Professor Zamorra 1019 - Oliver Fröhlich - E-Book

Professor Zamorra 1019 E-Book

Oliver Fröhlich

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Beschreibung

Dylan McMour rang nach Atem. Vergeblich. Er spürte den weichen Teppich im Rücken, das Gewicht des Mannes auf seiner Brust - und den nahenden Tod. Der Kampf hatte ihn ausgelaugt und seine Kräfte erlahmen lassen. Er schlug nach dem Angreifer, zerkratzte ihm das Gesicht, aber das hielt diesen nicht auf. Sein Blick flackerte unstet durch den Raum, glitt über die Zauberutensilien, über rituelle Gegenstände, Pülverchen, magische Kreiden, Kolben, Schalen und Mörser. Alles zu weit weg, um es als Waffe zu benutzen. Hinter dem Turmfenster erhob sich die Sonne zu einem neuen Tag. Einem, den Dylan nicht mehr erleben würde. Das Letzte, was er sah, bevor er in den Abgrund des Todes stürzte, war das Rot und Weiß des Angreifers. Und das Amulett vor dessen Brust, das über Dylans brechendem Blick pendelte ...

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Seitenzahl: 135

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Inhalt

Cover

Impressum

Khiroc

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Bohbot / Luserke

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-8387-4909-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Khiroc

von Oliver Fröhlich

Dylan McMour rang nach Atem. Vergeblich. Er spürte den weichen Teppich im Rücken, das Gewicht des Mannes auf seiner Brust – und den nahenden Tod.

Der Kampf hatte ihn ausgelaugt und seine Kräfte erlahmen lassen. Er schlug nach dem Angreifer, zerkratzte ihm das Gesicht, aber das hielt diesen nicht auf. Sein Blick flackerte unstet durch den Raum, glitt über die Zauberutensilien, über rituelle Gegenstände, Pülverchen, magische Kreiden, Kolben, Schalen und Mörser. Alles zu weit weg, um es als Waffe zu benutzen. Hinter dem Turmfenster erhob sich die Sonne zu einem neuen Tag.

Einem, den Dylan nicht mehr erleben würde. Das Letzte, was er sah, bevor er in den Abgrund des Todes stürzte, war das Rot und Weiß des Angreifers.

Und das Amulett vor dessen Brust, das über Dylans brechendem Blick pendelte …

Mit einem Schrei auf den Lippen fuhr der Schotte hoch.

Der Eisbeutel, den er sich auf die Stirn gelegt hatte, um diesen elenden Kopfschmerzen Herr zu werden, klapperte zu Boden.

Recht so! Geholfen hatte er schließlich kein bisschen. Der Schädel wummerte heftiger denn je.

Dylan schwang sich herum und setzte sich aufrecht auf die Couch. Den Eisbeutel ließ er liegen. Stattdessen griff er nach dem halb geleerten Whiskyglas auf dem Wohnzimmertisch und kippte sich die bernsteinschimmernde Flüssigkeit in einem Schluck in die Kehle.

Ein vierzig Jahre alter Scotch, weich, vollmundig, mit einer leicht torfigen Note. Viel zu teuer und schade, um ihn sich achtlos hinter die Binde zu kippen.

Sei’s drum.

Dylan schnappte sich die Flasche, die geöffnet auf dem Tisch stand, und goss das Glas noch einmal randvoll.

Als er die Hand zum Mund führte, zitterte sie so stark, dass der Whisky über den Glasrand schwappte und ihm über die Hand floss. Egal.

Er leerte auch dieses Glas, knallte es auf den Tisch und ließ sich stöhnend gegen die Sofalehne sinken.

Endlich ging es ihm etwas besser. Zumindest hatte der Steinbrucharbeiter in seinem Schädel eine kleine Pause eingelegt.

Aus verquollenen Augen schaute er zu dem großen Fernseher an der Wand, auf dem sich ohne Unterlass das Menü einer DVD wiederholte. Sekundenlang ertrug er die nervige Musik, doch als sich sein Kopf wieder meldete und mit einer neuen Schmerzattacke drohte, beugte er sich zum Tisch, wühlte sich durch fettiges Burger-Papier, schnappte die Fernbedienung, warf dabei einen Pizzakarton und eine Schachtel mit chinesischem Essen hinunter und brachte die Glotze zum Verstummen.

Endlich Ruhe.

Dylan starrte zum linken Unterarm, an dem er seit einigen Wochen ein Armband trug. Den Feuerreif, wie Eric Thomson – der frühere Besitzer des magischen Schmuckstücks – es genannt hatte. Das Gegenstück zum Schattenreif am rechten Arm.

Ein Paar, das irgendwie zusammengehörte, auch wenn der Schotte die genauen Hintergründe noch nicht herausgefunden hatte. Er wusste zwar, dass Thomson die Armbänder in einer Höhle gefunden hatte, in der Obhut von untoten Wahyukalla-Indianern. Diese hatten sie zu Lebzeiten als Geschenk der Götter angesehen, das ihnen zu großen Triumphen über verfeindete Stämme verhalf.

Auch Eric Thomson bekam die Kraft der Armreife zu kosten. Doch er war der Versuchung der Macht erlegen. Er nutzte sie aus – und es kam zu Unfällen, geboren aus Liebe, Verzweiflung und Notwehr. In seinem Wahn redete er sich ein, die Armbänder seien schuld. Deshalb schenkte er eines davon einem Dämonenjäger namens Steigner.

Nur kurz danach wurde ihm bewusst, dass er das nicht hätte tun dürfen. Die Armreife gehörten zusammen. Doch er konnte Steigner nicht mehr finden. Der Verlust trieb Thomson in den Wahnsinn. Aber was er auch unternahm, er fand den Schattenreif nicht.

Dies war erst Dylan McMour vergönnt. Nach Steigners Tod nahm der Schotte das Armband an sich, froh darüber, endlich eine Waffe gegen Dämonen gefunden zu haben. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass er damit nur die Hälfte eines Paars besaß.

Obwohl er den Schattenreif erst vor etwa zwei Jahren an sich gebracht hatte, trug er ihn nun schon jahrhundertelang. Eine magische Rückkopplung hatte Dylan nämlich achthundert Jahre in die Vergangenheit geschleudert. Um in die Gegenwart zurückzukehren, war ihm nichts übrig geblieben, als die komplette Zeit zu durchleben. Der Schotte konnte sich an kaum etwas aus der Odyssee durch die Menschheitsgeschichte erinnern, aber er war sich sicher, dass er währenddessen den Schattenreif nicht abgenommen hatte.

Wie sich Dylan eingestehen musste, hatte er sich nach seiner Rückkehr in die Gegenwart verändert. Er war reizbar geworden, aggressiv. Seine frühere Lockerheit war wie weggeblasen.

Und er hatte feststellen müssen, dass er Zamorra hasste!

Dylan sah in dem Parapsychologen aus Frankreich einen ehemaligen Konkurrenten um das ewige Leben, der ihm die Unsterblichkeit gestohlen hatte. Erst als der Schotte auf Eric Thomson traf und den Feuerreif erhielt, erst als er dadurch schlaglichtartig von dessen Vergangenheit erfuhr, erkannte er, dass der Hass auf Zamorra nicht aus seinem eigenen Inneren stammte.

Vielmehr handelte es sich um Thomsons Gefühle. Offenbar hatte der alte Mann die jahrelange Trennung von seinem Schmuckstück nicht verkraftet und war darüber wahnsinnig geworden. Über eine magische Verbindung zwischen den Armreifen hatte der Schotte die negativen Empfindungen aufgefangen und sie für seine eigenen gehalten.

Deshalb hatte Dylan auf innere Ausgeglichenheit gehofft, jetzt, da er beide Armbänder besaß.

Das Gegenteil war der Fall.

Statt endlich zur Ruhe zu kommen, wurde es jeden Tag schlimmer. Sein verdammtes Hirn wollte einfach nicht die Klappe halten. Es malträtierte ihn mit zusammenhanglosen Bildern. Mit Erinnerungsfetzen an seine Odyssee durch achthundert Jahre der Menschheitsgeschichte. Kämpfe gegen Dämonen, brennende Schiffe, aufsteigende Rauchsäulen, Explosionen, schreiende Menschen. Gewalt, Blut und Tod, quer durch die Jahrhunderte.

An nichts davon konnte er sich wirklich erinnern. Nur an das Gefühl der geborgten Unsterblichkeit, denn während seiner Reise durch die Historie war Dylan nicht gealtert.

Unsterblichkeit! Was für ein großes Wort. Was für ein Geschenk. Was für ein Fluch.

In seinem Inneren brodelten Traurigkeit und die Ahnung von Erinnerungen an Frauen, die er einst geliebt hatte. Denen er beim Altern zusah, während er jung blieb. Die starben, wenn er leben durfte.

Hatte er sich auf seiner Reise durch die Zeiten manchmal gewünscht, die Unsterblichkeit zu verlieren, um an der Seite eines seelenverbundenen Menschen alt zu werden? Oder entsprang dieser Gedanke nur einer romantischen Verklärtheit?

»Ist doch scheißegal«, brummte er. »Seit ich zurück in meiner Zeit bin, hat sich das Thema sowieso erledigt.«

Richtig. Weil den einzigen Schluck, den die Hüterin vor der Versiegelung der Quelle des Lebens hatte erübrigen können, Zamorra für sich in Anspruch genommen hatte. Weil er sich vorgedrängt hatte, der Herr Dämonenjäger, der Meister des Überheblichen, der …

Du hast ihm den Vortritt gelassen! Er hat sich nicht vorgedrängt.

Papperlapapp. Was machte das schon für einen Unterschied. Sie beide waren unsterblich gewesen. Sie beide hatten dieses Geschenk verloren. Und nur Zamorra hatte es zurückbekommen! Verfluchter Drecksack.

Hast du nicht gerade noch gedacht, dass du dich danach sehntest, die Unsterblichkeit zu verlieren? Und jetzt trauerst du ihr doch nach? Wie passt das zusammen?

»Hör auf, mich zu belehren!«, brüllte er, ohne zu wissen, wen er damit meinte.

Für einen kurzen Augenblick überfiel ihn ein heftiges Déjà-vu. Es kam ihm vor, als hätten genau die gleichen Gedanken ihn schon einmal geplagt. Er schüttelte das Gefühl ab.

Es waren aber nicht nur die zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen, die ihn in den Wahnsinn trieben. Nicht alleine die Wut und der Neid auf Zamorras Unsterblichkeit. Nicht bloß die inneren Widersprüche, an denen er zerbrach.

Nein, es gab auch noch etwas anderes. Etwas … etwas …

Ach, er wusste es selbst nicht.

Eine unerklärliche Sehnsucht? Das traf es nicht, kam dem Gefühl aber nah.

Manchmal glaubte er, er vermisse eine Frau namens Kalisi. Aber schon im nächsten Augenblick hasste er sie. Sehnte sich nach ihrer Berührung und wollte sie zugleich umbringen. Dabei hatte er keine Ahnung, wer sie war! Eine Frau in seinem Leben in der Vergangenheit, vergessen wie alles andere? Oder lag die Wahrheit tiefer?

Zuweilen glaubte er aber auch, dass die Sehnsucht nichts mit Kalisi zu tun hatte. Aber womit dann?

Plötzlich sehnte er sich nicht nur nach Kalisi, sondern fürchtete sich zugleich vor einem Mann, dessen Namen er nicht greifen konnte. Thomas, Taromus, etwas in dieser Richtung.

Was ihn aber vollends in den Irrsinn trieb, war das Gefühl, selbst dieser Thomas/Taromus zu sein. Im gleichen Augenblick war er aber auch Kalisi. Und so erlebte er aus ihrer beider Augen mit, wie er sie beschimpfte, bedrohte, angriff und …

Dylan schüttelte sich.

»Reiß dich zusammen, Mann!«

Wieder griff er nach der Flasche, aber sie war leer. Nachdem er auf ihrem Grund keinen Trost gefunden hatte, beschloss er, in einer anderen danach zu suchen.

Er stemmte sich hoch, torkelte zur Hausbar – und verharrte.

Plötzlich war ihm noch ein anderes Bild in den Sinn gekommen. Eine Frau mit sonderbaren, marmorierten Augen. Eines grün, das andere zur Hälfte ebenfalls grün, die zweite Hälfte jedoch schimmerte in warmem Braun. Zugleich kam ihm ein Name in den Sinn: Henriette.

Nein, das fühlte sich falsch an.

Hariett!

Ja, so war es richtig. Hariett.

Wer war sie? Eine weitere Frau aus seiner Vergangenheit? Oder nur eine Wahnvorstellung, eine Vision, das Wunschbild einer Lebenspartnerin?

Und diese Tiere! Riesige Vierbeiner, bis auf einen Haarkranz um den Kopf nackt und schauderhaft hässlich. Dylan hatte einmal ein Bild von einem Grizzly gesehen, dem man das Fell entfernt hatte. Die Biester, die plötzlich vor seinem inneren Auge erstanden, erinnerten ihn daran. Sie strahlten pure Mordlust aus. Diesen Eindruck konnten nicht einmal die kunstvollen Schlieren wettmachen, die die Tiere umschwebten wie sichtbar gewordener Geruch.

Ein absurder Begriff stieg in seinem Bewusstsein auf.

Kyrillische Bullen.

Was zum Teufel sollte das bedeuten? Und hatte er nicht schon einmal von ihnen geträumt?

Kalisi.

Kyrillische Bullen

Und Gehrock.

Dylan presste die Hände gegen die Schläfen. Diese ständige Lawine aus zusammenhanglosen und völlig bedeutungsfreien Begriffen und Bildern brachte ihn um den Verstand.

Wenn es doch nur endlich vorbei wäre. Wenn er nur endlich seine Ruhe hätte vor diesem Irrsinn!

Stattdessen taumelten die Gedanken weiter sinnlos durch sein Bewusstsein.

Gehrock ist nicht ganz korrekt. Der wirkliche Begriff klingt so ähnlich, ergibt aber noch weniger Sinn.

»Halt die Klappe, verdammt!«, schrie er seinen Verstand an. Er schleuderte die leere Whiskyflasche gegen die Wand, wo sie zerbarst, und wurde sich erst in diesem Augenblick bewusst, dass er sie überhaupt in Händen gehalten hatte.

Er sank auf die Knie und schluchzte.

Plötzlich überfiel ihn wieder das Gefühl zu ersticken. Nein, nicht zu ersticken, sondern erwürgt zu werden.

Jemand drückte ihm den Hals zu. Ein Mann mit weißer Kleidung. Oder war sie rot? Vor seiner Brust baumelte ein Amulett.

Dylan keuchte.

Warum konnte ihn dieser Traum nicht einmal im Wachzustand in Ruhe lassen?

Weil es kein Traum ist!

Die Erkenntnis traf ihn mit Urgewalt.

Kein Traum? Was dann?

Eine Erinnerung.

Nein, der Gedanke war lächerlich. Wie sollte er sich an seinen eigenen Tod erinnern können. Schließlich lebte er noch. Wenn man diese jämmerliche Existenz denn so bezeichnen mochte.

Dann vielleicht eine Warnung. Eine Vision dessen, was in der Zukunft geschehen könnte.

Ein Mann mit weißer und roter Kleidung und einem Amulett um den Hals würde ihn erwürgen?

Professor Zamorra?

Warum sollte er das tun?

Weil er sich bedroht fühlt. Er fürchtet, du holst dir die Unsterblichkeit zurück.

Dylan hustete, als der eingebildete Druck auf seinem Hals allmählich nachließ.

Je länger er darüber nachdachte, desto glaubhafter erschien ihm der Gedanke. Bestimmt war Zamorra auch noch scharf auf die Armbänder. Da brauchte sich Dylan nur an die gierigen Blicke erinnern, mit denen der Meister des Überdrehten den Feuerreif angeglotzt hatte.

Oh, und der Neid in seinen Augen, als es ihm, Dylan, und nicht dem Herrn Professor gelungen war, Eric Thomson auszuschalten und dadurch Nicole Duvals Leben zu retten.

Eifersucht! Das war es.

Zamorra, der ewig junge Möchtegern-Playboy, war eifersüchtig. Auf Dylans Erfolg. Darauf, dass er die Waffen besaß, die der Meister des Überkandidelten so gerne an sich gebracht hätte. Auf die Erlebnisse und Erfahrungen, die der Schotte während seiner Zeitenodyssee gesammelt hatte.

Und deshalb plante Zamorra, seinen ehemaligen Freund zu ermorden.

Mit einem Mal sah Dylan den Plan des Professors deutlich vor sich.

Er lachte auf.

»Nein, mein lieber Herr Dämonenjäger!«, brüllte er. »So haben wir nicht gewettet. Ich werde mich zu wehren wissen.«

Sterne blühten vor seinen Augen auf.

Dylan sackte in sich zusammen und schlief ein.

Er träumte von Kalisi, kyrillischen Bullen und Gehrock.

Und von einem mordenden Professor.

***

In der Welt Aldrashy vor sehr, sehr langer Zeit

Die Sonne reckte ihr strahlendes Antlitz gerade mal einen Fingerbreit über die Gipfel der Hussalury-Höhen. Nicht genug, um die Kälte der Nacht schon zu vertreiben.

Dennoch stand Tahonas der Schweiß auf der Stirn, als er die Ebene mit den Khirrhyl-Wäldern erreichte. Sein Wams war durchgeschwitzt, die Felljacke hatte er längst ausgezogen und unter dem Arm getragen.

Ihm war klar gewesen, dass ein nächtlicher Aufstieg trotz der Kühle anstrengender ausfallen würde als am warmen Tag. Die Glimmergraswiesen, tagsüber hart wie Stein, gaben unter seinen Füßen nach, sodass er bei jedem Schritt ein wenig einsank. Die Wälder aus Süßharzweiden boten kaum ein Durchkommen, weil die Bäume aussahen, als schliefen sie selbst. Die bei Sonnenlicht dem Himmel entgegengereckten Äste hingen zu Boden und bildeten ein wildes Dickicht.

Zu allem Überfluss bedeckten Wolken den Nachthimmel und verwehrten dem Licht der Sterne, die Gegend wenigstens ein wenig zu beleuchten. So war Tahonas auf den Schein des Feuerkobolds angewiesen.

Das kleine Wesen umkreiste seinen Kopf, nur gehalten von einem dünnen Strang der Wahrhaften Essenz.

Tahonas war ein Dehan, also ein Zauberkundiger. Streng genommen hatte er seine fünfjährige Lehrzeit aber gerade erst abgeschlossen. Eigentlich hätte er bei seinem geringen Rang einen Feuerkobold nicht beschwören dürfen, ganz zu schweigen davon, ihn mit der jeder Magie zugrunde liegenden Wahrhaften Essenz zu binden. Aber er hatte bereits als Lehrling zu den Besten gehört. Ach was, er war der Beste gewesen.

Ein so unkompliziertes Ritual wie die Beschwörung und Beherrschung einer Niederkreatur stellte keinerlei Problem für ihn dar.

Natürlich, wenn sich das Feuerwesen aus dem Strang der Wahrhaften Essenz befreite, schlüpfte es womöglich in Tahonas’ Körper und verbrannte ihn innerlich. Aber auch das Knüpfen der magischen Fesselstränge stellte für den jungen Dehan inzwischen eine Selbstverständlichkeit wie das Atmen dar. Er war sich sicher: Es konnte nichts passieren. Und er hatte recht.

Erst kurz vor Sonnenaufgang riss die Wolkendecke auf und wenig später war es hell genug, dass Tahonas seinen magischen Gefangenen nicht mehr brauchte. Als er den Feuerkobold aus dem Essenzstrang entließ, achtete er darauf, kein Risiko einzugehen. Er legte einen dünnen Magiefaden um den Hals des Wesens, und als sich dieses erwartungsgemäß auf seinen Beschwörer stürzen wollte, zog er die Schlinge zusammen. Der Kobold wurde zurückgerissen und suchte sein Heil in der Flucht.

Der Aufstieg über zerklüftete Felsen und allmählich verhärtende Glimmergraswiesen zog sich eine weitere halbe Stunde hin, dann erreichte Tahonas die Ebene mit den Khirrhyl-Wäldern.

Einige Minuten verharrte er, schaute auf die in großem Abstand voneinander stehenden knorrigen Bäume. Mächtige Stämme, die drei Männer zusammen nicht hätten umfassen können, ragten hoch in den Himmel und reckten ihre gewundenen, weit ausladenden Äste mit den dreifingrigen roten Blättern den Baumnachbarn entgegen. Die Äste umwanden sich gegenseitig, wuchsen ineinander und bildeten ein Dach, unter dem alle vier Jahre für zwei Monate eines der atemberaubendsten Schauspiele stattfand, die die Natur Aldrashys bot: die Brunftzeit der Khirrhyl.

Tahonas hatte sich jedoch nicht etwa in die Hussalury-Höhen gewagt, um diesen gewaltigen Tieren bei der Paarung zuzusehen, sondern weil er das wohl einzigartigste Material der Welt an sich bringen wollte: Khiroc.

Natürlich hätte er wie alle Khiroc-Jäger erst im Laufe des Vormittags zu diesem Ort aufbrechen können, aber dann wäre ihm erstens in den anderen Jägern Konkurrenz erwachsen, und zweitens hätten sie womöglich versucht, ihn von dem abzuhalten, was er vorhatte.

Noch nie hatte es vor ihm jemand gewagt, noch während der Khirrhyl-Paarung an das Khiroc zu gelangen. Und das aus gutem Grund, denn genauso gut hätte man sich vom Schandturm des Großfürsten stürzen können. Danach wäre man ebenfalls tot, aber wenigstens hätte man es schneller hinter sich.

Mit anderen Worten: Einem Khirrhyl-Paar das Khiroc zu stehlen, glich einem Selbstmordversuch mit hervorragenden Erfolgsaussichten.