Preußisch, konservativ, jüdisch - Micha Brumlik - E-Book

Preußisch, konservativ, jüdisch E-Book

Micha Brumlik

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Beschreibung

In der Biographie des preußisch gesonnenen, konservativen und jüdischen Religionshistorikers Hans Joachim Schoeps (1909-1980), der seit seiner Jugend Mitglied der bündischen Jugend gewesen ist, 1938 emigrierte und schon 1946 heimwehkrank nach Deutschland zurückkehrte, zeigen sich beispielhaft jene Wünsche, Widersprüche und Enttäuschungen, die deutsche Juden im Zwanzigsten Jahrhundert hegten und verarbeiten mussten. Noch im Deutschland der ersten Jahre des NS Regimes vergeblich darum bemüht, die Anerkennung des judenfeindlichen Regimes zu gewinnen, wurde Hans Joachim Schoeps im spät erreichten schwedischen Exil zu einem bedeutenden, das frühe Christentum auf gänzlich neue Weise erforschenden Religionswissenschaftler. Dem korrespondierte ein existenziell erfahrenes theologisches Engagement, das der Jude Schoeps im Dialog mit der dialektischen Theologie zum Erneuerer eines idealistisch geprägten jüdischen Offenbarungsdenkens werden ließ. Nach seiner trotz seiner Homosexualität in Schweden vollzogenen Heirat kehrte Schoeps sowie früh wie möglich nach (West)Deutschland zurück, was er am Ende seines Lebens bereute. Die inneren Widersprüche, fatalen Fehleinschätzungen, getrogenen Erwartungen und trotzigen Hoffnungen des deutschen Judentums haben sich lebensweltlich und wissenschaftlich nirgendwo so deutlich niedergeschlagen wie in Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps.

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Micha Brumlik

Preußisch,konservativ,jüdisch

Hans-Joachim Schoeps’ Leben und Werk

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 KölnAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Hans-Joachim Schoeps, Foto: Fritz Eschen (aus PortraitserieHans-Joachim Schoeps am 24.5.1963, Aufn.-Nr.: df_e_0041674) © SLUB Dresden/Deutsche Fotothek/Fritz Eschen.

Korrektorat/Lektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-51852-3

Inhalt

Vorbemerkung

Vorwort. Remigration und die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik

Abbildungen

1Für Kaiser, Reich und Jugend

2Theologie der Offenbarung und jüdischer Barthianismus

3Max Samter und Hans Blüher: Um die Möglichkeit deutsch-jüdischer Existenz

4Emigration und »Judenchristentum«

Exkurs: Das Auseinandergehen der Wege

5Remigration und Nachkriegsantisemitismus

6Rückkehr

7Homosexualität und Wahrhaftigkeit

8Preußentum und Resignation

9Rückschau

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Vorbemerkung

Was eine gewiss sorgfältig dokumentierte, gleichwohl gängig erzählte Lebensgeschichte werden sollte, hat sich im Prozess des Schreibens – keineswegs beabsichtigt – grundlegend gewandelt. Auch mir, dem schreibenden Autor, war vorher nicht bewusst, zwischen welch vielfältigen Bezugspunkten dieses Leben verlief und auf wie viele Kontexte die Texte dieses ebenso aufrichtigen wie gebildeten Intellektuellen verwiesen. Kontexte, derer sich auch der Biograph zu versichern hatte und die er glaubt, dem lesenden Publikum nicht vorenthalten zu dürfen. Dem verdankt sich eine – gemessen an klassischen Biographien – deutlich überdurchschnittliche Anzahl von Exkursen – auch und zumal zu Themen, die jedenfalls auf den allerersten Blick nur peripher mit der erzählten Lebensgeschichte zu tun haben. Zudem ist auf eine weitere Eigentümlichkeit der Erzählung, auf ein bewusst gewähltes Darstellungsmittel hinzuweisen: In ihr kommen die Hauptfigur sowie manche Nebenfigur in unüblich langen direkten Zitaten zu Wort. Das bedarf einer Erklärung: Vor die Wahl gestellt, diese für das von Schoeps geführte Leben bedeutsamen Äußerungen mit meinen eigenen Worten zu paraphrasieren oder nicht doch auf Originalzitate zurückzukommen, habe ich mich bewusst für das Letztere entschieden: Ich jedenfalls hätte mit paraphrasierenden eigenen Worten niemals die Prägnanz von Schoeps eigenen Worten erreichen können – die Worte einer Persönlichkeit, die sich in ihrem ganzen Leben, wenn überhaupt, dann durch etwas auszeichnete: durch Prägnanz.

Nicht zuletzt – Leser werden es bemerken – war der Versuch, diesen Lebensgang nicht nur zu erzählen, sondern auch zu verstehen, nicht möglich, ohne das eigene Selbstverständnis zu reflektieren: den Bildungsgang und das Selbstverständnis eines 1947 von jüdischen Flüchtlingen in der Schweiz gezeugten und geborenen Knaben, der im Alter von noch nicht einmal 50 Jahren eine Autobiographie publizierte: »Kein Weg als Deutscher und Jude«. Zu behaupten, dass die hier vorgelegte Biographie über Hans-Joachim Schoeps auf diese Autobiographie direkt antwortet, würde den Sachverhalt unnötig dramatisieren – dennoch scheint es mir zulässig, das vorliegende Buch als ein Korollar zu »Kein Weg als Deutscher und Jude« zu bezeichnen – ein Korollar, das – wenn auch indirekt – auf die denn doch dramatischen Veränderungen reagiert, die den Staat Israel und damit den in sein Ziel gekommenen Zionismus in die Front der nicht nur europäischen Rechtspopulismen geführt hat. Die Philologie belehrt uns darüber, dass das lateinische »corolla« mit »Kränzchen« zu übersetzen sei und eine schlussfolgernde Äußerung aus einem bereits bewiesenen Satz darstelle. Es sei den Lesern überlassen zu klären, aus welchen Ausgangsbehauptungen die vorliegende Lebensgeschichte eine Schlussfolgerung darstellt.

Vorwort

Remigration und die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik

2019 wird es 70 Jahre her sein, dass die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Der Rolle der Juden wird dabei auf jeden Fall eine bedeutende erinne-rungs-, wenn nicht sogar realgeschichtliche Bedeutung zukommen. Auf jeden Fall wird dabei auch an die 1933 gewaltsam beendeten »Jüdischen Wege ins Bürgertum« (S. Lässig) seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert, ihr katastrophisches Ende und ihren paradoxen Neuanfang nach 1945 zu erinnern sein. Die inneren Widersprüche, fatalen Fehleinschätzungen, getrogenen Erwartungen und trotzigen Hoffnungen haben sich lebensweltlich und wissenschaftlich nirgendwo so deutlich niedergeschlagen wie im Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps.

Die geistige, die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik war wesentlich das Werk jüdischer Remigranten, eine Gründung, die sich freilich nicht in offiziellen Gründungakten und eindeutigen institutionellen Dokumenten niederschlug, sondern in teils verängstigten, teils sehnsüchtigen, teils verschämten, teils immer wieder bezweifelten Einzelentscheidungen von Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen und Politikern.

Es war ein eher konservativer Soziologe, Clemens Albrecht, der diesem Umstand schon 1999 in einer umfangreichen, von mehreren Autoren verfassten Studie zur Geschichte der sogenannten »Frankfurter Schule« prägnanten Ausdruck verlieh – im Ausblick seiner Studie würdigt er das Werk Theodor W. Adornos und Max Horkheimers:

Als Juden, Remigranten, Sozialwissenschaftler und Linksintellektuelle gab es neben ihnen kaum andere Intellektuelle, die glaubwürdiger in der Rehabilitierung deutscher geistiger Traditionen waren. Eben weil der Faschismus für Horkheimer und Adorno kein spezifisch deutsches Phänomen ist, war die (…) Kritische Theorie die einzige Position, durch die ein radikaler Bruch mit dem Faschismus ohne Bruch mit der eigenen kulturellen Identität möglich war.

Zustimmend zitiert Clemens Albrecht des Weiteren den Philosophen Albrecht Wellmer:

Es ist, als ob alle Anstrengungen dieser von den Nazis vertriebenen Intellektuellen sich darauf gerichtet hätten, den Deutschen ihre kulturelle Identität zu retten: Mit Adorno wurde es in Deutschland wieder möglich, intellektuell, moralisch und ästhetisch gegenwärtig zu sein und doch Kant, Hegel, Bach, Beethoven, Goethe oder Hölderlin nicht zu hassen.1

Doch waren es nicht nur – hier sieht Albrecht etwas zu kurz – Horkheimer und Adorno, denen wir die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik verdanken. Die Weimarer Moderne und die Erfahrung von Verfolgung und Ausgesetztheit hat das Werk all jener, die die frühe Bundesrepublik geistig formten, geprägt. So ist aus dem literarischen, wissenschaftlichen und filmisch-dramatischen Werk der vor oder um 1920 Geborenen – etwa der Lyrikerin und Romanautorin Hilde Domin, des Kritikers Marcel Reich-Ranicki, des Filmautors Peter Lilienthal, der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer und Edgar Hilsenrath, der Theaterregisseure Peter Zadek und George Tabori, der Philosophen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Ernst Bloch, von Michael Landmann und Werner Marx, des Soziologen Alphons Silbermann, des Publizisten Ralf Giordano, des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer sowie des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer – er setzte den ersten Auschwitzprozess 1963/64 in Gang – die Erfahrung erzwungener Emigration, von Verfolgung und Vernichtung nächster Angehöriger nicht wegzudenken. Diese Erfahrungen prägten ihre Werke genauso tief wie die Werke des aus Österreich stammenden Auschwitzhäftlings Jean Amery, der seine Werke nicht zufällig in der Bundesrepublik und nicht in seinem Geburtsland Österreich drucken ließ, um in Belgien zu leben, ohne den Willen, ein Leben nach der Folter beliebig lange fortzusetzen.

Es waren remigrierte Politologen, die der jungen Bundesrepublik ein Selbstverständnis als verfasster, pluralistischer Demokratie gaben: Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Franz Neumann sowie – einem naiven Blick stets abhold – Ossip Flechtheim, der an einer demokratisch-sozialistischen Option festhielt. Aber auch eine wiedererstehende Judaistik verdankt zurückgekehrten Jüdinnen und Juden außerordentlich viel: Eine Neugründung dieses Faches hätte es ohne Jacob Taubes und Marianne Awerbuch nicht gegeben; zu erinnern ist auch an Adolph Leschnitzer, der bereits 1955 in Berlin die erste Honorarprofessur für die »Geschichte des deutschen Judentums« erhielt, sowie an Joseph Wulf, Heinz Mosche Graupe sowie Stefan Schwarz. Nicht übergangen seien auch Pädagogen und Erziehungswissenschaftler, ich nenne nur Max Fürst, der ein anschauliches Bild der jüdischen Jugendbewegung in Weimar hinterlassen hat und an der Odenwaldschule wirkte, Ernest Jouhy, der nach einer Tätigkeit in der französischen Resistance ebenfalls Lehrer an der Odenwaldschule und dann Professor in Frankfurt wurde, ebenso Berhold Simonsohn, der nach leidvoller Haft in Theresienstadt und Jahren aktiver jüdischer Sozialarbeit als Professor in Frankfurt zum Wiederbegründer der psychoanalytischen Pädagogik in Deutschland wurde.

Nicht zuletzt gehört Paul Celan, der für die Lyrik im Nachkriegsdeutschland bestimmend wurde, dieser deutschprachig-jüdischen Kultur an, wenngleich der aus Czernowitz stammende Dichter ein Heimatloser war und blieb. Zu erwähnen sind nicht zuletzt die Schauspieler und Regisseure Fritz Kortner, Ernst Deutsch und Ida Ehre, Therese Giehse und Kurt Horwitz.

Schließlich hätte die Kultur der frühen DDR ohne die Präsenz der Schriftsteller Anna Seghers, Arnold Zweig und Stephan Hermlin, des Publizisten Alfred Kantorowicz, des Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski und des schon erwähnten Ernst Bloch kaum je das verheißen können, was sie wenigstens für einige auch im Westen anfangs attraktiv sein ließ.

Für all jene, die soeben unvollständig aufgezählt wurden, könnte freilich noch gelten, dass sie gar kein Teil der bundesrepublikanischen bzw. der DDR-Kultur, sondern »lediglich« letzter Ausdruck, ja Nachklang der deutsch-jüdischen Kultur der Vorkriegszeit gewesen sind. Das indes kann kein Einwand sein – denn in dieser Hinsicht war »Bonn« und – wenn man so will – auch »Pankow« tatsächlich »Weimar«. Es war die von wesentlichen Fraktionen des deutschen Assimilationsjudentums geprägte Weimarer Moderne, die bei der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik Pate stand.

Indes: Verdient ihre Erfahrung und ihr Denken wirklich das »jüdisch« – wird mit solcher Kennzeichnung nicht eben das wiederholt, was rassistisches und ethnizistisches Denken auszeichnet, denn, und das dürfte die geistige Physiognomie all der oben genannten doch kennzeichnen: Religiöse Juden im engeren Sinne waren sie allesamt nicht. Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger, die wichtige Arbeiten zum literarischen Werk Thomas Manns beigetragen hat, in der schwedischen Emigration lebte und 1956 eine Professur an der TH Stuttgart wahrnahm, antwortete auf eine Frage nach ihrer Identität:

Das ist ja damals eine ganz andere Zeit gewesen. Für uns spielt ja die Problematik der Assimilation gar keine Rolle mehr. Trotzdem – wahrscheinlich bin ich das. Deutsche Schriftstellerin und Jüdin. Aber es kommt auch darauf an, wie einen die anderen sehen. Das kann man selbst wirklich nicht genau beurteilen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat man in Deutschland zwischen Deutschen und deutschen Juden kaum mehr unterschieden. Und Sie sehen, ich tue es immer noch nicht.2

Das war ein Ausschnitt aus einer – wie sollte es auch anders sein – ex post, hinterher erzählten Lebensgeschichte. Aber was ist eine Lebensgeschichte? Das Thema, um das es in diesem Buch jedoch auch geht, hat in der Philosophie selbst erst in den letzten Jahren eine intensive Bearbeitung gefunden, nämlich das Verhältnis von lebensweltlicher, ja auch (auto-)biographischer Erfahrung – ein Verhältnis, das meistens als trivial angesehen bzw. im besten Fall mit Kategorien und Begriffen einer eher volkstümlichen Psychologie abgehandelt wird. Als bemerkenswerte Ausnahme darf Dieter Henrichs 2011 erschienene Studie »Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten« gelten.3

Obwohl Geistesgeschichte und philosophische Biographik sich in vielen Fällen und Hinsichten mit der auch geistigen Entwicklung von Denkerinnen und Denkern befasst haben, fehlte bis vor einiger Zeit das, was man als eine philosophische Theorie der geistigen Entwicklung bezeichnen könnte – üblicherweise entfalten Theorien geistiger Entwicklung einzelner oder auch ganzer Kulturen ein im weitesten Sinne reduktionistisches Programm, in neukantianischen Begriffen zeichnen sie die Genesis eines Geltungsanspruches nach und wollen ihn damit auf etwas zurückführen, d. h. »reduzieren«, was selbst keine normativ ausgewiesene Geltung beanspruchen kann, etwa kontingente Interessen; dafür steht prominent die Ideologiekritik, wie sie Denker in der Tradition von Karl Marx bis Georg Lukacs ausgeführt haben.

Entsprechend hat etwa Reinhart Koselleck im Vorwort zu den Lebenserinnerungen des jüdischen Heideggerschülers Karl Löwith darauf beharrt, dass es ideologiekritisch anmaßend und philosophisch unzureichend sei, dessen »einmal gewonnenen Standpunkt konsequenter Skepsis nur als sozial oder politisch-biographisch bedingt zu erklären«4.

Den umgekehrten Weg einzuschlagen, nämlich nicht die Genesis einer Geltung, sondern die Geltung einer Genesis nachzuweisen, hat bisher – wenn ich recht sehe – nur Dieter Henrich in dem schon erwähnten, bahnbrechenden Werk »Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten« versucht. In mehreren Anläufen versucht Henrich nicht nur zu bestimmen, was sinnvollerweise unter Philosophie verstanden werden kann, sondern auch, auf welchen Wegen des Denkens sich so etwas wie eine Weiterentwicklung – ob man das Fortschritt nennen kann, muss offenbleiben – vollzieht. Unter »Philosophie« versteht Henrich ein Denken, das sich der jeweils nicht reflektierten Gründe und Voraussetzungen des eigenen Weltwissens versichert, und zwar so, dass diese Gründe und Voraussetzungen auch immer Orientierungen für die je eigene Lebensführung offenbaren und zu einer neuen Einsicht führen – so Dieter Henrich:

Eine Einsicht solcher Art kann gar nicht nur als Arbeitsergebnis gewonnen und in einer abwägenden Distanz für gültig befunden werden. Das Subjekt des Denkens wird vielmehr durch eine solche Einsicht in einer Weise in eine Grundevidenz in Beziehung auf sich selbst versetzt, die vieles mit der gemeinsam hat, in der es ursprünglich zu jenem Wissen von sich selbst gelangte. Dies Wissen hatte bereits den Vollzug der Sorge um sich selbst aufkommen lassen. Ihr geht nunmehr in der Einsicht, in der die Konzeption gründet, zugleich eine Perspektive für ihre Lebensführung auf.5

Die folgende Lebensbeschreibung einer außerordentlichen Persönlichkeit, nämlich Hans-Joachim Schoeps, eines – nach heutigen Begriffen – nationalkonservativen, gleichwohl jüdisch-theologisch höchst bewussten, von der deutschen Jugendbewegung und ihren homoerotischen, männerbündischen Zügen zutiefst geprägten Mannes, will an diesem Extremfall der Frage nachgehen, ob und wie sich vor allem dieses politische und theologische Selbstverständnis hat ausbilden können; will der Frage nachgehen, ob sich Einsichten, Erfahrungen oder Situationen nachweisen lassen, die das Entstehen eines aus heutiger Sicht so merkwürdigen existenziellen Selbstverständnisses verständlich machen können. Im vorliegenden, hier zu untersuchenden Fall scheint es zwar auch der sozialisatorische Hintergrund gewesen zu sein, mehr aber noch der Eigensinn einer strikt verfolgten Idee.

In jener Zeit erregte er nicht zuletzt dadurch Aufsehen, dass er sich als der Konservative, der er war, im restaurativen Klima von Adenauers Deutschland für die Belange vom Nationalsozialismus verfolgter Homosexueller einsetzte.

Schon der Beginn der Erlanger Zeit war von Unbehagen geprägt: Wie erst jetzt bekannt wurde, beantragte Schoeps zu Beginn seiner Erlanger Zeit die schwedische Staatsangehörigkeit, was das dortige Justizministerium mit dem Hinweis ablehnte, Schoeps scheine kein guter Wissenschaftler zu sein.6

Bei alledem ist es zunächst unerlässlich, die Probleme der sogenannten »Remigration« und ihrer lebensgeschichtlichen Bedeutsamkeit zu entfalten. Die Dramatik dessen lässt sich keineswegs nur an Schoeps’ Lebensgeschichte ablesen, sondern auch an der Rückkehr etwa Theodor W. Adornos aus den USA sowie eines anderen schwedischen Exilanten, an Fritz Bauer. Theodor W. Adornos Vorlesung begann in der ersten Juliwoche des Jahres 1968 ungewöhnlich. Der ansonsten aller Sentimentalität abholde Philosoph bat die Studenten, sich zu einer Schweigeminute zu erheben, Fritz Bauer sei gestorben. Theodor W. Adorno, er war gerade 50 Jahre alt, war im Herbst des Jahres 1953 nach Deutschland zurückgekehrt, in ein Land, von dem er später sarkastisch sagen sollte, dass, wer im Hause des Henkers vom Strick rede, Ressentiment beweise. Derartiges Ressentiment war einem anderen prominenten Juden, der im gleichen Jahr, 1953, in der Frankfurter Paulskirche sprach, fremd. Buber, ein beeindruckender Greis, kam damals mit ausgestreckter Hand aus Jerusalem nach Deutschland zu Besuch. Im September des Jahres 1953 gab er bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in seiner Dankesrede einer tiefsitzenden Überzeugung Ausdruck: »Vor einem Jahrzehnt«, so Buber in Frankfurt, »hat eine erhebliche Anzahl deutscher Menschen – es müssen mehrere Tausende gewesen sein – Millionen meiner Volks- und Glaubensgenossen umgebracht.« Dieser Feststellung ließ Buber eine wohlwollende Einschätzung folgen:

Wenn ich an das deutsche Volk der Tage von Auschwitz und Treblinka denke, sehe ich zunächst die sehr vielen, die wußten, daß das Ungeheure geschah, und sich nicht auflehnten; aber mein der Schwäche des Menschen kundiges Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht vermocht hat, zu werden.7

Diese von äußerstem guten Willen, ja von einem tiefen Glauben an die deutsche Kultur und das deutsche Volk getragene Rede wurde im selben Monat, als Adorno nach Frankfurt zurückkehrte, gehalten. Im Willen zur Aufklärung der Gesellschaft beglaubigte der in den späten 1940er-Jahren nach Westdeutschland zurückgekehrte Fritz Bauer seinen ihm immer wieder zu Unrecht abgesprochenen Patriotismus. Aller entstandenen Fremdheit und aller empfundenen Anfeindung als Jude zum Trotz bekannte sich der zunächst niedersächsische, dann hessische Generalstaatsanwalt zu einem, zu seinem Deutschland, dem er treu blieb, obwohl es ihn verfolgt und drangsaliert hatte. So bezog er – der verfolgte und verjagte Jude – sich in das Kollektiv der Deutschen, auch jener, die unerträgliche Verbrechen begangen hatten, schonungslos mit ein. In einem 1965 gehaltenen Vortrag zum Thema »Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns« stellte er unmissverständlich fest:

»Bewältigung unserer Vergangenheit« heißt »Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt.«8

Theodor W. Adorno, der 1968 Bauers öffentlich gedenken wollte, hatte die Frage nach der Vergangenheitsbewältigung in Nuancen anders beantwortet. Ebenso alt wie Bauer verbrachte er die letzten Jahre der Weimarer Republik nicht wie Bauer unmittelbar an der politischen Front, sondern wirkte seit 1927 am Frankfurter »Institut für Sozialforschung« und habilitierte sich dort 1931 mit einer Arbeit über den christlichen Existenzdenker Kierkegaard. Trotz dieser so unterschiedlichen Herkünfte kam Adorno 1959 in einem Vortrag vor der »Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit« zu einer ähnlichen Auskunft über die Ursachen des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen wie Bauer, als er feststellte, dass der Faschismus nicht aus subjektiven Dispositionen erklärbar sei, sondern es die ökonomische Organisation der Gesellschaft sei, die die Menschen in Abhängigkeit, Unmündigkeit und Anpassung halte. Aber sogar Adorno fiel es schwer, sich zu dem, was man als »Auschwitz« bezeichnete, zu äußern, und es gelang ihm erst 1966, in der »Negativen Dialektik«, nicht nur über Antisemitismus und Totalität im Allgemeinen, sondern über die Vernichtungslager im Besonderen zu schreiben. Für Adorno bedeutete »Auschwitz« bekanntlich das Scheitern aller Kultur, eine zutiefst schockierende Einsicht, die ihn gleichwohl nicht davon abhalten konnte, über die Ursachen dieses unvordenklichen Verbrechens nachzudenken. Adorno, das lässt sich seinem 1966 gehaltenen Rundfunkvortrag »Erziehung nach Auschwitz« entnehmen, muss – und sei es auch nur über entsprechende Zeitungslektüre – den Verhandlungen des Prozesses gefolgt sein. Der für seine Verhältnisse optimistische Schluss dieses Vortrages erwähnt Namen der Angeklagten mit einer gewissen Geläufigkeit:

»Ich fürchte«, so schließt der Vortrag, »durch Maßnahmen einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, daß Schreibtischmörder nachwachsen. Aber daß es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen; daß es weiter Bogers und Kaduks gebe, dagegen läßt sich durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen.«9

Im Vergleich dazu war Fritz Bauer von größerem Zutrauen erfüllt, und zwar genau deshalb, weil er – anders als der weltläufige Adorno – eben nicht nur den von ihm unter dem Druck des Kalten Krieges »als verwaltete Welt« oder »ökonomische Organisation« bezeichneten Kapitalismus im Allgemeinen untersuchte, sondern sich auf die deutsche, auf seine deutsche Geschichte einließ. In einer Ansprache vor evangelischen Theologen unternahm Fritz Bauer sogar den Versuch, Mut gegenüber der Obrigkeit ausgerechnet unter Rückgriff auf Martin Luther zu begründen: »In Jerusalem«, so Bauer, »sitzt sicher ein Teil deutscher Geschichte und vielleicht auch deutscher Gegenwart auf der Anklagebank, nämlich ein bestimmtes obrigkeitsstaatliches Denken und Handeln der Beamten und Bürger, eine blinde Staatsgläubigkeit und Staatsvergötzung, knechtselige Unterwürfigkeit, Angst vor der Obrigkeit und Überheblichkeit nach unten und Aggressivität, Herden- und Formalismus und Technokratentum.«10

Adorno hatte nicht weniger insistierend, wenn auch unter Verzicht auf derlei zwiespältige deutsche Traditionen, stets für eine »Erziehung zur Mündigkeit« plädiert. Martin Buber, Theodor W. Adorno, Fritz Bauer … Es waren – um nur drei von vielen Namen zu nennen – zufällig überlebende, einzelne, vereinzelte und auch einsame Remigranten, die – wie der Politologe Clemens Albrecht zu Recht behauptet – die Bundesrepublik Deutschland intellektuell gegründet haben. In der Tat wäre – bei allen sonstigen Verdiensten – mit den ersten Bundeskanzlern, mit Konrad Adenauer, der aus Angst vor dem eigenen Wahlvolk einen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze zum Staatssekretär ernannte, mit dem bei allem Ordoliberalismus normativ doch eher anspruchslosen Experten Ludwig Erhard und dem ehemaligen NSDAP-Propaganda-politiker Kurt Georg Kiesinger kein Staat, jedenfalls kein demokratischer Rechtsstaat zu machen gewesen.

Die jüdischen Remigranten aber, die diesem Staat, dem demokratischen Rechtsstaat, sein heutiges, humanes Selbstverständnis gaben, sie litten alle an Deutschland und konnten doch nicht von ihm lassen. Sogar der im damaligen Palästina lebende, überzeugte Zionist Martin Buber, der gar nicht zurückkehren wollte, gab einem Freund bereits im Dezember 1945 zu Protokoll, dass ihm seine Abgeschnittenheit von Deutschland schwer zu schaffen machte und macht. Zudem: Adorno, Bauer und Buber – sie waren keineswegs die einzigen, die der Bundesrepublik den Weg nach Westen in eine demokratische Zukunft ebneten.

Indes: Wie konnte, wie sollte sich 1945 die sich selbst mit einem Prophetenwort als »Shearit ha Plejta« bezeichnende, zufällig im Westen Deutschlands gestrandete Gruppe von Überlebenden und Entwurzelten, Menschen, denen diese deutsch-jüdische Tradition zum großen Teil völlig fremd gewesen ist, zu dieser deutsch-jüdischen Tradition verhalten, welche Chance hatten Juden im Nachkriegsdeutschland überhaupt, ein symbolisch artikuliertes Selbstverständnis zu entwickeln und damit auch einen Beitrag zur Kultur der Bundesrepublik im Allgemeinen zu schaffen? Die Frage ist falsch gestellt: Tatsächlich haben Jüdinnen und Juden die Kultur der nachnationalsozialistischen Bundesrepublik von ihren ersten Tagen an geformt, auch wenn sich die Verfolgung unauslöschlich in ihr Werk eingeschrieben hat. Der Schriftsteller Horst Krüger, der mit Bauer während des Prozesses Freundschaft schloss, hat – indem er seiner gedachte – zugleich die ganze Generation der um 1900 geborenen, von keinem Bundeskanzler, keinem Ministerpräsidenten und kaum einem Oberbürgermeister zurückgerufenen jüdischen und auch nichtjüdischen Remigranten – Menschen, deren Leben irreversibel beschädigt wurde – präzise charakterisiert. Fritz Bauer, so Krüger, »war ein Emigrant zu Hause, ein Fremdling in der Stadt«.11

Andere blieben ebenfalls lange fremd und gehörten doch von Anfang an dazu: Von ihnen allen, die ich nannte, könnte freilich noch gelten, dass sie gar kein Teil der bundesrepublikanischen bzw. der DDR-Kultur, sondern »lediglich« letzter Ausdruck, ja Nachklang der deutsch-jüdischen Kultur der Vorkriegszeit gewesen sind. Die nach dem Krieg vor allem in der Bundesrepublik entstandene jüdische Gemeinschaft hat – ich deutete es an – mit dem Vorkriegsjudentum nichts mehr zu tun. In ihren Anfängen aus wenigen deutsch-jüdischen Überlebenden und vor allem aus in die Westzonen versprengten polnisch-jüdischen Überlebenden der Vernichtungslager, sogenannten Displaced Persons, zusammengesetzt, verfügte sie – wenn überhaupt – über die Traditionen eines orthodoxen bis assimilierten, von allgemeiner weltlicher Bildung schon alleine aufgrund der zerstörten Bildungsbiographien weit entfernten polnischen Judentums, dessen Sprache auch noch in Deutschland oft genug jiddisch war. Die Kinder dieser Generation waren es, die die erste originäre Welle jener Kultur schufen, die nicht mehr als deutsch im Allgemeinen, sondern als Kultur der bundesrepublikanischen Juden gelten darf.

Wir aber, die wir heute von den Anstrengungen Adornos und Bauers, von Hilde Domin und Margarete Susman zehren, können nur noch schwer nachvollziehen, welch seelischen Schmerz die Remigranten in diesem Lande zu erdulden hatten und wie sehr ihnen dabei die eigene Existenz unheimlich wurde, so unheimlich, dass sie sich gelegentlich als Gespenster fühlten: »Zur Vergeltung«, so schreibt Adorno über die »Schuld des Verschonten« in der »Negativen Dialektik«, »suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten.«12

In Hans-Joachim Schoeps Leben, der – 1909 geboren und in einem deutschnational gesonnenen jüdischen Haushalt in Berlin aufgewachsen – seit frühester Jugend Mitglied und Anhänger der Bündischen Jugend war, zeigen sich beispielhaft jene Wünsche, Illusionen und Enttäuschungen, die deutsche Juden im 20. Jahrhundert hegten und verarbeiten mussten. Dafür steht etwa Schoeps heute unverständliche, stark anerkennende Gegnerschaft zu dem erklärt antisemitischen, jugendbewegten und sexualpolitisch aktiven Autor Hans Blüher.

Noch im Deutschland der ersten Jahre des NS-Regimes vergeblich darum bemüht, die Anerkennung des judenfeindlichen Regimes zu gewinnen, wurde Schoeps im spät, erst Ende 1938 erreichten schwedischen Exil zu einem der bedeutendsten, das frühe Christentum gänzlich neu erforschenden Religionswissenschaftler. Diese Forschungen sind bis heute in manchen Hinsichten unüberholt. Seinem religionswissenschaftlichen Interesse entsprach zudem ein existenziell erfahrenes theologisches und philosophisches Engagement, das Schoeps unter dem Einfluss von Heideggers »Sein und Zeit« sowie im Dialog mit der protestantischen Theologie Karl Barths zum protestantisch geprägten Erneuerer eines jüdischen Offenbarungsdenkens werden ließ.

Diesem preußisch und zugleich offenbarungstheologisch verstandenen Judentum entsprang Schoeps streitbare Ablehnung des Zionismus, die ihn in scharfe Kontroversen mit dem später in die USA emigrierten, charismatischen Rabbiner Joachim Prinz führte. Als Motiv für dieses Interesse und die daraus resultierenden Forschungen gab Schoeps stets an, aus der Lehre der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl gegen Liberalismus als auch gegen Nationalismus zu sein. Die bis heute weitgehend auch in der Forschung vernachlässigten preußischen Altkonservativen und Gegner Bismarcks – namentlich die Gebrüder Ernst Ludwig von Gerlach13 sowie Leopold von Gerlach – verdanken es vor allem Schoeps, nicht gänzlich vergessen worden zu sein.

In jener Zeit, den frühen 1960er erregte er dann nicht zuletzt dadurch Aufsehen, dass er sich als der bekennende Konservative, der er war, im restaurativen Klima von Adenauers Deutschland offen und mutig für die Belange von vom Nationalsozialismus verfolgter Homosexueller einsetzte; was ihm zumal in Kreisen seiner konservativen Anhängerschaft mehr Feinde als Freunde schuf. Gleichwohl war Schoeps eine der führenden Gestalten in verschiedenen schon damals rechts von der CDU stehenden Sammelbewegungen.

Unabhängig davon war Schoeps bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland in Kreisen ehemaliger Jugendbewegter aktiv – seien sie nun in der Emigration, in der NSDAP oder in der Bekennenden Kirche gewesen. Unter der jugendbewegten sogenannten »Meißnerformel«, nämlich »sein Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit zu gestalten«, kamen so schon in den späten 1940er-Jahren Männer zusammen, die während des Dritten Reiches sowohl aufseiten der Verfolgten als auch der Verfolger standen. Ungleich weniger Verständnis hatte Schoeps für die Interessen und Belange der rebellierenden studentischen Jugend der späten 1960er-Jahre, mit denen er sich an der Universität Erlangen auf heftige, teils kränkende Auseinandersetzungen einließ. 1980 starb Schoeps, 1976 emeritiert, weitgehend isoliert, eigensinnig und verbittert in Erlangen.

Auf jeden Fall wird dabei auch an die 1933 gewaltsam beeendeten »Jüdischen Wege ins Bürgertum« (S. Lässig) zu erinnern sein. Nicht zuletzt erfüllte Schoeps ein Programm, das bereits mehr als 100 Jahre früher von einem protestantischen Theologen, Friedrich Daniel Schleiermacher, entworfen wurde.

Eine berühmte jüdische Salonière, Henriette Herz, war die Ausnahme im Leben eines der bis heute berühmtesten evangelischen Theologen, Daniel Friedrich Ernst Schleiermachers, dem Begründer einer christlichen Theologie auf der Basis einer idealistischen Theorie des Selbstbewusstseins – eine Ausnahme insofern, als Schleiermacher strikt gegen die Taufe von Juden war. Anlass zu dieser Haltung war ein 1799 verfasstes »Sendschreiben jüdischer Hausväter« – wesentlich von einem Freund Kants, David Friedländer14, verfasst, in dem diese anboten, geschlossen zum Christentum überzutreten, sofern man es ihnen erließe, an das Christusdogma zu glauben. Zu den bedeutsamsten Entgegnungen auf das »Sendschreiben« gehörten die »von einem Prediger außerhalb Berlin« verfassten »Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter«. Als Verfasser entpuppte sich bald der damals 31-jährige Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hilfsprediger in Landsberg und enger, neuer Freund von Henriette Herz. Grundtenor seiner Entgegnung, die er anonym publizierte, war die Überzeugung, dass man Juden überhaupt nie taufen dürfe, da sie konstitutionell nicht willens seien, wahrlich und wahrhaftig den christlichen Glauben zu übernehmen.

Hans-Joachim Schoeps hatte zu diesem Vorgang Stellung genommen – in der Neuen Deutschen Biographie äußerte er seine Bedenken so:

Großes Aufsehen hat sein (Friedländers, M. B.) 1799 erschienenes »Sendschreiben an Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion« erregt. Hier erklärte dieser Kreis nicht nur seine Bereitschaft, das Zeremonialgesetz aufzugeben, sondern auch die Absicht, die Taufe anzunehmen, sofern es nur »ohne Beunruhigung ihrer Vernunft, ohne Verletzung des moralischen Gefühls« geschehen könnte (…) da ja doch alle Religionen den gleichen Kern ewiger Vernunftgesetze enthielten. F.’s Vorschlag, ein rationalistisch reformiertes Judentum mit einem entdogmatisierten Christentum zu verschmelzen, hatte zu deutlich opportunistische Hintergründe (…).15

Gleichwohl, so wird man feststellen müssen, erfüllte auch Schoeps dieses Programm – wenngleich mit einer wichtigen Ausnahme: Ein »entdogmatisiertes Christentum« war für ihn keine Möglichkeit – vielmehr unternahm er den Versuch, das Judentum, sein Judentum, über ein dogmatisiertes Christentum neu zu verstehen.

Und gleichwohl war es die Erfahrung der Verfolgung oder eben auch der nur zufälligen Verschonung, die sich tief in das Werk der Zurückgekehrten eingeschrieben hat, eine Einschreibung, ohne die das Werk der zurückgekehrten Remigranten und Überlebenden wirklich nicht mehr als nur eine schlichte, iterative Fortschreibung der Weimarer Moderne gewesen wäre. Zwischen dieser Moderne jedoch und der Gegenwart der neugegründeten Bundesrepublik stand das Feuer: das Feuer der Scheiterhaufen, auf denen nationalsozialistische Studenten im Mai 1933 alle Zeugnisse einer humanen, progressiven Kultur, die Bücher liberaler, linker und jüdischer Autoren verbrannten, zu Asche werden ließen, das Feuer, das die Synagogen Deutschlands zerstörte, ganz zu schweigen vom Feuer der Krematorien der Konzentrations- und Vernichtungslager.

Indes: Keineswegs alle Rückkehrer können als »linke« Remigranten gelten. Dieses Buch gilt, wie oben angedeutet, einem Remigranten, der als Kind preußischer Juden ein ganzes Leben den Idealen des Preußentums treu bleiben wollte, dabei anfangs auch Kompromisse mit dem Nationalsozialismus nicht scheute und gleichwohl als einer der bedeutendsten Geistesgeschichtler des neuen deutschen Staates, der Bundesrepublik Deutschland, gelten kann: Hans-Joachim Schoeps, dem diese Biographie gilt.

Folgende Stränge sind daher in ihrer Verflechtung in Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps nachzuzeichnen:

1.die Geschichte der deutschen bündischen und zumal jüdischen Jugendbewegung und ihres Fortwirkens auch nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt unter besonderer Berücksichtigung seiner Konfrontation mit Hans Blüher;

2.die Geschichte der dialektischen Theologie und ihrer Beziehung zum Judentum unter Auswertung von Schoeps Briefwechsel mit Karl Barth. Parallell dazu muss Schoeps als einer der Ersten gelten, der die Bedeutung des Werkes von Franz Kafka erkannt hat;

3.die schließlich vergeblichen Versuche preußisch gesonnener Juden, mit rechtskonservativen Kreisen und Personen wie Ernst Jünger in Kontakt zu kommen;

4.die politischen Mentalitäten jüdischer Deutscher angesichts von zunehmendem Antisemitismus in den ersten Jahren des Nationalssozialismus, als Schoeps dem antisemitischen Rassismus des NS-Staates zum Trotz eine erklärtermaßen regimetreue jüdische Bewegung ins Leben rufen wollte;

5.die existenzielle Erfahrung des Exils – in diesem Falle Schwedens und seiner akademischen Einrichtungen;

6.die gebrochene Erfahrung der Rückkehr ins westliche Deutschland und in sein restauratives Klima;

7.die stets bedrohte Lebenslage homosexueller Männer in der Weimarer Republik sowie im westlichen Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre;

8.das von Schoeps forcierte kulturelle Gedächtnis an Preußen und seine Versuche, im Gegensatz zum konventionellen Konservativismus etwa Adenauers einen »echten Konservativismus« wiederzubeleben;

9.die inneren Konflikte der spätestens mit der Revolte der Studenten an ihr Ende kommenden klassischen Ordinarienuniversität;

10.den gewagten Versuch, nach der Shoah ein mehr oder minder nicht zionistisches, rein verstandenes Judentum aufrechtzuhalten.

Bei alledem: Hans-Joachim Schoeps war das, was man einen »Remigranten« nennt: ein Jude, der Deutschland wider seinen Willen verlassen musste und sehnsüchtig auf seine Rückkehr wartete – wie andere auch, Männer und Frauen, denen auf jeden Fall die Bundesrepublik Deutschland, wenn nicht möglicherweise auch die spätere DDR, ihre intellektuelle Gründung verdankt:

Indes: um der Hauptperson dieser Geschichte einleitend näherzukommen, ist es – zumal lebensweltlich – unabdingbar, sich eines anderen, anstatt nur des Mediums der sprachlichen Narration zu bedienen. Wer jemand war oder ist, schlägt sich auch in Bildern – in unserem Fall in Photographien nieder.

Photographien, eine vergleichsweise neue Technik und damit auch Kunstform stechen, durch zweierlei hervor: erstens, indem sie wie keine andere Kunstform zuvor das festhalten und – wenn schon nicht verewigen – so doch auf eine gewissen Dauer stellen, was der Philosoph Ernst Bloch als das »das Dunkel des gelebten Augenblicks« bezeichnet hat, also jene Form einer unmittelbar erlebten, aber eben nicht durchschauten und reflektierten, je schon vergangenen Gegenwart, die als erinnerte wesentlicher Teil dessen ist, was Menschen als ihr Selbstverständnis, ihre Identität, ihre Geschichte betrachten. Photographien sind notwendig Bilder einer bereits abgelaufenen Vergangenheit. Sie sind aber zugleich mehr: Galten sie doch vor dem Zeitalter ihrer digitalen Fixierung und Bearbeitung, kurz: in ihrer analogen Form, als authentische Abbildung des Gewesenen – Photographien schienen die Welt, wie sie wirklich war, zu zeigen.

Die von Hans-Joachim Schoeps überlieferten Photographien decken einen Zeitraum von etwa 25 Jahren ab – aus der Zeit seiner jugendbewegten Existenz bis zum Beginn der von ihm so ersehnten nachnationalsozialistischen Hochschulkarriere in Westdeutschland, der frühen Bundesrepublik.

So zeigt ein Bild den Halbwüchsigen im Schatten neben einer Freundin und einem Freund links vor einer Tür auf Treppenstufen sitzend – der Architektur nach zu schließen irgendwo im ländlichen Raum in der Umgebung Berlins. Schoeps, rundlicher als später, sitzt neben einem mit einem Rock bekleideten Mädchen, das lächelnd auf einen weiteren, rechts neben ihr sitzenden Kameraden schaut, der eine Art Laute spielt. Entgegen seiner später bekannten gleichgeschlechtlichen Orientierung wirkt der junge Schoeps hier durchaus so, als erfreue ihn die sitzende Nähe zu diesem Mädchen – leicht lächelnd, blickt er beinahe in die Kamera. Ein weiteres Bild zeigt auf demselben Treppenportal drei junge Männer: Wieder sitzt rechts vom Betrachter der Lautenspieler, während der junge Schoeps nun – leicht erhöht – die mittlere Position eingenommen hat und sich von oben auf einem rechts von ihm sitzenden Kameraden in weißen Kniestrümpfen zuwendet – den rechten Arm leicht auf die linke Schulter dieses Knaben gelegt. Weitere Bilder – es sind drei – zeigen Schoeps in jenem Ambiente, in jenem Milieu, das zum Inbegriff jugendbewegter Existenz werden sollte: auf Fahrt! So jenes Bild, das mit noch kindlicher Schönschrift unterschrieben »Yogi, Hans Joachim Schoeps (von links, M. B.) auf Fahrt« zeigt. Dabei ist Konrad, der bei einem Sprung ins kalte Wasser früh verstorbene Bruder, dem Hans-Joachim Schoeps eindringliche Erinnerungen widmete, sowie »Yogi« Paul Maier.

Alle drei stehen, sich ausruhend, in kurzen Hosen vor dem Hintergrund eines Mischwaldes – Hans-Joachim Schoeps blickt in Richtung Kamera – heiter, ja geradezu lachend.

Paul Yogi Mayer (1912–2011), aus dessen Brief oben zitiert wurde, aber war sowohl beim deutsch-jüdischen Wanderbund »Kameraden« als auch später bei dessen Abspaltung, dem »Schwarzen Fähnlein«, dem er sich 1932 anschloss, aktiv. Mehr noch: Mit seiner grafischen Begabung sollte er später zum Illustrator der Titelbilder des »Vortrupps«, Schoeps eigener Jugendgruppe, werden. Nach seinem Abitur 1932 in Wiesbaden konnte der aktive Zehnkämpfer ob der »Machtergreifung« nicht mehr an der Frankfurter Universität studieren, erwarb an der deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin das Sportlehrerdiplom, um 1934 am jüdischen Landschulheim in Herrlingen zu wirken, wo er trotz der dort herrschenden zionistischen Weltanschauung dem Wert einer Existenz in der Diaspora treu blieb. Mayer wurde im Rahmen dieser und ähnlicher Auseinandersetzungen Mitglied einer Abspaltung des »Schwarzen Fähnleins«16, der »Blauen Schar«, und ab 1935 Jugenddezernent des »Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten, ja, er beteiligte sich sogar ohne jede Chance für Teilnahme an Qualifikationslehrgängen für Zehnkämpfer an den Olympischen Spielen 1936, um danach – wie auch der »Reichsbund« – für eine Auswanderung von Juden zu plädieren – wenn auch nicht nach Palästina, sondern etwa nach Brasilien. Paul Yogi Mayer jedenfalls plädierte im Unterschied zur Mehrheit der Mitglieder des »Schwarzen Fähnlein« für eine stärkere Orientierung am Judentum. Im Mai 1939 trat der inzwischen verheiratete Sportler mit seiner Frau und seinem in Berlin geborenen Sohn die Ausreise nach England an, wo er sich bald freiwillig der britischen Armee anschloss, um 1946 demobilisiert zu werden.17 Auf Anfrage des »Jewish Refugee Committee« war er an der Gründung jüdischer Jugendsportclubs für traumatisierte jüdische Jungen und Mädchen beteiligt – ein früher Befürworter der »Koedukation«.

»Ich glaubte«, so Mayer im Rückblick, »an die Interaktion zwischen jungen Leuten, an Gruppen mit verschiedenen Interessen, die selbst gewählten Beschäftigungen nachgingen. Wenn der Club diesen Jugendlichen bei der Überwindung ihrer KZ-Traumata und bei der Verwirklichung ihres Potentials helfen wollte, dann musste er ›offen‹ sein. Das aber hieß, dass auch die jüdischen Jungen und besonders Mädchen aus der Umgebung Mitglieder werden konnten. (…) Der Zufall wollte es, dass die meisten Mädchen, die man in den Club einlud, ein Jahrzehnt zuvor mit den ›Kindertransporten‹ ins Land gekommen waren.«18

Paul Yogi Mayer starb hochbetagt und hochgeehrt, auch nach vielen Einladungen nach Deutschland 2011 in England.19

Ein weiteres Bild dieser Sammlung zeigt den jungen Schoeps auf dem Rasen liegend – die Unterschrift des Bildes vermerkt: »OKA, Hans Joachim (Jochen) Schoeps, Yogi«. Eine ganze Reihe weiterer Photographien zeigt dann einen mit Anzug, Weste und Krawatte, leicht schielend, beinahe etwa linkisch in die Kamera schauenden jungen Mann, der sich aber, wie es auf einem weiteren Bild, zumal im Umkreis von Freunden, zu sehen ist, entspannt geben konnte. Diese Photographie zeigt ihn mit zwei Freunden, Kameraden in einem mit Tannenzweigen, wohl weihnachtlichen Wohnzimmer auf einer Couch sitzend – vor ihnen ein gedecktes Kaffeetischchen. Sie sind zu dritt – der bebrillte vom Betrachter aus rechts sitzende Freund hält eine Pfeife, während Schoeps’ rechter Arm, in der linken Hand hält er eine Zigarre, vertraulich auf der Schulter des rechts von ihm sitzenden Freundes liegt. Dabei trägt Schoeps selbst, während seine Freunde Pullover anhaben, leicht räkelnd ein Sakko, unter einem Pullunder ein dunkles Hemd und eine hochgeschlossene Krawatte. Dem Mienenspiel nach zu schließen, ist er mindestens entspannt, wenn nicht gar leicht angetrunken. Strenger, mit kurzem Haar, aber mit ebenso hochgeschlossenem Kragen ist er auf einem Bild mit zwei Damen zu sehen, die ihn rechts und links flankieren – ein Bild, wohl noch aus der Berliner Zeit. Überhaupt: Der hochgeschlossene Kragen: auch ein wohl früher aufgenommenes Bild zeigt ihn auf einem Balkon, lächelnd der Sonne zugewandt in einem weißen Hemd, indes: der Kragen hochgeschlossen. Zwei Ausdrucksformen eines Lebens: jugendbewegt antibürgerliche Kluft hier, bürgerlich verschlossene Oberkleidung dort.

Entsprechend zeigt sich der zurückgekehrte Professor in Erlangen im Kreise von Honoratioren und Kollegen wieder mit Anzug und Weste, sogar mit einer Taschenuhr, während eine wohl aus den frühen 1960er-Jahren stammende Aufnahme den alleinerziehenden Vater mit seinen beiden, 1942 und 1944 in Schweden geborenen Söhnen zeigt. Alle drei schauen in die Kamera – Hans-Joachim Schoeps deutlich im Vordergrund, die beiden jungen Männer jeweils rechts und links ernsten Blickes hinter ihm. Schoeps selbst – wie schon vertraut – in Anzug, Weste und Krawatte, die linke Augenbraue leicht hochgezogen, während sich die Söhne konzentriert, mal mit entspannten, mal mit angespannten Mundwinkeln präsentieren. Von liebevoller Vertrautheit kann – jedenfalls auf diesem Bild – keine Rede sein. Umso mehr frappiert ein weiteres – aus dieser Sammlung wohl letztes Bild – das Hans-Joachim Schoeps an einem Tisch, wohl in einem Vereinslokal sitzend zeigt, er wieder hochgeschlossen und konzentriertesten Gesichtsausdruck, vor ihm ein Manuskript sowie ein halbvolles Glas und eine Flasche Bier – hinter ihm an der Wand die gerahmte Photographie eines Mannes, die mit einem Trauerbändchen geschmückt ist. Neben ihm stehend ein »Alter Herr« – offensichtlich ein ehemaliger Verbindungsstudent mit einer Verbindungsschirmmütze auf dem Kopf – deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem sich Schoeps bevorzugt aufhielt. Der Blick des neben ihm stehenden ehemaligen Verbindungsstudenten, unter seinem Sakko ist noch sein Verbindungsband zu erkennen, wirkt dabei keineswegs besonders freundlich. Das war Jahre nach der Rückkehr, wahrscheinlich in den 1950er-Jahren – 20 Jahre zuvor wurde der junge Jude aus deutschnationalem Elternhaus zum Flüchtling. Wie – das führt zurück in das Jahr 1938 und zwar ausgerechnet an den Vorabend des Weihnachtsfestes.

Abbildungen

Abb. 1Käthe Schoeps mit Sohn Hans-Joachim, ca. 1909.

Abb. 2Hans-Joachim Schoeps im Alter von vier Jahren, 1913.

Abb. 3Hans-Joachim Schoeps im Alter von 17 Jahren, 1927.

Abb. 4Hans-Joachim Schoeps mit Freund aus der Jugendbewegung, ca. 1928.

Abb. 5Hans-Joachim Schoeps in der Kleidung der Jugendbewegung, 1928.

Abb. 6Hans-Joachim Schoeps im Exil in Schweden, 1939.

Abb. 7Hans-Joachim Schoeps mit Ehefrau Dorothee (geb. Busch) und Freund im schwedischen Exil, 1940.

Abb. 8Hans-Joachim Schoeps, ca. 1932.

Abb. 9Hans-Joachim Schoeps mit Ehefrau Dorothee, 1941.

Abb. 10Hans-Joachim Schoeps mit seinen Söhnen Julius H. (links) und Manfred, ca. 1962.

Abb. 11Hans-Joachim Schoeps als Hochschullehrer in den 1960-er Jahren.

© für alle Abbildungen: Moses Mendelssohn Stiftung

1

Für Kaiser, Reich und Jugend

An Heiligabend des Jahres 1938, die nationalsozialistischen Novemberpogrome lagen gerade sieben Wochen zurück, war der Himmel über Berlin bedeckt. Ein junger Mann, ein Jude, der bisher allem zum Trotz Deutschland die Treue gehalten hatte, buchte für das letzte Flugzeug, das an diesem Abend von Tempelhof aus Berlin verlassen sollte, ein Ticket in der Annahme, dass an diesem Abend kein Gestapobeamter die Sperre bewachen würde – was zutraf. Im nationalsozialistischen Deutschland aber geschah an dieser letzten »Friedensweihnacht« – sofern im Fall dieses Staates überhaupt von »Frieden« zu reden ist – noch anderes: etwa der Tod des Hausmaschinenherstellers Carl Miele in Gütersloh, vor allem aber die Heirat des damals 26 Jahre alten Bergsteigers Heinrich Harrer – er hatte im Juli des Jahres die Eigernordwand bestiegen –, eines begeisterten Anhängers von Hitler und späteren Lehrers des Dalai Lama, mit der »blutreinen Arierin« Lotte Wegener, Tochter des Polarforschers Alfred Wegener, eine Ehe, die vom RuSHA, dem Heinrich Himmler unterstehenden »Rasse- und Siedlungshauptamt« ausdrücklich gebilligt wurde. Einen Tag später, am Sonntag, dem 25.12., veröffentlichte der »Völkische Beobachter« anlässlich des Weihnachtsfestes einen Lobesartikel über die Deutsche Mutter und bestätigte das Vertrauen, das das deutsche Volk und zumal der Führer Adolf Hitler den Müttern durch die Schaffung des »Mutterkreuzes« entgegengebracht hätten. Den jungen Mann aber, der Deutschland verließ, überkam Wehmut: »Als sich die Räder des Flugzeugs vom Boden lösten«, so sollte er sich später erinnern, »überkam mich das wehmütige Gefühl, daß ich meine lieben Eltern, deren Gestalten immer kleiner wurden, vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Aber sie selber hatten seit dem 9. November nur noch den einen Wunsch gehabt, daß ich endlich das Land verlassen solle, in dem sich das Unheil immer drohender zusammenzog. Nun saß ich im Flugzeug und flog in die Freiheit. Nach Schweden.«20

Der Name des jungen Mannes, der an diesem Abend nach Schweden ausreiste, lautete Hans-Joachim Schoeps; er wurde als Sohn von Käthe Schoeps, geborene Frank, deren Tod durch Vergasung in Birkenau er sogar weit entfernt, in Schweden, deutlich gefühlt hatte, und von Julius Schoeps, der im Ersten Weltkrieg dem Kaiser als Oberstabsarzt gedient hatte, am 30. Januar 1909 in Berlin geboren. Den besorgten Eltern des jungen Mannes ging es in dieser Situation vor allem um das Überleben ihres Sohnes, sie selbst – keineswegs mehr die jüngsten und zudem Juden – wollten, heute kaum noch verständlich, dem Staat Hitlers unbedingt die Treue halten; zumal: Der Vater des Ausreisenden, 1864 in Graudenz gebore, war zunächst Stabsarzt bei der Landwehr, dann – im Ersten Weltkrieg – Leiter einer »Sanierungsanstalt« an der Ostfront. Er war und blieb stolz auf Deutschland und Preußen: In der Zeit der Weimarer Republik hängte die Familie – ob passend oder nicht – bei feierlichen Anlässen die schwarz-weiße Flagge Preußens aus dem Fenster »als ein Symbol der Kontinuität, das oberhalb des hässlichen Streits um die Farben des Reiches stand«.21 Nicht anders war die Orientierung der ganzen Familie, auch und gerade der Großeltern väterlichserseits. So berichtete ihm der Großvater – das sollte für den Enkel ein Lebtag lang prägend werden –, dass er das Jahr 1871, das Jahr von Bismarcks Reichsgründung, als traurig erlebt habe – hätte er doch damals Deutscher werden müssen … Auf des Enkels Rückfrage antwortete der Großvater: »In Preussen geschieht Gerechtigkeit.«22

Das erinnerte, das sich erinnernde Ich von Hans-Joachim Schoeps ist durch eine tiefe Bindung an Deutschland und Prägung durch Preußen gekennzeichnet, eine Prägung, die sich zunächst auf beide Staaten bezog, sich aber später, zumal nach der Erfahrung der NS-Zeit, zugunsten des dahingegangenen Preußen deutlich ausdifferenzierte. Des Vaters Stolz auf Deutschland kam jedenfalls auch nach dem »Anschluss« Österreichs deutlich zum Ausdruck: »Du kannst ja sagen, was du willst, aber du kannst nicht bestreiten, daß Deutschland noch nie mächtiger dagestanden hat als jetzt.«23 Seine Liebe zu diesem Land war so groß, dass er sich noch im hohen Alter von über 70 Jahren wie im Trotz – obwohl er Jude war – nach Kriegsbeginn in grotesker Verkennung der Lage zur Wehrmacht melden wollte, denn: »Hitler«, so seine feste Überzeugung, »mag uns Juden nicht, er ist nun aber einmal unsere Obrigkeit«. Damit aber stand er keineswegs alleine – waren es doch nicht ganz wenige deutsche jüdische Männer, die in die Wehrmacht eintreten wollten So schrieb etwa Hauptmann Leo Löwenstein 1935 in einem Brief an den Chef der Reichskanzlei, Heinrich Lammers, dass es das unveräußerliche Recht jedes Juden sei, Deutschland mit der Waffe zu dienen; so wandte sich Dr. Max Naumann, der Vorsitzende des »Verbands nationaldeutscher Juden« an Adolf Hitler mit dem Anliegen, beweisen zu dürfen, dass deutsche Juden ebensogut wie Arier in den Streitkräften dienen könnten.24 Drei Jahre vor seiner Flucht nach Schweden wandte sich sogar Hans-Joachim Schoeps – dazu unten mehr – ebenfalls an die Reichsregierung mit der Meinung, dass die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht »die letzte Möglichkeit« sei, »der neuen Regierung den Patriotismus der deutschen Juden zu beweisen«.

Tatsächlich erließ das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) erst im März 1940 eine Verordnung, gemäß derer Juden im Krieg wie im Frieden vom Wehrdienst auszuschließen seien.25 Stabsarzt Julius Schoeps aber, der Vater des nach Schweden ausreisenden Emigranten, wurde im Juni 1942, nach der Erschießung Reinhard Heydrichs durch tschechische Widerstandskämpfer verhaftet, nach Lichterfelde verbracht und als »begnadigte« Geisel nicht erschossen, sondern nach Theresienstadt deportiert. Dort starb er im Dezember 1942 eines qualvollen Todes. Die später ebenfalls nach Theresienstadt deportierte Mutter wurde im Mai 1944 nach Birkenau verbracht und dort mit flüssiger Blausäure vergast.

»Ich bin«, so Hans-Joachim Schoeps im Rückblick, »meiner Mutter innerlich immer ganz besonders nahe gewesen. Sie war auch bei mir in der Stunde ihres Todes, die ich deutlich gefühlt habe. Es war inmitten einer paradiesischen Landschaft Mittelschwedens, an einem warmen Frühlingstag. Ich warf mich auf den moosigen Waldboden und weinte.«26

Der nunmehr jüdische Emigrant in Schweden hatte eine preußisch-deutsch-jüdische Jugend in der Zeit des Ersten Weltkrieges erlebt. Im Jahr 1915 in das ehrwürdige und renommierte »Askanische Gymnasium« eingeschult, verfolgten er und seine Mitschüler den Vormarsch der deutschen Truppen mit dem Einstecken schwarz-weiß-roter Fähnchen auf Landkarten, schlugen im Tiergarten Nägel, die für ein geringes Geld als Kriegsanleihe zu erstehen waren, in ein Hindenburg-Denkmal, um schließlich die Wirren der Revolution zu erleben und das Dienstmädchen seiner Eltern beim Singen kommunistischer Lieder zu beobachten. In der Obersekunda, der fünften Gymnasialklasse wurde Schoeps nicht versetzt und auf das Humboldt-Gymnasium umgeschult; insgesamt hatte Schoeps die Schulzeit in schlechter Erinnerung, habe er doch mit einer Ausnahme keinen Lehrer gehabt, der ihm etwas bedeutet oder ihm etwas Wesentliches vermittelt hätte. Nur ein Lehrer, ein eingestandenermaßen »widerlicher Patron«, habe ihn bei der Rückgabe eines deutschen Aufsatzes so begründet erniedrigt, dass er ihm noch Jahrzehnte später Dank schuldete. »Mit dem Geplätscher, das heute aus deiner Feder fließt, sagte dieser Lehrer kannst Du Feuilletonist am Berliner Tageblatt, aber werden, aber bei mir kommst Du über die Note fünf nicht hinaus (…) Setzen.«27

Doch war die Schule, mit Ausnahme der Fächer Deutsch, Geschichte und Religion, ohnehin des jungen Hans-Joachim Schoeps Sache nicht – früh schon packte ihn die Begeisterung für eine Lebensform, die damals – nicht zuletzt in Berlin – die männliche Gymnasialjugend erfasst hatte: die deutsche Jugendbewegung, namentlich der » Wandervogel.«

Die Erneuerung jüdischen Lebens im späten 19. und 20. Jahrhundert war nicht zuletzt eine Frucht der jüdischen Jugendbewegung, die sich Ende des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt unter dem kulturellen Einfluss der deutschen Wandervogelbewegung und der britischen Boy-Scouts-Bewegung in Deutschland und Osteuropa formierte: politisch von weit rechts bis weit links, von zionistisch über »assimilatorisch« bis hin zu deutsch-national, von atheistisch bis zu tief religiös geprägt, vom Hashomer Hatzair über die »Kameraden« bis zu den »Bnei Akiva«, von den aus Russland kommenden »Biluim« bis zum deutschnationalen »Vortrupp«, teils dem anarchistischen Lebensstil der Wandervögel, teils dem Stil der »Bündischen« verpflichtet, waren jüdische Jugendbewegungen sowohl an der Errichtung des Staates Israel als auch am jüdischen Rettungswiderstand in der NS-Zeit beteiligt.

Fragt man nun, bei welchen Jugendlichen derlei Ansprachen auf geistig und seelisch Boden fielen, so zeigt die Forschung schnell, dass es sich dabei um jüdische Jugendliche der Jahrgänge 1910–1920, im Allgemeinen deutsch-jüdischen Elternhäusern entstammend handelte, wobei der übliche Hinweis, es habe sich um assimilierte Elternhäuser gehandelt, in dieser Allgemeinheit nicht zutreffen dürfte. Denn immerhin zeigen stichprobenartig erhobene exemplarische Fälle, dass in vielen Familien zumindest die Mütter noch stark an die religiös-jüdische Tradition gebunden waren.28

Gleichwohl waren die Bindung an die und die Bewunderung für die deutsche Kultur – von Schiller und Goethe zu Rilke und George – undiskutiert und ungebrochen und stellten den über Jahrzehnte zunächst nicht angezweifelten Horizont des eigenen Selbstverständnisses dar. Der gesellschaftliche Antisemitismus der wilhelminischen Zeit, der sich in den Jahren der Weimarer Republik immer stärker auszuprägen begann, konfrontierte diese Jugendlichen, zumal wenn sie männlichen Geschlechts waren, mit zwei eng miteinander verwobenen Entwicklungsaufgaben: einer Definition ihrer Männerrolle sowie einer Entscheidung, welcher partikularen oder universalistischen Weltanschauung sie sich anschließen wollten.

Der Jüngling, der zum Bewusstsein seines Verhältnisses zur Gemeinschaft erwacht, findet sich zwischen zwei Gemeinschaften gestellt, gleichsam zwischen sie aufgeteilt (…) Die eine, der er durch seine Geburt entstammt, die andere (…), die die Sprache geschaffen hat, die er spricht und in der er denkt, die die Kultur geschaffen hat, die ihn gebildet hat (…) Aber eines fehlt, ein Letztes, Innerlichstes, das fundamentale Prinzip der wahrhaften Verbindung mit einer Volksgemeinschaft und doch nur selten in seiner Bedeutung gekannt und bewusst: das Gemeinschaftsgedächtnis.29

Wie auch in der allgemeinen, nichtjüdischen Jugendbewegung wurde die Lösung dieser Aufgabe oftmals in Bildung und Sozialarbeit gesucht: Bildung im Sinne einer persönlichen Weiterentwicklung im Dienste eines übergreifend Allgemeinen, das diese Jugend in dem fand, was es für das jüdische Volk hielt, eine Überzeugung, der bekanntlich auch der junge Siegfried Bernfeld mit allen Konsequenzen, einschließlich einer Verehrung für den damals schon in Verruf geratenen Gustav Wyneken, anhing30

Es war der gerade in diesen, in jugendbewegten Kreisen beinahe religiös verehrte Dichter Stefan George, der in seiner Gedichtsammlung »Der Stern des Bundes« die Zeile prägte: »Wer einmal die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant« – ein Motto, das wie kein anderes auch auf das Leben von Hans-Joachim Schoeps zutrifft – blieb er doch dieser Erfahrung weitgehend, beinahe bis zum Ende seines Lebens treu. Noch Jahre später, in den ersten Jahren des Dritten Reiches, erzählt er im zweiten Heft des zweiten Jahrgangs seiner Zeitschrift »Der Vortrupp« in einem »Rückblick in die Aufbruchszeit«, wie er 1923 in der Berliner Sophienstraße in einem alten, baufällig gewordenen Haus, dem Sammelpunkt der Berliner Wandervögel, von dem Wahlspruch »Die Wahrhaftigkeit ist unser Programm« gebannt war. An einem weiteren Abend wurde er nach heftigen Debatten der etwa 20 Jahre älteren Männer und Frauen gefragt, was er dort wolle, um sich schließlich zur Suche nach Erkenntnis ebenso zu bekennen und einem Skeptiker, der die Suche nach Erkenntnis für eine Ursache des Unglücks hielt, zu entgegnen: »Das ist«, so antwortete der 14-Jährige, »nicht ausgeschlossen, aber ich bekenne mich zum Freideutschtum und werde mich zu ihm bekennen, solange ich lebe.«31

Der beim Abfassen dieser Zeilen 24-jährige Autor hatte sich damit bereits für den Rest seines Lebens festgelegt – wohl wissend, dass dies auch später nicht unproblematisch sein könnte: »Ich wandte mich«, so erinnerte er sich 1935, »um und wußte, daß ich jetzt entweder die Wahrheit gesagt oder die größte Dummheit meines Lebens begangen habe. Jedenfalls hatte ich mir das unbeschwerte Leben im Jungenland nun selber verboten und mich damit gegen das schöne Leben im Jungenland und vielleicht unglücklich entschieden.«32

»Wahrhaftigkeit« – dieser Grundbegriff der deutschen Jugendbewegung, der sogenannten »Meißnerformel«, fand seinen klassischen Ausdruck in dieser Formulierung: »Die freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.«

Wahrhaftig zu sein, bedeutet jedoch, alle eigenen Handlungen, Worte und taten an einmal gewonnenen Überzeugungen auszurichten – komme, was da wolle. Für die deutsche Jugendbewegung war dies freilich kein individualistisches Prinzip, sondern Ausdruck des Willens, diese Wahrhaftigkeit immer und nur im Zusammenleben mit anderen, in Gruppen zu leben. Entsprechend bekennt Schoeps in seinen Jahrzehnten später verfassten Erinnerungen, dass es – abgesehen von den Jahren der Emigration – nie eine Zeit gegeben habe, »in der« er »nicht in Gruppen und Kreisen gelebt hätte«.33 Die im Elternhaus erfahrene politische Prägung schien ihm zunächst auch keine andere Wahl zu lassen. Als Schoeps 15 Jahre alt wurde, sagte ihm sein Vater der eigenen Erinnerung nach etwa das Folgende: »Du weißt mein Junge, ich bin sehr tolerant, von mir aus kannst du alles werden. Nur drei Dinge darfst Du nicht werden: Zionist, Kommunist und Sozialdemokrat.«34

Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstandes, dass die Schule ihn mehr oder minder langweilte, war sein ganzes Sinnen und Trachten in den entscheidenden Jahren von Pubertät und Adoleszenz, von 1923–1926 auf die Jugendbewegung, auf den Wandervogel ausgerichtet, einem Jugendkulturerlebnis, das ihn und seine Altersgenossen tatsächlich – so drückte er es Jahrzehnte später aus – »glücklich gemacht hat«35- In seinen 1963 erstmals erschienenen Rückblicken stellte er aus der Distanz von immerhin 40 Jahren nicht nur fest, dass noch nicht einmal die Kameraden der Bündischen Jugend, einer späteren »Geisteswelle«, richtig erfassen konnten, »was für uns damals das Eigentliche, das Wesentliche war: Wir hatten – obwohl wir erst fünfzehn-sechzehn Jahre alt – teil an einer geistigen Bewegung, von der ich heute (1963, M. B.) noch glaube, daß die Reichweite ihrer Möglichkeiten ungeheuer war. Sie hat uns oft zu mehr gemacht, als wir eigentlich waren; viele verloren sich an den eigenen Überschwang.«36

Der von Christian Niemeyer in seinem 2013 publizierten Buch »Die dunklen Seiten Jugendbewegung. Vom Wandervogel bis Adolf Hitler«37 erbrachte Nachweis, dass und wie die völkische, die bündische Jugendbewegung eine der Wurzeln nationalsozialistischer Herrschaft wurde, belegt das nachdrücklich. Freilich sollte der Aufbruch der deutschen Jugend schon 20 Jahre früher tödlich enden. Als sich am 11. und 12. Oktober 1933 hunderte von deutschen Jugendlichen auf einem Berg in Nordhessen, auf dem Hohen Meißner, trafen, waren sie hochgemuter Stimmung. Zusammengerufen von einer Gruppe jüngerer, etwa 30 Jahre alter Männer, die die Reform ihres Lebens durch die Absage an Alkohol und Nikotin, durch das Überwinden einer anonymen städtischen Kultur mit all ihren Versuchungen sowie durch eine Kampfansage gegen die vermachteten und verkrusteten, militaristischen Strukturen der wilhelminischen Gesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben hatten, befanden sie sich in einer Stimmung des Aufbruchs. Einer, der vom Ruf der Jugend bewegt, aber selbst nicht auf dem Hohen Meißner war, hat die Stimmung in einem der Kreise, die kurz darauf auf den Meißner pilgern sollten, später so beschrieben:

Sie hatten flatternde Haare, trugen offene Hemden und Velvethosen. Sie sprachen, nein predigten, in feierlichen, wohlklingenden Sätzen von der Abkehr vom Bürgertum und dem Recht der Jugend auf eigene, ihrem Wert angemessene Kultur (…) Die Figuren dieses Kreises stellten vermutlich das Beste und Aufrichtigste dar, was diese Generation hervorbringen konnte. Verlassen von unseren Eltern, von denen wir wussten, daß ihre Harmlosigkeit uns ins Unheil jagen würde, versuchten wir, uns gegen unser Schicksal zu sträuben, und glaubten an eine Welt, die die Stimme der Jugend hören würde. Führerschaft und Gefolgschaft spielten eine bedeutsame Rolle.38

So erzählt es jedenfalls der Arzt und Emigrant Martin Gumpert im Jahr 1939 im US-amerikanischen Exil. Der »Freideutsche Jugendtag« auf dem Hohen Meißner im Jahr 1913 war von seinen Stichwortgebern, etwa dem Pädagogen Gustav Wyneken und dem Arzt Knud Ahlborn, als das gedacht worden, was der Romancier Robert Musil später in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« als »Parallellaktion« karikieren sollte, als eine – heute würden wir sagen »zivilgesellschaftliche« – Alternative zu den reichsweit vorbereiteten Feiern an den Sieg Preußens, Österreichs und Russlands über das napoleonische Frankreich 1813 bei Leipzig. Das Jugendfest auf dem Hohen Meißner endete mit einer feierlichen Abschlussdeklamation, mit dem Verlesen der sogenannten »Meißnerformel«, die von zwei Ärzten und dem Lebensreformer Knud Ahlborn seiner Auskunft nach bei einer Wanderung zwischen zwei Bergen im Werratal, zwischen Burg Hanstein und dem Meißner, erdacht worden war. Knud Ahlborn, er starb 1977 auf Sylt, erdachte den Wortlaut dieser Formel:

Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.

Indes: Weder der völkisch-nationalistische Hintergrund vieler Aktivisten und kulturkritischen Sympathisanten noch das tödliche Ende vieler, die noch auf dem Hohen Meißner getanzt hatten, noch gar die heute allzu pathetisch wirkende Meißnerformel erschöpft das Phänomen der Jugendbewegung und erlaubt es, sie ganz gar den reaktionären Seiten der jüngeren deutschen Geschichte zuzuordnen. Vielmehr war die deutsche Jugendbewegung ein Phänomen sui generis, ein in sich widersprüchlicher Ausdruck einer in sich widersprüchlichen Epoche – so widersprüchlich und ambivalent, dass sie auch und gerade einer auf Fortschritt hoffenden politischen Linken als Fanal und Verheißung gelten konnte. Das zeigt nicht zuletzt das Verhältnis des Philosophen Ernst Bloch (1885–1977) sowie des Erziehungstheoretikers Siegfried Bernfeld (1892–1953) zur Jugendbewegung.

Im Jahre 1913 war der 1885 in Ludwigshafen geborene Ernst Bloch bereits ein promovierter Philosoph, der soeben Else von Stritzky geheiratet hatte, in Heidelberg im Umkreis von Max Weber verkehrte und mit dem marxistischen Philosophen Georg Lukacs befreundet war. In seiner eigenen Jugend war der alles in allem doch mittelmäßige Schüler kein Gruppenmensch, sondern ein Einzelgänger, der gleichwohl – oder eben deshalb – gegen Elternhaus und Schule rebellierte: »Ich erinnere mich«, so Bloch im Rückblick, »früh auf den Geschmack gekommen zu sein. Aufsässig gegen Haus und Schule, der rote Faden spann sich an. Pläne zum Ausreißen, wie fast in jeder Jugend, hin zu schöner Fremde, die keine war, sondern Verwandtes.«39

Während Ernst Bloch in Heidelberg den Versuch unternahm, wenigstens Teile eines bürgerlichen Lebens zu realisieren, fand sich ein anderer, jüngerer Intellektueller sehr wohl auf dem Hohen Meißner ein: Siegfried Bernfeld. 1892, sieben Jahre nach Bloch in Lemberg geboren, in Wien aufgewachsen, war Bernfeld als charismatischer Führer der Wiener Jugendbewegung bekannt. Er hatte, so eine spätere Biographin, »auf dem Hohen Meissner mitgeschworen, war gewissermassen der Bevollmächtigte Wynekens für Österreich und zu allem anderen auch noch von jener mystischen Romantik umwoben, die von der deutschen Jugendbewegung ausging (…)«.40

Bloch wie Bernfeld entstammten – dieser Hinweis ist nun unerlässlich – dem deutschsprachigen Judentum, doch während das Elternhaus Blochs diese Bezüge weitestgehend aufgegeben hatten, war jedenfalls Bernfeld vom Judentum noch so weit beeinflusst, dass er über lange Jahre Spiritus Rector und Mitglied linkssozialistischer, zionistischer Jugendgruppen blieb. Das ist für den Lebenslauf Siegfried Bernfelds, deshalb von Bedeutung, weil er mit seiner Teilnahme am Meissnerfest auch den letzten Resten von Religiosität, die diesem Judentum eventuell noch verblieben waren, entschlossen den Abschied gab. Im Oktober 1913 war Siegfried Bernfeld einundzwanzig Jahre alt; der 11./12. Oktober des Jahres 1913 aber war für Jüdinnen und Juden heilig – nicht deshalb, weil das Meißnerfest stattfand, sondern deshalb, weil in diesem Jahr das höchste, das allerhöchste Fest des Judentums, Jom Kippur, der Versöhnungstag, auf diese Tage fiel. Fromme Juden stehen an diesem Tage den ganzen Tag in der Synagoge, fasten total, d. h., sie trinken auch nichts, und beten für Umkehr und Vergebung. Siegfried Bernfeld aber hielt, charismatisch wie er war, auf dem Hohen Meißner mitreißende Reden. Was im Oktober 1913 so hoffnungsvoll begann, sollte kein ganzes Jahr später in einem Blutbad enden. Am 10. November 1914 schickte die Oberste Heeresleitung in Belgien, bei Bischote, das später als Langemarck bezeichnet werden sollte, in einem Stellungskrieg gegen das französische Heer nach einem ersten Rückschlag ungediente, häufig aus jungen Kriegsfreiwilligen gebildete Regimenter in die Schlacht, die schließlich nach erheblichen Blutopfern das erwünschte Ergebnis brachte. Damals entstand, nach einer Nachricht der Obersten Heeresleitung, der Mythos von Langemarck:

Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ›Deutschland, Deutschland über alles‹ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2.000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet. – Kommuniqué der OHL, 11. November 1914

Der spätere Mythos behauptete nicht nur, dass die jungen, meist jugendbewegten Männer das Deutschlandlied sangen, sondern auch – oft genug – das Liederbuch der Wandervögel, den »Zupfgeigenhansel« sowie die Gedichte Hölderlins im Tornister mit sich führten. Als das geschah, befand sich Bloch, wegen extremer Kurzsichtigkeit wehruntauglich geschrieben, in München, während Siegfried Bernfeld, ebenfalls wehruntauglich geschrieben, in Wien seine Dissertation »Über den Begriff der Jugend« vorbereitete. Ernst Bloch emigrierte 1917 in die Schweiz, Siegfried Bernfeld aber engagierte sich nach dem Krieg in Österreich im Rahmen seiner linkszionistischen Tätigkeit unmittelbar nach dem Krieg für jüdische Flüchtlings- und Waisenkinder, bis er ab etwa 1925 mit dem Kulturzionismus brach und sich in Berlin ganz der Psychoanalyse und ihrer möglichen Verbindung mit dem Marx’schen Denken widmete. Beide sollte die Themen »Jugend« sowie »Jugendbewegung« für den Rest ihres Lebens prägen.

Ernst Bloch aber legte erstmals in den zwischen 1910 und 1929 entstandenen »Spuren«, und zwar im Stück »Der Lebensgott«, Rechenschaft ab – damals durchaus kritisch:

Deutlicher Sinn für Mädchen setzte die Nüchternheit ab, und die Buden lehrten vieles, vor allem, daß die Dinge so sind, mit einem Vorhang am Eingang und innen unbekannt. Da nahmen wir Knaben die Kräfte ein, für die jetzt erst die Zeit gekommen ist: nämlich brennenden Traumkitsch des neunzehnten Jahrhunderts, naiv gesehen.41

Um all das auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts nachvollziehen zu können, ist es nun unerlässlich, wieder auf Hans-Joachim Schoeps zurückzukommen und ein längeres Zitat aus Schoeps Erinnerungen wiederzugeben. Nur so kann auch heute noch die Faszination, die diese – inzwischen gut erforschte und dokumentierte Bewegung – bei nicht wenigen bildungsbürgerlichen Jugendlichen ausübte, andeutungsweise verstehbar gemacht werden.