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Der Band stellt den Briefwechsel der bayerischen Prinzessin Wiltrud, der späteren Herzogin von Urach (1884-1975), mit Karl May und dessen Frau Klara vor; diese Korrespondenz reichte von Prinzessin Wiltruds Jugendtagen bis ins reifere Alter und umspannt mehr als ein halbes Jahrhundert. Darin entwickelte die Prinzessin als eine von wenigen Leser/innen Karl Mays ein tieferes Verständnis für dessen Spätwerk. Ihr großes Ziel war, selbst Schriftstellerin zu werden – ein Lebensplan, an dem sie mit Intensität und Ausdauer arbeitete. Dokumentiert und kommentiert wird daher hier nicht nur der umfangreiche Briefwechsel Prinzessin Wiltruds mit Karl und Klara May; auch das literarische Werk der Prinzessin/Herzogin wird in Auszügen vorgestellt. So entsteht aus ihren Selbstzeugnissen und Tagebüchern das faszinierende Bild einer Adeligen zwischen den Epochen des 20. Jahrhunderts und zwischen den Ländern Bayern und Württemberg.
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DER BRIEFWECHSEL MITKARL UND KLARA MAY
HERAUSGEGEBENVON
ULRICH SCHEINHAMMER-SCHMID
Herausgeber der grünen Bände: Bernhard Schmid© 2022 Karl-May-Verlag, BambergAlle Urheber-und Verlagsrechte vorbehaltenDeckelbild:Porträtfoto Prinzessin Wiltrud: Josef oder Richard WörschingPorträtfoto Karl May: Erwin RauppKolorierung und Artwork: Torsten Greis / pintaISBN 978-3-7802-1635-9
KARL - MAY - VERLAGBAMBERG. RADEBEUL
Vorwort
1. Zwischen Etikette und Indianerspiel (1884-1897)
Exkurs 1: Prinzessin Wiltruds Lebensorte
2. Das „wilde Mädchen“ und der Schriftsteller (1897-1903)
Exkurs 2: Prinzessin Wiltrud als Reiseschriftstellerin
3. Eine Prinzessin hat Fragen (1903-1912)
4. „Meine Brüder – es gibt – – – Krieg!“ – Vom Weltkrieg zur Revolution (1912-1921)
Exkurs 3: Prinzessin Wiltruds Gedichte
5. Lyrikerin und Ehefrau (1921-1928)
6. Zwischen Alpen und Schwäbischer Alb (1928-1949)
Bibliografie
Abbildungsverzeichnis
Der Großteil dieses Buchs wurde von Prinzessin Wiltrud Marie Alix von Bayern verfasst, nach ihrer Heirat am 25. November 1924 Herzogin von Urach, Gräfin von Württemberg (1884-1975). Über lange Jahrzehnte ihres Lebens war es ihr Traum, Schriftstellerin zu werden; so veröffentlichte sie Reiseschilderungen und Gedichte, und ihr Nachlass verwahrt eine ganze Reihe von unpublizierten literarischen Texten, nicht zuletzt ihre lebenslang geführten weit über 250 Tagebücher. In ihnen, aber auch in einer Reihe von autobiografischen Aufzeichnungen hat sie ihr Leben für sich selbst und für die Nachwelt festgehalten. Dazu kommen ihre zahlreichen Briefe an das Ehepaar Karl und Klara May sowie an Verwandte und Bekannte, die ebenfalls ein anschauliches Zeugnis ihres Lebens bieten.
Wäre sie noch am Leben, würde es ihr sicher größte Freude bereiten, dass ihre Texte nunmehr in der grün-goldenen Reihe der Werke ihres bewunderten Vorbilds Karl May erscheinen. Die Wechselfälle ihres bewegten Lebens hat sie selbst vielfältig reflektiert; von diesen Reflexionen einer bayerischen Prinzessin über ihr Leben und über ihr Umfeld soll dieses Buch Zeugnis geben und damit ihren ungewöhnlichen Lebenslauf dokumentieren.
Aufgabe des Herausgebers war, das Material zu bündeln, zu kommentieren und in den Zusammenhang dieses Lebens zwischen „Salonwagen“ und Eisenbahn-„Holzklasse“ (wie sie selbst es nannte) einzuordnen.
Wer der Prinzessin lesend zuhört, kann nicht nur eine sehr eigenständige und ausdrucksstarke Stimme hören, sondern auch ihren Humor, ihre präzise Beobachtungsgabe und ihre tief empfundene Gefühlswelt entdecken.
Leider musste die Zeit nach 1945 hier aus Raumgründen weitgehend vernachlässigt werden – das ist eine andere Geschichte, die künftig näher betrachtet werden sollte. Im Mittelpunkt der hier vorliegenden Biografie steht ihre Beziehung zum Ehepaar May – diese zwei Drittel von Prinzessin Wiltruds Leben bedeuten eine spannende, anschauliche und vielfältige Lektüre.
Ein solcher Band entsteht in vielfältigem Zusammenwirken der verschiedensten Personen und Institutionen. Zu danken habe ich in erster Linie S.K.H. Prinz Luitpold von Bayern, dem Rechtsnachfolger Prinzessin Wiltruds, für die großzügige Erlaubnis, den umfangreichen Nachlass der Prinzessin zu sichten, auszuwerten und in Ausschnitten zu veröffentlichen.
Ebenso danke ich dem Chef des Hauses Urach, S.D. Wilhelm Albert Herzog von Urach Graf von Württemberg, für die Erlaubnis, die Bestände im Hauptstaatsarchiv einzusehen und zu publizieren. Zum anderen gilt mein Dank den beiden Archiven, die den zwischen den Städten Stuttgart und München aufgeteilten Nachlass in vorbildlicher Form bewahrt und erschlossen haben. Herr Dr. Immler, der Leiter des Geheimen Hausarchivs in München, und Archivamtmann Andreas Leipnitz ermöglichten mir viele Tage die Arbeit im Geheimen Hausarchiv und begleiteten meine Arbeit mit unterstützenden Hinweisen, während Archivrat Eberhard Merk im Hauptstaatsarchiv Stuttgart mir die Erarbeitung des Bestands GU 119 und anderer Materialien zu Wiltrud und Wilhelm (II) von Urach durch seine vorbildliche Erschließung der Bestände sowie durch viele Hinweise und Ratschläge erleichterte.
Ihnen und allen anderen Archivmitarbeiterinnen und-mitarbeitern habe ich sehr zu danken.
Besonders hervorzuheben ist daneben die wunderbare, warmherzige und überaus fleißige Freundin Anna Lotte Pielenz (1932-2005), die die meisten der hier veröffentlichten Briefe transkribiert hat.
Dankbar bin ich auch meiner Frau, die dieses Projekt mit Interesse verfolgt und die einzelnen Kapitel gegengelesen und mit Korrekturvorschlägen begleitet hat. Bernhard Schmid und Roderich Haug vom Bamberger Karl-May-Verlag haben den Band nicht nur in die Reihe der grün-goldenen Bände aufgenommen, sondern ihm auch die schöne äußere Gestalt gegeben. Dank auch an das Deutsche Literaturarchiv Marbach für die Erlaubnis, den Brief Prinzessin Wiltruds an Gertrud von Le Fort in diesen Band aufzunehmen.
Die Prinzessinnen Wiltrud, Helmtrud, Hildegard und Gundelinde von Bayern
Sowohl Prinzessin Wiltrud wie Klara May zeigen in ihren Schreiben kleinere Schwächen in Rechtschreibung und Zeichensetzung. Die Texte wurden in den meisten Fällen weder korrigiert noch mit Kennzeichnungen versehen, sondern buchstabengetreu wiedergegeben. In den Briefen Klara Mays nach 1912 wurden kleinere Kürzungen vorgenommen; der Inhalt der gekürzten Stellen wird in eckigen Klammern in Regestenform zusammengefasst.
Aufstieg zur Schaubachhütte (von rechts): Prinzessin Wiltrud (erhöht), Prinzessin Helmtrud, Prinzessin Gundelinde, Bergführer Josef Kuntner. Die Schaubachhütte liegt im Südtiroler Suldental im Ortlergebiet, in der Nähe des Stilfser Jochs.
„Das starre Bild der Felsenwände, die kalte Schlucht, des Wassers Sprache […] Wir sprachen wenig; gingen nicht mehr höher – und erst im Tale mußt ich reden, wie mir zumute war, dem wilden Mädchen, das schon als Kind der Berge Kahlheit liebte. Umjagte mich der Sturm, so wollt ich jauchzen, ging hoch die See und schäumten weiße Wellen den Felsenstrand empor, so wars mir wohl zu Mute …“
Dieses Selbstbild von sich entwirft Prinzessin Wiltrud, Tochter des letzten bayerischen Königs Ludwig III., in ihrem Tagebuch am 7. August 1910.1 Wiltrud Maria Alix von Bayern, spätere Herzogin von Urach, war, trotz ihrer Einbindung in die gesellschaftlichen Zwänge einer Tochter aus einem regierenden Königshaus, eine interessante, reflektierende und selbst schreibende Person. Dies gilt zum einen für ihre Kontakte mit dem sächsischen Abenteuerschriftsteller Karl May, die sie über den Tod des Schriftstellers hinaus bis in die Jahre des Zweiten Weltkriegs als Korrespondenz mit Mays Witwe Klara fortsetzte;2 es gilt vor allem aber für ihre eigenen schriftstellerischen Arbeiten und für ihre vielfältigen persönlichen Beziehungen, die dieses Buch außer dem Briefwechsel mit Karl und Klara May darstellen soll.
Ihr Leben umfasste zwischen ihrem Geburtsjahr 1884 und ihrem Sterbejahr 1975 eine große Spannweite: von der Kindheit und Jugend als Kronprinzentochter auf den Schlössern Leutstetten und Wildenwart sowie als Königstochter in München reicht ihre Existenz über die Jahre des Ersten Weltkriegs und der Revolution bis zur Zeit des Nationalsozialismus und in die frühe Bundesrepublik – immer war sie Zeitzeugin, die ihr bewegtes Leben nicht nur in ausgedehnten Korrespondenzen und Aufzeichnungen, sondern auch in über 250 Tagebuch-Bänden dokumentierte.
Am 10. November 1897 feierte sie ihren dreizehnten Geburtstag, den sie in ihrem Tagebuch folgendermaßen kommentierte: „Ich bekam einige schöne Sachen. […] Tante Alix war beim Essen, schenkte mir ein hübsches Blumenkörberl.3 Viel lieber hätte ich ein Karl May Buch gehabt!“ Ein Jahr später, 1898, konnte sie dann allerdings zufrieden berichten: „Gestern war mein 14. Geburtstag, an dem ich sehr viele Sachen bekam. Ich bekam auch zwei Karl May Bücher! Ich habe jetzt meine Sammlung von 24 Büchern endlich fertig!“4 Und zufrieden konstatierte sie, dass der Reitunterricht an diesem Tag „glücklicherweise im Herrnsattel“ stattfand. „Ich kann unmöglich sagen, wie mir das gefiel. Es war schon sehr schön.“5
Im Jahr ihres zwölften Geburtstags, 1896, gab es zwei Ereignisse, die wichtige Marksteine in ihrem Leben bezeichnen. Zum einen druckte die Jugendzeitschrift Der Gute Kamerad Karl Mays Erzählung Der schwarze Mustang.6 Diese Lektüre löste bei der Prinzessin einen grundlegenden Entschluss aus, den sie gegen Ende des Ersten Weltkriegs in einer Bleistiftaufzeichnung Vom Extrazug in die Holzklasse beschreibt:7
Und wieder mehr als Pflanze und Tier zog[en] mich die schwarzen Würmer des Orinoco und Amazonas und des Missisippi [an], die schwarz und fett ihre Schlangenlinien durch die Landkarte zogen. Die will ich einmal sehen! Und Karl May vollendete den Wunsch in mir: nach Amerika! Nur schlug jetzt mein Herz statt für die Urwälder […] für die Savannen und Rockymountains der Vereinigten Staaten. Bald nachdem der „Schwarze Mustang“ im „Guten Kameraden“ erschienen war, also 1896, begann ich für die Amerikareise zu sparen. 1918 hatte ich dank einer einige Jahre fließenden Apanage die 40 000 M[ark] erreicht, die eine weltreisende Tante [wohl Prinzessin Therese] als notwendig für eine Reise8 von Mexico bis zum Yellowstone – damals mit Hofdame, Kammerherrn und Lakaien für notwendig erachtete.
Noch in ihrem letzten Brief an Klara May vom 26. März 1939 bedauerte sie, dass ihr „Reisefond von 40 000 M in der Inflation zu Grunde gegangen [war]: Jugendersparnisse, um einmal zu den Navajos, Apaches, Sioux u. Shoshonen zu gelangen“. So „wurde es nichts mehr mit meiner Fahrt nach dem Westen Nor[d]amerikas“, angesichts der Devisenbeschränkungen der Nationalsozialisten „wohl auch für niemehr“.
Mit 14 Jahren, etwa 1890, hatte sie noch ein zweites Vorbild entdeckt, das sie zur Nachahmung anregte und das sie ebenfalls in den zitierten Notizen Vom Extrazug in die Holzklasse charakterisiert:
Als ich vielleicht 14jährig war, hatte ich in den Jugendblättern oder einem Wiener9 Mädchenjahrbuch die Biographie Ida Pfeiffers, der Weltreisenden, einer Österreicherin, gelesen nein verschlungen und überdacht und nie vergessen. Ida, mit 2 Brüdern auf dem Lande aufgewachsen, verachtete alles Mädchenhafte und trug Hosen bis zum 14. Lebensjahr. Dann ins Frauliche hineingezwungen, immer den Wunsch nach großer Wildheit – großen Reisen in sich – heiratete sie Herrn Pfeiffer, bekam 2 Söhne und als diese selbstständig geworden waren und der Mann gestorben war, zog Ida in die weite Welt – endlich am Ziele der 30 Jahre unterdrückten Wünsche. Die Mittel waren bescheiden und so legte sie sich die schwersten Entbehrungen auf, um reisen zu können. Später Weltreisende von Ruf, wetteiferten die Kapitäne der Ozeanschiffe, ihr Freiplätze zu verschaffen. Dadurch verwöhnt, machte Ida Pfeiffer einen Kopf, wenn das einmal unterblieb.10 Dies Eine mißfiel mir an meinem Ideale – aber alles andere, Kraft, Willen der einsamen Frau rissen mich hin. Wie Ida Pfeiffer will ich werden!11
Ida Pfeiffer (1797-1858)
Das Unglück der Prinzessin bestand darin, dass sie ihre Ersparnisse in „Pfandbriefe und Kriegsanleihen“ investiert hatte, damit sie „nach dem Kriege in Billets [Fahrkarten] umgewandelt würden“ – Reiserücklagen, die durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs weitgehend entwertet wurden, sodass an keine Amerikareise mehr zu denken war. Dieses Schicksal verband sie mit ihrer Tante, Prinzessin Therese von Bayern (1850-1925), die allerdings schon zahlreiche Reisen hinter sich gebracht und wissenschaftlich ausgewertet hatte. Sie wollte 1914 zu einer großen Weltreise aufbrechen, die genauestens geplant und für die das Gepäck bereits nach Genua transportiert worden war; die Schüsse von Sarajewo, die den österreichischen Thronfolger und seine Frau töteten und den Ersten Weltkrieg auslösten, beendeten alle Reisepläne Prinzessin Thereses.12
Sie war zu diesem Zeitpunkt freilich seit Jahrzehnten schon eine berühmte Wissenschaftlerin, Ehrendoktorin der Münchner Universität, Mitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften und eine so bekannte Schriftstellerin, dass sie im Mai 1896 von Bertha von Suttner (1843-1914), die später auch in Karl Mays Leben eine wichtige Rolle spielen sollte, angeschrieben wurde:13
Schloß Harmannsdorf bei Eggenburg. Nieder-Österreich
16. Mai 1896
Ew. [Euer] Königliche Hoheit!
Dieser Brief, gnädigste Frau, ist nicht an die Prinzessin, sondern an die Litteratin gerichtet und erbittet sich von dieser die Mitwirkung an einem Sammelwerke, sei es auch nur mit einem ganz kurzen Beitrage.
Bertha von Suttner (1843-1914)
Das Süddeutsche Verlags-Institut in Stuttgart wird ein Pracht-Geschenkwerk für unsere erwachsenen Töchter ausgeben, betitelt: „Frühlingszeit“, welches ausschliesslich aus Darbietungen der hervorragenden lebenden Schriftstellerinnen Deutschlands bestehen soll.
Der Verlag hat mich mit der Herausgabe dieses Buches betraut, zu welchem mir die Mitarbeit von [Marie von] Ebner-Eschenbach [1830-1916], [Wilhelmine von] Hillern [1836-1916], [Ossip] Schubin [Pseudonym für Aloysia Kirschner, 1854-1934], [Marie Eugenie] Delle Grazie [1864-1931]) etc. etc. schon zugesagt ist; und ich wage es nun auch, die Verfasserin der „Skizzen aus Russland“ um eine poetische Gabe (Vers oder Prosa) sehr dringend zu bitten.14
Jeder Beitrag soll auch mit einem Bilde der Dichterin geschmückt sein; ich würde daher gleichzeitig um die gütige Zusendung einer Photographie bitten.
Einem geneigten Bescheide entgegensehend, ob Ew. [Euer] Hoheit diesem meinen lebhaften Wunsch zu willfahren geruhen werden oder nicht, zeichne ich in tiefer Verehrung
Ew. Kgl. [Eurer Königlichen] Hoheit
treu ergebene
Freifrau Bertha von Suttner
geb. Gräfin Kinsky
Schon Mitte Juni bedankt sich Bertha von Suttner, wohl bei Emma Gräfin von Oberndorff, Hofdame der Therese Prinzessin von Bayern, für den übersandten Beitrag zu dem geplanten Sammelband:
Harmannsdorf, 16./6. 1896
Geehrte Gräfin!
Ihr liebenswürdiger, im Auftrag I. K. H. [Ihrer Königlichen Hoheit] geschriebener Brief hat mich sehr gefreut und ich ersuche um die weitere Gefälligkeit, mein inliegendes Dankschreiben der Prinzessin zu überreichen. Es würde mich sehr interessieren, das Werk einst zu erhalten, welches die hohe Kollegin gegenwärtig unter der Feder hat.15
Mit der Versicherung ausgezeichnet[er] Hochachtung
Ihre ganz ergebene
Bertha von Suttner
Prinzessin Thereses „poetische Gabe“ eröffnete (mit dem Porträt der Prinzessin) den Band, der noch 1896 in Stuttgart erschien:16
Therese Prinzessin von Bayern
Kümmere dich nicht um der Menschen Urteil
Du thust das Gute, um den Menschen zu gefallen?
O nein, du thust es weil es Gott so will;
Darum, und wird dein Thun verkannt von ihnen allen,
Laß dich nicht irre machen, halte still.
Und wenn sie dich auch lästern und zutiefst verletzen,
Was liegt daran, es geht auch das vorbei;
Du lernst gar bald der Menschen Lob gering zu schätzen,
Und was sie sagen, das ist einerlei.
Porträt Prinzessin Thereses in Frühlingszeit
Nur vor dir selber und vor Gott mußt du bestehen
Und unverrückbar folgen deiner Pflicht,
Dann wirst du freudig auch die schwersten Wege gehen –
Und um die Menschen kümmere dich nicht!
Die drei Strophen geben ein treffendes Charakterbild der Prinzessin, die jahrelang mit kleiner Begleitung unter dem Pseudonym einer „Gräfin Elpen“ in Steppen und Urwäldern unterwegs war,17 sie treffen aber auch das Wesen ihrer Nichte Wiltrud, dem wir noch öfter in deren eigenen Charakteristiken begegnen werden.
Damit sind mit Karl May und Wiltruds Tante Therese zwei Personen bezeichnet, die für den Lebensweg und die Charakterbildung der Prinzessin eine entscheidende Rolle spielten.
Dem einen dieser Vorbilder, dem sächsischen Abenteuerschriftsteller Karl May, war sie am 26. März 1898 im Wittelsbacher Palais, wo die Familie des Kronprinzen Ludwig wohnte, bei einer Audienz persönlich begegnet. Wiltrud hatte mit ihren jüngeren Schwestern Helmtrud (1886-1977) und Gundelinde (1891-1983) einen Empfang im Wittelsbacher Palais in München arrangiert, wo May, nach eigenem Bekunden, „in einer langen, langen Audienz alle Glieder des bayerischen Königshauses“ um sich „versammelt“ sah und mit ihnen „wie ein alter, lieber Bekannter verkehren“ durfte.18 Wer war diese 13-jährige Prinzessin, die den berühmten Schriftsteller Karl May ins Wittelsbacher Palais eingeladen hatte?
Bevor wir ihre Lebensspuren entfalten, benötigen wir einen kleinen Exkurs über die bayerische Erbfolge im 19. Jahrhundert. Der bayerische König Maximilian II. beerbte im Revolutionsjahr 1848 seinen über die Tänzerin Lola Montez gestolperten Vater Ludwig I. (1786-1868); Maximilian hatte zwei Kinder mit Namen Ludwig (1845-1886) und Otto (1848-1916) sowie einen jüngeren Bruder mit dem Vornamen Luitpold. Der erste regierte ab 1864 als der ‚Märchenkönig‘ und Schlösserbauer, der zweite, Otto, verfiel spätestens nach dem Deutsch-französischen Krieg 1870/71 in Wahnzustände19 und der dritte, Luitpold, hatte die unangenehme Aufgabe, den einen zu beerben und für den anderen, nicht regierungsfähigen, die Staatsverwaltung zu übernehmen.
Dies drückte sich in seinem Titel ‚Prinzregent‘ (statt König) aus, und obwohl ihm nicht wenige Bayern vorwarfen, seinen ältesten Neffen Ludwig II. ermordet oder in den Selbstmord getrieben zu haben (beides ist bis heute Anlass zu immer neuen Spekulationen und Publikationen), wurde er so beliebt, dass die ganze Epoche als ‚Prinzregentenzeit‘ nach ihm benannt und nicht selten mit Thomas Manns Satz „München leuchtete“ charakterisiert wurde und wird.20
Luitpold hatte drei Söhne und eine Tochter, Prinzessin Therese; der älteste Sohn, Prinz Ludwig, heiratete 1868 eine habsburgische Prinzessin, Marie Therese, Erzherzogin von Österreich-Este und Prinzessin von Modena, Prinzessin von Ungarn und Böhmen, die er ein Jahr vorher kennen und lieben gelernt hatte.21 Ein Jahr lang schrieben sie sich täglich Briefe, in denen nicht zuletzt Ludwigs Skrupel eine bedeutende Rolle spielten. Die Prinzessin suchte dagegen mit Erfolg anzugehen.
Ihre eigene Erziehung vollzog sich zwischen zwei Polen: Den einen bezeichnet ihr Spitznamen bei Hof, „Prinzessin Dada“, den sie wegen ihres unbefangenen Wesens erhalten hatte.
Auf der anderen Seite erklärte ihre Erzieherin dem Bräutigam gegenüber: „Der Prinz wird mit ihr zufrieden sein, denn ich habe ihr den Willen gebrochen“ (dass das nur sehr bedingt galt, wird sich noch zeigen).22
Die spätere Königin war vielseitig interessiert: Sie zeichnete und malte, kannte sich in der Botanik bestens aus (eine Leidenschaft, die ihre Tochter Wiltrud von ihr übernahm) und war karitativ sehr engagiert. Ihren Ton den Kindern gegenüber zeigt der Brief, mit dem sie der fünfjährigen Prinzessin Wiltrud zum Namenstag gratulierte:23
M[ünchen]: 29./7.1889
Liebe Wiltrud!
Da wir wieder an Deinem Namenstage nicht bei Dir sind, so schreibe ich Dir und gratulire Dir von Papa, mir, den Geschwistern und allen vom Hause herzlichst. Unsere Geschenke kann ich noch nicht schicken, da ich erst hören müsste, was Du Dir wünschst. Vielleicht schreibt es [das Kindermädchen Amalie] Ott24 oder Frl. Steinbauer.25
Bitte zeige allen diesen Brief, auch Maya, die ich sehr grüße.
[…]
Adieu, liebe Trudi, innig umarmt Dich und Helmi
Deine treue Mama /Therese.
[Deinen Schwestern] Mathilde und Hildi viele Küsse und Grüße von uns.
Neben den Eltern bildete Prinzessin Therese von Bayern einen zweiten Schwerpunkt in Wiltruds privatem Leben. Therese war die einzige Tochter des Prinzregenten Luitpold, Schwester des späteren bayerischen Königs Ludwig III. und Tante von Prinzessin Wiltrud. Sie war das in der Realität, was Karl May in der Fiktion war: eine abenteuernde Reiseschriftstellerin, deren Expeditionen in viele Weltregionen allerdings vor allem wissenschaftlichen Zielen dienten und ihren Niederschlag nicht in Reiseromanen bzw. Reiseerzählungen, sondern in zahlreichen naturwissenschaftlichen und ethnologischen Büchern und Aufsätzen fanden.26
Therese, die zeitlebens unverheiratet blieb und ihren Vater, den Prinzregenten, in seinen letzten Lebensjahren betreute und pflegte, wird – außer durch ihr Gedicht für Bertha von Suttners Anthologie – am besten durch einen Satz charakterisiert, den sie 1925 auf ihrem Sterbebett in der Villa AmSee in Lindau äußerte. Als man sie fragte, ob sie sich durch ein lautes Geräusch auf dem Hof erschrocken habe, antwortete sie: „Ich erschrocken, das kenne ich nicht; bin in meinem Leben nie erschrocken und hab’ mich vor nichts gefürchtet.“27
Wiltruds Mutter, Königin Marie Therese
Am 12.12.1912 starb der Prinzregent Luitpold. Damit war Prinz Ludwig an der Reihe, den Thron zu übernehmen, allerdings wie sein Vater nur als „Prinzregent“; sein Onkel Otto lebte ja noch und war – ungeachtet aller geistigen Verwirrung – der legitime König.28 Nach dem Tod des Prinzregenten forderten die verschiedensten Personen und Gruppen, Ludwig solle auch formell die Königswürde übernehmen. Obwohl ihn unter anderem seine Schwester Therese eindringlich warnte, ließ er sich dazu bewegen, sich Anfang November 1913 zum bayerischen König krönen zu lassen.29 Das hatte mit verfassungsrechtlichen, aber auch wohl nicht zuletzt mit finanziellen Gründen zu tun: als „Prinzregent“ konnte er keine Verfassungsänderung vornehmen und die „Zivilliste“, d.h. das Einkommen der Familie des Königs, war etwa zehnmal so umfangreich wie das Einkommen der Familie eines Prinzregenten. Otto starb 1916, aber da war es schon zu spät: Ludwig hatte bereits seinen Ruf als Usurpator weg.
Das Königspaar hatte dreizehn Kinder, die nach ihren Geburtsjahren mehrere Gruppen bildeten:30 Die ältesten waren neben dem Kronprinzen Rupprecht (1869-1955) die Prinzessinnen Adelgunde (1870-1958), 1915 verheiratet mit dem verwitweten Wilhelm von Hohenzollern-Sigmaringen (1864-1927), und Maria Ludwiga (1872-1954), seit 1897 verheiratet mit Ferdinand Pius Prinz von Bourbon-Sizilien, Herzog von Kalabrien (1869-1960). Von den jüngsten Prinzessinnen starben zwei bald nach der Geburt (Notburga, geboren und nach 5 Tagen gestorben 1883, sowie Dietlinde, deren Leben 1888 eineinhalb Monate nach ihrer Geburt endete). Der zweitgeborene Sohn, Prinz Karl (1874-1927), blieb ledig und „lebte als Junggeselle in der Münchner Residenz“.31 Prinz Franz von Bayern war seit 1912 mit Prinzessin Isabella von Croy verheiratet; das Paar hatte sechs Kinder und lebte von 1931 bis 1945 in Sárvár in Ungarn. Prinz Wolfgangs (1879-1895) Tod wurde von Prinzessin Wiltrud bewusst miterlebt; sie kommt darauf mehrfach in ihren Tagebüchern zu sprechen. Auch Prinzessin Mathilde (1877-1906) schrieb wie Prinzessin Wiltrud Gedichte;32 sie starb „mit knapp 29 Jahren“.
Die bayerischen Prinzen und Prinzessinnen (von links): Rupprecht, Adelgunde, Maria Ludwiga, Karl, Franz, Mathilde, Wolfgang, Hildegard, Wiltrud, Helmtrud und Gundelinde
Damit bildeten die vier jüngsten Schwestern (nach 1880 geboren), die uns in diesem Band immer wieder begegnen werden, eine Einheit, die sich erst nach dem Ersten Weltkrieg auflöste: die lebenslang unverheiratete Prinzessin Hildegard (1881-1948); Prinzessin Wiltrud (1884-1975), 1924 bis 1928 verheiratet mit Herzog Wilhelm (II) von Urach (1864-1928); die ebenfalls ledig gebliebene Prinzessin Helmtrud (1886-1977) sowie die Jüngste, Prinzessin Gundelinde (1891-1983), die in der Revolutionszeit, am 23. Februar 1919, Johann Georg, den Grafen von Preysing-Lichtenegg-Moos (1887-1924) heiratete.33
Das Kronprinzenpaar war, den Quellen zufolge, gegensätzlich: Während Marie Therese herzlich und den Kindern zugewandt war, wie unter anderem der oben zitierte Brief zeigt, konnte Kronprinz Ludwig jähzornig erscheinen und für eine strenge Erziehung plädieren, die sich vor allem in Kindheit und Jugend des ältesten Sohns, Kronprinz Rupprecht, zeigte.34
Prinzessin Wiltrud selbst schildert in ihrem Tagebuch (August 1920) das Verhältnis der Eltern, zunächst für die Zeit nach der Revolution, erinnert sich dann aber an ihre Kindheit:35
Sehr schwer war uns das Ertragen von der Charakterverschiedenheit der Eltern. – Beide nervös geworden, Papa leicht aufgebracht, vor allen Anwesenden bei Tisch sich vergessend und gegen Mama zornig oder auch gegen irgend jemand, der Papa zu widersprechen wagte. Da gab es schon in meiner Kindheit Szenen bei Tisch, die mir in ärgster Erinnerung sind. […] Dann hörte Papa seit seiner Kindheit, wo er Typhus gehabt hatte, auf dem rechten Ohre schlecht, und Mama saß rechts von Papa. Mama sprach aus Zerstreutheit nur geradeaus oder hörte nicht zu, wenn Papa sie anredete, oder sprach mit jemand bei Tisch, während Papa mit ihr etwas bereden wollte – und das gab Anlaß zur Ungeduld seitens Papa ...
Und Prinzessin Wiltrud beschreibt anschaulich und kritisch, wie sich Ludwigs Jähzorn und Unberechenbarkeit auf die Kinder auswirkte:
Man muß Papa studieren und seinen Gesichtsausdruck beobachten, dann erreicht oder vermeidet man etwas. Jedes Wort überlegen. Keine unnötige Frage, keinen unangebrachten Rat [...] Papa ist sehr reizbar; wenn er viele, fast schlaflose Nächte hatte, ist das sehr bemerkbar. Man muß mit seinem Mitleid auch sparsam sein, sonst reizt man die Ungeduld, da Mitleid ohne Hilfe nur leere Worte sind [...] Papa kann verletzend, vernichtend urplötzlich in seinem Zorne sein – ich hüte mich, ihn zu erregen, daher trifft es mich selten [...] Zieht ein Gewitter auf, dann einlenken oder die Konversation ändern und sachte überleiten.
So hatte Marie Therese immer wieder ausgleichend zu wirken; die Familie „wurde ihr zur Lebensaufgabe, die sie glücklich machte“, stellt Martha Schad in ihrem Band über Bayerns Königinnen fest:36
Aus den hunderten von erhaltenen Briefen, die das Ehepaar bis zum Verlassen der Residenz im Jahre 1918 wechselte, geht ein großes Verständnis füreinander hervor. Marie Thereses Briefe weisen keine Unterwürfigkeit auf, des Königs Briefe keine autoritären Züge, wie oft behauptet wird. Der Grundtenor der Korrespondenz ist liebevoll und familiär.
Prinzessin Wiltrud führt allerdings in ihrem Tagebuch-Eintrag die Scheu der Prinzessinnen vor der Ehe auf die Erlebnisse im Elternhaus zurück – ein Aspekt, der bei ihrer eigenen Eheschließung nach der Revolution noch eine wesentliche Rolle spielen wird:37
Nun gab es so viel, fast möchte ich sagen, brutalen Zorn bei Papa, daß uns Jüngeren in Anbetracht dieser Behandlung der Frau, wenn auch nur in Worten, sehr oft jede Schneid, eine Ehe einzugehen, fehlte ...
Das Königspaar: Marie Therese und Ludwig III. von Bayern
Ähnlich äußerte sich Prinzessin Gundelinde in ihren Aufzeichnungen über ihre Mutter:38
Sie wollte ihre Kinder behütet wissen und mochte sich auch nicht mit dem Gedanken vertraut machen, sie zu verheiraten; denn sie fürchtete, sie könnten nicht glücklich werden. […] Vielleicht waren wir Treibhauspflanzen, was Weltfremdheit betrifft, und trugen wir das ganze Leben mehr oder minder schwer an unserer Unselbständigkeit.
Und diese jüngste der Königstöchter, die als Witwe durchaus erfolgreich ihre beiden Kinder versorgte und „die Führung des Familienunternehmens“ bewältigte, überliefert „drei Grundsätze“, die Marie Therese bei der Heirat von ihrer Mutter Elisabeth mit auf den Lebensweg bekommen habe (und an die sie sich glücklicherweise nur sehr begrenzt gehalten hat):39
1. niemals Umgang mit Künstlern zu pflegen,
2. niemals Romane zu lesen,
3. ihre Kinder niemals zu küssen und zu liebkosen.[…] Dies [Punkt 3] sei nicht zuletzt verantwortlich für ihre zunehmende Entfremdung in späteren Jahren gewesen, in denen die Kinder fast nur noch von Erzieherinnen und Hofdamen umgeben waren.
Wir gehen zurück ins Jahr 1884. Am 10. November wird das zehnte von dreizehn Kindern des Prinzen Ludwig von Bayern und seiner Frau, der Prinzessin Marie Therese geboren: Wiltrud Marie Alix Prinzessin von Bayern. Ihr ältester Bruder, Kronprinz Rupprecht, war da bereits 15 Jahre alt; ihr folgten noch drei Schwestern: Helmtrud (geb. 1886; Spitzname ‚Helmi‘), Dietlinde (1888-1889) und Gundelinde (geb. 1891; Spitzname ‚Gunzi‘). Wiltrud und Helmtrud gehen unter dem Titel „Die beiden Truden“ in die Kunstgeschichte ein, weil Franz von Lenbach sie gemalt hat. Lenbach hat hier durchaus zwei unterschiedliche Charaktere getroffen: Wiltrud als das ernste, nachdenkliche, Helmtrud als das fröhliche Kind, dem wir mit diesen Eigenschaften gleich noch begegnen werden.
Zu den Namen der „beiden Truden“ gibt es übrigens eine hübsche Geschichte.40 Eigentlich sollte 1884 das nächste Kind des Kronprinzenpaars (ein Sohn wurde erwartet) nach dem deutschen Kaiser Wilhelm I. von Preußen benannt werden, der den Taufpaten machen wollte, wenn es ein Junge würde. Da aber in der Folge nur noch Mädchen zur Welt kamen, wurde der Name Wil-Helm einfach aufgeteilt in Wil-trud und Helm-trud.
Wiltrud selbst überliefert in ihren autobiografischen Aufzeichnungen eine andere Version der Namensgebung. Über ihre eigene Namensgebung schreibt sie da,41 der Name Wiltrud sei:
Von Papa allein gefunden
Aus dem Buch „Bavaria Sancta“42
Namen einer Kaisertochter,
Witwe eines Luitpoldingers. –
Und Mama die Ahnungslose
Mußte sich daran gewöhnen.
Weinte dann bei „Gundelinde“,
Deren Namen ihr mißfallen,
hoffte immer auf den „Konrad“
oder Pepi (die Josefa).
Helmtrud wurde so geheißen,
Weil am Wiegenfest des Kaisers
Sie das Licht der Welt erblickte
Und wir „Truden“ seinen Namen
„Wil-„ und „Helm-„ vereint ergaben.
Helmtrud ist am 22. März 1886 geboren; Kaiser Wilhelm I. am 22. März 1797. Anschließend schildert Prinzessin Wiltrud ihre eigene Geburt:
Schwestern saßen bang im Vorraum
Adelgunde und die zweite
Sahen, wie man Staffeleien
In das Elternzimmer schaffte,
Um den Vorhang vorzuziehen,
Sahen, daß sich Manches regte
Vorbereitung eifrig schaffte,
aber doch mit dreizehn Jahren
Noch nicht wissend, was da werde.43
Kam um viereinhalb Uhr schreiend
Dann ein dunkelhaarig Mägdlein
Auf die Welt, gesund und munter
Und es fühlte sich die Mutter
Wohl und kräftig wie noch niemals.
Das „dunkelhaarig Mägdlein“ erwies sich bei der Erziehung durchaus als widerspenstig und eigenwillig, was alle Jahre am 6. Dezember, dem Nikolaustag, zur Sprache kam. Mehrere Jahre hindurch verfasste Georg Ferchl († 1923), Erzieher des Kronprinzen Rupprecht, die Gedichte über die Kinder des Thronfolgerpaars zum Nikolaus. Zu diesem Anlass werden traditionell die Unarten der Kleinen gerügt (nicht selten in Gedichtform); Ferchl veröffentlichte auch Tagebücher über die Reisen der Kronprinzenfamilie.
Franz Seraph von Lenbach (1836-1904): Porträt der „beiden Truden“; links Prinzessin Wiltrud, rechts Prinzessin Helmtrud
Im Jahr 1888 hieß es über die damals vierjährige Wiltrude:44
Die Wiltrud ist oft gar nicht brav,
Ist eine wilde Trud’,
Weil sie vor fremden Damen oft
Zung’ streckt und ausspein thut;
Pfui tausend, wart, da komm ich dir!
Das will ich gar nicht leiden,
Da muß man sich ja schämen nur
Mit Dir! Das mußt Du meiden! –
Dann will sie auch nicht lernen recht,
Thut gleich den Muth verlieren,
Und sagt: Das ist mir viel zu schwer,
Und will’s gar nicht probieren.
Und manches Mal thut sie sogar
Selbst Purzelbäume machen,
Ich will von jetzt an nicht mehr hörn
So ungezogene Sachen!
Auch will sie immer kleiner sein
Als sie schon ist – O Erden!
Ja kleiner als Du bist, Du Knirps,
Kannst ja gar nimmer werden.
Pfui, schäme Dich, nein, größer stets
Mußt Du mir werden wollen,
Vernünftiger und artiger –
Das mußt Du wünschen sollen.
Denn wenn Du einmal größer bist,
bekommst auch mehr Geschenke,
Für gar so Kleine, wie Du bist,
Ist das genug, ich denke!
Und 1891 tadelt der Nikolaus unter anderem:
Jetzt kommt aber Eine!
Ha, da denk ich, die ist gar
Voller Eigensinn innen und außen,
Und ich glaube, sie war’s schon das letzte Jahr!
Wie? Und heftig ist sie und zornig!
Pfui schäm Dich, Du großes Kind.
Ja, sie sagt gleich, ich hau Dich todt, –
Das darf nicht sein, das ist ja eine Sünd.
Das bayerische Thronfolgerpaar lebte vorwiegend im Schloss Leutstetten bei Starnberg, das Prinz Ludwig 1875 erworben hatte. Es war für die Kinder ein Paradies, das die Autorin Christiane Böhm in ihrem höchst anschaulichen Buch über bayerische Königskinder sehr detailreich schildert:45
Eigentlich lebten diese Prinzen und Prinzessinnen mehr wie Bauernkinder als wie Königskinder. Das Schloss wurde bald auch zu klein für die vielen Kinder, so dass ihr Vater die Bauernhäuschen rund um das Schloss kaufte. Dort wohnten dann die Kinder mit ihrer jeweiligen Kinderfrau. So kam es, dass die kleinen Prinzen und Prinzessinnen zum Frühstück immer ein paar Minuten bis zum Schloss laufen mussten. Auf dem Gut gab es Kühe, Hasen, einen Truthahn, ein Murmeltier, Meerschweinchen, Schweine, Hühner, Pferde und den Esel Bazelli.
Leutstetten hatte außer den menschlichen und tierischen Bewohnern auch noch die für Abenteuer nötige Gartengestaltung: Es gab einen Weiher mit einer Insel, eine Blockhütte, ein von der Königin selbst angelegtes und gepflegtes großes Alpinum46 und natürlich zahlreiche Spielmöglichkeiten im Park sowie Stallungen für die Pferde, die Prinz Ludwig mit Begeisterung züchtete. Ludwig war ein für die Moderne sehr aufgeschlossener Mensch – interessiert an Technik und vor allem an moderner landwirtschaftlicher Produktion; sein Interesse an allen Fortschritten der Milchwirtschaft trug ihm den Spitznamen ‚Millibauer‘ ein, während die Königin als ‚Topfenreserl‘, also – für Nordlichter – als ‚Quark-Therese‘, im Volksmund umging.
Dass es in diesem Idyll auch kleine Tragödien gab, schildert Wiltruds ältere Schwester Hildegard (‚Ilex‘) am 8. August 1897 in einem Brief aus Leutstetten, der das Ende eines übergriffigen Geißbocks beschreibt:47
Gestern hat „Bocki“ Frau Kipfelberger gestoßen und ihr eine kleine Wunde an der Hand beigebracht. Wir Mäderl und einige Anwesende flohen. Alle schrien entsetzlich. Das ganze Dorf mag Hansi nicht mehr. Nun was blieb übrig? Papa und Mathilde beschlossen endlich ihn erschießen zu lassen. Helene ging schweren Herzens mit Guggermoos auf den Dürrkopf. Eben spielte ich Croquet da gingen 2 Schüsse los. Armes Tier, es geschieht dir recht! – Helene berichtete das der Held geschlafen habe, dann sei er aufgewacht, ihr nachgehupft und der 1. Schuß ging fehl, der 2. aber machte seinen Flegeleien ein gewaltsames Ende.
Prinzessin Irmingard von Bayern (1923-2010), eine Tochter von Wiltruds ältestem Bruder, Kronprinz Rupprecht, lebte mit dessen Familie nach 1933 mehrere Jahre in Leutstetten und beschreibt in ihren Erinnerungen das Blockhaus im Park von Leutstetten:48
Die Blockhütte im Garten von Schloss Leutstetten (Sommer 1899; von links): Prinz Wolfgang; Professor Hans von Bartels; (in der Türe) die Kinderfrau Amalie Ott („Otti“); Prinzessin Hildegard, vor ihr Prinzessin Gundelinde; Prinzessin Helmtrud; (im Fenster links) Frau Professor von Bartels; (im Fenster rechts) Prinzessin Marie Therese (die spätere Königin); ganz rechts mit Rechen ein Besuch der Familie
Im Park hatten wir ein kleines Holzhäuschen, das noch von den Tanten stammte und mit hübschem Porzellangeschirr und Besteck ausstaffiert war. Wir spielten gerne dort.
Es gab dort Turngeräte, eine Wippschaukel und ein Kaninchengitter.
Irmingard charakterisiert auch die nicht unbedingt königliche Umgebung des Schlosses:
Dem Schloss gegenüber lag der kleine Bauernhof des Zeiss-Bauern, des Dorfkommunisten. Seiner Schwester Hilde waren die Beine zusammengewachsen, so dass sie nicht gehen konnte. Großmama Marie Therese ließ sie in München operieren, und so konnte sie lernen zu gehen. Vielleicht war uns Zeiss deswegen wohlgesonnen.
Vor seinem Haus war ein großer Misthaufen, ein kleines Häuschen stand darauf, seine Toilette. Dort saß er häufig bei offener Tür, um sein Geschäft zu erledigen, und rauchte seine Pfeife dabei. Wenn wir vorbeikamen, führte er von seinem Thron aus lange Gespräche mit uns. Wir wurden dann auch ins Haus gebeten und bekamen frischen Apfelmost.49
Die Kinderfrau Otti [Amalia Ott] zeichnete glücklicherweise ihre Erlebnisse mit Wiltrud und Helmtrud getreulich auf, sodass wir über die Kindheit der beiden gut informiert sind. Christiane Böhm hat diese Notizen für ihr sehr lesenswertes Buch ausgewertet. Wiltrud war schon als Kind sehr eigenwillig und selbstbewusst und sehr dagegen, dass sie und die anderen Kinder des sparsamen Prinzen Ludwig immer die Kleider ihrer Geschwister auftragen mussten. Außerdem hatte Wiltrud schon mit sieben Jahren ein gravierendes feministisches Problem, das Christiane Böhm im Anschluss an das Tagebuch der Kinderfrau Otti schildert:50
Schluss von Prinzessin Helmtruds undatiertem Brief, der mit der Anrede „Encharko!“ beginnt und mit der Unterschrift „Nitsas-Ini“, dem Vermerk „Der Brief von der Bertha ist angekommen“ sowie mit zwei Zeichnungen endet.
Um zu spielen und sich ungehindert bewegen zu können, wollte sie die Turnhose ihrer eineinhalb Jahre jüngeren Schwester Helmi anziehen. Es wurde ihr aber verboten, weil sie schon zu groß war, um in Hosen herumzulaufen. Da wurde Trudi sehr wütend. Sie schmiss sich auf den Boden und weinte und schrie: ‚Ich werde auch als Mädchen ungezogene Bewegungen machen. Ich will kein Mädchen sein und wenn ich keine Hose bekomme, dann zerschneide ich alle meine Kleider, dann müsst ihr mir eine Hose aus der alten Decke nähen‘.
Die Atmosphäre der Leutstettener Kindheit spiegelt sich auch im Briefwechsel der kindlichen Prinzessinnen. Ein Brief der Erzieherin und lebenslangen Vertrauten der Prinzessinnen, Bertha von Wulffen, gibt wohl den Ton des Umgangs anschaulich wieder; die Lebensdaten der „Bertha Freiin von Wulffen, geb. 14. VII. 1865 [in] Passau, gest. 2. April 1945 [in Schloss] Wildenwart“ hat Prinzessin Wiltrud später, bei der Ordnung ihres Nachlasses, auf dem eben zitierten Zettel notiert, den sie dem Briefwechsel beilegte:51
[Brief ohne Datum, vor 1894]
Mein liebes Truderl, ich schreibe Ihnen gleich so, damit man weiß, wem diese Karte gilt und danke Ihnen vielmals für die Ihrige. Was für schöne Punkte Sie nun sehen, während wir unter düsteren Wolken im Wald sitzen oder, wie gestern und heute, uns anregnen lassen. Helmi’s Katarrh ist trotzdem fast vorbei. Sie singt schon wieder und immer wieder den langweiligen „guten Reichen“, den sie auch gar nicht leiden kann und dennoch nicht aus dem Kopfe bringt. Dann ärgert sie sich, lacht und singt wieder: „An einem Fluß, der rauschend schoß“ usw.52 Jetzt schläft sie aber unter ihrem neugefüllten Plümeau [Federbett], die Decke bis über die Ohren gezogen.
Bertha von Wulffen gab den Mädchen mit einer reichen Variationenfülle den Anredeton vor: „Meine liebe kleine Prinzessin!“ (15.9.1894), „Dearest Childy!“ (29. Oktober 1903). „Liebstes Childily!“ (ohne Datum), „Good-bye mein ownest baby or Wurmi!“ (28. Juli 1905), „Eure Königliche Hoheit (My own baby!)“ (1. Mai 1908) oder französisch „Ma très chère petite princesse!“ (17. Mai 1908).
Am 12. Juli 1895 schreibt die neunjährige Prinzessin Helmtrud auf einem Briefbogen mit einem pfeiferauchenden Zwerg auf einer Schnecke: „Bei der Docktorin Berger sind zwei kleine Geißen und eine hat vier Hörner“, und sie beendet das Schreiben mit dem Hinweis: „Liebe Trudel ich weiß nichts mehr zum schreiben weil Hildi [Prinzessin Hildegard] alles schreibt, darum mach ich Schluß.“53
Helmtruds Briefe zeichnen sich durch originelle Formulierungen aus, etwa wenn sie ihre ältere Schwester als „Liebe Trulagagawitsch!“ oder als „Liebe bessere Hälfte“ anredet und sich selber als „Deine schlechtere Hälfte“ unterschreibt, wobei sie einmal den Hinweis nicht vergisst: „Bitte gebe den Brief niemand zu lesen, weil er so geschmiert ist.“54
Dabei fand die May-Begeisterung der Schwestern Wiltrud und Helmtrud ihren Niederschlag nicht nur in Verkleidungen und in Indianerspielen, sondern auch (mit kleineren Fehlern) in ihrer Korrespondenz:
Lieber Entschar ko!55
Dein roter Bruder Nitsasini56 dankt Dir für den Brief. Ich bin in Old Surhand, wo Winntou zu den vier Farmen reitet und wo Old Wabble und Schahko Matto gefangen sind. Dick ist fort. Ich danke Mama für die Karte. [Zwischen den Zeilen:] Bitte ja ausrichten.
Bitte zeige den Brief nicht hehr. Heute ist es sehr kalt. Es war nichts bsonders Los und ich mach nicht gern Schreiben. Eben fliegen lauter dolen vorüber.
Adieu lieber Entscharka es küsst [durchgestrichen:] Dich
Dein
Nitsasini
L[eutstetten] d. 11.8.[18]97
Ich küsse Mama die Hand und grüße die Weissen Schwestern.
Zum Zeitpunkt dieses Briefs war Helmtrud elf Jahre alt, was sie nicht hinderte, sich zum einen im Old Surehand auszukennen, aber auch nicht daran, fremde Sprachen zu lernen, wie ein undatierter Brief aus der gleichen Zeit belegt:57
Encharko!
Naki homosch tkli beite. Asmeister, Giftvoll nagul.
Akaya jato, akinch [?] Mejeh bit naki Nannbo [Stannbo?] auf [darüber mit Bleistift Fragezeichen] Tkli pia.
[…]
Gestern waren wir in der Blockhütte. Heute regnet es. Sag der Bertha daß ich ihr vielmals danke für die guten versteckten Bomberln [Bonbons].
Hatatila, Itini Inor schi ischkusch. Schinai [gestrichen:] iwe pit shi ini pa ilschi nina jato.
Hababit jato Pa. […] Ich bin sehr faul. Viele Grüsse an Ilex an Bertha und an Gogo.
Diese Wortauswahl belegt eindeutig, dass die Jugendzeitschrift Der Gute Kamerad im Kreis der Königstöchter gelesen wurde; auch Der schwarze Mustang erschien, wie oben bereits erwähnt, in dieser Zeitschrift, die eigentlich für Jungen bestimmt war. Die Wörter des Briefs stammen unter anderem aus den Reiseerzählungen: Winnetou II, Old Surehand I-III, Satan und Ischariot I, Weihnacht! sowie aus den Kamerad-Erzählungen Der Sohn des Bärenjägers, Der Schatz im Silbersee und Der Ölprinz – sie zeigen somit eine umfassende Karl-May-Kenntnis der Prinzessinnen!58 Wörter wie Asmeister, Giftvoll oder Hatatila [richtig: Hatatitla] bezeichnen Pferdenamen, die ersten beiden wohl aus den Leutstettener Stallungen, während Hatatitla bekanntlich das Pferd Old Shatterhands im Wilden Westen ist, der Bruder von Winnetous Pferd Iltschi.59 1897 war die Rennbahn in München-Riem eröffnet worden, auf der in den folgenden Jahrzehnten die großen Münchner Pferderennen stattfanden. Ein anschauliches Bild dieser Ereignisse liefern die Erinnerungen Prinz Leopolds, des Bruders von Kronprinz Ludwig und Prinzessin Therese:60
Unsre Münchner Rennen hatte sich aus recht bescheidenen Anfängen immer mehr entwickelt. [...] schließlich [wurde] der noch in Benützung stehende Rennplatz bei Riem angelegt, der in jeder Beziehung allen an ihn zu stellenden Anforderungen genügte, sowohl was die Rennbahnen, die Flachbahn und die Hindernisbahnen anbelangt, als auch in Beziehung auf Ställe, Trainierbahnen und Tribünen. […] Besonderes Interesse bot das bayerische Zuchtrennen, an welchem die Teilnahme mit der Zunahme der bayerischen Vollblutzucht wuchs, besonders seit Prinz Ludwig auf seinem Mustergut in Leutstetten ein Vollblutgestüt hielt. […]
Er schildert auch die Beteiligung der Familie des Kronprinzen Ludwig und seiner Familie, einschließlich der Töchter des Kronprinzenpaars:61
Der Prinzregent, wenn er in München weilte, fehlte selten bei diesen Veranstaltungen und beobachtete den Verlauf der Rennen meist von der Richtertribüne aus. Von der Loge der Königlichen Familie, die mit allem Komfort eingerichtet war, überblickte man, wie auch von den anderen Tribünen, dies farbenprächtige Bild, zugleich bot sich eine ausgedehnte Rundsicht über die östlich München liegende Ebene, welche im Süden unsere Alpenkette abschloß.
Allerdings gab es für die Prinzessinnen nicht nur Pferderennen und Karl-May-Lektüre, sondern auch regulären Unterricht durch Hauslehrer und durch die Hofdamen.
In Prinzessin Wiltruds Nachlass hat sich ein kleiner Teil ihrer Unterrichtsmaterialien und Zeugnisse erhalten, die einen guten Einblick in ihre Schulbildung ermöglichen.
Aus den Jahren 1894/95, also von der Zehnjährigen, stammen beispielsweise Hefte mit dem Aufdruck „Tagebuch“ (es ist noch nicht die spätere Tagebücher-Folge) und dem handschriftlichen Namen „Wiltrud“. Die Prinzessin notierte auf der Innenseite des Umschlags:
Die „beiden Truden“ und die Kinderfrau Amalie Ott
Am 7. Nofember war der Erste Schnee
Am 6. bekamen wir eine Schultasche
Räzel
Man läßt ihn sprechen
Man läßt ihn stechen
Er ist ein Vogel und ein Gebrechen.
Das Rätsel Wiltruds um den „Star“ wird ergänzt durch Eintragungen von Erwachsenenhand zu „Betragen“ und „Fleiß“ bzw. zu „Betragen und Gehorsam“, nach Tagen für die Monate März und April 1894, fast durchweg „Betragen II“ und „Fleiß II“; ebenso für Januar und Februar 1895; außer „Betragen und Gehorsam III-IV“ am 7. April findet sich so gut wie durchweg „I-II“.
Weitere undatierte Lernstoffe in späterer Zeit zeigen ein Zettel mit Notizen über Napoleon, die „Länder Europas“ sowie „1520-22 Die Weltumseglung durch Magelhäes“, drei blaue Schulhefte „Wiltrud/ Geometrie“ sowie Hefte zur „Naturlehre/ 6. Kl.“ [= Physik, mit Zeichnungen „Der Hebel“, „Artesischer Brunnen“, „Der freie Fall“ u.a.] und einem Heft „Geometrische Konstruktionen“. Große Bögen erfassen geografische Begriffe: außereuropäische Kontinente, aber auch die Geografie Bayerns.
Darüber hinaus finden sich hier große Blätter mit französischen Bezeichnungen der Schiffsteile, eingetragen auf selbstgefertigten Schiffszeichnungen, aber auch Begriffe für die Teile eines Schiffs auf Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch.62
Die sechzehnjährige Prinzessin führt vom 17. XII. 1900 bis 31. Mai [1901] ein Heft mit verschiedenen, vor allem sprachlichen Übungen und mit Stundenplänen:
15. Mai Arbeiten English dictation/ reading
16. Mai English composition/ Klavier/ Litterature fr[ancaise].
17. Mai compos[ition]. francaise/ Religion/ English grammar/ English reading
18. Mai grammaire/ English poem/ reading/ [wohl Hand-]Arbeiten
Ähnlich in den folgenden Wochen; dazu auch „Rechtschrift/ Schönschrift/ Rechnen/ Geographie/ Stricken“. Am 15. November erhält die Prinzessin eine 1 im Aufsatz; jede Woche ist Klavier-Unterricht.63
Aus späteren Jahren sind im Stuttgarter Nachlass auch einige Vorlesungsmitschriften zu religiösen und kunstgeschichtlichen Themen erhalten;64 unter ihnen am interessantesten und umfangreichsten sind die Notizen zu den theologischen und psychologischen Vorträgen von Dr. Hermann Dimmler, der sich auch mit Karl May befasst hat (siehe S. 137).65
Das Tagebuch-Schreiben behält die Prinzessin übrigens ihr Leben lang bei; schon im Tagebuch Nr. 25, 3. Oktober 1903, notiert sie in Leutstetten: „Es ist doch gut, Tagebuch zu schreiben, so weiß ich doch später besser, wie ich meine Jahre verbracht habe.“
Helmtruds nächster überlieferter Brief entsteht vier Jahre später:
Leutstetten, den 14. Juni 1901
Liebe Trudel und Bertha!
Ich danke Ihnen und Dir vielmals für die netten Briefe. Die Steine und Pflanzen habe ich gefunden die Raupen und Schmetterlinge aber nicht. Das Jopperl [die Jacke] ist noch nicht fertig.
[…] Am Sonntag gehen wir nach München zum [Pferde-]Rennen, da werde ich die Wolle [für das zu strickende Jopperl] holen. Bitte schreibe mir nicht mehr indianisch, weil ich das Buch hierlasse. Im Rennbücherl steht der Tirof bei seinem neuhen Herrn. Warscheinlich laufen Achwas, Herzaß, Harrach, Aumeister, Raba, Heribert. Das Gunderl liest grad Dein Testament [?] sie kanns nicht lesen und sagt den größten Unsinn. Die Cacktus und Murkeln [kleine Wesen; evt. Häschen] kommen nach München auf der Ilex [Prinzessin Hildegard] ihren Gang, die Frau Schreiner, Scheidel und Lakeien versorgen sie. Die Hoptomay wird auch bei ihrem neuen Herrn Rennen. Ich schreibe Dir eine Karte, wenn Tirov siegt.
Am Donnerstag gehen wir nach Baden. 15. Juni.
Ich habe noch nichts Photografiert und nehme gar keinen Aparat mit. Bitte schicken sie [Bertha von Wulffen] mir die Photographien. Heute bin ich so früh aufgestanden daß wo die Emma gekommen ist ich fertig war.
Viele Grüße an alle und an die böse Gogo66, viele Grüße von Fr[au] Ott [Zeichnung mit Tieren].
Es grüßt Sie und Dich
Helmi
Zu diesem Zeitpunkt hatten die Schwestern bereits Kontakt mit dem bewunderten Autor Karl May aufgenommen, der seinerseits durch das Interesse der Prinzessinnen höchst geehrt war.
Aber damit beginnt ein neues Kapitel. In einem 1925 veröffentlichten Gedicht erinnerte sich Prinzessin Wiltrud an die kindlichen Spiele:
Kindheit
Von Wiltrud, Prinzessin von Bayern
Wie war ich reich! Ich muß darüber schmunzeln:
Im Winde ließ ich Gräserrispen zittern,
Brach mir am Hain die grünlichen Rapunzeln
Und Wegrichsblüten zu gewohnten „Rittern“.
Und dachte nach, was werd ich heute kochen,
Man sollte mich geschickt und findig preisen!
Ein Kuchen ward aus feuchtem Lehm gestochen,
Margritten nahm ich für die Eierspeisen.
Aus Stengeln flocht’ ich mir die Puppensessel
Und sammelte am Hang, mit vieler Mühe,
Im Waldgestrüpp, bei Sauerdorn und Nessel,
Die vielbegehrten braunen „Tannenkühe“ [Tannenzapfen].
Und Honig saugt’ ich gern aus lila Flieder.
Ich brach den Löwenzahn von nassen Fluren,
Die Röhrlein ließ ich in den Brunnen nieder
Und wartete der werdenden Figuren!
Die Samen ließ ich in die Lüfte fliegen;
Es freute mich ihr hoheitsvolles Wandern!
Der Raupensuche mußte ich obliegen,
Mit Schnecken spielt’ ich und mit Salamandern.
Und sorglos hascht’ ich nach den Wiesenfaltern.
Die Zukunft war in Sonnenschein verborgen.
Es gab für mich kein Sorgen und kein Altern,
Ich lebte „heut“ und wußte nichts von „morgen“.67
Ein „Lebendes Bild“ der Prinzessinnen: In der Mitte, als „Zigeunerin“ gekleidet, Prinzessin Mathilde; hinter dem Elefanten verbirgt sich Prinzessin Hildegard, hinter dem Bären Prinzessin Wiltrud und hinter dem Affen Prinzessin Helmtrud; der Rabe vor Wiltrud ist die kleine Gundelinde.
(alphabetisch geordnet)
Der Ort mit seinem Renaissance-Schloss (1608-1610) war im Spätmittelalter im Besitz des Johanniterordens und fiel nach vielfachen Besitzerwechseln an Ferdinand Karl von Österreich-Este (1781-1850). Nach dessen Tod erbte seine einzige, 1849 geborene Tochter Marie Therese, Gemahlin des späteren Königs Ludwig III. von Bayern, den Besitz.
Eiwanowitz liegt etwa in der Mitte zwischen Brünn und Kremsier, in der Nähe der Stadt Wischau (Vyškov), die von einer deutschen Sprachinsel umgeben war. Nach der tschechoslowakischen Staatsgründung wurden das Schloss und der dazugehörige Großgrundbesitz enteignet.68
Das Schloss steht in der Nähe von Starnberg auf einem Hügel; ein Mitglied einer bayerischen Patrizierfamilie ließ den Bau um das Jahr 1552 errichten. Nach mehrfachem Besitzerwechsel kaufte Prinz Ludwig 1875 den Bau, zusammen „mit 460 Hektar Grund und einem Park, Anteilen des Leutstettener Mooses mit dem angrenzenden Torfstich Wildmoos und dem landwirtschaftlichen Betrieb Schwaige östlich von Leutstetten“.69
Prinz Ludwig, der spätere König Ludwig III., Vater Prinzessin Wiltruds, baute den Besitz zu einem landwirtschaftlichen Mustergut aus, auf dem Milchwirtschaft und Pferdezucht betrieben wurde. Dort wuchsen die Kinder des Königspaars auf.
Nach dem Tod Ludwigs III. erbte sein ältester Sohn, Kronprinz Rupprecht, Leutstetten und erweiterte es; zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde das Schloss von den Nationalsozialisten beschlagnahmt; das Haus Wittelsbach erhielt den Besitz erst nach dem Krieg zurück. 1945 brachte Prinz Ludwig die Pferde des Gestüts von Sárvár in Ungarn in einem abenteuerlichen Treck nach Leutstetten, wo er mit seiner Frau Irmingard eine neue Zucht der Leutstettener Pferde begründete.70
Herzog Wilhelm (I), Graf von Württemberg (1810-1869), ab 1857 Herzog von Urach, Graf von Württemberg, beschloss nach der Lektüre des Romans Lichtenstein. Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte (1826), auf dem Lichtenstein-Felsen über dem Echaztal in der Nähe des Orts Honau ein romantisch-pseudo-mittelalterliches Schloss zu errichten. Dort stand auf der Stelle einer mittelalterlichen Burg „seit dem Abbruch einer älteren burgartigen Anlage ein 1802 erbautes Forsthaus“, das ein königlicher Revierförster bewohnte.71 Wilhelm kaufte die bestehenden Baulichkeiten im Jahr 1838 und ließ sie im Lauf des Jahrs 1839 abtragen. 1840/41 errichtete der Graf nach den Plänen des aus Stuttgart stammenden „Malers, Bildhauers, Architekts, Radierers und Kunstschriftstellers Carl Alexander von Heideloff“ (1789-1865)72 das neue Schlösschen im altdeutschen Stil eines fiktiven Mittelalters, dessen Hauptbau mit dem markanten Turm von einer ganzen Reihe von Nebengebäuden umgeben ist. Dabei liegen die zentralen Bauten auf einem allein stehenden Felsen, der nur über eine Zugbrücke erreichbar ist. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurden an die Kernbauten weitere Gebäude angefügt, die als Wohnungen für die herzogliche Familie dienten.73 Bis heute ist das Schloss ein Besuchermagnet, nicht zuletzt wegen der großartigen Aussicht.
Schloss Leutstetten
1848 erwarb Prinzessin Auguste Ferdinande von Habsburg-Toskana (1825-1864), die Frau des Prinzen Luitpold, des späteren bayerischen Prinzregenten (1821-1912), ein Landgut am Bodensee-Ufer. Das ursprüngliche, sehr schlichte Gebäude wurde in den folgenden Jahren ab 1851 umgebaut und erweitert. Durch diese Baumaßnahmen „entstand eine Dreiflügelanlage, die sich nach Süden zum See hin öffnete“.74 Der Band Weite Blicke. Landhäuser und Gärten am bayerischen Bodenseeufer beschreibt die Gestaltung des Baus: „Der zweigeschossige Bau war im Parterre durch große Fenstertüren zum Garten und See zu öffnen. Im Obergeschoss befanden sich die Schlaf- und Nebenräume.“ Aus Prinzessin Wiltruds Tagebüchern und Briefen erfahren wir, dass die Zimmer teilweise folkloristisch eingerichtet waren: „[Ich] wohne im ehemaligen Kinderzimmer und daneben in dem kleinen, das russisch eingerichtet ist.“75
Schloss Lichtenstein
Villa Amsee in Lindau
Ab 1914 unterhielt Prinzessin Therese in der Villa und ihren Nebengebäuden ein kleines Lazarett für Kriegsverwundete, dessen Bewohner Prinzessin Wiltrud in ihren Tagebüchern mehrfach beschreibt: „Alle [sechs] Leute sind katholisch, verheiratet keiner, [drei] verlobt“.76 Am Ufer des Sees lag übrigens ein Einbaum, den Prinzessin Therese von ihrer Reise an den Amazonas mit nach Hause gebracht hatte.77 Nach verschiedenen Besitzer- und Nutzungswechseln wurde die Villa, die sich in sehr schlechtem Zustand befand, obwohl sie 1981 unter Denkmalschutz gestellt worden war, ein Jahr später abgerissen.78
Der rote Backsteinbau mit Elementen der englischen Gotik wurde 1843 bis 1848 von Friedrich von Gärtner und Johann Moninger als Kronprinzenpalais für den späteren König Maximilian II. errichtet; nach dem Tod Gärtners wurde er durch dessen Mitarbeiter Carl Klumpp fertiggestellt.
Nachdem Maximilian 1848 seinen Vater Ludwig I. auf dem Thron abgelöst hatte, diente das Palais von 1848 bis 1868 als Alterssitz Ludwigs I., der als Italienfan von dem Bau mit seiner neugotischen Bauweise nicht begeistert war. Auch Prinzessin Wiltrud liebte den Bau – im Vergleich mit Leutstetten – nicht, wie sich in einem Vers zeigt, den sie am Ende ihres Tagebuchs Nr. 14 am 27. November 1902 notiert: „Adieu Leutstetten, um ½ 1 Uhr fahren wir fort/ ‚So leb denn wohl du stilles Haus/ Wir ziehen betrübt und traurig aus/ Wir ziehn betrübt und traurig fort/ An einen andern faden Ort (München!!!)‘.“ Von 1887 bis 1918 war das Palais Wohnung von Ludwigs Enkel Prinz Ludwig und dessen großer Familie; er war seit 1913 als Ludwig III. König von Bayern. Ähnlich wie 1902 äußert sich Wiltrud im Tagebuch Nr. 93 am 6. September 1914, als ihr Vater für eine Woche in die Pfalz fährt, um Kronprinz Rupprecht und die Truppen zu besuchen:
[Und] Ich? Erst kamen mir die Tränen, weil ich heimfahren mußte in das immer gleiche Palais [Wittelsbach in München] mit den düsteren Gängen und Winkeln und nicht mitdurfte.
Anfang August 1914 sprach der Monarch bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vom Balkon des Gebäudes zur Bevölkerung; während der Revolution tagte 1919 im Palais der Aktionsausschuss der Räterepublik, die hier am 5. April 1919 ausgerufen wurde.
1933 wurde das Palais Wittelsbach von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und Sitz der Gestapo sowie ab 1934/35 Gestapo-Gefängnis, in dem unter anderen auch Sophie und Hans Scholl, die Mitglieder der ‚Weißen Rose‘, 1943 inhaftiert waren. 1944 zerstörte ein Bombenangriff den Bau, dessen Reste 1964 endgültig abgetragen wurden. Heute steht an der Ecke Brienner-/Türkenstraße das Verwaltungsgebäude der Bayerischen Landesbank.
1851 pachtete der Wittelsbacher Prinz Luitpold die Gemeindejagd in Oberstdorf und wohnte, wenn er zur Jagd im Ort war, im 1856 erbauten ‚Königlichen Jagdhaus‘. In den folgenden Jahren erfreute er die Oberstdorfer immer wieder durch Spenden für bedürftige Kinder und durch Hilfsmaßnahmen nach dem Oberstdorfer Stadtbrand in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1865. Außerdem baute er im Laufe der folgenden Jahre seinen Besitz in Oberstdorf durch Ankauf einer ganzen Reihe von Berggebieten („Alpen“) systematisch aus, insbesondere in Einödsbach.79
Nach dem Tode des Prinzregenten blieb das Jagdhaus im Besitz der Familie. Seine Enkelin Wiltrud, Königliche Prinzessin von Bayern, verheiratete Herzogin von Urach, lebte seit 1940 zusammen mit ihrer Zofe „Fräulein Monika“ Bräg im Haus ihres Großvaters.80 Prinzessin Wiltrud erlebte 1945 das Kriegsende in Oberstdorf, worüber sie einen skizzenhaften Bericht hinterlassen hat (vgl. Kapitel 6, S. 441ff.).81 In den Jahren nach 1945 pendelte sie zwischen Oberstdorf, dem Lichtenstein und den Wohnsitzen ihrer Schwestern (den Schlössern Wildenwart, Moos und Sigmaringen).
Das Königliche Jagdhaus, in der Oberstdorfer Ludwigstraße, Wohnhaus der Herzogin von Urach
In Pfronten besaßen die Wittelsbacher ein Jagdschloss an der Vils, das heute in private Ferienwohnungen aufgeteilt ist.82
Prinzregent Luitpold bei der Jagd
Die ungarische Stadt mit dem Wasserschloss Nádasdy liegt im Westen Ungarns zwischen dem Neusiedler See und dem Plattensee. Sie war ein Zentrum der ungarischen Reformation und des Humanismus; ihre deutschen Namen sind Kotenburg oder Rotenturm an der Raab. Der Besitz kam über das Erbe der Kronprinzessin Marie Therese aus dem Hause Este-Modena 1875 an die Wittelsbacher; der spätere König Ludwig III., der Mann Marie Thereses, nutzte die Chance, in Sárvár ähnlich wie in Leutstetten ein Mustergut einzurichten, in dem Rinderzucht bzw. Milchwirtschaft (Käseproduktion), Pferdezucht und Forstwirtschaft nach modernsten Prinzipien betrieben wurden. Ludwig III. starb in Sárvár; sein Sohn Franz übernahm als Erbe das Gut bis zum Jahr 1945. Während der Zeit des Nationalsozialismus war Kronprinz Rupprecht mehrfach in Sárvár, um sich nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen zu entziehen (ab 1939 war die Familie dann in Italien).83
Am Ende des Krieges flüchtete Prinz Franz mit seiner Familie nach Bayern, während sich sein Sohn Ludwig „mit ungarischem Gutspersonal auf Pferdefuhrwerken und mit Zuchtvieh in einem dreiwöchigen Treck ebenfalls nach Leutstetten“84 durchschlug. Vor dem Aufbruch waren noch „einige Wertgegenstände, Silber und Gemälde eingemauert worden“, die 1952 aufgedeckt und dann nach dem EU-Beitritt Ungarns 2004 an das Haus Wittelsbach restituiert wurden. 2021 erfolgte die Versteigerung eines Teils dieser Schätze durch das Münchner Auktionshaus Neumeister.85
Fürst Karl von Urach 1886 als peruanischer Cashibo-Indianer
Das Haus Urach besaß im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts in der Stuttgarter Neckarstraße mehrere Häuser bzw. Palais’. Von besonderer Bedeutung für die beiden Brüder Wilhelm (II) und Karl von Urach war dabei das eigentliche „Palais Urach“ in der Neckarstraße 68. Es war 1864-65 von dem Stuttgarter Architekten Prof. Heinrich Wagner (1834-1897) für den Grafen August Wilhelm von Taubenheim (1805-1894) gebaut worden. 1869 kaufte Herzogin Florestine von Urach (1833-1897), geb. Prinzessin von Monaco, das Palais. Es wurde um Stallungen und Dienstbotengebäude erweitert, 1891 auch um das Nachbargebäude Neckarstraße 70.
Nach dem Tod der Herzogin Florestine ging der Besitz Neckarstraße 68 jeweils zu gleichen Teilen in das Eigentum ihrer Söhne Wilhelm (II) und Karl über. 1901 verkaufte Wilhelm seinen Anteil an der Neckarstraße 68 an seinen Bruder, zog aber nach dem Ersten Weltkrieg aus dem früheren Palais Weimar (Neckarstraße 25/ 27) in das Palais Neckarstraße 68 um. Nach dem Tod des Fürsten Karl 1925 wurde der Besitz „an die Neffen und Nichten des Fürsten [Karl] vererbt“. „In den Adressbüchern 1940 und 1943 taucht dann die NSDAP-Motorgruppe Südwest als neuer Eigentümer auf.“
Fürst Karl, der Weitgereiste, hatte in der Neckarstraße 68 „Arabische Räume“ eingerichtet; nach seinem Tod konnten die Räume gegen Voranmeldung auch von der Öffentlichkeit besichtigt werden. Die Räume samt den Sammlungen wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört.86
Schloss Wildenwart
Das südlich der Chiemsee-Gemeinde Prien gelegene Schloss kam nach verschiedenen Vorbesitzern durch Verkauf an Ferdinand V. von Modena-Este und seine Frau Adelgunde von Bayern. Sie war eine Schwester des Königs Maximilian II. und des späteren Prinzregenten Luitpold. Da das Ehepaar Modena kinderlos blieb, kam das Schloss als Privatbesitz an Marie Therese, die Frau von Prinz Ludwig und spätere Königin von Bayern. Der habsburgischen Herzogin Adelgunde von Modena wurde bis zu ihrem Tod (1914) ein Nießbrauchsrecht eingeräumt. Nach dem Tod der Königin ging der Besitz an die unverheirateten Kinder des Königspaars über; von ihnen starb Prinz Karl 1927 und die Prinzessinnen Wiltrud und Gundelinde heirateten. So blieb der Besitz bei den ledigen Schwestern Hildegard und Helmtrud.
Schloss Wildenwart, vom Priental aus gesehen
Die quadratische Anlage des Schlosses wurde um 1600 erbaut und im Lauf der folgenden Jahrhunderte immer wieder umgebaut bzw. renoviert. Ein kleiner Innenhof wird von vier Flügeln mit Säulenarkaden umschlossen. Die Schlosskapelle stand auch der Dorfbevölkerung für Gottesdienste zur Verfügung und diente 1919/21 für kurze Zeit als Grabstätte für Königin Marie Therese. In Wildenwart heiratete im Februar 1919 Prinzessin Gundelinde den Grafen Johann Georg von Preysing-Lichtenegg-Moos (1887-1924).87
Der Welt am Chiemsee blieb Wiltrud zeitlebens verbunden. Immer wieder besuchte sie ihre Schwestern Hildegard und Helmtrud, und so verwundert es nicht, dass sie dem Chiemsee auch ein lyrisches Denkmal gesetzt hat:
Am Chiemseeufer
Ein wolkenloser Himmel,Kristallenrein die Luft ‒Um Moor und ferne BergeDes Sommers feiner Duft.
Der See in lichter Bläue,Durch keinen Hauch bewegt,Und weißer Segel Spiegel
Die Dampferwelle trägt.
Wie Meteore streifen
Die Möven durch den Raum,Und Feuerblitze blinkenVom hellen Fiederflaum.
Kohlweißlingspaare flattern
– Wo warm der Himmel blaut ‒Hoch über WeidrichskerzenUnd grauem Minzenkraut.
Zum Strande strömen Blasen
– Kein Luftzug löscht sie aus ‒Geknickte Binsenteile,
Manch bleiches Schneckenhaus.
Und junge Fischlein wandernDen seichten Grund entlang,Die Muschel harrt, gespalten,Im Schlamm auf reichen Fang.
Wiltrud, Prinzessin von Bayern88
1 Tagebuch Nr. 72 mit der Ortsangabe „Levico“. Levico Terme ist ein Kurort im Valsugana (Suganertal), dem Tal der Brenta im Trentino im Norden Italiens, bis 1918 Teil des Habsburgerreichs.
2 Der Briefwechsel mit Karl und Klara May (nur die Briefe des Ehepaars May, nicht die der Prinzessin) in: [Scheinhammer-]Schmid, Ulrich (Hrsg.): Karl May: Briefe an das bayerische Königshaus (Edition und Anmerkungen). In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1983, S. 76-122 (Klaras Briefe nach 1912 hier in Auszügen); dazu auch Scheinhammer-Schmid, Ulrich: „Das wilde Mädchen, das schon als Kind der Berge Kahlheit liebte …“. Prinzessin Wiltrud von Bayern und ihre Korrespondenz mit Karl und Klara May. In: Karl May: Freunde – Feinde – Zeitgenossen. Vorträge des 5. Karl-May-Symposiums der Akademie für Weiterbildung Waldhof […]. Hrsg. von Michael Rudloff, Albrecht Götz von Olenhusen und Karl Schäfer. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 162/ 2019, S. 7-24.
3 Tante Alix war die Großherzogin Alicia Maria Carolina von Bourbon-Parma (1849-1935), die 1868 den Großherzog Ferdinand IV. von Toskana heiratete (1835-1908). Die Familie, 1870 endgültig abgedankt, besaß die Villa Toskana in Lindau am Bodensee, ganz in der Nähe der Villa Amsee (Hölz, Christoph/ Traub, Markus: Weite Blicke. Landhäuser und Gärten am bayerischen Bodenseeufer. 2. überarbeitete Auflage. Berlin-München: Deutscher Kunstverlag 2010 [→ Hölz/Traub, Weite Blicke], S. 52-57). Prinzessin Wiltruds dritter Vorname war Alix.
4 Böhm, Christiane: Wie lebten Prinzen und Prinzessinnen in Wirklichkeit? Oder Erbsen ohne Ende! Kinderalltag im bayerischen Königshaus. München: August Dressbach Verlag 20102 [→ Böhm, Prinzen], S. 106. – Wiltrud hatte damit alle bis 1898 erschienenen Bände mit den Reiseerzählungen des Verlags Fehsenfeld.
5 Diese Einträge finden sich nicht in der fortlaufenden, durchgehend nummerierten Tagebuch-Reihe, die erst im September 1900 einsetzt. . Es gibt von ihr acht Tagebücher aus der Jugendzeit, im Geheimen Hausarchiv als „Tagebücher Kindheit und Jugend Nr. 1-8 (1895-1901)“ verzeichnet, und dann setzt mit einer neuen Nr. 1 die Reihe ihrer „großen“ Tagebücher ein, die sie regelmäßig bis zur Nr. 257 (1975) fortführt.
6 Die Jugenderzählung Der schwarze Mustang wurde, nach einer längeren Entstehungsphase, 1896/97 in der „Illustrierten Knaben-Zeitung“ Der Gute Kamerad des Verlags Union Deutsche Verlagsgesellschaft veröffentlicht; in der zweiten Hälfte des Jahrs 1899 kam die Buchausgabe als Band 1 der Kamerad-Bibliothek im gleichen Verlag heraus. Diese Buchausgabe erlebte bis zu Mays Tod 23 Auflagen. Die Erzählung, historisch-kritisch ediert, im Band III. 7 von Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe [→ HKA].
7 GHA, Nachlass Herzogin Wiltrud 275. – Zu dieser Amerikareise vgl. den Brief an Klara May, S. 438.
8wissenschaftliche [von Prinzessin Wiltrud gestrichen].
9 [gestr: österreichi].
10 sich einen Kopf machen über etwas: nervös nachdenken; sich Sorgen machen; (sinnlos) grübeln; „Mach dir deswegen keinen Kopf!“ Hier im Sinne von sich ärgern, verärgert sein.
11 Zu Ida Pfeiffer (1797-1858) erschienen in den letzten Jahrzehnten im Gefolge der Frauenbewegung zahlreiche Neuausgaben ihrer Reiseberichte und Biografien: „Auf ihren ausgedehnten Fahrten legte sie insgesamt 240.000 km zur See und 32.000 km auf vier Kontinenten zurück. Sie schrieb darüber 13 Bücher, die in sieben Sprachen übersetzt wurden.“ (de.wikipedia.org › wiki › Ida_Pfeiffer – 28.09.2020). Vgl. Gabriele Habinger: Ida Pfeiffer. Eine Forschungsreisende des Biedermeier. Wien: Milena 2004 (Feministische Theorie, Band 44).
12 Bußmann, Hadumod: „Ich habe mich vor nichts im Leben gefürchtet“. Die ungewöhnliche Geschichte der Therese Prinzessin von Bayern 1850-1925. Berlin: Insel 2014 (Insel Tb 4289) [→ Bußmann, …gefürchtet], S. 228-230.
13 HStA Stuttgart, GU 119, Bü 1152. – Zu Bertha von Suttner und Karl May vgl. Hatzig, Hansotto: Bertha von Suttner und Karl May. In: JbKMG 1971 [→ Hatzig, Bertha von Suttner], S. 246-258; Holl, Karl: Karl May und die deutsche Friedensbewegung. Überlegungen zu einer ungewöhnlichen Beziehung. In: Karl May: Brückenbauer zwischen den Kulturen. Hrsg. von Wolfram Pyta. Berlin: LIT Verlag 2010, S. 189-195 (hier insb. S. 189-191).
14 Th. von Bayer [= Prinzessin Therese von Bayern]: Reiseeindrücke und Skizzen aus Rußland. Stuttgart: Cotta 1885.
15 1896 arbeitete die Prinzessin wohl an dem Band: Meine Reise in die Brasilianischen Tropen. Von Prinzessin Therese von Bayern (Th. von Bayer). Berlin: Dietrich Reimer 1897.
16Frühlingszeit. Eine Lenzes- und Lebensgabe, unsern erwachsenen Töchtern zur Unterhaltung und Erhebung gewidmet von den deutschen Dichterinnen der Gegenwart. Herausgegeben von Bertha von Suttner. Stuttgart: Süddeutsches Verlags-Institut o. J. [1896], S. 1.
17 Bußmann, Hadumod: Die Prinzessin und ihr „Kavalier“. Therese von Bayern und Maximilian Freiherr von Speidel auf Brasilien-Expedition im Jahr 1888. München: Allitera 20152 (edition monacensia), S. 56f.
18 Sudhoff, Dieter, Steinmetz, Hans-Dieter: Karl-May-Chronik [→ KMC], Band II (1897-1901); Bamberg Karl-May-Verlag 2005ff., S. 131.
19 Schweiggert, Alfons: Bayerns unglücklichster König. Otto I, der Bruder Ludwigs II.