erzählte uns Dad eine Geschichte darüber, was heute im Laden los war. Es war ein Ritual. Meistens endete es damit, dass er uns die lustigste Anekdote des Tages berichtete. Dabei lachte er bereits beim Erzählen so sehr, dass wir mitlachen mussten, egal ob wir es lustig fanden oder nicht. Dads Lachen war immer ansteckend.

Danach räumten Lake und ich den Tisch ab, stellten das Geschirr in den Geschirrspüler und gingen dann nach oben in unsere Zimmer. Schon jetzt fühlte sich der Streit mit Lake hundert Lichtjahre entfernt an. Trotzdem setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann, meine Hausaufgaben zu erledigen. Zum Schluss würde ich meinen Aufsatz im kreativen Schreiben beginnen. Würde ich es jetzt schon anfangen, hatten die restlichen Aufgaben keine Chance mehr. Ich konnte stundenlang mit dem Schreiben verbringen, ohne dass ich einmal aufsah. Mum und Dad hatten mir nur erlaubt, diesen Kurs zu belegen, wenn ich die anderen Fächer nicht vernachlässigte.

Dieses Versprechen hielt ich.

Es war bereits nach acht Uhr, als ich das Soziologiebuch schloss und erleichtert aufseufzte. Hinter meinen Schläfen pochte ein leichter Schmerz und ich sah mit bedauern den Collegeblock an, den ich nur für das kreative Schreiben benutzte. Der Tag forderte seinen Tribut und ich wusste, ich konnte mich heute nicht mehr genügend konzentrieren, um dem Aufsatz gerecht zu werden.

Stattdessen erhob ich mich und ließ mich auf das Bett fallen. Dort streckte ich mich aus, stopfte mir ein Kissen in den Rücken und nahm die Fernbedienung. Wie von selbst betätigten meine Finger die Tasten und Netflix öffnete sich. Nur wenige Sekunden später flimmerte die nächste Folge Gilmore Girls über den Bildschirm. Es war meine ultimative Wohlfühlserie und ich hatte keine andere Serie öfter gesehen, als diese.

Ein Teil von mir wusste, dass ich rüber zu Lake gehen und mit ihr sprechen sollte. Aber mein Körper rührte sich keinen Zentimeter. Stattdessen verfolgte ich, wie Lorelei und Rory zum wöchentlichen Familienessen bei Familie Gilmore erschienen und darüber diskutierten, ob sie wirklich die Klingel betätigen sollten oder nicht. Wie gebannt verfolgte ich die Handlungen auf dem Fernseher und entspannte mich immer mehr. Der Tag und dessen Ereignisse fielen von mir ab. Als sich die zweite Folge für heute dem Ende näherte, huschte mein Blick zur Uhr. Ein oder zwei Folgen würde ich vermutlich noch schaffen, ehe ich schlafen musste.

Wieder kam mir in den Sinn, dass ich hinüber zu Lake gehen und mich entschuldigen musste, aber ich war ein Dickkopf. Genauso wie sie.

Neben mir gab mein Handy auf dem Nachtschränkchen einen leisen Ton von sich und leuchtete auf. Ohne hinzusehen wusste ich, dass ich eine neue Kurzmitteilung bekommen hatte. In der Annahme, es handelte sich um eine Nachricht von Jenna, griff ich blind danach. Vorhin hatte ich ihr rasch geschrieben, dass Lake wieder zuhause war. Jenna wusste, dass ich sie den ganzen Tag gesucht hatte und hatte mir angeboten, mir zu helfen. Ein Vorschlag, den ich ausgeschlagen hatte.

Aber es war keine Nachricht von Jenna.

Als ich auf das Display sah, ging ein Ruck durch meinen Körper. Meine gesamte Aufmerksamkeit lag auf dem Handy in meiner Hand, welches nach wenigen Sekunden wieder dunkel wurde. Sogar die Stimmen im Fernseher blendete ich aus.

Travis.

Hatte ich mich verlesen? Warum sollte er mir schreiben? Vor allem, nachdem er mich vorhin so angeblafft hatte? Ich hatte mich garantiert verguckt. Kurz zögerte ich und drückte dann die Tastensperre, um den Bildschirm wieder aufleuchten zu lassen.

Travis.

Okay. Ich hatte mich also nicht verlesen. Unter seinem Namen konnte ich die ersten Worte seiner Nachricht lesen. Rasch strich ich mit dem Finger die Nachricht nach unten und bekam den ganzen Wortlaut seinerseits zu lesen.

Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe. Du hast mich einfach auf dem falschen Fuß erwischt.

9.27 Uhr

Wie gebannt starrte ich auf mein Handy, bis es wieder dunkel wurde. Mein Herz klopfte schneller und auf meine Lippen schlich sich ein kleines Lächeln. Er hatte sich bei mir entschuldigt! Von allein. Das letzte Mal hatte er mich angeschrieben, als es im Juni um ein Geburtstagsgeschenk für Lake ging. Es war so ziemlich das erste und letzte Mal, dass wir über WhatsApp Kontakt hatten. Zugegeben, es wunderte mich, dass er meine Nummer noch hatte. Gleichzeitig versetzte es mich in eine Euphorie, die ich sonst nur erlebte, wenn ich vor dem gesamten Schreibkurs von Ms Flynn für meine Arbeit gelobt wurde.

Wieder gab ich dem Bildschirm den Befehl, aufzuleuchten, und drückte meinen Daumen auf den unteren Teil, auf dem ein Fingerabdruck wackelte. Sofort entsperrte sich das Handy und der Chatverlauf mit Travis öffnete sich automatisch. Über seiner Nachricht war das heutige Datum versehen. Neben seinem Namen war links ein Foto von ihm. Das Bild zeigte ihn von der Seite, wie er auf einen See sah. Wenn ich mich nicht täuschte, war es unser Stadtsee.

Rasch tippte ich eine Antwort. Vier Wörter, die so sehr nach mir klangen, dass ich mir sofort nach dem Abschicken gegen die Stirn schlagen wollte.

Danke für deine Entschuldigung.

9.30 Uhr

Jedes andere Mädchen hätte ihm wahrscheinlich verkündet, dass seine Entschuldigung nicht notwendig gewesen wäre. Doch verdammt, das war sie! Immerhin hatte ich ihn im ganz normalen Tonfall angesprochen und keine bösen Absichten verfolgt.

Plötzlich wurden die beiden Haken neben meiner Nachricht blau und unter Travis´ Namen erschien das Wort »online«. Beinahe sofort änderte es sich in »schreibt ...«.

Panik durchflutete meine Adern und ich schloss den Chat. Keinesfalls wollte ich, dass er sah, dass ich auf seine Antwort wartete.

Das tat ich nämlich nicht!

Auf keinen Fall.

Okay, doch.

Aber das musste er ja nicht wissen.

Unwillkürlich sperrte ich das Handy und ließ es in meinen Schoss fallen. Ich zog die Ärmel meines dunkelblauen Strickpullis mit dem groblöchrigen Muster über meine Hände und zog die Beine an. Der Ton einer neuen Nachricht erklang dumpf. Dennoch sah ich sofort nach. Die Neugierde war einfach viel zu groß und ich hasste es, abwarten zu müssen.

Gern geschehen. Sie war nötig. Ich war vorhin ein totaler Arsch zu dir.

9.32 Uhr

Tja. Was sollte ich darauf antworten? Ratlos starrte ich mein Handy an. Mir kamen verschiedene Antworten in den Sinn, die alle mit »Ja, warst du« anfingen. Ich dachte so lange über eine passende Erwiderung nach, dass das Display automatisch wieder dunkel wurde. Netflix begann unterdessen die nächste Folge Gilmore Girls.

Offenbar dauerte Travis meine Antwort auch zu lang, denn er schrieb mir erneut. Unwillkürlich las ich die Nachricht.

Lake hat mit mir Schluss gemacht.

9.43 Uhr

Was zur Hölle? Zwar hatte ich damit gerechnet, doch niemals gedacht, dass sie es wirklich getan hatte. Travis und Lake waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Für jeden Single war es manchmal unerträglich, in ihrer Nähe zu sein. Inklusive mir. Und das hatte nichts damit zu tun, dass ich heimlich für ihren Kerl schwärmte. Travis schrieb noch eine Nachricht.

Ich weiß nicht einmal den Grund. Sie wollte es mir nicht sagen. Weißt du etwas?

9.44 Uhr

Ah. Daher wehte also der Wind. Er wollte Antworten, was natürlich nachvollziehbar war, aber wieso fragte er nicht Tara oder Grace? Mit Sicherheit hatte Lake ihnen alles anvertraut.

Bevor ich ihm wörtlich antwortete, schickte ich drei erschrockene Smileys ab.

Nein, ich habe keine Ahnung. Mir ist es ebenso ein Rätsel wie dir.

9.46 Uhr

Seine Antwort kam postwendend.

Weißt du wirklich nichts? Ihr seid doch so eng wie siamesische Zwillinge.

9.46 Uhr

Bitte sag es mir. Ich drehe hier durch.

9.47 Uhr

Ich weiß, dass ich mich erbärmlich anhöre.

9.48 Uhr

In mir wallte Mitleid auf und ich bemerkte eine andere Seite an Travis. Selbst wenn ich ihn in dem Moment nicht sah, wusste ich, dass er wirklich verzweifelt war. Jedes seiner Worte verriet es mir. Schnell tippte ich eine weitere Antwort.

Ich weiß ehrlich nichts. Ich wusste nicht mal, dass sie Schluss gemacht hat. Wir haben uns vorhin tierisch gestritten.

9.50 Uhr

Dieses Mal war ich diejenige, die ihm gleich noch eine weitere Nachricht schrieb, als nicht sofort eine Antwort erfolgte.

Es tut mir leid, dass sie Schluss gemacht hat. Ihr seid toll zusammen.

9.51 Uhr

Travis antwortete mir nicht mehr und ich legte das Handy beiseite. Meine Nachricht war mir ernst gewesen. Es tat mir wirklich leid und ich verstand nicht, was Lake dazu bewogen hatte. Kurzerhand schob ich die Beine über die Bettkante und erhob mich. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, verließ ich mein Zimmer und blieb vor Lakes Tür stehen. Dahinter hörte ich ihre Stimme und da ich keine zweite vernahm, wusste ich, dass sie telefonierte.

Gut, dann würde ich es später noch mal versuchen. Wenn es eins gab, was Lake abgrundtief hasste, war es, beim Telefonieren gestört zu werden. Wir hatten uns heute schon einmal gestritten und wenn ich mich mit ihr vertragen wollte, musste ich warten.

Ich ging die Treppe mit den siebzehn Stufen hinunter und entdeckte Mum und Dad auf der Couch. Sie sahen ihren Mittwochskrimi und sahen kurz auf, als ich mich im Fernseher spiegelte. Mum schenkte mir ein Lächeln und vertiefte sich gleich wieder in die Handlung.

Nachdem ich mir ein Glas Wasser geholt hatte, wünschte ich ihnen eine gute Nacht. Der Krimi ging noch etwa eine halbe Stunde und dann würden sie gemeinsam ins Bett gehen.

»Gute Nacht«, sagten sie im Chor und ich grinste. Die beiden waren wirklich Seelenverwandte und würden einfach jede Hürde im Leben zusammen durchstehen. Es gab nichts, was sie nicht schaffen konnten.

Zurück im Obergeschoss blieb ich erneut vor Lakes Tür stehen und spitzte die Ohren. Sie telefonierte immer noch.

In meinem Zimmer stellte ich das Glas auf mein Nachtschränkchen und schlüpfte aus meiner Jeans. Danach griff ich nach meiner Pyjamahose und zog auch meinen Strickpulli aus. Anschließend kämmte ich mir meine Haare und band sie im Bad zu einem hohen Knoten. Lakes Badezimmertür war geschlossen. Unser Bad lag zwischen unseren Zimmern und war von beiden Seiten betretbar. Dass Lakes Tür zu war, war ein Zeichen dafür, dass sie ungestört sein wollte. Nur in seltenen Fällen war sie zu. Wehmütig warf ich ihr einen Blick zu und wünschte, ich könnte endlich mit meiner Schwester diesen dummen Streit ausräumen.

Jetzt da ich wusste, dass mit Travis Schluss war, konnte ich ihre Flucht verstehen. Doch noch immer war dort die Frage nach dem Warum.

Sobald ich zurück ins Bett gekrochen und mich unter die Decke gekuschelt hatte, ließ ich die Folge Gilmore Girls weiterlaufen. Mein Handy piepte und ich griff danach. Dieses Mal war es tatsächlich eine Nachricht von Jenna, die mir antwortete. Aber auch Travis hatte mir erneut geschrieben. Als ich Jennas Nachricht las, fiel mir wieder ein, dass sie mittwochs immer bei ihrem Vater zum Essen war und keine Chance hatte, vorher zu antworten. Ihr Vater war streng, was Handys anging und vertrat die Ansicht, dass man auch gut ohne Mobiltelefone auskam.

Jennas Eltern waren getrennt, während ihre Mutter eher einem Hippie glich, war ihr Vater streng katholisch und gegen modernste Technik. Bei ihm gab es nicht einmal einen Fernseher. Wie ihre Eltern zusammengekommen waren und auch noch eine Tochter bekommen hatten, war mir bisher ein Rätsel. Das Sprichwort, Gegensätze zogen sich an, war in diesem Fall sehr, sehr wörtlich zu nehmen.

Ich öffnete Travis´ Nachricht.

Warum habt ihr euch gestritten?

10.06 Uhr

Auf der Treppe hörte ich Mum und Dad. Ihr Krimi war also zu Ende. Manchmal kamen Mum und Dad noch in unsere Zimmer und sagten Lake und mir gute Nacht. Doch da ich ihnen dieses Mal zuvorgekommen war, wusste ich, dass sie auf keinen Fall bei mir anklopfen würden. Heute war wohl so ein Abend, an dem sie doch noch gute Nacht sagen wollten, denn ein dumpfes Klopfen drang an meine Ohren und ich hörte Lake antworten.

»Gute Nacht, Liebling. Geh bald schlafen, ja?«, hörte ich Mum sagen.

Was Lake erwiderte, konnte ich nicht vernehmen, dazu sprach sie zu leise.

»Wir sehen uns morgen«, erwiderte Mum und ihre Schritte entfernten sich. Das Licht im Flur wurde ausgeschaltet und das leise Klicken der Schlafzimmertür verrieten, dass Mum sich nun bettfertig machen und bald schlafen würde. Dad war vermutlich schon im Bad.

Ich widmete mich Travis´ Antwort.

Weil ich sauer darüber war, dass sie einfach abgehauen ist und mir nichts gesagt hat. Ich habe sie in der ganzen Stadt gesucht.

10.33 Uhr

Seine Antwort kam innerhalb weniger Minuten.

Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Ich verstehe sie nicht mehr.

10.36 Uhr

Vielleicht solltest du ein bisschen abwarten und sie dann um ein Gespräch bitten, Travis.

10.37 Uhr

Solange kann ich nicht warten.

10.39 Uhr

Vielleicht solltest du ihr aber den Freiraum lassen.

10.41 Uhr

Keine gute Idee, Jillian. Ich bin kein besonders geduldiger Typ. Das solltest du eigentlich wissen.

10.44 Uhr

Bei meinem vollen Namen zuckte ich zusammen. Ich hasste meinen vollen Namen. Mum benutzte ihn nur, wenn sie sauer auf mich war. Was glücklicherweise nicht sehr oft vorkam. Statt ihm zu sagen, dass er meinen vollen Namen nicht benutzen sollte, ging ich auf den letzten Teil seiner Nachricht ein.

Woher soll ich das wissen? Wir kennen uns kaum.

Lass ihr den Freiraum. Ich glaube, dann bekommst du die Antworten auf deine Fragen.

10.46 Uhr

Du weißt doch irgendwas.

10.47 Uhr

Nein!

10.47 Uhr

Aber ich kenne meine Schwester ziemlich gut und weiß, dass du deine Antworten bekommst. Irgendwann.

10.48 Uhr

Und dieses »Irgendwann« macht mir verdammt noch mal Angst.

10.50 Uhr

Denkst du mir nicht?

10.51 Uhr

Ich denke, dass du irgendetwas weißt und es mir nicht sagst, weil du deiner Schwester so loyal gegenüber bist, dass es schon beinahe krankhaft ist.

10.55 Uhr

Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte ich auf seine letzte Nachricht und tippte nur ein Wort.

Arschloch. 10.58 Uhr

Es tut mir leid. Das hätte ich nicht schreiben sollen.

11.00 Uhr

WOW. Zwei Entschuldigen innerhalb von genauso vielen Stunden von Travis Moore. Es geschehen tatsächlich noch Weltwunder.

11.04 Uhr

Dein Sarkasmus trifft mich hart, Evans.

11.07 Uhr

Wohl kaum. Vielleicht solltest du schlafen gehen. Morgen sieht der Tag besser aus.

11.10 Uhr

Komm mir bloß nicht mit dem Sprichwort, der Schmerz heilt alle Wunden. Das ist nämlich eine beschissene Lüge.

11.12 Uhr

Du hast recht und das wollte ich damit auch gar nicht sagen.

11.13 Uhr

?? Sondern?? 11.14 Uhr

Dass du morgen legendlich klarer im Kopf sein wirst.

11.15 Uhr

Das glaube ich kaum.

11.16 Uhr

Warum nicht? 11.16 Uhr

Weil Scotch nicht klarer macht.

11.18 Uhr

Herrgott, Travis! Lass den Scheiß.

11.19 Uhr

Leck mich, Evans.

11.22 Uhr

Schön. Ist nicht mein Problem. DU hast morgen hoffentlich die Kopfschmerzen des Todes.

Ich werde jetzt schlafen.

11.23 Uhr

Wütend legte ich mein Handy auf das Nachtschränkchen und nahm einen Schluck Wasser. Vermutlich würde ich diejenige von uns sein, die morgen Kopfschmerzen hatte. Denn der stetig pochende Schmerz hinter meinen Schläfen wurde immer schlimmer.

Ein leises Quietschen ließ mich aufhorchen. Von irgendwoher erkannte ich es und sprang im nächsten Augenblick auf. Ich hastete zum Fenster und schob es ebenfalls nach oben. Die kühle Oktoberluft drang mir entgegen und ich fröstelte in meinem Tanktop und der dünnen Pyjamahose. Dennoch lehnte ich mich aus dem Fenster und sah Lake an, die in dem Moment aus dem Fenster klettern wollte.

»Wo willst du hin?«, flüsterte ich gerade laut genug, damit sie mich hörte.

Erschrocken blickte sie auf. »Ich treffe mich mit Tara und Grace.«

»Was? Jetzt?«

»Ja, jetzt. Wir wollen quatschen und ein bisschen was Rauchen.«

Fassungslos starrte ich sie an. Zwar hatte ich schon öfter mitbekommen, dass sie sich heimlich aus dem Haus stahl, doch noch nie hatte ich darüber nachgedacht, dass Lake dabei rauchen würde.

»Hör auf, mich zu verurteilen.«

»Ich verurteile dich nicht«, erwiderte ich automatisch.

»Klar.« Lakes ungläubiges Schnauben drang nur leise zu mir herüber. »Ich sehe es dir an, Schwesterherz.«

Ich verkniff mir den Satz, dass wir morgen Schule hatten, und sah sie stumm an.

Sie seufzte. »Ich bleibe nicht lange weg, versprochen. Nur circa eine Stunde. Das brauche ich jetzt.«

»Wir müssen uns unterhalten. Du hast dich von Travis getrennt. Warum?!« Der Zeitpunkt hätte ungünstiger nicht sein können, doch es platzte einfach aus mir heraus.

Undefinierbare Schatten huschten über Lakes Gesicht und sie wandte für einen Moment den Blick ab. »Darüber reden wir morgen, okay?« Im gleichen Augenblick hörte ich ein Auto näherkommen und sah, wie Taras kleiner, grauer VW vor unserem Haus hielt.

»Okay.«

Mit gemischten Gefühlen sah ich mit an, wie Lake das Rosengitter hin­unterkletterte und den kurzen Weg über die Garagenzufahrt nahm, immer darauf bedacht, dem Bewegungsmelder auszuweichen. Schließlich stieg sie in Taras Wagen und sie fuhr davon.

-3-

Mit rasendem Herzen schreckte ich aus dem Schlaf. Ich riss meine Augen auf und stieß ein leises Keuchen aus. Schweißnass klebten mir einige Haarsträhnen im Gesicht und Nacken. Meine Klamotten waren feucht und ich hatte meine Bettdecke ans Fußende gestrampelt. Um mich herum war es dunkel, was mir sagte, dass es nach Mitternacht war. All meine Lichter-ketten besaßen Timerfunktionen und die Letzte schaltete sich kurz vor Mitternacht aus.

Selbst meine Hände zitterten, als ich mir über das Gesicht fuhr und die feuchten Strähnen daraus verbannte. Nur bruchstückhaft konnte ich mich an meinen Traum erinnern. An die Angst, die ich durchlebt hatte, als ich vor irgendetwas davon gerannt war. Plötzlich stand mir das Bild des Monsters wieder klar vor Augen und ich atmete schaudernd ein.

Unwillkürlich ertönte Lakes Stimme in meinem Kopf. »Du solltest wirklich keine True-Crime-Podcasts vor dem Schlafengehen hören.« Dabei wäre ihr Gesichtsausdruck bitterernst, weil sie wusste, dass es nicht das erste Mal war, dass ich nach einem Albtraum aus dem Schlaf schreckte. Obwohl Lake in diesem Augenblick nicht im Raum und ihre Stimme nicht wirklich erklungen war, verdrehte ich die Augen.

Ich liebte True-Crime-Podcasts. Je abgedrehter, desto besser. Wenn man sein ganzes Leben in Fairwood verbrachte, lebte man in einer Art Bubble. Man wurde für das Weltgeschehen blind und ging davon aus, dass es überall auf der Welt genauso war wie hier. Dem war aber nicht so und die Podcasts erinnerten mich daran, dass es eine Art Privileg war, so unbehelligt zu leben.

Nur langsam beruhigte sich mein Herz und ich begann zu frösteln. Schnell holte ich meine Decke, die sogar halb aus dem Bett hing und deckte mich mit ihr zu. Glücklicherweise war sie trocken geblieben.

Der Albtraum hatte mich wach gemacht und ich fühlte mich munter. Obwohl ich so unwirsch aus dem Schlaf geschreckt war, fühlte ich mich, als wäre es bereits früher morgen. Um die exakte Uhrzeit zu erfahren, nahm ich mein Handy vom Nachtschränkchen und ließ es aufleuchten. Die Zahlen wechselten im gleichen Moment und ich staunte, als ich bemerkte, nicht mal eine Stunde geschlafen zu haben.

00.21 Uhr.

Außerdem hatte ich eine Textnachricht von Lake.

Unser Streit tut mir leid, Schwesterherz.

11.48 Uhr

Sofort lächelte ich. Gleich morgen früh würde ich ihr sagen, dass es mir auch leidtat. Und dann würden wir über alles reden. Ja, genau. Wir würden gemeinsam zur Schule gehen und auf dem Weg dorthin alles aus der Welt schaffen. Ich würde mich dafür entschuldigen, ein Geheimnis daraus gemacht zu haben, in Travis verknallt zu sein.

Apropos Travis. Er hatte meine letzte Nachricht nicht gelesen, indem ich ihm mitteilte, dass Lake mit Tara und Grace draußen unterwegs war. Und ich schrieb, dass an Lake die Trennung auch nicht spurlos vorbeiging. Keine Ahnung, warum ich ihm das erklärte. Irgendwie wollte ich, dass er es wusste. Vermutlich war es gut, dass er sie nicht las, denn das bedeutete mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass er aufgehört hatte zu trinken und schlief. Oder aber er war inzwischen so besoffen, dass er sein Handy nicht mehr bedienen konnte.

Nein, das sähe Travis nicht ähnlich. Zwar konnte er gut feiern, aber er schlug niemals über die Stränge. Doch selbst wenn er es getan hatte, hatte er einen guten Grund.

Wer wusste schon, wie ich reagieren würde, wenn man mich abservierte. Bisher war ich von dieser Erfahrung verschont geblieben. Vielleicht betrank ich mich dann auch bis zum Vergessen.

Sofort verdrehte ich die Augen. Sehr unwahrscheinlich. Ich konnte Alkohol nichts abgewinnen. Die größere Wahrscheinlichkeit war, dass ich ununterbrochen auf meinem Board durch die Stadt fuhr. So ging ich mit allem um. Selbst als Grandma Fanny letzten Winter unerwartet starb, war ich stundenlang auf dem Skateboard unterwegs gewesen.

Seufzend drehte ich mich auf die Seite und schloss die Augen.

»Jil, wach auf!«

Die Stimme drang durch die Tiefen meines Schlafs zu mir durch. Zuerst konnte ich sie nicht zuordnen, dann, als ich immer weiter Richtung Wachzustand schwebte, erkannte ich sie.