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Was ist das Wesen der primitiven Kunst? Warum finden sich in der modernen Kunst überraschende Ähnlichkeiten mit der Kunst der Primitiven? Werden von den Künstlern nur die Formen übernommen oder auch die Inhalte? Der bekannte Kunsthistoriker, Prof. Charles Wentinck liefert in dieser Dokumentation, die zwei faszinierende Richtungen der Kunst beleuchtet, Antworten, Anregungen und Einsichten
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Seitenzahl: 144
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BILDKUNST
PRIMITIVEvs.MODERNE KUNST
Charles Wentinck
TABLET ART
Cover
Titel
Was mich in diesem E-Buch erwartet
Abbildungsverzeichnis
Farbtafeln und Bildinterpretationen
Keulenkopf vs. Kreuzigung
Cap Dorset vs. Russische Bettlerin
Figur mit menschlichem Kopf vs. Kopf einer menschlichen Figur
Häuptlingssessel mit Karyatide vs. Karyatide
Kopf vs. Frauenkopf
Ahnenfigur vs. Mädchen aus Kowno
Maske vs. Frauenkopf
Tanzmaske vs. Variation über ein menschliches Gesicht
Mumienmaske vs. Jörg
Götterfigur vs. Zwei Mädchen
Uli-Figur vs. Stillleben mit Uli-Figur
Marmorner Kopf vs. Torso eines Mädchens
Totempfahl der Indianer vs. Figur aus Bronze
Akua`ba vs. Senecio
Maske der Fang vs. Japanische Maske
Grabstatue vs. Sitzende Frau
Goldene Maske vs. Maske mit einer Warze
Liegende Figur vs. Liegende Frau
Hockende weibliche Figur vs. Sitzende Figur
Maske der Kifwebe vs. Porträt einer Frau
Votiv Skulptur vs. Venezianerin
Menschliche Figur vs. Der Albino
Kopf einer Astarte vs. Kopf des Königs
Glockenidol vs. Keramik
Boot mit Bemannung vs. Die Reise
Stehende Figur (Holzplastik aus Sierra Leone) vs. Stehende Figur (Jean Ipoustéguy)
Frauenstatuette vs. Schwarze Venus
Pfeiler vs. Brustbild
Ornament eines Boot-Vorderstevens vs. Vogel
Menschliche Sofffigur vs. Kompositionscollage
Menschliches Antlitz auf Fels vs. Michel Tapié Soleil
Lamaistisches Mandala vs. Triptychon
Höhlenzeichnung vs. Zeichen
Tanzmaske vs. Philantropische Maske
Nagelfetisch vs. Kleiner Kosmonaut
Bundu-Maske vs. La Femme, comme il faut
Malerei des Trantismus vs. Sonne und Spiraloide über dem Roten Meer
Steinskulptur vs. Portrait des Dichters Paul Eluard
Stehende Figur vs. Etude
Dialog mit der Vergangenheit – Rückkehr zum Elementaren
Auf der Suche nach dem Archaischen
Abstraktion und Einfühlung
Picasso und die Kunst der Afrikaner
Matisse oder Vlaminck
Formprobleme: Derain, Modigliani, Brancusi
Begegnung oder Austausch von Techniken
Der Exotismus ferner Länder
Primitive Kunst und deutscher Expressionismus
Der Surrealismus und die Kunst Ozeaniens
Epilog
Impressum
Im Inhalt dieses Buches präsentiert der Autor eine eindrucksvolle Gegenüberstellung Primitiver- und Moderner Kunst - mit im Ergebnis spektakulären Erkenntnissen: Offenkundig bestehen in der Modernen Kunst durchaus Ähnlichkeiten mit der rein authentischen Kunst der Primitiven.
Fanden die Künstler der Modernen Kunst hier nur Anregungen, dienten die Werke als Vorlagen (und sind somit Plagiate) oder ist es doch ein purer Zufall?
Am Beispiel dargebotener Bild-Gegenüberstellungen reflektiert der anerkannte Kunstprofessor Dr. Charles Wentinck, diese berechtigten Fragen und versucht anhand eingehender Bildanalysen Beweise oder Zufälligkeiten zu ergründen.
Dem vorangestellten Bildteil mit 160 Farbtafeln folgt ein ausführlicher Textteil, in dem er sich kritisch mit der brisanten Thematik auseinandersetzt.
1a
Keulenkopf. Marquesas-Inseln, Polynesien
1b
Paul Gauguin. Kreuzigung
2a
Shoovagar. Mann mit steinerner Lampe
2b
Ernst Barlach. Russische Bettlerin
3a
Figur mit menschlichem Kopf. Ba-Iega, Zaire
3b
Pablo Picasso. Kopf einer menschlichen Figur
4a
Häuptlingssessel mit Karyatide. Luba, Kongo
4b
Amadeo Modigliani. Karyatide
5a
Kopf. Yoruba, Nigeria
5b
Pablo Picasso. Frauenkopf
6a
Ahnenfigur. Baule, Elfenbeinküste
6b
Karl Schmidt-Rottluff. Mädchen aus Kowno
7a
Maske. Yaure, Elfenbeinküste
7b
Amadeo Modigliani. Frauenkopf
8a
Tanzmaske. Lukunor- oder Mortlock-Inseln
8b
Alexej Jawlensky. Variation über ein menschliches Gesicht
Qa
Mumien-Maske. Inka, Peru
Qb
Paul Klee. Jörg
10a
Götterfigur. Nukuor, Karolinen
10b
Oskar Schlemmer. Zwei Mädchen
11a
Uli-Figur. Neuirland, Melanesien
11b
Emil Nolde. Stillleben mit Uli-Figur
12a
Marmorner Kopf. Kykladen
12b
Constantin Brancusi. Torso eines jungen Mädchens
13a
Großer Totempfahlderlndlaner. Nordwestküste Amerikas
13b
Jacques Lipchitz. Figur
14a
Akua’ba. Ashanti, Ghana
14b
Paul Klee. Senecio
15a
Maske der Fang. Gabun, Westafrika
15b
Julio Gonzalez. Japanische Maske
16a
Grabstatue. Kongo, Angola
16b
Ossip Zadkine. Sitzende Frau
17a
Goldene Maske. Mykene
17b
André Derairi. Maske mit einer Warze
18a
Liegende Figur. Maya-Kultur, Mexiko
18b
Henry Moore. Liegende Frau
19a
Hockende weibliche Figur. Dogon, Mali, Westafrika
19b
Fritz Wotruba. Sitzende Figur
20a
Maske der Kifwebe. Songe, Kongo
20b
Pablo Picasso. Porträt einer Frau
21a
Etruskische Bronze. Umbrien
21b
Alberto Giacometti. Venezianerin
22a
Menschliche Figur. Quimbaya, Kolumbien
22b
Jean Dubuffet. Der Albino
23a
Kopf einer Astarte. Syrien
23b
Henry Moore. Kopf des Königs
24a
Glockenidol. Böotien, Griechenland
24b
Pablo Picasso. Keramik
25a
Boot mit Bemannung. Frühgriechisch
25b
Alex Kosta. Die Reise
26a
Stehende Figur. Kissi, Sierra Leone
26b
Jean Ipoustéguy Stehende Figur
27a
Frauenstatuette. Paläolithikum, Trasimenischer See
27b
Brassai. Schwarze Venus
28a
Pfeiler. Dogon, Westafrika
28b
Kenneth Armitage. Brustbild
29a
Ornament eines Boot-Vorderstevens. Truk-Insel, Mikronesien
29b
Hans Uhlmann. Vogel
30a
Menschliche Stoffigur. Peru, präkolumbisch
30b
Enrico Baj. Kompositionscollage
31a
Menschliches Antlitz auf Fels. Altsteinzeit, Haute-Garonne
31b
Jean Dubuffet. Michel Tapié Soleil
32a
Lamaistisches Mandala. Tibet
32b
Allen Atwell. Triptychon, Detail
33a
Höhlenzeichnung. Paläolithikum, El Castillo, Santander
33b
Pierre Tal Coat. Zeichen
34a
Tanzmaske. Elema, Papua-Golf
34b
Saul Steinberg. Philantropische Maske
35a
Nagelfetisch. Bakongo
35b
Paul van Hoeydonck. Kleiner Kosmonaut
36a
Bundu-Maske. Mende, Sierra Leone
36b
Caroline Lee. La Femme, comme II faut
37a
Malerei des Tantrismus. Indien
37b
Hundertwasser. Sonne und Spiraloide über dem Roten Meer
38a
Steinskulpturen. Osterinsel, Polynesien
38b
André Beaudin. Porträt des Dichters Paul Eluard
39a
Stehende Figur. Dogon, Mali
39b
Augustin Cardenas. Etüde
1aMarquesas-Inseln, PolynesienKeulenkopfHolz, L. 132 cmRautenstrauch-Joest-Museum, Köln
Auf diesem Keulenkopf tritt das für die Marquesas-Inseln typische Tiki-Motiv in mehreren Variationen in Erscheinung. Die wie ziseliert wirkenden Ornamente sind in großer Ausgewogenheit verteilt. Auf dem Halboval des oberen Wulstes ist ein Gesicht mit breitem Mund eingetieft, die Augenform korrespondiert mit den strahlenförmig umrahmten Motiven am Schaft. Der obere Teil des Keulenkopfes ähnelt einem Gesicht. Die in die Höhe gezogenen Kreise sind ebenfalls mit einer feinen Lineatur gezeichnet und erwecken mit den massiven Köpfchen in der Mitte den Eindruck von Augen. Ein horizontaler Grat mit einem nasenähnlichen dicken Kopf trennt den oberen Teil vom Schaft der Keule. Die Vielfalt der Ornamentik ist mit Meisterschaft ausgeführt. Ähnliche Motive findet man an den Tätowierungsschablonen der Eingeborenen. Obwohl die Keulen kultischen Zwecken dienten, wurden sie doch auch im Kampf geführt.
1bPaul GauguinKreuzigungHolzschnitt, 40,5 x 13,5 cmWallraf-RIchartz-Museum, Köln
Die Liebe Gauguins zum Primitiven und Exotischen hat man dem Inka-Blut seiner peruanischen Großmutter zugeschrieben. Aber schon seit dem Roman „Paul et Virginie“ von Bernardin de Saint-Pierre (1787) existiert eine Tradition, die das Heil in unverdorbener Kindlichkeit und primitivem Exotismus suchte. Gaugin erkannte, dass er dieses Heil in Frankreich nicht finden konnte. Er sehnte sich nach den Wäldern einer Südseeinsel, „um dort in Ekstase und Frieden zu leben.“ 1891 kam er nach Tahiti. Doch bald äußerte er den Wunsch, nach einer der Marquesas-Inseln überzusiedeln, „wo nur drei Europäer sind und der Ozeanier viel weniger von der europäischen Zivilisation verdorben ist.“ Seine Flucht in eine unverdorbene Welt war nach Herbert Read eine Reaktion auf die industrielle Revolution, die dabei war, das Gesicht der Erde zu verstümmeln. Für Gauguin war die europäische Zivilisation ein schrecklicher Sumpf, aus dem man sich nur durch die Flucht befreien konnte. Gauguin ließ sich von der Kunst der Ozeanier inspirieren, bei dem hier abgebildeten Holzschnitt von dem Keulenkopf der Marquesas-Inseln. Aber er blieb ein Eklektiker und der Tradition verhaftet. Er übernahm das Hauptmotiv der Keule, wiederholte die Augenbildung und gab den Pupillen die Form kleiner Köpfe. Der religiöse Kosmos, der auf den Marquesas-Inseln die Formen der Kunst prägte, blieb ihm jedoch fremd. Dafür nahm Gauguin Zuflucht zu einem hier völlig absurd wirkenden Element, zu dem gekreuzigten Christus. Er benutzte die formalen Elemente der Primitiven, doch der andersgeartete religiöse Hintergrund blieb ihm verschlossen.
2aCap Dorset, Baffinland (Eskimo-Kunst)ShoovagarSteinMann mit LampeCollection James HoustonFoto: L. Boitin
Die heutige Kunst der Eskimos verdient es, als selbständige Erscheinungsform gewertet zu werden. Sie ist stark im Ausdruck, wie diese ganz in sich ruhende Figur zeigt. Sie bedient sich der Charakteristika der prähistorischen Eskimo-Kunst, die bis ins zweite Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Heute wie früher ist das rasche, klare Erfassen der Situation, des Gegenstandes,eine lebenserhaltende Funktion für dieses Volk der Fischer und Jäger. Tiere, Menschen und Masken wurden in Elfenbein der Walrosszähne, in Stein oder Holz gearbeitet. Eine reiche lineare Ornamentik an den Gebrauchsgegenständen-Harpunen, Äxten, Nadelbüchsen, Spielwürfeln-erfuhr eine Erweiterung durch Spiralmotive, die an skytisch-sibirische Auszierungen erinnern. Malereien sind bei den Eskimos sehr selten, man findet sie an den Trommeln der Medizinmänner. Die Plastiken erwecken den Eindruck von Masse und Kraft. Es sind keine rein impressionistischen Darstellungen; sie sind zentral auf einen inneren Schwerpunkt gerichtet. Körper und Glieder bilden eine geschlossene Einheit. Statt Bewegung und dramatischer Aktion strahlt der Mann mit der Lampe in seinen gerundeten großzügigen Konturen das in sich Ruhende, das Sein aus. Barlach bändigte seine innere Unruhe in einer ähnlichen Gestaltung. Seine Übereinstimmung mit der Eskimo-Kunst ist nicht zufällig.
2bErnst BarlachRussische Bettlerin, 1906Sammlung Hermann F. Reemtsma, Hamburg
Ernst Barlach (1870-1938), der norddeutsche Bildhauer, Graphiker und Dichter, studierte in Hamburg, Dresden und Paris. Zwischen 1901 und 1904 entwickelte er seinen eigenen Ausdruck in Töpfereien mit vereinfachten, dem Material angepassten Formen. Erst als 36jähriger fand er nach einer Russlandreise, auf der er neue Motive entdeckte, in der Bildhauerei die ihm gemäße Form. Er löste sich von der deutschen und französischen Tradition. Seine Handschrift wurde unverwechselbar. Seine Figuren sind einem metaphysischen Sehnen verhaftet; körperlich bleiben sie in der schweren, gerundeten Form gefesselt, nur der Geist versucht, sich freizumachen. Barlach steht in krassem Widerspruch zum Individualismus des 19. Jahrhunderts. Seine Figuren sind überpersönlich, ihre Leiden sind die Leiden der Menschheit-Hunger, Kälte, Alter, Armut. Sein archetypischer Stil führt zu strenger Anonymität, die eine geheimnisvolle religiöse Symbolik enthält. Auch die russische Bettlerin atmet diesen Geist. Es wird deutlich, wo hier die Verwandtschaft mit der Kunst der Primitiven liegt: im Überpersönlichen, in der weit zurückreichenden Stilisierung, in der Symbolisierung transzendentaler Mächte. Während Barlach stark von der norddeutschen Spätgotik beeindruckt wurde, besteht zur Kunst Afrikas keinerlei Beziehung. Seine schweren, erdhaften Menschen mit den ekstatischen Gesten drücken elementares Gefühl aus. Sie sind der Volkskunst verschwistert. Bei diesem norddeutschen Künstler mögen sich Parallelen zur Kunst der Primitiven des Nordens, zu den Eskimos, finden lassen.
3aBa-lega, Zaire (Territorium zwischen Kivu- und Tanganyika-See)Früher bekannt unter dem Namen Rega oder auch Warega.Figur mit menschlichem KopfElfenbeinCollection Charles Wentinck
Die kleinen Figuren des Lega-Stammes, in Elfenbein oder Bein geschnitten, haben rituelle Bedeutung. Diese ist nicht klar zu definieren, hängt aber mit der Einweihungs- und Aufnahmezeremonie für junge Stammesangehörige zusammen. Charakteristisch für die Ba-lega-Kunst ist die formale Konzeption des menschlichen Kopfes. Der Aufbau wird von einer konkaven Form beherrscht, das heißt, eine vorgewölbte Rundung wird nicht durch eine natürliche positive Wiedergabe, sondern durch eine Eintiefung ausgedrückt. Dieses Prinzip, das auch bei anderen afrikanischen Stämmen vorkommt, zum Beispiel bei einigen Masken der Fang, wurde vornehmlich durch Picasso und Henry Moore in die moderne Kunst eingeführt. Bei Picasso kann dieses Phänomen ab 1907 festgestellt werden, als er nämlich die „Demoiselles d’Avignon“ malte. Die vielen vorbereitenden Studien zu diesem Bild geben bereits Zeugnis von dieser Neuerung in der europäischen Kunst. Hier stimmt Picasso mit der nicht natualistischen afrikanischen Kunst überein. Die Darstellung eines Kopfes oder einer Figur wird nicht durch Nachahmung wahrnehmbarer Formen, sondern auf rein bildhauerische Weise verwirklicht. Dies bedeutet, dass die Skulptur anderen Gesetzen unterworfen wird als denen der naturgetreuen Wiedergabe. Ob bei Picasso hier Analogie oder Nachahmung vorliegt, bleibt offen.
3bPablo PicassoKopf einer menschlichen Figur, um 1906Collection Douglas Cooper
Die strukturelle Verwandtschaft zwischen dem Ba-lega-Kopf und dem abgebildeten von Picasso ist augenscheinlich. Sie geht ebenso weit wie die zwischen der bekannten Babangi-Maske im Museum of Modern Art in New York und den beiden Köpfen auf der rechten Seite von Picassos „Demoiselles d’Avignon“, einem Gemälde aus der gleichen Periode wie das hier reproduzierte Werk. Die Tatsache, dass sich Picasso Intensiv mit der afrikanischen Skulptur beschäftigt hat, zeigte sich schon vorher in der Zeichnung einer kongolesischen Maske. Die Zeichnung stammt aus der Zeit der vorbereitenden Skizzen für die „Demoiselles“. Gömez de la Serna schreibt, dass Picasso schon in seinem Studio „Bateau Lavoir“ afrikanische und ozeanische Idole aufgestellt hatte. Trotz der Bemühungen, das Gegenteil zu beweisen, kann kein Zweifel bestehen, dass die afrikanische Skulptur um 1907 auf Picassos stilistische Entwicklung eingewirkt hat. Robert Goldwater ist überzeugt, dass der Unterschied der Figuren auf der linken und rechten Seite der „Demoiselles“ auf den Einfluss der afrikanischen Kunst zurückzuführen ist.
4aLuba, Südöstlicher KongoHäuptlingssessel mit KaryatideHolz, H. 54 cmCollection Jacques Kerchache, Paris
Die Luba gehören zu den Baluba, der größten Gruppe kulturell miteinander verbundener Stämme im Kongo. Ihre Kunst ist gekennzeichnet durch fließende, gerundete Formen und starke Ausdruckskraft. Man könnte ihren Stil als idealisierten Naturalismus charakterisieren. Die Körperoberfläche wird mit großer Sorgfalt behandelt. Die Frauenfigur, die den Sessel trägt, ist die mythische Stammmutter. Bei den Luba gilt das Mutterrecht. Die Urmutter ist die wichtigste Gestalt in der Ahnenreihe. Modigliani übernahm die klar geschnittenen Gesichtszüge, die für die Luba-Kunst bezeichnende Mandelform der Augen und den schmalen Nasenrücken. Trotz Veränderung der Körperhaltung behielt er die tragende Bewegung der Arme bei.
4bAmadeo ModiglianiKaryatide, 1910Gemälde 72,5 x 50 cmKunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Modigliani sah zum ersten Mal afrikanische Skulpturen im Atelier Brancusis. Etwas später begegnete er primitiven Plastiken in der Sammlung von Dr. Alexandre, einem der ersten Käufer seiner Werke. Unter diesem Eindruck änderte Modigliani seinen Stil, aber im Kern blieb er sich treu. Die Erstarrung und die oft gewalttätige Deformation, die Picasso aus der afrikanischen Kunst übernahm, blieb Modigliani fremd. Eine Abstrahierung im Sinn des Kubismus wies er für sich ab. Seine Kunst stand nie im Zeichen abstrakter Formprinzipien. Das Elementare der Primitiven lag außerhalb seiner Sphäre. Sein Gefühl für plastisch vollendete Form blieb. Unter dem Einfluss der afrikanischen Kunst vereinfachte und monumentalisierte er die Struktur seiner Bilder, ohne der Eleganz Opfer zu bringen. Einfachheit schloss bei Modigliani nie Subtilität aus, Monumentalität keinesfalls das Raffinement. Bezeichnenderweise wurde er von der Kunst der Baule an der Elfenbeinküste und der der Luba im damaligen belgischen Kongo am meisten beeinflusst. Mit den Baule und den ihnen verwandten Yaure hat er die Verfeinerung gemeinsam. Die Karyatiden der Luba inspirierten Modigliani zu Studien in Aquarell und Öl über das gleiche Thema. Die weibliche Figur, die den Häuptlingssessel der Luba trägt, hat bei Modigliani die gleiche Freiheit der Bewegung, die gleiche Klarheit des Gesichtes und die gleiche Harmonie der Komposition.
5a Yoruba, Nigeria (Westafrika)KopfGefaßte Holzplastik, H. 52 cmPrivat-Collection, Melbourne
Augenscheinlich ist der Frauenkopf von Picasso aus dessen kubistischer Periode mit der Plastik der Yoruba verwandt. Was die Künstler am Anfang des 20. Jahrhunderts an den Primitiven fesselte, war die scheinbare Freiheit in der Behandlung der Form. Der primitive Künstler gab seinen Plastiken eine Struktur, die nicht eine optisch wahrnehmbare Realität nachahmte, sondern einem anderen Gesetz gehorchte. Welches dieses Gesetz war, erschien den modernen Künstlern zunächst unwichtig. Sie interessierten sich für die „eigenmächtige“ Deformation und den Wiederaufbau der Fragmente in einer plastisch verantwortbaren Freiheit. Der Yorubakopf scheint nach Gesetzen komponiert zu sein, die denen des Kubismus ähneln. Dem analytischen Kubismus – wie bei dem hier abgebildeten Frauenkopf von Picasso – liegt eine ästhetische Absicht zu Grunde. In der Yoruba-Kunst jedoch fehlt diese Absicht. Zwar wurde auch hier wie beim Kubismus die Natur verändert, um das, was dem Künstler wesentlich erschien, zu akzentuieren, aber es entstand eine höhere Realität auf dem Boden einer angestammten Religiosität.
5bPablo PicassoFrauenkopf, 1910Bronze, H. 42 cmKunsthaus, Zürich
Bei Picasso ist der klare, durchaus noch naturalistische Schnitt des Gesichts mit der markanten Nase, dem etwas wulstigen Mund und dem deutlich erkennbaren Auge eingebettet in eine verwirrende Fülle des großzügig abstrahierten Kopfes. Die fast an Gleichheit grenzende Ähnlichkeit von Picassos Frauenkopf mit dem nebenstehenden Kopf der Yoruba fällt dem Betrachter sofort ins Auge. Der Frauenkopf wird in Picassos Werk zu den „Erinnerungsbildern“ gerechnet. Der Künstler ist mit einem bestimmten Objekt vertraut und erinnert sich später an die Formen, die ihm an dem Objekt den stärksten Eindruck gemacht haben. Diese Einzelheiten der Realität werden in freier Projektion geordnet und in einen Zusammenhang gebracht. Der Rhythmus der Skulptur ist wichtiger als die Mitteilung über das Erinnerungsbild. Die Einzelteile der Realität verlieren ihre naturalistische Funktion und gelten ausschließlich als Kompositionselement. Die Wirklichkeit wird eigenmächtig deformiert. Picasso erwartet nicht vom Beschauer, dass er die Einzelteile nach der eigenen Vorstellung wieder zusammensetzt. Er hat sie bereits zu einer für ihn existierenden neuen Wirklichkeit verbunden.
6aBaule, Elfenbeinküste, WestafrikaAhnenfigurHolz, H. 25 cmCollection Charles Wentinck, Frankreich
Obwohl bei dieser Ahnenfigur der Baule das Naturalistische überwiegt, ist die Gestaltung doch einer für den Baule-Stil typischen Deformierung unterworfen. Was auf dieser Abbildung nicht sichtbar wird, ist das Missverhältnis der Körperproportionen: Der Kopf hat annähernd die gleiche Höhe wie die stark reduzierten Beine. Eine angedeutete Abstrahierung, die dem Gesicht den typenhaften Ausdruck verleiht, findet sich in fast allen Baule-Plastiken. Die stilisierten Augenbrauen bilden mit der scharf profilierten Nase eine auf Archetypen zurückgeführte Einheit. Das Oval des Gesichts ist in der Länge übersteigert. Dem Haar kommt eine ornamentale Funktion zu. Trotz der Typisierung und einer gewissen Abstraktion hat dieser Ahnenkopf doch eine starke individuelle Ausstrahlung.
6bKarl Schmidt-RottluffMädchen aus Kowno,