Professor Zamorra 1168 - Andreas Balzer - E-Book

Professor Zamorra 1168 E-Book

Andreas Balzer

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Beschreibung

Schatten über Toruń

Polen, 1944
Die Wehrmacht verfolgt bei Thorn eine versprengte Widerstandsgruppe der polnischen Heimatarmee. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die schlecht bewaffneten, ausgehungerten und völlig erschöpften Männer und Frauen erreicht haben. Deren Todesurteil steht bereits fest. Die Fliehenden halten auf ein kleines, aber dichtes Wäldchen zu, zögern aber aus unersichtlichen Gründen, bevor sie zwischen den Bäumen Schutz suchen. Die Deutschen sind verwundert. Und noch irritierter sind sie, als die Polen mit Entsetzen im Blick wieder aus dem Wäldchen herauskommen - und direkt den Deutschen in die Arme laufen. Was kann so erschreckend sein, dass die Widerstandskämpfer den sicheren Tod vorziehen?

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Seitenzahl: 144

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Inhalt

Cover

Impressum

Schatten über Toruń

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: StockLite; Algol; Kamenetskiy Konstantin/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7665-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Schatten über Toruń

von Andreas Balzer

Das Böse war besiegt. Die Herrschaft des Deutschen Ordens in Thorn war zu Ende.

Es war kein langer Kampf gewesen. Zu viel Wut hatte sich bei den Bürgern der Stadt aufgestaut. Einen ersten Sturm auf die Burg hatten die verhassten Ordensritter noch abwehren können. Aber die aufgebrachten Bürger belagerten die Burg, und schon einen Tag später ergaben sich die Eingeschlossenen und sahen hilflos zu, wie die Bürger die stolze Anlage fast dem Erdboden gleichmachten.

Die Zerstörung der Burg im Februar 1454 sollte in die Geschichte eingehen als Auftakt des Dreizehnjährigen Krieges des Preußischen Bundes gegen die machtgierigen Ordensritter. Doch in den Geschichtsbüchern stand nichts von der mächtigen magischen Waffe, die über lange Zeit die Schreckensherrschaft des Ordens in Thorn gesichert hatte …

Als die Ritter die Bürger in ihre Burg ließen, war das eigentlich ein Hinterhalt gewesen. Doch die Aufständischen hatten sich vorbereitet. Mit magischen Schutzsymbolen gelang es ihnen, die Macht der unheimlichen Silberscheibe zu bannen, die die Ritter einst aus dem ferner Morgenland mitgebracht hatten. Sie nahmen das geheimnisvolle Schmuckstück an sich und vergruben es außerhalb der Stadt im Wald.

Aber das Böse war nicht tot. Es wartete nur auf den Tag seiner Wiederkehr.

Das von Deutschland besetzte Polen, Reichsgau Danzig-Westpreußen, außerhalb von Thorn, Dezember 1944

Sie wussten, dass sie es nicht schaffen würden. Thorn war nur noch wenige Kilometer entfernt, aber die Verfolger waren ihnen bereits dicht auf den Fersen.

Die fünf Männer und zwei Frauen waren Mitglieder der polnischen Heimatarmee, die den deutschen Besatzern seit Jahren erbitterten Widerstand leistete. Ihre von Posen aus operierende Untergrundzelle war vor zwei Tagen aufgeflogen, die meisten ihrer Kameraden waren an Ort und Stelle erschossen worden. Seitdem befanden sich die wenigen Überlebenden auf der Flucht.

Abseits der großen Straßen bewegten sich die völlig erschöpften Widerstandskämpfer über die schneebedeckten Felder, die Thorn großflächig umgaben. Aber sie wussten, dass ihnen die Jäger immer näher kamen. In den letzten Stunden hatten sie mehrfach Motorengeräusche gehört, die vermutlich von Wehrmachtsoldaten oder einem SS-Regiment stammten.

Noch im Sommer hatten sie geglaubt, die Aktion Gewittersturm – die vollständige Befreiung Polens durch die Heimatarmee – könne tatsächlich Erfolg haben. In der Schlacht um Wilna war es den Widerstandskämpfern gelungen, große Teile des Stadtzentrums von den Deutschen zu befreien, und wenig später hatten sie Lemberg zurückerobert. Doch die nachrückende Rote Armee hatte die Siege schnell zunichtegemacht. Die meisten Widerstandskämpfer waren von den Sowjets entwaffnet und verhaftet worden. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, lebten viele von ihnen längst nicht mehr.

Im August war dann der Warschauer Aufstand von den Deutschen niedergeschlagen worden. Nach der Kapitulation der Widerständler hatten sich die Besatzer mit Massakern an der Zivilbevölkerung und der weitgehenden Zerstörung der Hauptstadt blutig gerächt.

Die sieben Männer und Frauen machten sich nichts vor. Die Heimatarmee war so gut wie zerschlagen. Vermutlich würde keiner von ihnen das nahe Kriegsende erleben. Trotzdem gaben sie nicht auf. Sie würden kämpfen bis zum letzten Atemzug.

Die im Mittelalter von den Rittern des Deutschen Ordens gegründete Stadt Thorn hatte eine wechselvolle deutsch-polnische Geschichte hinter sich. Seit dem Überfall auf Polen war Toruń, wie der polnische Name lautete, wieder fest in deutscher Hand. Doch der Anführer der kleinen Gruppe, ein früherer Major der polnischen Vorkriegsarmee, den alle nur Marek nannten, hatte gute Verbindungen in der Geburtsstadt des großen Astronomen Nikolaus Kopernikus. »Wenn wir es bis Toruń schaffen, sind wir in Sicherheit!«, hatte er versprochen. »Dann können wir für eine Weile untertauchen und uns neu organisieren.«

Jetzt hatten sie nur noch wenige Kilometer vor sich. Doch dann hörten sie wieder die Motorengeräusche.

»Keine Panik«, zischte Marek. »Noch sind sie nicht hier.«

Der Major zückte sein Fernglas und suchte den Horizont ab. Und dann sah er sie. Ein leichter Panzerspähwagen, zwei offene Geländefahrzeuge und mindestens vier Motorräder.

»Scheiße«, murmelte Marek. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Rechts vor ihnen befand sich ein kleiner, dicht aussehender Wald.

»Nehmt eure Waffen und lasst alles hier, was ihr nicht braucht«, befahl er im knappen Kommandoton. »Der Wald da! Lauft! Lauft um euer Leben!«

Sie schafften es nicht. Die Soldaten holten sie ein, als sie den Waldrand gerade erreicht hatten. Zwei Granaten explodierten in der unmittelbaren Nähe der Flüchtenden. Eine dritte erwischte die junge Magda mitten im Lauf. Die anderen rissen ihre Waffen hoch und feuerten wild auf die deutschen Soldaten, doch nur Marek konnte einen Motorradfahrer vom Sattel holen. Dann war die Munition aufgebraucht.

»In den Wald, schnell, bevor sie hier sind!«, schrie der Offizier. Er stockte, als er das Gesicht des Jüngsten in der Gruppe sah. Der hagere Bursche war höchstens siebzehn und noch nicht lange dabei, Marek hatte im Chaos der letzten Tage nicht mal nach seinem Namen gefragt. Der blasse Knabe blickte ihn schreckensstarr an. »Was ist los mit dir? Willst du leben? Dann lauf, lauf in den Wald, so schnell du kannst!«

»Es ist nicht sicher da«, brachte der Junge stockend heraus.

»Nicht sicher? Was meinst du mit nicht sicher?« Fassungslos sah Marek sein Gegenüber an. Eine weitere Granate explodierte in ihrer unmittelbaren Nähe. »Was glaubst du, ist das hier?«

»Ich komme aus Toruń«, stammelte der Junge. »Jeder hier weiß, dass man nicht in den Wald darf. Es ist zu gefährlich.«

Der Kleine stand ganz offensichtlich unter Schock. Marek gab dem Jungen einen unsanften Stoß. »Los jetzt. Nichts da drin kann so gefährlich sein wie die Männer hier draußen!«

Sie rannten los und tauchten in die Dunkelheit des Waldes ein. Doch schon nach wenigen Metern wusste Marek, dass er sich geirrt hatte.

»Was zum Teufel machen die da?«

Hauptmann Hans Möllner starrte verwundert durch sein Fernglas auf die polnischen Widerstandskämpfer, die mit aschfahlen Gesichtern aus dem Wald wieder herauskamen, in den sie gerade erst verschwunden waren.

»Das Vieh begibt sich freiwillig zur Schlachtbank«, sagte Unterfeldwebel Ludwig Strebenz mit einem teuflischen Grinsen. »Das ist mal was Neues. Vielleicht haben sie Todessehnsucht.«

»Uns soll’s recht sein«, erwiderte der Hauptmann und gab dem Fahrer ein Zeichen. Der geländegängige Pkw setzte sich in Bewegung, und der Rest der Formation folgte.

Die Polen erwarteten sie. Sie liefen nicht weg. Möllner empfand kein Mitleid. Auch wenn er sich nie getraut hätte, das offen auszusprechen, er wusste, dass der Krieg verloren war. Alle wussten es. Die Rote Armee rückte unbarmherzig vor, und die erschöpfte, schlecht ausgerüstete Wehrmacht hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Die Rache der Russen würde grausam sein, da gab sich Hauptmann Möllner keinen Illusionen hin. Alles andere wäre auch ein Wunder gewesen nach der Bestialität, mit der die Deutschen über den Osten hergefallen waren.

Was zählten da schon ein paar Polen, die noch verzweifelt Widerstand leisteten? Möllner hätte den versprengten Haufen, der ihnen in Posen entwischt war, einfach laufen lassen können. Aber das widersprach seinem Naturell. Er brachte die Dinge gern zu Ende. Doch das war nicht alles. Angesichts des bevorstehenden Endes trieb ihn eine dunkle, kaum zu bändigende Rachsucht. Wenn wir untergehen, nehmen wir euch alle mit, dachte er mit zusammengepressten Lippen.

Der Fahrer stoppte den Geländewagen unmittelbar vor der Gruppe. Möllner und Strebenz zogen ihre Walther-P38-Pistolen und stiegen aus. Hinter ihnen brachten sich die anderen Soldaten mit ihren Maschinenpistolen und Gewehren in Stellung. Die Polen liefen nicht weg. Sie wichen nicht zurück. Der Hauptmann sah, dass sie am ganzen Leib zitterten.

»Wer von euch ist der Anführer?«, schrie er.

Ein älterer Mann mit schwarzgrauem Vollbart hob die Hand. Möllner jagte ihm eine Kugel in den Kopf. Der Junge neben dem Anführer schrie auf. Der Hauptmann schätzte den Knaben auf nicht älter als sechzehn oder siebzehn. Er zitterte vor Angst, aber auch er senkte den Blick nicht, als der Offizier die Waffe jetzt auf seinen Kopf richtete.

»Sprichst du Deutsch?«

Der Junge nickte. »Ein bisschen«, stammelte er.

»Was habt ihr im Wald gesehen? Warum seid ihr zurückgekommen?«

Der junge Widerstandskämpfer schüttelte den Kopf. Offenbar suchte er verzweifelt nach den richtigen Worten. »Nichts gesehen, wir haben nichts gesehen. Nur gespürt … und gehört.«

»Gehört?« Verwundert schüttelte Hauptmann Möllner den Kopf. Er hatte nichts gehört. Andererseits waren die Motorengeräusche so laut gewesen, dass sie vermutlich alles übertönt hatten.

»Wer ist da im Wald? Soldaten? Rote Armee?«

Der Junge schüttelte energisch den Kopf? »Keine Menschen!«

»Keine Menschen?« Strebenz sah Möllner fast amüsiert an. »Was soll das jetzt schon wieder heißen?«

»Sehen wir besser nach. Strebenz, nehmen Sie sich ein Dutzend Männer und gehen Sie in den Wald. Ich bleibe mit den Gefangenen hier«, bestimmte der Hauptmann.

Der Unteroffizier salutierte und stellte das Kommando zusammen. Die Fahrer des Spähpanzers und der Geländewagen blieben zurück, falls sie schnell aufbrechen mussten. Und darüber hinaus noch vier Männer, um die sechs Gefangenen in Schach zu halten. Vielleicht sollten wir sie einfach erschießen und von hier verschwinden, dachte Hauptmann Möllner, während er sich eine Zigarette anzündete.

Trotz der eisigen Temperaturen stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und etwas klumpte sich in seinem Magen zusammen. Instinktiv wusste Möllner, dass sein plötzliches Unwohlsein eine abgeschwächte Variante dessen sein musste, was die Polen aus dem Wald getrieben hatte – direkt in die Arme ihrer Häscher.

Dreh nicht durch, wies sich der Offizier selbst zurecht. Das ist ein ganz normaler polnischer Wald. Hier gibt es nichts, was uns gefährlich werden könnte.

Dann begannen die Schreie.

Erst war es ein einzelner Schrei. Laut, schrill und voller Entsetzen. Dann folgten weitere. Die Wachen sahen Möllner hilfesuchend an, doch der Hauptmann war genauso verstört wie sie.

»Was ist das?«, herrschte er den jungen Widerstandskämpfer an. Er presste ihm den Lauf seiner Walther an die Schläfe. »Los, sag schon, du verdammter Polacke! Sind das die Russen?«

Doch der Pole schüttelte den Kopf. »Der Wald, es ist der Wald.«

»Der Wald? Was soll das heißen, der Wald? Willst du mich für dumm verkaufen?«

Wütend stieß Möllner den Jungen zu Boden. Er wollte abdrücken, doch etwas lenkte ihn ab. Die Verursacher der Schreie bewegten sich. Einige entfernten sich, andere kamen näher. So als liefen die Soldaten panisch vor ihren Angreifern davon, ohne auf den Weg oder die Richtung zu achten.

Doch dazu sollte es nicht kommen. Ein Schrei erstarb nach dem anderen. Dann war nur noch ein einzelner Mann zu hören. Er kam genau auf sie zu – und etwas folgte ihm. Die Bäume erzitterten, als sich etwas mit Urgewalt Bahn brach.

Ein Panzer. Das ist ein sowjetischer Panzer! Hauptmann Hans Möllner schrie einen heiseren Befehl, und der Spähpanzer richtete sein Geschütz auf den Waldrand. Möllner, die Wachen und die Gefangenen warfen sich zu Boden, als eine Granate eine Reihe von Bäumen in Stücke riss. Holzstücke und Erde prasselten auf sie herab.

Doch der Schütze hatte zu früh geschossen. Mit weit aufgerissenen Augen und rudernden Armen erschien Strebenz dort, wo eben noch die Granate eingeschlagen war.

»Feuer!«, brüllte Möllner. Sein Unteroffizier war ihm egal. Er wollte das erledigen, was hinter ihm her war. Doch es war zu spät.

Es war kein Panzer, was hinter Strebenz aus dem Wald kam. Überhaupt nichts, was irgendeinen menschlichen Ursprung hatte. Fassungslos starrten die deutschen Soldaten und ihre polnischen Gefangenen auf das schemenhafte Gebilde, das hinter dem Unterfeldwebel herjagte. Es war zu schnell, zu schattenhaft, als dass die Augen es genau hätten erfassen können. Aber es sah aus wie eine pfeilschnell durch die Luft fliegende Schlange aus verfestigtem Rauch. Und sie war nicht allein. Weitere dieser Wesen – und Möllner zweifelte keinen Moment daran, dass es sich tatsächlich um Lebewesen handelte – schossen auf die deutschen Soldaten zu.

Möllner riss die Waffe hoch und feuerte das Magazin leer. Er war sich sicher, dass jede Kugel ihr Ziel traf, doch sie gingen einfach durch die unheimlichen Angreifer hindurch. Entsetzt sah der Hauptmann, wie sich die vorderste der rauchartigen Schlangen auf seinen Unteroffizier stürzte. Strebenz schrie schrill auf, als ihn das unheimliche Wesen umschlang und seinen Körper dabei immer wieder zu durchdringen schien, so als bestünde er nicht aus fester Materie. Der Schrei endete abrupt, und die leblose Hülle des Unteroffiziers sackte zu Boden.

Die anderen Soldaten feuerten, was das Zeug hielt. Als sie sahen, dass das vergebens war, suchten sie ihr Heil in der Flucht. Möllner stieß einen Fluch aus, als sich sein Fahrer mit den anderen Fahrzeugführern davonmachte. Die zurückgelassenen Soldaten rannten verzweifelt hinterher, Möllner allen voran. Er drehte sich nicht um, als es seine Männer einen nach dem anderen erwischte.

Dann spürte er, wie sich etwas um ihn schlang. Der Hauptmann blickte an sich hinab und sah eine der Rauchschlangen, die sich um seinen Brustkorb gelegt hatte. Er spürte, wie sie zudrückte und ihm dabei das Leben aus dem Leib sog.

Hauptmann Hans Möllner sackte auf die Knie. Dann kippte er einfach zur Seite. Mit einer Teilnahmslosigkeit, die ihn selbst überraschte, sah er, wie die restlichen seiner Männer niedergemacht wurden.

Was ihn wirklich interessierte, war etwas anderes. Die Polen standen immer noch am Waldrand. Sie waren zutiefst verängstigt, doch sie bewegten sich nicht – und die Schlangen aus Rauch ließen sie in Ruhe. Sie strichen immer wieder mal um sie herum, so wie ein Raubtier, das eine potenzielle Beute beschnuppert, griffen jedoch nie an.

Warum dürft ihr weiterleben und wir nicht? In seinem tiefsten Inneren kannte Möllner die Antwort. Aber selbst jetzt war er nicht bereit, sich ihr zu stellen. Und so starb er, wie er gelebt hatte. Voller Wut und Hass.

Toruń, Polen, Woiwodschaft Kujawien-Pommern, Gegenwart

»Ich habe keine Lust mehr.«

Erschöpft ließ sich Bogdan auf eine Birke sinken, die der letzte Sturm umgeknickt haben musste. Oder irgendein Sturm davor. Der Wald, durch den die drei Geschichtsstudenten seit Stunden irrten, sah so aus, als hätte ihn seit Jahrzehnten kein Mensch mehr betreten.

Wobei irrten nicht ganz richtig war. Tatsächlich wussten sie dank GPS ziemlich genau, wo sie gerade waren. Sie wussten nur nicht so genau, was sie eigentlich hier wollten. Denn von dem geheimnisvollen Schatz, den ihnen Janusz Karewicz, der selbsternannte Leiter dieser kleinen studentischen Expedition, versprochen hatte, gab es nicht die geringste Spur. Es wird die Entdeckung des Jahrhunderts! Wir werden Geschichte schreiben, hatte Janusz ihnen versprochen.

Doch gefunden hatten sie rein gar nichts. Noch nicht mal den typischen Zivilisationsmüll, von dem selbst die abgelegensten Gegenden selten verschont blieben. Der Wald wirkte wie aus der Zeit gefallen, geradezu verwunschen. Man konnte glauben, dass sie sich nur wenige Autominuten von Toruń entfernt befanden.

Tomasz ließ sich ächzend neben Bogdan auf dem Baumstamm fallen. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt Bogdan die Packung hin. Dankbar griff der Geschichtsstudent zu.

»Hey, seid ihr wahnsinnig?«, fauchte Janusz. »Wollt ihr den ganzen Wald in Brand setzen? Und uns mit dazu?«

»Reg dich ab«, murmelte Bogdan. »Wir passen schon auf.«

»Außerdem sind wir fast am Ziel«, sagte Janusz. »Der Schatz muss hier einfach irgendwo sein!«

Der fünfundzwanzigjährige Anführer der kleinen Truppe zog eine Wasserflasche aus seinem Rucksack und nahm einen kräftigen Schluck. Dann goss er sich etwas Wasser in die linke Handfläche und benetzte das vom langen Laufen verschwitzte Gesicht. Die anderen hatten ihre Wasservorräte schon längst aufgebraucht. Janusz bot ihnen nichts an.

Bogdan nahm einen weiteren Zug und seufzte. Sie hatten ihr Auto am Waldrand geparkt und waren seitdem durch unebenes Gelände gestapft. Die eigentliche Fläche, die sie absuchten, war gar nicht besonders groß. Aber ohne konkrete Anhaltspunkte konnten sie noch endlos herumlaufen, ohne etwas zu finden – selbst wenn sie direkt daran vorbeiliefen.

Doch Janusz schien das nichts auszumachen. Seine Augen glühten vor fanatischer Begeisterung. Tomasz und Bogdan waren seit langer Zeit befreundet, doch mit Janusz Karewicz hatten sie bisher wenig zu tun gehabt. Tatsächlich hatten sie ihren Kommilitonen immer etwas unheimlich gefunden. Auch Bogdan und Tomasz nahmen ihr Geschichtsstudium ernst. Schließlich wollten sie in ihrem Leben etwas erreichen. Aber sie ließen auch mal fünfe gerade sein, schlugen sich die Nächte in ihren Stammkneipen um die Ohren, besuchten Rockkonzerte und hatten ihren Spaß mit Mädchen.

Nicht so Janusz. Von den nächtlichen Saufgelagen seiner Kommilitonen hielt sich der flachsblonde Student fern. Und Bogdan konnte sich nicht daran erinnern, ihn je mit einer Frau gesehen zu haben.

Umso erstaunter waren die beiden Studenten gewesen, als der sonderbare Einzelgänger bei der Suche nach einem Seminarprojekt zum Thema »Lokale Legenden und ihre historischen Hintergründe« auf sie zugekommen war. Bogdan und Tomasz hatten in der Unibibliothek einige Bücher über Kopernikus rausgesucht, die sie jetzt gemeinsam durchblätterten. Auf der reichlich vergeblichen Suche nach einem Aspekt im Leben des Astronomen, der nicht schon zum Erbrechen durchgekaut worden war. An den Tischen um sie herum saßen weitere Seminarteilnehmer, die vermutlich mit ähnlichen Problemen kämpften.

Mit einem breiten Grinsen nahm sich Janusz einen Stuhl, setzte sich umgekehrt darauf und sagte: »Vergesst diesen Scheiß!«

»Hast du was Besseres?«, fragte Tomasz gereizt.

»Oh ja!« Das Grinsen wurde noch breiter.

»Dann tu dir keinen Zwang an. Erleuchte uns, großer Janusz!«

Mit einer großen Geste wies Janusz auf ihre Kommilitonen an den umstehenden Tischen. »Ich wette, jeder von denen hat sich entweder Kopernikus oder die Herrschaft des Deutschen Ordens vorgenommen, die ganz Kreativen vielleicht auch den Besuch Zar Peter des Großen oder die Entstehung des berühmten Thorner Lebkuchens.«