Professor Koslows Äthermaschine - J. Pollaschek - E-Book

Professor Koslows Äthermaschine E-Book

J. Pollaschek

4,7

Beschreibung

Ein Zug verschwindet spurlos auf offener Strecke. Ihn wieder aufzuspüren, ist für Ada von Rony und Jakob Ros nicht schwer. Anschließend am Leben zu bleiben, ist für die abenteuerlustige Komtesse und den Erfinder von Kaffee- und Zauberautomaten hingegen eine Herausforderung. Plötzlich sind dubiose Russen und mordlustige Pülcher hinter ihnen her. Und dann ist da noch die verschleierte Dame mit rätselhaften Absichten. Wirklich kompliziert wird es für Ros, als er sein Herz an Ada verliert. Denn eine Liaison zwischen einer Adeligen und einem Bürgerlichen ist anno 1865 undenkbar. Professor Koslows Äthermaschine ist ein Dampfpülcher-Abenteuer* in und um Wien. *Dampfpülcher ist die Wiener Version von Steampunk, mit Kaffeehäusern anstelle von Teestuben, Kaiser statt Königin und besserem Wetter.

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Inhaltsverzeichnis

Extrablatt!

Die deplatzierte Komtesse

Der verschwundene Zug

Die Werkstatt der k.k. Staatsbahnen

Das unerlaubte Betreten

Der Pfandleiher

Das Evidenzbureau und der Professor

Die Toten im Zaubertheater

Drei Besuche

Zwei Russen in den drei Raben

Der falsche Lakai

In der Höhle des Löwen

Epilog

Danksagung

Wörterbuch Wienerisch - Deutsch

Glossar

1. Extrablatt!

»Extrablatt! Eisenbahnzug spurlos verschwunden! Extrablatt!«, rief Alfons mit so viel Enthusiasmus, wie er aufbringen konnte. Nicht viel, angesichts des bis auf ein paar Dienstboten menschenleeren Kohlmarkts.

Halb zehn Uhr vormittags war eine gute Zeit für ein Gabelfrühstück auf einer Bank im Volksgarten, aber eine schlechte, um ein Extrablatt zu verkaufen. Die Nobligen saßen noch beim Frühstück, die Beamten machten es sich gerade hinter den Schreibtischen bequem, und die Arbeiter arbeiteten. Abgesehen davon, dass letztere sowieso selten Geld für eine Zeitung überhatten. Um diese Zeit waren auf den Straßen, Gassen und Plätzen Wiens hauptsächlich Dienstboten unterwegs. Die kauften aber keine Zeitungen, sondern lasen die alten Ausgaben ihrer Herrschaft, bevor sie sie zum Feuer machen verwendeten. Wenn sie denn lesen konnten.

Es war verhext, dachte Alfons, während er mit lauten Rufen versuchte, den Stapel Blätter unter seinem Arm in einen Haufen Münzen in seiner Hosentasche zu verwandeln. Da hatte die Debatte eine Exklusivschlagzeile und dann zu so einer lausigen Zeit. Mittags würde wieder kauflustiges Publikum auf den Straßen sein, aber bis dahin war es mit der Exklusivität wahrscheinlich vorbei.

Er trat auf den Michaelerplatz hinaus, auf dem sich die Fuhrwerke stauten, die vor dem Tor der Hofburg auf Einlass warteten. Mit gerümpfter Nase bahnte er sich vorsichtig einen Weg zwischen den Wagen und Pferden hindurch. Er verkaufte zwei Blätter an gelangweilte Fuhrwerker und schaffte es, den Platz zu überqueren, ohne in Pferdemist zu treten, was seine Laune ein wenig hob. Hier auf der anderen Seite des Platzes, rechts vom Burgtor, stand das Palais Dietrichstein, dessen Erdgeschoß das Café Griensteidl beherbergte. Alfons öffnete die Tür und trat ein.

Drinnen ließ er seinen Blick rasch durch das Halbdunkel des schwach besetzten Cafés schweifen. In einer der Fensternischen linker Hand saßen ein paar Verbindungsstudenten, die Köpfe unter den buntgebänderten Käppis zusammengesteckt. Vermutlich planten sie eine neue Gesellschaftsordnung. Das Griensteidl war seit der Revolution dafür berüchtigt, die Weltverbesserer, Spinner und Querköpfe Wiens anzuziehen. Im Volksmund hieß es Café Größenwahn. Alfons ignorierte die Studenten, die fast nie Geld für eine Zeitung überhatten. Für die Debatte schon gar nicht, die sie als reaktionäres Schmierblatt betrachteten. Was das reaktionär anlangte, war sich Alfons nicht sicher - er hatte noch nicht herausgefunden, was das Wort bedeutete - das mit dem Schmierblatt konnte er bestätigen. Die schwarzen Flecken auf seiner Jacke und seinen Fingern bezeugten das.

In der Mitte des Cafés, am Tisch unter dem Luster1, saß, wie jeden Freitag, Professor Graf von Rabenstein und hielt unter seinen Doktoratsstudenten Hof. Die Studenten des Professors waren eine gänzlich andere Sorte als die Verbindungsstudenten in der Fensternische. Sie trugen teure Anzüge, keine bunten Käppis und wirkten in keinster Weise, als wären sie an einer Änderung der Gesellschaftsordnung interessiert. Wer der Küche am nächsten saß, hatte kein Interesse daran, die Tischordnung zu ändern.

Alfons trat an den Tisch des Professors: »Extrablatt! Eisenbahnzug spurlos verschwunden! Anarchistischer Anschlag vermutet!«

Wie erwartet, kaufte ihm der Professor ein Exemplar ab. Das tat er meistens, um sich dann lang und breit über den Unsinn auszulassen, den die Debatte verbreitete. Solange er sein Exemplar kaufte, war das in Ordnung, soweit es Alfons betraf.

Sonst war nur noch ein einziger Tisch besetzt, der hinterste und am weitesten vom Eingang entfernte. Dort saß der Ingenieur. Er war erst seit ein paar Wochen hier anzutreffen, aber aufgrund seiner regelmäßigen Besuche schnell zum Stammgast avanciert.

Alfons war gut darin, Leute einzuschätzen, und sei es nur daraufhin, ob sie potentielle Kunden waren oder nicht, aber der Ingenieur war ihm ein Rätsel. Das begann schon damit, dass es weder ihm noch Herrn Karl, dem Ober, gelungen war, den Namen des Mannes herauszufinden. Lediglich die für Neukunden gebräuchliche Höflichkeitsanrede ›Herr Doktor‹, die sowohl er als auch der Ober verwendeten, hatte der Mann lächelnd jeweils mit ›Zuviel der Ehre, ich bin nur Ingenieur‹ korrigiert. Aber keine noch so kunsvoll gesetzte Pause hatte ihn dazu verleiten können, seinen Namen hinter dem ›Ingenieur‹ zu ergänzen.

Das nächste Rätsel war die Kleidung des Ingenieurs. Er trug stets Gehrock und Weste von sehr guter Qualität, soweit Alfons das beurteilen konnte. Nur das normalerweise die Leute, die sich teure Kleidung leisten konnten, darauf bedacht waren, dass auf den ersten Blick ersichtlich war, dass sie teure Kleidung trugen. Der Anzug des Ingenieurs jedoch sah aus, als hätte er seinem Schneider aufgetragen, einen erstklassigen Anzug anzufertigen, der auch auf den zweiten Blick noch aussah wie ein ganz gewöhnlicher. Irgendwie traf das auf den Ingenieur im Ganzen zu, dachte Alfons: Er war durchschnittlich groß, trug seine braunen Haare unauffällig kurz geschnitten und sein Gesicht wäre auch in einer kleinen Menge niemandem aufgefallen. Sein Gehabe war freundlich distanziert, egal ob er sich mit Alfons unterhielt, einem der Gäste, oder Herrn Karl. Doch Alfons wurde den Eindruck nicht los, dass sich hinter der ganzen Durchschnittlichkeit jemand keineswegs Durchschnittlicher verbarg. Vielleicht war er ja ein außerirdischer Forscher, der sich unter die Wiener gemischt hatte, um sie zu studieren.2

»Extrablatt, Herr Ingenieur?«, fragte Alfons.

»Ist der Zug wirklich verschwunden, oder ist das nur eine der üblichen leichten Übertreibungen zur Anhebung des Umsatzes?«, fragte der Ingenieur.

»Nein. Ganz wirklich verschwunden«, versicherte Alfons.

»Halb wirklich wäre auch zu bizarr. Also gut, ich bin neugierig, was kostet’s?«

»Drei Kreuzer.«

Geld und Zeitung wechselten die Besitzer. Alfons tippte sich grüßend an die Mütze, winkte Herrn Karl zu und verließ das Griensteidl auf der Jagd nach weiteren Kunden.

Dass Jakob Ros es vorzog, mit Ingenieur angesprochen zu werden, lag nicht daran, dass er sich seines Namens schämte. Er zog es nur vor, sich am Rand der Bühne, welche die Welt darstellte, aufzuhalten. Erstens hatte man von dort einen wesentlich besseren Überblick über das sich entfaltende Drama, als eine der Figuren vorne im Rampenlicht. Zweitens kam man so nicht in die Verlegenheit, sich für eine Hauptfigur zu halten, nur um am Ende feststellen zu müssen, dass man lediglich der komische Diener war, dessen Missgeschicke das Publikum erheiterten. Eine so abgeklärte Einstellung erlangte man nur nach einem langen Leben. Oder durch Liebeskummer. Ros war dreiundzwanzig.

Wobei er es immer schon vorgezogen hatte, zu beobachten und zu verstehen, als selbst zu handeln. Die Geschichte mit Marlene hatte diese Veranlagung nur noch verstärkt. Ebenso wie seine Leidenschaft für Maschinen, deren strenge Logik er der Wankelmütigkeit seiner Mitmenschen bei weitem vorzog.

Maschinen faszinierten ihn, seit er als Dreikäsehoch unter das klickende und klackende Gestänge des neuen automatischen Webstuhls seines Vaters gekrochen war. Mit großen Augen hatte er dem sich ewig wiederholenden Spiel der Zahnräder, Keilriemen und Antriebsstangen zugesehen. Bis ihn das Kindermädchen, das ihn schon verzweifelt gesucht hatte, unter der Maschine fand und ihm den Hosenboden versohlte.

Als Alfons zur Türe hereingekommen war, hatte Ros gerade das Kreuzworträtsel im Beobachter3 ausgefüllt. Jetzt fehlte ihm noch ein Wort. Der Hinweis lautete: ›Mizzi sagte die Wahrheit, Annerl behauptete das Gegenteil‹. Er grübelte schon seit fünf Minuten, aber offenbar stand er auf der Dampfzufuhr. Da er das Kreuzworträtsel gewöhnlich ohne groß nachzudenken ausfüllen konnte, war er leicht verärgert. Sein momentanes Unvermögen führte er auf die Anwesenheit von Professor Rabenstein und seiner Entourage zurück, die ihn jedes Mal aufs Neue an der Menschheit zweifeln ließ. Er hatte während seines Ingenieurstudiums eine der Vorlesungen des Professors besucht. Seitdem hielt er ihn für einen lauten, aufgeblasenen Wichtigtuer von bestenfalls mittelmäßiger Intelligenz. Mit dieser Meinung war er keineswegs alleine. Trotzdem fanden sich immer wieder Studenten, die auf das Gehabe des Professors hereinfielen und ihn als eine Art Genie betrachteten, nur weil er sich selbst für eines hielt. Ros blickte angewidert in die Richtung des Professors, seufzte und breitete das eben erstandene Extrablatt über dem widerspenstigen Kreuzworträtsel aus.

Das Extrablatt wurde seinem Namen gerecht: Es bestand nur aus einem einzigen, einseitig bedruckten Blatt. Die Schlagzeile und eine krude gravierte Karte des betroffenen Streckenabschnittes füllten die obere Hälfte des Blattes. Der eigentliche Text war nur ein halbseitiger Dreispalter, den er schnell gelesen hatte. Ließ man die Übertreibungen, Vermutungen und ansatzlosen Schlussfolgerungen des Reporters weg, blieben folgende Fakten über: Laut Debatte war der Frühzug aus Retz auf dem Streckenabschnitt zwischen Großstelzendorf und Göllersdorf spurlos verschwunden. Zuletzt war er vom Bahnhofsvorsteher in Großstelzendorf bei der Durchfahrt gesehen worden und seither von niemandem mehr.

Nach Großstelzendorf gabelte sich die Strecke: in Richtung Göllersdorf, wohin der Zug hätte fahren sollen, und in Richtung Eizersthal, wohin er nicht hätte fahren sollen, aber hätte fahren können. Der Zug war aber weder in Göllersdorf noch in Eizersthal angekommen. Auf der Karte sah der Streckenverlauf wie ein umgedrehtes Y aus, oben im Norden befand sich Großstelzendorf, rechts im Südosten Göllersdorf und links im Südwesten Eizersthal.

Der Göllersdorfer Bahnhofsvorstand hatte, nachdem der Zug überfällig geworden war, per Telegraph in Großstelzendorf nachgefragt. Der Großstelzendorfer Bahnhofsvorstand hatte höchst erstaunt reagiert aber bestätigt, dass der Zug ganz normal seinen Bahnhof durchfahren und er ihn seitdem nicht mehr gesehen hatte. Der Göllersdorfer fragte daraufhin in Eizersthal nach, aber auch dort war der Zug nicht gesichtet worden. Also kamen die drei Bahnhofsvorstände zu dem Schluss, dass der Zug wohl mit schadhafter Maschine auf der Strecke liegen geblieben war. Sie sperrten den Streckenabschnitt, bestiegen die handbetriebenen Draisinen, die für solche Fälle in den Bahnhöfen bereitstanden, und machten sich auf die Suche. Als sie sich eine halbe Stunde später an der Streckengabelung trafen, hatte jedoch keiner von ihnen auch nur das kleinste bisschen Zug erspäht.

Ros konnte sich die Gesichter der drei Bahnbeamten gut vorstellen, als sie sich an der Weiche mitten in den sanften Hügeln des Weinviertels trafen: erhitzt von der Draisinenfahrt und vollkommen ratlos. Seiner Erfahrung nach konnten Beamte es nicht ausstehen, wenn etwas außerhalb der täglichen Routine geschah. In diesem Fall konnte er ihnen das auch nicht verdenken.

Da ein paar Tonnen Eisenbahn nicht einfach verschwinden können, hatten die Beamten getan, was alle Beamten in so einem Fall tun: Sie machten Meldung an die nächsthöhere Entscheidungsebene, in diesem Fall an die Fahrdienstleitung in Wien. Die hatte umgehend eine Suchaktion organisiert und die Gendarmerie verständigt. Zur Stunde, schrieb die Debatte, wurde der betreffende Streckenabschnitt von Beamten der Staatsbahn, der Gendarmerie sowie örtlichen Helfern auf der Suche nach einem Hinweis auf den Verbleib des Zuges durchkämmt. Der Text schloss mit der Vermutung, dass es sich um einen Anschlag von italienischen Anarchisten mit einer neu entwickelten Waffe handelte. Italienische Anarchisten waren die Lieblingsbösewichte der Debatte.

Ros hätte den Reporter gerne gefragt, welche Art Waffe einen ganzen Zug spurlos pulverisieren konnte. Und warum Anarchisten ein Interesse daran haben sollten, einen Zug, der vermutlich nur ein paar Briefe, Pakete und eine Handvoll Passagiere transportierte, derart gründlich zu zerstören. Zugegeben, Anarchisten hatten eine Vorliebe für Zerstörung, aber ebenso sehr mochten sie es, alle Welt auch das Ausmaß der Zerstörung sehen zu lassen. Spurlose Zerstörung war nicht ihre Art. Alle wissen zu lassen, welches Ausmaß an Zerstörung sie anrichten konnten, war der springende Punkt.

Immerhin, dachte Ros, war die Sache wirklich eine Sonderausgabe wert. Außer das Ganze stellte sich als Zeitungsente oder kollektive Trunkenheit dreier Bahnbeamter heraus.

Er faltete das Blatt zusammen und verstaute es in einer der Taschen seines Gehrocks, als Graf von Rabenstein plötzlich aufsprang und rief: »Das ist eine Katastrophe!«

Ein Kaffeehaus ist keine Bibliothek, aber das Erheben der Stimme ist da ebenso verpönt wie dort. Ros und die Verbindungsstudenten starrten den Grafen missbilligend an. Herrn Karls Kopf tauchte über der Schank auf, unter der er das Eis der Kuchenauslage nachgefüllt hatte.

Der Graf fuhr sich durch die Haare und wedelte erregt mit dem Extrablatt herum, wobei er scheppernd seine Kaffeetasse umwarf. Aber selbst dieser Fauxpas brachte ihn nicht zur Besinnung.

»In diesem Zug waren Babbageeinheiten für meine neuste Erfindung! Wie soll ich die ersetzen? Selbst wenn ich sofort neue in Auftrag gebe, bekomme ich sie frühestens in drei Monaten!«

Einer seiner Studenten stellte die umgeworfene Tasse wieder hin und ein anderer begann auf den Professor einzureden, aber so leise, dass Ros nichts verstehen konnte. Es schien aber eine beruhigende Wirkung auf den Professor zu haben, jedenfalls enthielt er sich weiterer Ausrufe und setzte sich wieder.

Die Verbindungsstudenten wandten sich erneut ihrer Diskussion zu und Ros nützte die Gelegenheit, um Herrn Karls Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er bezahlte seine Rechnung, steckte den Bleistift ein, mit dem er das Kreuzworträtsel ausgefüllt hatte, setzte seine Melone auf und ergriff seinen Spazierstock. Stehend warf er noch einen letzten Blick auf das Rätsel mit den sechs anklagend leeren Vierecken. ›Mizzi sagte die Wahrheit, Annerl behauptete das Gegenteil‹. Auf einmal wusste er die Antwort. Er schnalzte mit der Zunge, holte den Stift wieder hervor und schrieb ›analog‹ in die freien Kästchen.

Zufrieden machte er sich auf den Weg zum Ausgang. Er hatte die Hand schon auf der Klinke, als der Graf noch einmal aufstand und allen im Café verkündete: »Bitte kurz um ihre Aufmerksamkeit. Verzeihung für meinen Ausbruch vorhin, enervierend schlechte Nachricht. Der verschwundene Zug transportierte Bauteile, die ich dringend für meine neueste Erfindung benötige. Ich werde Telegramme an alle Tageszeitungen senden und eine Belohnung von 500 Gulden auf die Wiederbeschaffung der Teile aussetzen. Als Entschuldigung für mein schlechtes Benehmen teile ich Ihnen das mit, bevor es in den Zeitungen steht. Falls Sie sich an der Suche beteiligen wollen, haben Sie so einen kleinen Vorsprung. Wünsche einen guten Tag.«

Er klemmte sich das Extrablatt unter den Arm und stürmte zur Tür. Auf halbem Weg erschien Herr Karl wie aus dem Nichts vor ihm4 und hielt ihm freundlich lächelnd das Tablett mit der Rechnung entgegen. Der Graf holte ein paar Münzen aus der Rocktasche, warf sie auf das Tablett und sagte: »Aus dem Weg, Mann. Ich habe es eilig.«

»Auch Ihnen einen wunderschönen guten Tag«, sagte Herr Karl und gab den Weg frei. Ros wich ebenfalls zur Seite, und der Professor stürmte aus der Tür. Die Verbindungsstudenten und Rabensteins Doktoranden steckten an ihren Tischen die Köpfe zusammen und schienen ernsthaft zu überlegen, sich an der Suche zu beteiligen. Ros schüttelte den Kopf und verließ das Café Größenwahn, das seinem Namen einmal mehr alle Ehre gemacht hatte.

Er trat auf den Michaelerplatz hinaus und kniff unwillkürlich die Augen zusammen. Gegen das Halbdunkel des Cafés war das Licht der Maisonne blendend hell. Er holte aus der Brustasche seines Gehrocks eine runde Nickelbrille mit dunkel getönten Gläsern hervor und setzte sie sich auf die Nase. Das verlieh ihm ein leicht sinisteres Aussehen, was er aber als Vorteil ansah. Wenn er die Brille trug, wurde er weniger oft angebettelt.

Ros warf einen Blick auf die Turmuhr der Michaelerkirche gegenüber: ein paar Minuten vor zehn. Um zehn öffnete das Wertheim seine Pforten, um interessierten Kunden einen ersten Blick auf die bald zur Versteigerung kommenden Figuren-Automaten zu ermöglichen. Das Pfandhaus war nur zwei Gassen entfernt, kein Grund zur Eile also.

Geschickt schlängelte sich Ros durch den Pulk der Fuhrwerke vor dem Hofburgtor und steuerte auf das Burgtheater auf der anderen Seite zu, um einen Blick auf den Spielplan zu werfen. Der Aushang verkündete, dass die Vorstellung der »Braut von Messina« wegen einer Unpässlichkeit der Frau Kerbel ausfiel. Stattdessen würden »Die Memoiren des Teufels« gegeben, gefolgt von »Nach Mitternacht«.

Rosa Kerbel war ein lebendes Beispiel dafür, dass ein unvorteilhafter Name wahres Talent nicht aufhalten konnte. Sie war über die Grenzen Wiens hinaus berühmt und feierte Erfolge, egal ob sie Macbeth blutrünstige Ehefrau oder Atala, die süße Tochter des Häuptlings der Menschenfresser spielte. Es tat ihrer Beliebtheit auch keinen Abbruch, dass sie von angeschlagener Gesundheit war und deswegen immer wieder Vorstellungen ausfallen lassen musste.

Da Ros beide Stücke nichts sagten und die Titel nicht so klangen, als kämen interessante Spezialeffekte oder Bühnenmaschinen zum Einsatz, hielt sich sein Interesse in Grenzen. Er setzte seinen Weg fort und bog in den Kohlmarkt ein, als er hinter sich das rhythmische Fauchen eines Vapos5 hörte. Vor drei Jahren hatten die Lohner-Werke ihr erstes Modell eines dampfbetriebenen Straßenfahrzeugs vorgestellt. Auf der Suche nach einer griffigen Bezeichnung war man auf Vapormobil verfallen. Was die maulfaulen Wiener umgehend auf Vapo verkürzten.

Das Vapo hinter Ros war aus dem Tor der Hofburg gekommen. Es überquerte den Michaelerplatz, wo es einige Unruhe unter den Pferden der wartenden Fuhrwerke verursachte. Deren Besitzer riefen dem Lenker zu, dass er sich doch bitte schleunigst entfernen sollte, vorzugsweise in Richtung einer Toilette. Allerdings verwendeten sie dazu nicht genau diese Worte.

Der Vapofahrer steuerte davon unberührt auf den Kohlmarkt zu und Ros trat, wie alle anderen, an die Hauswand zurück.

Das Vapo keuchte heran. Der Fahrer trug die übliche Kluft seines Berufs: einen schweren Kutschermantel wie seine Kollegen, die auf Pferdeantrieb setzten, dazu Schutzbrillen, um die Augen vor dem Fahrtwind zu schützen und eine lederne Kappe. Die üblichen Steßer der Fuhrwerker hatten sich als unpraktisch erwiesen, da sie bei höheren Geschwindigkeiten dazu neigten, abzuheben und davonzusegeln.

Das Vapo tuckerte vorbei und Ros sah, dass die Scheiben der Fahrgastkabine mit schwarzen Gardinen verhangen waren. Ungewöhnlich, dachte er. Normalerweise wollten die Besitzer erkannt und bewundert werden. Er löste sich von der Hausmauer, um seinen Weg fortzusetzen, als das Gefährt einige Meter vor ihm plötzlich anhielt. Die Tür schwang auf und ein Mann in schwarzer Uniform sprang auf die Straße und kam schnellen Schrittes auf ihn zu. Vor dem erstaunten Ros blieb er stehen, lüftete höflich seine Uniformkappe und sagte: »Herr Ros?«

»Ja?«, antwortete Ros mit hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte den Mann noch nie zuvor gesehen.

»Leutnant von Ripp«, stellte sich der Mann in Schwarz vor.

»Major Ros wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihm kurz Ihre Zeit schenken würden.«

Er deutete hinter sich auf das Vapo.

»Er ist in dem Vapo?«, fragte Ros.

»Jawohl.«

Ros zuckte mit den Schultern und sagte: »In Ordnung.«

Er hatte keine Ahnung, was sein Bruder von ihm wollte, besonders da das Treffen allem Anschein nach reiner Zufall war. Aber die Gelegenheit, ein Stück in einem Vapo mitzufahren, und sei es auch in einem des Evidenzbureaus, war es wert, sich anzuhören, was Felix von ihm wollte.

»Sehr gut. Wenn Sie mir bitte folgen würden«, sagte Leutnant von Ripp.

Ros folgte und der Leutnant hielt ihm höflich die Tür des Vapos auf. Ros kletterte ins Innere, das sich kaum von dem einer geschlossenen Kutsche unterschied. Lediglich von den Seitenwänden herunterklappbare Tische, die gleichzeitig dazu dienten, die Passagiere in den Sitzen zu halten, wenn die Fahrt etwas ruppiger wurde, ließen erkennen, dass es sich nicht um eine Kutsche handelte. Und die Hitze, die vom Dampfantrieb abstrahlte und den Fahrgastraum erwärmte. Im Winter sicher angenehm, jetzt im Frühling noch erträglich, im Sommer vermutlich eine Qual. Ros rief seine Gedanken zur Ordnung und nahm seinem Bruder gegenüber Platz. Auf einen Wink von Felix schloss Leutnant von Ripp die Tür und nahm draußen neben dem Fahrer Platz. Das Vapo setzte sich wieder in Bewegung. Im abgedunkelten Inneren der Kabine spendete eine der neuen alchemischen Lampen grünliches Licht.

Im Gegensatz zu Ros war sein Bruder Felix ein Mann, der sich in der Mitte der Weltbühne wohl fühlte. Er hatte schon früh in seinem Leben beschlossen, Karriere beim Militär zu machen. Ros hatte nie herausgefunden, ob er es mochte Uniformen zu tragen und Leute herum zu kommandieren oder ob er es aus Liebe zum Vaterland tat. Immerhin hatte Felix tatsächlich Talent für strategisches und umsichtiges Denken, anders als viele seiner Kollegen. Hinzu kam, dass er bereit war, auch undankbare und sogar in Arbeit ausartende Aufgaben zu übernehmen, und dabei fast immer erfolgreich war. Was seine Karriere sehr beschleunigt hatte. Auch wenn die oberen Ränge des Militärs fast ausschließlich aus Adeligen bestanden, waren die meisten von ihnen doch klug genug, ein Talent zu erkennen, und anständig genug, es auch zu fördern. Besonders wenn man diesem Talent dann die ganze Arbeit aufhalsen konnte. Felix schien das nicht zu stören, und der Lohn war, dass er nun der jüngste Major war, der jemals bei den Streitkräften seiner Majestät gedient hatte.

»Morgen Jakob. Tut mir leid, dass ich dich shanghaie, aber als ich dich da flanieren sah, war das eine zu günstige Gelegenheit. Ich habe ein Problem, dass in dein Metier fällt, und dann läufst du mir über den Weg. Fast könnte man anfangen, an Schicksal und Fügung zu glauben.«

»Ich wusste nicht, dass ich ein Metier habe«, sagte Ros. »Oder brauchst du Hilfe bei der Auswahl eines Kaffeeautomaten für dein Büro?«

»Sehr witzig. Hör zu, und lass mich ausreden, auch wenn es verrückt klingt.«

Ros lehnte sich in die Lederpolsterung zurück. »Ich bin ganz Ohr, Herr Major.«

Dass Felix daraufhin nur seufzte, aber nichts sagte, ließ Ros augenblicklich ernster werden.

»Tut mir leid. Schieß los.«

»Die k.k. Staatsbahnen haben einen ihrer Züge verloren. Ja, ich weiß, klingt unglaublich, aber allem Anschein nach ist der Frühzug aus Retz heute Morgen auf offener Strecke spurlos verschwunden. Wir wissen nicht wer, wir wissen nicht wie und schon gar nicht warum. Wir wissen noch nicht einmal genau wo. Seine Majestät ist nicht erfreut. Ergo ist das Evidenzbureau in Aufruhr, was bedeutet, dass sie eine Besprechung nach der anderen abhalten. Wenigstens sind sie mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, jemanden vor Ort zu senden, um sich das Ganze aus der Nähe anzusehen. Dieser jemand sitzt vor dir. Sie haben mir sogar ein Luftschiff zur Verfügung gestellt. Kurz, ich bin auf dem Weg ins Weinviertel, um herauszufinden, wie zum Teufel ein ganzer Zug verschwinden kann. Und wer, zum Kuckuck, was damit bezweckt. Ich hoffe nur, es dauert noch eine Weile, bis die Zeitungen davon Wind bekommen. Sonst geht es dort bald zu wie im Prater.«

»Ich fürchte, diese Katze hat sich schon aus dem Sack befreit«, sagte Ros. Er zog das Extrablatt aus der Tasche und reichte es ihm. Felix überflog es und gab es ihm zurück.

»Himmel, Mast und Schotbruch!« – er hatte seine Karriere bei der Marine begonnen – »Wie haben die das so schnell erfahren? Jetzt wird es dort vor Schaulustigen und Reportern nur so wimmeln, verdammt.«

»Ich fürchte, es kommt noch schlimmer«, sagte Ros und erzählte ihm von der Ankündigung Graf Rabensteins, einen Finderlohn auszuloben.

»Verdammt«, sagte Felix nochmal. »Aber immerhin ist das einen Hinweis auf ein mögliches Motiv. Glaubst du, dass diese Bauteile es wert sind, deswegen einen Zug verschwinden zu lassen? Soll heißen: Taugt der Mann was?«

»Meiner Meinung nach ist er ein Dampfkessel, der riesige Mengen an Kohle verbrennt, aber nichts bewegt. Was die Bauteile angeht, kommt es darauf an, um was genau es sich handelt. Auch Deppen können teure Sachen kaufen«, sagte Ros.

»Stimmt. Egal, das werden wir noch früh genug herausbekommen. Im Moment interessiert mich mehr, wie es jemand gelungen ist, einen kompletten Eisenbahnzug verschwinden zu lassen. Ich weigere mich, an Gespenster, Anarchisten mit Geheimwaffen und ähnlichen Blödsinn zu glauben. Also muss es sich um eine Art Trick handeln. Um ein Zauberkunststück im Großformat sozusagen. Wie wäre es also, wenn du dir zur Abwechslung einmal über etwas Sinnvolles den Kopf zerbrichst? Du hast dir ausgedacht, wie Ruth fünf Hasen in ihre Handtasche stopfen und anschließend daraus verschwinden lassen kann. Also wirst du mit ein bisschen Nachdenken auch herausfinden können, wie man einen Zug verschwinden lässt. Stell dir einfach vor, es handle sich um ein Riesenkarnickel.«

Ruth war die Schwester der beiden und machte sich gerade als ›Die maskierte Komtesse‹ einen Namen als Zauberkünstlerin. Wobei sie von Ros tatkräftig unterstützt wurde, der es unterhaltsam fand, sich Zauberkunststücke und -apparate auszudenken. Bis eben hatte er allerdings gedacht, nur er und Ruth wüssten von ihrer Identität als maskierte Komtesse.

Das Problem war, dass Ros’ Eltern zwar recht aufgeschlossen waren, aber dass ihre Tochter sich auf Bühnen produzierte, hätten sie mit Sicherheit nicht gutgeheißen. Als Ruth ihn eingeweiht und um Hilfe gebeten hatte, hatte sie ihn deswegen schwören lassen, zu niemandem ein Sterbenswort zu sagen. Besonders nicht zu ihren Eltern, aber auch nicht zu Felix. Felix war mit Abstand der Älteste der drei Geschwister und den beiden jüngeren immer als leuchtendes Vorbild hingestellt worden. Ruth betrachtete ihn daher als nicht vertrauenswürdig. Ihre Abneigung gegen Konventionen und leuchtende Vorbilder war noch ausgeprägter als die von Ros.

»Hat es einen Sinn dich zu fragen, wie du das herausgefunden hast?«, fragte Ros.

»Ich bin Major des Evidenzbureaus. Es ist mein Beruf, Dinge herauszufinden«, sagte Felix in seiner besten Majorsstimme und zwirbelte seinen Schnauzbart.

»Du hast uns nachspioniert?«, fragte Ros.

»Nein, habe ich nicht«, sagte Felix. »War nicht nötig. Ich war zufällig bei einer der Vorstellungen der maskierten Komtesse im Zögernitz. Hat mir gefallen. Die Komtesse spricht ja nicht während der Vorstellung, aber irgendwie kam sie mir seltsam bekannt vor. Wenn man jemanden lange kennt, erkennt man ihn auf der Straße bisweilen ja schon von hinten, an der Haltung, der Gangart. Da sitz’ ich also und denk’ mir, die kenn’ ich doch. Aber ich wäre nie im Leben auf Ruth gekommen, wäre mein Blick nicht zufällig auf die Stiefel der maskierten Komtesse gefallen: dunkelblaue, mit Goldborte bestickte Samtstiefel. Genau solche, wie Ruth sie gerne trägt. Ich wollt’s immer noch nicht glauben, also hab’ ich genauer hingesehen und siehe da: auf allen Zaubergeräten der Komtesse prangte irgendwo dieses stilisierte Rosenornament, das ein gewisser Ingenieur auf seinen Geräten anbringt, wie ein Maler seine Signatur.«

»Mist, Eitelkeit kommt vor dem Fall«, sagte Ros.

»Und Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Genug der Sprichworte, hilfst du mir oder nicht?«

»Was, wenn nicht?«

»Dann werde ich dich wieder aussteigen lassen und hoffen, dass ich selber dahinterkomme. Ich dachte nur, jemand von deiner Intelligenz, der sich schon mit ähnlich gelagerten Problemen auseinandergesetzt hat, würde schneller ans Ziel kommen. Und schnell wäre gut in diesem Fall, bevor Göllersdorf von Horden Neugieriger überrannt wird. Oder die Stimmung seiner Majestät von nicht erfreut auf enttäuscht absinkt.«

»Dann war die Erwähnung von Ruths Karnickel also keine Drohung?«, fragte Ros.

»Natürlich nicht. Für was hältst du mich? Wenn es Ruth Spaß macht, Leute an der Nase herumzuführen, die dafür bezahlen, herumgeführt zu werden, dann soll sie das tun. Solange sie nicht behauptet, mit den Geistern der Verstorbenen in Verbindung zu stehen oder sonst einen Holler, habe ich kein Problem damit. Und auch damit nicht, die Sache Vater und Mutter gegenüber unerwähnt zu lassen.«

»Danke«, sagte Ros und fuhr nach kurzem Nachdenken fort: »Sie haben dir wirklich ein Luftschiff zur Verfügung gestellt?«

»Ja, die SML Favoriten, Ritterklasse, klein und schnell. Ein feines Stück Ingenieurskunst«, sagte Felix, der die Schwächen seines Bruders kannte.

Ros presste die Lippen zusammen während Loyalität und Neugier gegen die Abneigung des Ingenieurs kämpften, etwas ohne genauen Plan und unvorbereitet zu tun. Wer nicht vorher nachdachte, sondern einfach drauf los hämmerte und schweißte, dem flog das ganze Werkel meist schneller um die Ohren, als er 'Hoppla' sagen konnte. Andererseits war das hier keine Dampfmaschine. Und wenn er ehrlich war, der eigentliche Grund seines Zögerns war, dass er nicht sicher war, der Sache gewachsen zu sein. Unter Zeitdruck eine Möglichkeit zu finden, einen Zug verschwinden zu lassen war etwas ganz anderes, als in aller Ruhe einen Zauberapparat für Ruth zu entwerfen.

»Also gut, ich komme mit. Ich werde versuchen dahinter zu kommen, wie man einen Zug verschwinden lässt. Aber ich garantiere nichts. Es gibt doch ein paar Unterschiede zwischen fünf Karnickeln und einer tonnenschweren Eisenbahn«, sagte Ros.

Felix konsultierte seine Taschenuhr und sagte: »Bestens, ich danke dir. Wenn dir nichts einfällt, dann setz’ dich ins Dorfgasthaus und hör’ dich unauffällig um. Zumindest etwas unauffälliger, als ich oder sonst ein Uniformträger es könnten«, fügte er nach einem Blick auf Ros’ eindeutig städtischen Anzug hinzu. »Vielleicht ist irgendeinem Bauern ja etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Wenn du was Nützliches herausfindest, so oder so, hast du etwas gut bei mir.«

»In Ordnung. Hast du mehr Informationen? Welche Lokomotive, wie viele Wagons, eine Karte von dem Gebiet?«, fragte Ros.

»Werde ich haben, wird alles zum Luftschiff gebracht.«

Den Rest der Fahrt schwiegen beide. Schon deswegen, weil das Vapormobil, sobald es die Stadt verlassen hatte, beschleunigte, was den Lärmpegel im Inneren deutlich anhob. Außerdem stellte Ros fest, dass Vapormobile zwar schneller waren als Kutschen, aber nicht besser gefedert.

Etwa eine halbe Stunde nachdem Ros in das Vapo eingestiegen war, durchfuhren sie das Tor des im byzantischmaurisch angehauchten Stil erbauten Arsenals, das den militärischen Flughafen beherbergte. Offenbar wurden sie erwartet, da die Wachen am Tor keinerlei Anstalten machten das Gefährt zu überprüfen. Der Lenker fuhr weiter bis in den hintersten Hof, wo die abflugbereite SML Favoriten an ihren Haltetauen zerrte.

Major Ros und Einfach-nur-Ros stiegen aus dem Vapo und gingen an Bord des Luftschiffes, gefolgt von Leutnant von Ripp, der die Einstiegsluke hinter sich schloss. Draußen rief jemand ›Leinen los‹, das rhythmische Klopfen der beiden Sterlingmaschinen, die die Propeller antrieben, wurde schneller und das Luftschiff erhob sich in den Himmel, drehte nach Norden und nahm Fahrt auf.

Luftschiffe der Ritterklasse hatten drei Besatzungsmitglieder und boten Platz für bis zu fünf Passagiere, die allerdings keine großen Ansprüche an die Bequemlichkeit stellen durften. Es gab nur einen einzigen Passagierraum mit an den Wänden angebrachten Klappbetten, die gleichzeitig auch als Sitzgelegenheiten fungierten. In der Mitte war ein Tisch mit dem Boden verschraubt.

Die drei Männer nahmen Platz und von Ripp öffnete die Aktenmappe, die ihm eines der Besatzungsmitglieder übergeben hatte und entnahm ihr eine Karte des Streckenabschnitts. Es folgten die Baupläne der Lokomotive und der beiden Wagons sowie die telegraphischen Aussagen der Bahnbeamten. Umgeben vom Knarzen der Verstrebungen, dem Pfeifen des Fahrtwindes und dem Geräusch der beiden Motoren, das Ros an die Webstühle seines Vaters erinnerte, machten sie sich daran, die Papiere zu studieren.

Ros las zuerst die Aussagen der Bahnbeamten, wodurch er aber nichts erfuhr, was er nicht schon aus dem Bericht in der Debatte wusste. Der Zug war zuletzt vom Fahrdienstleiter und dem Beamten am Fahrkartenschalter in Großstelzendorf gesehen worden, als er den Bahnhof in Richtung Göllersdorf durchfuhr. Danach hatte er sich irgendwo im Dreieck zwischen Großstelzendorf, Göllersdorf und Eizersthal in Luft aufgelöst. Alle drei Bahnhofsvorstände schworen, dass er das Dreieck nicht wieder verlassen hatte, zumindest nicht auf den Schienen.

Der Streckenplan, der dem Evidenzbureau zur Verfügung stand, zeigte die gesamte Strecke zwischen Retz und Wien inklusive aller Signalanlagen, Zufahrts- und Parkgleise. Neben jedem Bahnhof, war die Zeit des Halts oder der Durchfahrt vermerkt. Demnach war der Zug pünktlich nach Fahrplan unterwegs gewesen. Der Gleisabschnitt zwischen den drei Bahnhöfen, in dem er verschwunden war, beinhaltete aber auch hier keine zusätzliche Information. Ros deutete auf eines der Buchstabenkürzel, mit denen die verschiedenen Zufahrtsgleise gekennzeichnet waren.

»Was bedeuten diese Buchstabenkürzel? HLP hier zum Beispiel, oder PZS? Oder ist das geheim?«

»Keine Ahnung«, sagte Felix, »Leutnant?«

»Nein, das ist nicht geheim. HLP zum Beispiel heißt Holzlagerplatz und PZS Private Zufahrtsstrecke. Dann gibt es noch CZS für Commerzielle Zufahrtsstrecke. Irgendwo sollte hier auch eine Legende sein«, antwortete Leutnant von Ripp und begann in den Papieren am Tisch zu suchen.

»Lassen Sie nur«, sagte Felix, »auf dem fraglichen Abschnitt gibt es sowieso keine Abzweigung.«

Ros sagte nichts und massierte sein Kinn. Nach dem Studium und der Sache mit Marlene war er ein halbes Jahr durch Europa gereist. Während dieser Zeit hatte er sich einen flotten Schnurr- und Kinnbart stehen lassen. Zumindest war er der Meinung gewesen, dass der Bart seinem Aussehen das gewisse Etwas verlieh. Bis ihm eine junge Dame in Paris sagte, er sehe damit aus wie ein Jules. Nachdem er herausgefunden hatte, dass das keineswegs nur ein Vorname war, hatte er den Bart abgeschoren und ging seitdem wieder glattrasiert durchs Leben. Aber gelegentlich – besonders wenn er mit Felix zusammen war, dessen Gesicht ein Schnurrbart von fast kronprinzlichen Ausmaßen zierte – ertappte er sich noch dabei, dass er unbewusst die Hand hob, um die nicht mehr vorhandenen Bartspitzen zu zwirbeln. Was er dann kaschierte, indem er sich das Kinn massierte.

»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte«, meldete sich von Ripp.

»Sprechen Sie, Mann«, brummte Felix. »Alles, was hilft, dieses Schlamassel zu klären, ist willkommen.«

»Ich habe keine Ahnung, wie man einen Zug verschwinden lassen kann«, sagte von Ripp und fuhr schnell fort, bevor der Major eine Bemerkung einwerfen konnte, »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es dazu einige Männer und vermutlich auch technisches Gerät braucht. Offenbar haben die Täter den Zugraub gut geplant. Vielleicht haben wir bessere Chancen, wenn wir versuchen herauszufinden, wo sie ihren Coup vorbereitet haben. Herumfragen, ob irgendwo in letzter Zeit ein Haus bezogen wurde oder ein Gasthof ungewöhnlich viele Gäste hatte, so etwas in der Art. Vielleicht waren sie bei der Planung dieses Teiles der Operation ja unvorsichtig.«

»Mh, gar nicht dumm. Ist einen Versuch wert. Jakob, das ist etwas für dich und deine Operation Dorfgasthaus«, sagte Felix.

»Aye, Aye«, antwortete Ros. »Und wenn ich etwas herausfinde, wo finde ich dann dich?«

»Die Gendarmerie hat eine Art Kommandostand am Anger vor der Kirche eingerichtet, um die Suche zu koordinieren. Ich nehme an, da wirst du mich finden. Und wenn nicht, wird man dort wissen, wo ich bin.«

»Verstanden«, sagte Ros.

Knapp nach Mittag kam Göllersdorf in Sichtweite, und die SML Favoriten setzte zum Sinkflug an. Ros war mit Felix übereingekommen, dass er sich gleich nach der Landung buchstäblich in die Büsche schlagen würde um seine Verbindung zum Evidenzbureau nach Möglichkeit zu verschleiern. Die SML Favoriten setzte sanft auf einem Feld außerhalb des Ortes auf, und Ros verließ das Luftschiff auf der dem Dorf abgewandten Seite. Von der SML Favoriten verdeckt erreichte er ungesehen den mit Büschen bewachsenen Feldrain und hockte sich hin. Aus dem Dorf kam ein Gendarm auf einem Bauernkarren herangefahren. Der Gendarm unterhielt sich kurz mit Felix, bevor er den Karren wieder bestieg. Felix und von Ripp, mit der Aktentasche unterm Arm, folgten ihm, und die Drei fuhren ins Dorf zurück. Ros wartete, bis die SML Favoriten wieder aufgestiegen war, und machte sich dann in nördlicher Richtung durch die Felder auf den Weg. Er wollte das Dorf umgehen, um es aus Richtung Retz zu betreten.

1 Der nicht aus der Hauptstadt stammende Teil der p.t. Leserschaft findet im Anhang ein kleines Wienerisch-Deutsch Wörterbuch.

2 Hätte der Chefredakteur der Debatte Alfons’ Gedankengänge gekannt, hätte er ihn umgehend zum Jungreporter befördert. Jemand, der so dachte, war definitiv aus dem Material, aus dem die Reporter der Debatte gemacht wurden.

3 Der Beobachter verhielt sich zur Debatte wie eine Kurtisane zu einer Straßendirne: Beide buhlten um die Gunst der Kunden, aber die Kurtisane tat es stilvoller und bewahrte dabei zumindest einen Rest Würde.

4 Ros war der Überzeugung, dass gute Kellner einen sechsten Sinn besaßen, der sie warnte, wenn ein Gast im Begriff war, sich ohne zu zahlen aus dem Staub zu machen. Ähnlich wie Katzen, die sich schon erwartungsvoll vor die Wohnungstür setzen, wenn man gerade erst unten in die Gasse einbiegt. Zumindest, wenn man mit Hühnchen in der Tasche vom Fleischer kommt.

5 Die Wissbegierigeren unter der p.t. Leserschaft seien an dieser Stelle auf das im Anhang befindliche Glossar verwiesen, wo sie, unter anderem, weiterführende Informationen zu Vapormobilen finden werden.

2. Die deplatzierte Komtesse

Ros, Stadtmensch durch und durch, stapfte missvergnügt durch die Landschaft und fragte sich, ob der kurze Flug mit dem Luftschiff das wert gewesen war. Es war nicht so, dass er Natur nicht mochte. Er zog es nur vor, sie von flach gewalzten Gehwegen aus sicherem Abstand zu betrachten. Hier kam sie ihm für seinen Geschmack viel zu nahe, in Form von hinterhältig unter Grasbüscheln verborgenen Steinen und Erdlöchern etwa. Oder Ästen, die einem den Hut vom Kopf zu streifen versuchten.

Außerdem war seine Stadtkleidung alles andere als geeignet für einen Marsch durch die Felder. Ihm wurde bald warm unter dem Gehrock. Dann fing die Sonnenbrille an, ständig auf seiner schweißnassen Nase nach unten zu rutschen. Erst schob er sie ein paarmal zunehmend genervt wieder nach oben, bevor er sie abnahm und einsteckte. Kurz darauf kapitulierte er noch weiter und knöpfte Gehrock und Weste auf, was er in der Stadt undenkbar gefunden hätte. Aber wer sollte sich hier daran stören? Die Hasen, die durch die Feldfurchen hoppelten, wohl kaum, ebenso wenig wie die Fasane, obwohl deren Gö-Göck Rufe in seinen Ohren klangen wie: Guck, guck dir den komischen Städter da an! Er schnitt einem besonders frechen Exemplar eine Grimasse und trat prompt in einen Haufen Hasenbemmerl. Gö-Göck, kicherte der Fasan. Ros wischte seinen Schuh mit einem ausgerupften Grasbüschel sauber und dachte an Fasanenbraten.

Eine gute Viertelstunde später, die ihm mindestens doppelt so lange vorkam, erreichte er Göllersdorf vom Norden her. Sobald er den ersten Häusern nahekam, knöpfte er seinen Gehrock wieder zu. Seine Kleidung würde es sowieso schwierig machen, sich umzuhören. Am Land erweckte ein Fremder Misstrauen, ein ungehörig gekleideter Fremder aus der Stadt schnell auch Feindseligkeit. Und mit seinem Anzug würde er hier sowieso auffallen wie ein Pinguin unter Fasanen. Das kam davon, wenn man unvorbereitet nach verschwundenen Zügen suchte. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern, also musste er das Beste daraus machen.

Er nahm seine Sonnenbrille wieder aus der Rocktasche und steckte sie sich an den Hut, was dämlich aussah und ihn daher hoffentlich als harmlosen Idioten erscheinen lies. Wie einen Idioten auf jeden Fall, dachte der Teil von ihm, der zu Zynismus neigte.

Er zerstrubbelte seine makellose Frisur ein wenig, sodass ein paar Haare unter dem Hut hervorlugten und ihm in die Stirn hingen. Dann versuchte er, wie der schöne Sigismund dreinzusehen, als der ihm Marlene ausgespannt hatte, in der Hoffnung, so einen möglichst dämlichen Gesichtsausdruck zu produzieren. Was nicht klappte, da er sofort wütend wurde, als er an Sigismund dachte. Also ließ er das mit dem Gesichtsausdruck wieder bleiben und beschränkte sich darauf, seinen Stockschwüngen übertrieben viel Schwung zu verleihen. In der Hoffnung, wie ein harmloser Dummkopf auszusehen, marschierte er in das Dorf und auf den über die Dächer ragenden Kirchturm los.

Bald weitete sich die Straße, und er stand am oberen Ende des Dorfangers, der von weißgekalkten Höfen, mehreren Läden, dem Gemeindehaus, der Kirche und dem Gasthof umgeben war. Offenbar war Göllersdorf besonders hartnäckig von der Pest heimgesucht worden, denn am Anfang des Angers stand eine kleine und in der Mitte eine zweite, wesentlich prächtigere Pestsäule. Den Abschluss am gegenüberliegenden Ende bildete ein steinerner Pranger. An einem anderen Tag hätte sich ihm wohl ein Bild dörflichen Idylls dargeboten, Bäuerinnen beim Einkaufen, Bauern beim Tratschen, ein paar Kinder beim Fangerl spielen. Heute standen überall angeregt diskutierende Gruppen und Grüppchen herum und keineswegs nur Bauern.

Am unteren Ende des Angers, vor der Kirche und dem Gasthof, war der Kommandostand aufgebaut, den Felix erwähnt hatte. Wenn man drei Bretter, die auf zwei Holzböcken lagen, denn wirklich als solchen bezeichnen konnte. Um den behelfmäßigen Tisch herum standen ein Mann in der Uniform der k.k. Staatsbahnen, zwei Gendarmen und Felix. Einer der Gendarmen redete gestenreich auf Felix ein und deutete dabei auf eine große Karte, die auf dem Tisch ausgebreitet war. Der Bahnbeamte stand mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen daneben, als weigerte er sich immer noch, zu glauben, was passiert war. Leutnant von Ripp stand etwas abseits der Gruppe, die Aktentasche umklammert und die geschlossenen Augen der Sonne zugewandt. Ein kluger Mann, wer auch die kleinen Annehmlichkeiten am Wegesrand zu genießen weiß, dachte Ros.

Ros schlenderte stockschwingend den Anger entlang, als wären weder sein städtischer Aufzug noch der Aufruhr am Platz irgendwie ungewöhnlich. Die Einheimischen, an denen er vorbeikam, musterten ihn kurz, verloren aber rasch wieder das Interesse. Ihre Minen variierten dabei von grimmig bis mitleidig. Sie hielten ihn wohl, wie beabsichtigt, für harmlos oder für einen weiteren Reporter aus der Stadt. Deren Anwesenheit wurde unübersehbar, sobald er sich dem Gasthaus näherte. Eine Gruppe von ihnen hatte es sich auf den Bänken davor bequem gemacht. Bier- und Weingläser in den Händen, diskutierten sie ebenso lebhaft verschiedene Theorien über das Verschwinden des Zuges wie die Einheimischen.

Während Ros an den Gruppen und Grüppchen vorbeiflanierte, schnappte er diverse einfallsreiche Erklärungen auf, allerdings keine, die ihm auch nur entfernt glaubwürdig erschien. Am beliebtesten schienen das Gespenst eines in der Nähe gräulich zu Tode gekommen Wilderers und Außerirdische vom Mond zu sein. Die Anarchisten mit der Geheimwaffe aus der Debatte taten die meisten als phantastische Spinnerei ab. Was Ros beruhigend, im Vergleich mit den anderen Theorien jedoch verwunderlich fand.

Was er bislang gehört hatte, lies seine Zuversicht schwinden, im Gasthaus etwas Hilfreiches in Erfahrung zu bringen. Aber der Marsch durch die Felder hatte seinen Appetit angeregt, also beschloss er, mittagzuessen und es darauf ankommen zu lassen. Danach konnte er sich immer noch ein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken suchen.

Er ging an der Reportermeute vorbei ins Gasthaus und hörte, wie einer der Reporter sagte: »Mir egal, wer es war und wie er es gemacht hat. Hauptsache sie finden’s vor vier heraus, damit sich’s noch für die Abendausgabe ausgeht. Ich will zurück in die Stadt.« Was ziemlich genau das war, was auch Ros dachte.

Die Gaststube der ›Weißen Rose‹ war groß, düster, mit widerstandsfähigen Holztischen und Bänken bestückt und rammelvoll. So viel zum Plan, ein Mittagessen zu ergattern. Am Tisch gleich beim Eingang saß eine Gruppe Reporter und bestürmte einen Mann im Sonntagsanzug mit Fragen. Der antwortete jovial und ausschweifend und erwähnte in jedem dritten Satz die Vorzüge Göllersdorfs und des hier angebauten Weines. Fünf Gulden darauf, dass das der Bürgermeister war, dachte Ros.

Er blieb am Eingang stehen und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Tische waren bis auf den letzten Platz mit Menschen besetzt, die aßen, tranken, redeten und offensichtlich die Abwechslung genossen, die so ein verschwundener Zug mit sich brachte. Am Stammtisch in der Ecke – der um jeden Zweifel auszuräumen mit einem gusseisernen Schild an der Wand darüber als solcher gekennzeichnet war – saßen die Dorfältesten und bemühten sich nach Kräften, den Trubel um sich herum zu ignorieren und so zu wirken, als würden sie jeden Freitag Mittag im Gasthaus sitzen. Was sie, bei näherer Überlegung, vermutlich wirklich taten. Vor der Schank drängelte sich die Dorfjugend in einer Doppelreihe. Hinter der Schank stand der Wirt, leuchtenden Auges ob des unerwarteten Umsatzes, füllte ein Glas nach dem anderen und scheuchte drei Kellnerinnen durch die Gegend.

Ros, der sich in Menschenmengen so wohl fühlte wie ein Sünder im Beichtstuhl, atmete tief durch. Was er sofort bereute. In der Gaststube roch es nur unwesentlich besser als bei den Gerbereien entlang des Wienflusses. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht und die Flucht ergriffen. Aber versprochen war versprochen und ganz hatte er die Hoffnung auf ein Mittagessen noch nicht aufgegeben. Er straffte die Schultern, trat an die Schank und schaffte es, mit impertinentem Stockgewedel die Aufmerksamkeit des Wirtes zu erregen.

»Einen wunderschönen guten Tag wünsche ich. Ich wollte eigentlich mittagessen, aber es scheint, Sie haben mehr Gäste als Platz. Was ist denn los? Gibt’s was umsonst?«

Der Wirt musterte Ros mit dem geübten Auge eines Mannes, der es gewohnt ist, Leute danach zu beurteilen, wie viel Umsatz sie zu bringen versprachen. Nach einem Blick auf Ros Kleidung und seinen leicht dümmlichen Gesichtsausdruck, breitete sich auf seinem Gesicht ein ebenso freundliches wie falsches Lächeln aus. Offenbar schätzte er Ros als jemanden ein, der mehr Gulden als Kreuzer in der Börse hatte. Gleich darauf zog aber ein Schatten über sein Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass die Gaststube bis auf den letzten Platz besetzt war.

Bevor der Wirt aber noch antworten konnte, wandte sich einer der jungen Burschen an der Schank an Ros: »Aus welchem Loch sind Sie denn gekrochen? Der Frühzug aus Retz ist verschwunden, die ganze Gegend ist in Aufruhr, und Sie fragen, was los ist?«

»Ich bin seit heute Morgen durch die Felder gewandert«, Ros wackelte mit seinem Spazierstock. »Den Frühling genießen und so. Ein Zug ist verschwunden? Wie ungewöhnlich! Wohin denn?«

»Wenn wir das wüssten, wär’ er ja nicht verschwunden, oder?«, antwortete der Bursche mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich zum Ausdruck brachte, dass alle Gscherten aus der Stadt einen Poscher hatten.

Ros nickte dem Burschen zu und sagte: »Gutes Argument. Hätte ich selber d’rauf kommen können.«

Er wandte sich wieder dem Wirt zu: »Mittagessen ist wohl nicht möglich, oder? Können Sie mir vielleicht etwas für ein Picknick einpacken?«

Seinem berechnenden Gesichtsausdruck zufolge war dem Wirt mittlerweile eine Idee gekommen, wie er sein Dilemma lösen konnte. Er sagte: »Mh, eventuell hätte ich noch ein Plätzchen für Sie. Sich mit Ameisen um’s Essen zu streiten ist ja nicht das Wahre für einen Herrn wie Sie. Ich habe ein Hinterzimmer, das ist zwar auch belegt, von einer Komtesse und ihrer Begleitung, aber da wäre noch Platz. Das heißt, wenn die Komtesse einverstanden ist. Aber Sie scheinen ja ein Mann von Welt zu sein, anders als gewisse andere.«

Er warf einen erbosten Blick auf zwei der Burschen an der Bar, die sich gerade etwas übereifrig zugeprostet hatten und jetzt nur mehr die Henkel ihrer Viertelgläser in den Händen hielten.

»Also, wenn es Ihnen recht ist, frage ich die Komtesse.«

»Das wäre wunderbar, ich bitte darum. Ich bin in der Tat nicht darauf erpicht, mein Mahl mit der örtlichen Fauna zu teilen.«

Der Wirt nickte ihm zu und verschwand durch die Türe hinter der Schank. Mit dem Umhören unter den Einheimischen würde es so wohl nichts werden, aber vielleicht bekam er ja wenigstens ein Mittagessen, dachte Ros. Wenn auch zu dem Preis, höfliche Konversation mit einer Komtesse machen zu müssen. Ein nicht geringer Teil der Kundinnen seines Vaters waren Komtessen und Ros Erfahrung nach waren sie arrogant und ihre einzigen Interessen waren Kleider, Schmuck und Ballbesuche. Er bereute immer mehr, dass er sich von Felix zu diesem Abenteuer hatte überreden lassen.

Seiner Rolle als Depp aus der Stadt treu, stützte er sich nonchalant auf seinen Stock, lächelte in die Gegend und sperrte seine Ohren auf, während er auf die Rückkehr des Wirts wartete.

… Ein Rudel Werwölfe, sag ich dir! Die sind stark! Haben den Zug blitzschnell zerlegt und die Teile weggetragen.

– Ha, warum nicht gleich Vampire, die sind noch stärker!

– Ja, aber es war schon hell, als der Zug verschwunden ist, Vampire schlafen tagsüber.

– Na, das gilt dann aber auch für deine Werwölfe. Und Vollmond ist auch erst wieder in fünf Tagen.

– Stimmt …

… Dieser Major vom Evidenzbureau sieht überhaupt nicht wie ein Geheimpolizist aus, eher wie ein – wie heißen die Leute die Bücher sortieren?

– Prodicar oder so. Aber wenn, dann wie einer der die Bücher in Reih und Glied aufstellt. Ich hab noch nie einen Prodicar mit so einem riesigen Schnauzbart gesehen.

– Du hast noch nie ’nen Prodicar gesehen, ob mit oder ohne Bart. Außerdem ist der Bart doch praktisch: Wenn er zwischen den Regalen geht, wischt er gleich auch noch Staub.

– He he, der war gut …

… Heut’ kommen wirklich die seltsamsten Leutchen her. Sieh dir mal den Stutzer bei der Schank an, angezogen wie für’s Begräbnis.

– Stimmt. Und hast du die zwei Noblichen vorhin gesehen, die Alte und die Junge? Die sind mit einem eigenen Zug gekommen.

– Ich hätt’ auch gern einen Zug.

– Wozu? Du jammerst doch schon, wenn du nur ein Dorf weiter musst. Da trifft man lauter Fremde, sagst du immer.

– Ich will ja nicht ’rumfahren damit, ich würd’ ihn verkaufen und mich zur Ruhe setzen. …

Was Ros da zu hören bekam, ließ ihn zweifeln, dass auch längeres Zuhören etwas Hilfreiches zu Tage gefördert hätte. Aber die letzte Unterhaltung machte ihm bewusst, dass eine Komtesse in einem Dorfgasthaus in der Tat ungewöhnlich war. Und eine Komtesse, die ausgerechnet an dem Tag, an dem ein Zug verschwand, mit einem Privatzug anreiste, war nicht nur seltsam, sondern nahezu verdächtig. Es schien, als könnte die Unterhaltung beim Essen doch interessanter werden, als er gedacht hatte. Wenn die Komtesse denn geruhte, das Extrazimmer mit ihm zu teilen.

Kurz darauf trat der Wirt aus einer Türe hinten im Gastraum und winkte ihm über die Köpfe zu. Ros schlängelte sich zwischen den Tischen zu ihm durch.

»Die Komtesse ist einverstanden«, sagte der Wirt, sobald Ros bei ihm war.

»Wunderbar. Sehr verbunden. Wo lang?«

»Folgen Sie mir.«

Ros folgte und fand sich in einem Gang wieder, der hinter Gastraum und Küche verlief und in eine Treppe nach oben mündete. Auf halber Höhe der Treppe lag eine graue Katze, wie eine Sphinx den Weg bewachend. Sie blinzelte ihm zu.

Der Wirt führte Ros zu einer Tür mit einem hübsch bemalten Holzschild, auf dem ›Jägerstube‹ stand. Er klopfte, eine weibliche Stimme rief »Herein«, der Wirt öffnete die Tür und trat ein. Ros zupfte seinen Gehrock zurecht, nahm die Brille vom Hut, steckte sie weg und strich sich die Haare wieder aus der Stirn. Dann folgte er dem Wirt ins Zimmer.

Das Erste, das er erblickte, war der riesige Kopf eines Zwölfenders, dessen braune Augen ihn vorwurfsvoll von der gegenüberliegenden Wand herab anstarrten. Links und rechts flankierten ihn zwei grinsende Wildschweinköpfe mit mächtigen Hauern.

»Darf ich vorstellen«, sagte der Wirt, »Komtesse von Rony, Freifrau von Doleschal, Herr, äh ...«

»Ros, Jakob Ros. Meine Damen, es ist mir eine Ehre. Vielen Dank, dass Sie mir Zuflucht gewähren«, sagte Ros, lüftete seine Melone und machte eine kleine Verbeugung.

Das Extrazimmer maß etwa vier Meter im Quadrat und enthielt eine bemalte Bauernkommode und einen großen Tisch mit bequemen Stühlen. An den Wänden hingen noch ein Dutzend weiterer Exemplare ausgestopften örtlichen Getiers. Am Kopfende des Tisches, unter dem vorwurfsvollen Hirsch, saß die Komtesse, die mit etwa zwanzig Jahren, auf die Ros sie schätzte, eher alt war für eine Komtesse. Wobei es mit Sicherheit nicht an ihrem Aussehen lag, dass sie noch unverheiratet war, befand Ros. Rechts von ihr saß die Freifrau, deren Alter Ros als höflicher Mensch als fortgeschritten bezeichnet hätte, hätte ihn jemand gefragt. Abgesehen vom Alter der Komtesse bildeten die beiden die übliche Kombination von Komtesse und Chaperone. Das war aber auch schon alles, was an den beiden gewöhnlich, im Sinne von gewohnt, war. Zum Beispiel fehlte der Freifrau der leidende Ausdruck, den ihre Alters- und Standesgenossinnen an den Tag zu legen pflegten. Wobei Ros sich nie entscheiden konnte, ob sie so verkniffen dreinsahen, weil sie auf ein junges dummes Ding aufpassen mussten, oder weil das junge dumme Ding sie ständig daran erinnerte, dass sie selbst beides nicht mehr waren. Freifrau von Doleschal hingegen wirkte, als wäre sie zufrieden mit sich und dem Stand der Dinge. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, sie würde sich amüsieren, wenn das für eine Freifrau in einem Dorfgasthaus nicht völlig undenkbar gewesen wäre.

Die Komtesse passte zur Chaperone, da sie ebenfalls nicht dem verbreiteten Bild einer Komtesse entsprach. Normalerweise strebten die jungen Adelsfrauen nach ätherischer Blässe, der mit Schminke nachgeholfen wurde, wenn die Natur sich weigerte. Komtesse Rony hingegen hatte die gesunde Gesichtsfarbe einer Frau, die ihren Parapluie eher als Spazierstock einsetzte denn als Sonnenschutz. Sie trug ein adrettes rostbraunes Reisekostüm, das ihrer Figur schmeichelte, aber keine Anstalten machte, sie in eine menschliche Wespe zu verwandeln. Es ließ die Trägerin frei atmen, wie Ros feststellte. In der Tat. Die langen braunen Haare trug sie, der gängigen Mode entsprechend, kunstvoll hochgesteckt. Ros erinnerte die Farbe an glänzende Kastanien, frisch aus ihrer stacheligen Hülle befreit. Ihre Augen waren grau und leicht mandelförmig, was ihrem Gesicht einen Hauch Exotik verlieh. See-nach-einem-Sturm-grau befand Ros. Wenn die durchschnittliche Komtesse ein Aquarell war, dann war diese ein in kräftigen Farben gemaltes Ölgemälde.

»Die Damen sind schon bei der Hauptspeise. Wollen Sie noch Suppe vorher?«, unterbrach der Wirt Ros Betrachtungen.

Ros riss seinen Blick los und sagte: »Danke nein. Bringen Sie mir einfach auch die Hauptspeise.«

»Was darf es zum Trinken sein?«

Diese Frage stürzte Ros in ein kleines Dilemma. Er trank lieber Bier als Wein, andererseits konnte man sich im Weinviertel mehr als nur böse Blicke einhandeln, wenn man Bier bestellte. Er warf einen raschen Blick auf den Tisch: Freifrau von Doleschal trank Wein, die Komtesse hatte ein kleines Bier vor sich stehen.

»Ein Seidel bitte«, sagte Ros.

»Sehr wohl«, sagte der Wirt und entschwand.

»Reichlich rustikal, nicht?«, sagte die Komtesse und deutete auf Trophäen an den Wänden.

Ros legte Stock und Hut auf der Kommode neben den Hüten der Damen ab, nahm Platz und sagte: »Ich hoffe sehr, es gibt keinen Hirsch- oder Wildschweinbraten. Nochmals vielen Dank, dass ich mich zu Ihnen gesellen darf.«

»Nicht der Rede wert, wir haben gern Gesellschaft. Was hat Sie denn nach Göllersdorf geführt, Herr Ros, wenn ich fragen darf?«, sagte die Komtesse.

Ros blickte sie an und überlegte, ob er die Wahrheit, eine Halbwahrheit oder eine Lüge erzählen sollte. Sein Mund hielt sich jedoch nicht mit derlei Überlegungen auf: »Ein Zufall und die faszinierende Frage, wie sich ein tonnenschwerer Eisenbahnzug in Luft auflösen kann.«

Verflixt, dachte er. Das kam davon, wenn man stundenlang durch die Natur latschte, dann gewann sie irgendwann die Oberhand.

»Sie sehen aber nicht wie ein Reporter aus«, sagte die Komtesse.

»Nachdem ich die Meute vor dem und im Gasthaus gesehen habe, betrachte ich das als Kompliment. Aber Sie haben recht: Ich bin kein Reporter.«

»Aber Sie kommen aus Wien, stimmt’s?«

Ros bejahte amüsiert. Unter allen anderen Umständen hätte er das Kreuzverhör impertinent gefunden, aber hier und jetzt fand er es vergnüglich.

»Wenn Sie kein Reporter sind, wie haben Sie dann so schnell von dem verschwundenen Zug erfahren?«

»Ich habe es in der Zeitung gelesen.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Die Debatte hat ein Extrablatt herausgebracht. Schauen Sie.«

Ros griff in seine Rocktasche und reicht ihr das Zeitungsblatt. Die Komtesse faltete es auf und überflog es mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Darf ich auch mal sehen?«, fragte die Freifrau interessiert.

»Natürlich«, sagte Ros. Die Komtesse reichte das Blatt weiter und wandte sich wieder Ros zu. »Wann ist das erschienen?«

»Etwas vor zehn Uhr«, antwortete Ros. »Und um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen: Ich bin hergeflogen.«

Die Komtesse sah ihn prüfend an und sagte: »Sie meinen das wörtlich, oder?«

»Ja, man hat die SML Favoriten abkommandiert, um bei der Suche zu helfen. Ich war an Bord.«

»Wie jemand vom Militär sehen Sie aber auch nicht aus. Moment, Ihr Name ist Ros?«

Ros nickte.

»Es gibt im Evidenzbureau einen Major Ros.«

»Mein Bruder. Er hat mich zufällig getroffen und aufgegabelt, weil er hoffte, ich könnte ihm behilflich sein.«

»Und warum hofft er das?«, fragte die Komtesse und nahm einen Schluck aus ihrem Glas.

»Bevor ich das beantworte: Darf ich fragen, wie es kommt, dass Sie hier sind? Und woher Ihre ungewöhnliche Kenntnis des Personals des Evidenzbureaus rührt?«, fragte Ros.

»Meiner Meinung nach darf er das, Ada«, sagte die Freifrau. Sie faltete das Extrablatt wieder und gab es Ros zurück.

»Schnitzel und Erdäpfelsalat«, sagte der Wirt, der, drei Teller balancierend, in diesem Moment zur Tür hereinkam. Er platzierte die Teller, wurde von allen bedankt und verschwand wieder, nachdem sie ihm versichert hatten, dass sonst im Moment keine Wünsche unerfüllt waren.

»Mahlzeit!«, wünschte Ros, was zweifach erwidert wurde und man machte sich ans Essen.

Nachdem sie die ersten Bissen für gut befunden hatte, sagte die Komtesse: »Meine ungewöhnliche Informiertheit rührt daher, dass mein Bruder, Gerhard Graf von Rony, Adjutant seiner Majestät ist, zuständig für die Kontakte zum Evidenzbureau. Er hat Ihren Bruder gelegentlich erwähnt und auch einmal zum Abendessen zu uns eingeladen. Sie sehen ihm nicht sehr ähnlich. Also Ihrem Bruder, nicht meinem.«

»Ja, ich weiß, der schneidige Felix und sein langweiliger Bruder. Ich glaube ja, es liegt an seinem Schnurrbart. Neben dem wirkt sogar der Stephansdom unscheinbar«, sagte Ros.

»Ja, der Schnurrbart war wirklich bemerkenswert. Während Sie wirken, als gäben Sie sich extra Mühe nicht aufzufallen«, sagte die Komtesse und sah ihn nachdenklich an.

»Ich ziehe es vor, zu sehen, anstatt gesehen zu werden. Aber Sie haben meine erste Frage noch nicht beantwortet«, sagte Ros, »Wie kommt es, dass Sie hier sind?«

»Zufällig, so wie Sie. Wir waren auf dem Weg nach Retz, wo wir ein Weingut haben. Als wir hier ankamen, war die Strecke gesperrt, und wir konnten nicht weiter. Da es auf Mittag zuging, haben wir beschlossen, hier zu essen. In der Hoffnung, dass die Strecke danach wieder frei sein würde.«

Jetzt war es an Ros, einen prüfenden Blick auf die beiden zu werfen. Die Komtesse hatte völlig ehrlich geklungen, aber Freifrau von Doleschal wirkte nachdenklich, auch wenn sie nichts sagte und sich weiter ihrem Essen widmete.

»Verstehe«, sagte Ros. Er schnitt ein Stück von seinem Schnitzel ab, steckte es in den Mund und lies eine Gabel voll Erdäpfelsalat folgen. Er überlegte, wie weit er gehen sollte. Wobei es ehrlicherweise mehr die Frage war, wie weit er