Professor Zamorra 1229 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1229 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Der Junge kauert verängstigt in seinem Versteck, das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er ahnt, dass sein Verfolger ihn auch hier finden wird.
Schon nähern sich Schritte.
Die Furcht raubt Thierry Bouchard fast den Verstand. Er zittert, als stünde er unter Strom.
Der Nebel, wispert es in ihm. Der Nebel ist schuld.
Dann wird die Schranktür aufgerissen. Der Schattenriss, der sichtbar wird, holt aus.
"Sün-der!", gurgelt es aus dem Schlund des Monstrums, als wäre er mit Blut gefüllt. "Gott-verdamm-ter Sün-der!"
Im nächsten Moment fährt die Klinge auf das Kind herab.


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Inhalt

Cover

Alte Seelen

Leserseite

Vorschau

Impressum

Alte Seelen

von Adrian Doyle

Der Junge kauert verängstigt in seinem Versteck, das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er ahnt, dass sein Verfolger ihn auch hier finden wird.

Schon nähern sich Schritte.

Die Furcht raubt Thierry Bouchard fast den Verstand. Er zittert, als stünde er unter Strom.

Der Nebel, wispert es in ihm. Der Nebel ist schuld.

Dann wird die Schranktür aufgerissen. Der Schattenriss, der sichtbar wird, holt aus.

»Sün-der!«, gurgelt es aus dem Schlund des Monstrums, als wäre er mit Blut gefüllt. »Gott-verdamm-ter Sün-der!«

Im nächsten Moment fährt die Klinge auf das Kind herab.

Saint-Cyriac

zwei Tage zuvor

Eugène Bouchard bremste die Familienkutsche bei Erreichen des Ortsschildes auf 40 km/h herunter. Mehr erlaubte er sich nicht, als kleiner Beitrag seinerseits, um die Beschaulichkeit des Dorfes zu wahren.

Nach einem hektischen Arbeitstag empfing seine Heimatgemeinde ihn wie ein sicherer Hafen, in dem er mit seinem »Schiff« vor Anker gehen konnte ...

... bis er mit der gleichen Regelmäßigkeit am nächsten Morgen wieder nach Lyon aufbrach, um sich dort mit den Launen seines Chefs auseinanderzusetzen. Bouchard requirierte Anzeigenaufträge für ein Wochenblatt, dessen redaktioneller Inhalt sich überwiegend wohlwollend zu Produkten oder Veranstaltungen der Inserenten äußerte. Seit knapp zehn Jahren war er nun schon Teil der Lügenmaschinerie, nachdem er sein Marketingstudium erst im zweiten Anlauf abgeschlossen und danach lange vergeblich versucht hatte, in der freien Wirtschaft Fuß zu fassen.

Mit Passieren der Dorfgrenze schob er die Gedanken an seinen Frust-Job beiseite. Saint-Cyriac war für Bouchard seit frühester Kindheit Sinnbild eines Wohlgefühls, wie er sich gar nicht vorstellen konnte, es auch anderswo zu finden. Er war emotional so sehr mit dem Dörfchen verquickt, dass er – wie im Übrigen auch alle anderen Einheimischen, die er näher kannte – sogar bereit war, über Ungereimtheiten und rätselhafte Vorkommnisse hinwegzusehen, mit denen man als Bürger von Saint-Cyriac durchaus bisweilen konfrontiert wurde.

Davon wussten auch diejenigen ein Lied zu singen, die etwas abseits – genauer: in dem herrschaftlichen Schloss droben auf dem Berg – zu Hause waren.

Vor allem sie, dachte Bouchard mit jener Mischung aus Bewunderung und Befangenheit, die ihn immer beschlich, wenn er seinen Blick zu dem imposanten Bauwerk wandern ließ, das auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken konnte.

Ein paar Andeutungen dazu fanden sich in der von Pater Ralph gehüteten Dorfchronik, in der berichtet wurde, dass dereinst ein tyrannischer Raubritter das Château gegründet hatte, ein Mann, dessen Grausamkeit weithin gefürchtet war. Bis in die Gegenwart hinein wurde sein Name selten offen ausgesprochen.

»Leonardo deMontagne.«

Eugène Bouchard merkte kaum, wie ihm die Silben über die Lippen kamen. Zumal in exakt dem Moment ein kräftiges Organ erklang, das Bouchards Aufmerksamkeit auf das »Zum Teufel« lenkte, dem einzigen Gasthof von Saint-Cyriac. Mostache, der Wirt, stand breitbeinig vor der Eingangstür und schmetterte dem Heimkehrer launig entgegen: »Ah, Eugène, dass man dich auch mal wieder sieht! Du machst dich ja rar! Schmeckt dir unser Wein nicht mehr? Oder wurdest du unfreundlich behandelt?«

Bouchard stoppte den Wagen und setzte ein Stück zurück, sodass Mostache nur geradeaus gehen musste, um ihn erreichen und sich mit beiden Händen auf dem Dach abstützen zu können. Durch das heruntergekurbelte Beifahrerfenster sagte er: »Dünn bist du geworden. Wie wär's mit einem Absacker? Außerdem hat meine Frau gerade die Fleischküchlein auf dem Herd, die du so gern magst. Unter uns: Sie würde sich ebenfalls freuen, wenn du dich mal wieder bei uns sehen ließest. Erst gestern hat sie ...«

»Für deinen Absacker ist es mir noch zu früh«, unterbrach Bouchard ihn. »Aber ich komme später vorbei. Ich habe ein paar Einkäufe im Wagen, die in den Kühlschrank müssen.«

Das entsprach nicht den Tatsachen, gab Bouchard aber die Möglichkeit zum geordneten Rückzug.

Mostache trat vom Wagen zurück. »Du kommst – versprochen?«

Bouchard nickte mit Nachdruck, winkte kurz und fuhr wieder an. Als er zwei Minuten später in der Einfahrt seines Hauses hielt und ausstieg, empfing ihn wieder eine Stimme, nur ungleich geschmeidiger als die des Wirtes.

»Papa! Papa!« Thierry kam ihm aus dem Gartentor entgegen geflitzt. »Bauen wir weiter? Du hast es versprochen! Hier!« Er wedelte mit einem Hammer und einer Packung Nägel. »Hab schon alles vorbereitet. Das Baumhaus soll doch fertig werden. In drei Tagen ist mein Geburtstag, und ich will ihn da oben feiern. Mit all meinen Freunden. Sie sind schon genauso aufgeregt wie ich!«

Als der Junge Bouchard erreicht hatte, schlang er die Arme um ihn und bog den Kopf so weit in den Nacken, dass sein Vater jede einzelne Sommersprosse auf dem pausbäckigen Gesicht sehen konnte. Und jetzt tauchte auch die dazugehörige Mutter im Gartentor auf, mit der Bouchard genauso viele Jahre verheiratet war, wie Thierry bald alt sein würde: zehn.

Während er über seinen Jungen hinwegblickte, sagte er: »Ich hatte nur einen Burger zu Mittag. Darf ich wenigstens noch einen Happen zu mir nehmen, bevor wir uns an die Arbeit machen?«

Die Worte waren an Thierry und Chloe gerichtet, die beide entscheidenden Anteil daran hatten, dass Bouchard bei seiner Heimkehr nach Saint-Cyriac alles abstreifen konnte, was ihn während des Tages in Lyon und auch noch während der Heimfahrt belastet hatte.

Seine Frau schlug sich auf die Seite des Stammhalters. »Das haben Thierry und ich vorausgesehen. Im Garten wartet eine Platte mit Schnittchen auf meine beiden Schwerstarbeiter. Ein richtiges Abendbrot müsst ihr euch erst verdienen.« Ihr Lachen war ansteckend.

Bouchard gab auf. Resignierend zuckte er die Schultern, aber seine Augen leuchteten warm, als er Thierry zu sich hochhob und mit ihm auf dem Arm zu seiner Frau ging, die sich bei ihm einhakte und ihn zu der Baustelle lotste, die der Familienvater vor genau der Anzahl von Tagen eröffnet hatte, die Mostache ihn am Tresen des »Zum Teufel« vermisste.

Auf dem Weg zu dem Prachtbaum, der den Mittelpunkt des Gartens bildete – eine Eiche, auf die schon Eugènes Urgroßvater in Thierrys Alter geklettert war – sagte Bouchard: »Ich habe Pierre getroffen und mich kurz mit ihm unterhalten. Wie er sagt, vermisst er uns. Und Charlotte auch. Ob etwas wäre, hat er gefragt.«

»Hast du ihm nicht von deinem Papa-Sohn-Projekt erzählt?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber ganz unrecht hat er nicht. Wir waren lange nicht mehr unter Gesellschaft. Was denkst du? Thierry könnte mitkommen, du müsstest nicht hinter dem Herd stehen. Es muss ja nicht spät werden. Morgen ist Schule, auf mich wartet die Arbeit ... aber wir sollten uns mal wieder blicken lassen.«

»Au ja!«, quietschte Thierry und machte sich von der Umarmung frei, rutschte an seinem Vater herunter und rannte die letzten Meter zum Baum schon einmal vor.

Bouchard wollte stehen bleiben, aber Chloe schob ihn, immer noch bei ihm untergehakt, weiter. »Können wir«, sagte sie.

Den Rest des Nachmittags verbrachte Eugène damit, unter Thierrys »Aufsicht« die Rahmenkonstruktion des Baumhauses fertigzustellen, sodass er tags darauf die Dachbretter und vielleicht sogar schon die Schindelpappe würde aufbringen können. Am meisten Zeit hatte die Bodenplatte beansprucht, bei deren Stabilität Bouchard keine Kompromisse eingegangen war. Das Wichtigste an einem Baumhaus war Sicherheit. Er hätte es sich nie verziehen, wenn seinem Sohn beim Spielen etwas zugestoßen wäre.

Die Pläne für den Bau hatte er nach längerer Recherche aus dem Internet gezogen, danach peu à peu das Baumaterial besorgt. Die größeren Teile waren geliefert worden, den Kleinkram hatte er auf seinen Fahrten besorgt.

Chloe hatte nicht großartig von der Idee überzeugt werden müssen, obwohl sie als Stadtkind aufgewachsen war. Kennengelernt hatten sie einander im letzten Studiensemester an der Universität. Ihre Fachrichtung war eine völlig andere gewesen – Biologie –, aber das hatte die gegenseitige Sympathie nicht dämpfen können. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, bei beiden. Obwohl sie verhüteten, war Chloe quasi in Rekordtempo schwanger geworden, und als das klar gewesen war, hatten sie auch für alles andere keine Zeit verloren. Zunächst hatten sie sich Eugènes Elternhaus noch mit dessen Mutter geteilt. Sein Vater war schon Jahre zuvor verstorben. Dass Eugènes Mutter ihrem Ehemann mit gerade einmal Mitte fünfzig gefolgt war, ohne dass sie vorher das geringste Anzeichen von Kränklichkeit gezeigt hatte, war ein harter Schlag für ihn gewesen. Immerhin aber, tröstete er sich, hatte sie ihren Enkel noch in den Armen halten dürfen, Thierry seinerseits war glücklicherweise noch zu klein gewesen, als dass der Verlust der Oma ihn groß mitgenommen hätte. Alles, was er von ihr wusste, hatten sie ihm über Bilder und Erzählungen nahegebracht, und es hatte sie immer wieder verblüfft, wie interessiert er war, die Verstorbene im Familiengedächtnis zu bewahren.

Thierry war ein ebensolcher Volltreffer für Bouchard wie Chloe. Einen besseren Sohn, eine bessere Gefährtin hätte er sich nicht wünschen können. Und doch lag seit einiger Zeit ein Schatten über ihrem Glück, schwer definierbar, aber dennoch zumindest im Hinterkopf allgegenwärtig. Schlimmer noch als die Unzufriedenheit, die Bouchard wegen seines Jobs empfand, weil ... viel elementarer.

Irgendetwas stimmte nicht mit Thierry. Es hatte einiges an gutem Zureden gebraucht, bis er damit herausgerückt war, was ihn umtrieb, und seitdem hatte er ein Dutzend Untersuchungen durchlaufen, deren Ergebnis sie eigentlich positiv hätte stimmen sollen, weil nichts Greifbares dabei herausgekommen war. Aber genau das war es, was sie beide weiter beunruhigte, zumal die Symptome, glaubte man Thierry, anhielten.

Nach eigener Aussage tat er einfach kein Auge mehr zu – und damit war keine harmlose Schlafstörung gemeint. In der Küche hing ein Kalender, in dem Chloe vermerkt hatte, wann es begonnen hatte. Als sich ihr Sohn seiner Mama anvertraute, hatte er sich schon durch mehrere schlaflose Nächte hindurchgequält, ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen. Chloe hatte es zufällig bemerkt, war eines Nachts durch Geräusche geweckt worden, die sie an einen Einbrecher hatten glauben lassen. Sie hatte Eugène wachgerüttelt, und er war mit einem Baseballschläger, den er in einer Kiste unter dem Bett aufbewahrte, bewaffnet nachsehen gegangen.

Chloe hatte derweil mit dem Telefon in der Hand im Schlafzimmer ausgeharrt und bereits die Nummer der Gendarmerie eingetippt. Sie hätte nur noch die Ruftaste drücken müssen, um die Verbindung herzustellen. Kurz darauf hatte Eugène aber schon Entwarnung gegeben. Er hatte Thierry bei dessen Streifzug durchs Erdgeschoss angetroffen und zuerst geglaubt, er würde schlafwandeln. Aber er war hellwach gewesen und hatte auf Nachfrage erklärt, nicht einschlafen zu können und deshalb aus Langeweile herumgelaufen zu sein. Leise, weil er die Eltern nicht hatte wecken wollen.

Sie hatten ihn zurück in sein Bett geschickt und waren davon ausgegangen, dass es sich um einen einmaligen Ausflug gehandelt hatte. Aber wenige Tage später hätte Eugène ihn erneut erwischt, wie er im Wohnzimmer in einem der alten Lexika blätterte, die seiner Großmutter gehört und die ihn davor noch nie erkennbar interessiert hatten. Er war so in die Lektüre vertieft gewesen, dass er zusammenschrak, als sich sein Vater neben ihn auf die Couch setzte und fragte, was um Himmels willen denn mit ihm los sei, dass er schon wieder zu nachtschlafender Zeit hellwach durchs Haus geisterte.

Thierry hatte erklärt, nicht schlafen zu können. Mehr noch: trotz des von ihm beschriebenen Defizits nicht einmal müde zu sein.

Obwohl Eugène und seine Frau anzweifelten, dass ihr Sohn seine Befindlichkeit richtig einschätzte – irgendwann musste er schließlich schlafen und sowohl Körper als auch Geist eine Erholung ermöglichen –, hatten sie sofort einen Termin beim Kinderarzt gemacht, der Thierry in ihrem Beisein gewissenhaft untersucht hatte. Dessen Diagnose klang auf den ersten Blick beruhigend: Auf Mangelerscheinungen, wie seine Eltern sie befürchtet hatten, gab es keinerlei Hinweis. Dennoch überwies der Doktor sie an eine auf Insomnie spezialisierte Klinik, wo Thierry weiteren Tests unterzogen wurde, die jedoch alle gegen seine Behauptung, gar nicht mehr schlafen zu können, sprachen. Der leitende Mediziner bot ihnen an, Thierry stationär aufzunehmen und seine Hirntätigkeit, angeschlossen an ein EEG, eine ganze Nacht lang zu überwachen. In Anbetracht des Umstands, dass ihr Sohn immer noch nicht das kleinste Symptom von physischer oder psychischer Erschöpfung zeigte und kein Mensch so lange, wie er es beschrieb, in seiner guten Verfassung ohne jeglichen Schlaf hätte existieren können, entschieden die Bouchards schließlich, die Tortur – wie sie es empfanden – abzubrechen und erst wieder aktiv zu werden, sollte sich Thierrys Zustand verschlechtern.

Das war bis heute, mittlerweile Monate nach den ersten Untersuchungen, nicht passiert, sodass Eugène und Chloe sich damit abgefunden hatte, dass ihr Kind einfach wenig Schlaf brauchte. Freunde hatten sie darin bestärkt, sich keine Sorgen zu machen, solange es dem Jungen erkennbar prächtig ging. Und das tat es. Selbst seine schulischen Leistungen verbesserten sich von Woche zu Woche, er brachte praktisch keine schlechten Noten mehr nach Hause.

Die Lehrer, mit denen vor allem Chloe engen Kontakt hielt, glaubten, dass Thierrys Lesebegeisterung damit zu tun hatte; immerhin las er praktisch alles, was ihm in die Hände fiel, und was unstrukturiert begonnen hatte, wurde von seinen Eltern inzwischen gezielt gefördert. Der Paketdienst hielt mindestens einmal die Woche vor ihrem Haus, und fast immer brachte er eine neue Ladung Bücher, die Chloe Bouchard mit der ihr eigenen Sorgfalt ausgewählt hatte.

Altersgerecht waren die Bücher längst nicht mehr, und Thierry interessierte sich auch nicht die Bohne für fiktionale Geschichten. Alles, was er wollte, war, sich ein Mehr an nützlichem Wissen anzueignen. Dem mehrbändigen Lexikon seiner Oma blieb er dabei offenbar weiterhin treu, nur dass er sich in seinem Studium nun mit den Sachbüchern abwechselte, die seine Maman für ihn orderte.

»Züchten wir uns da etwa ein Genie heran?«, sorgte sich Eugène bisweilen.

Chloe hingegen scherzte über die aus ihrer Sicht völlig unberechtigte Angst. »Nach wem von uns beiden sollte er da wohl geraten?«

»Monsieur Einstein hatte, soweit ich weiß, auch keine überbegabten Eltern.«

»Du vergleichst ihn mit einem der größten Geister der Geschichte?«

Darauf hatte auch Bouchard nur mit einem Grinsen antworten können.

»So lange er sich nicht abkapselt und seine Freunde vernachlässigt ...«

Eugène fluchte wie ein Rohrspatz, weil der Hammerkopf danebengegangen und auf seinem Daumennagel gelandet war. Sein Gezeter lockte auch Chloe aus dem Haus, in das sie zuvor verschwunden war, um sich für den Abend bei den Mostaches zurechtzumachen.

»Wo warst du denn mit deinen Gedanken?«

Bouchard verzichtete auf jede Erklärung und legte das Werkzeug beiseite. »Genug für heute. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Charlottes Fleischküchlein warten – und wenn du mich fragst, haben wir sie uns redlich verdient!«

Sie verbrachten entspannte Stunden in geselliger Runde und ahnten nicht, dass sie so viel Unbeschwertheit zum allerletzten Mal genießen durften.

Der Tisch im Garten war geschmückt. Chloe hatte eine Decke, die ihr eine Freundin aus dem Schwedenurlaub mitgebracht hatte, darübergebreitet und passendes Plastikgeschirr darauf verteilt. Die guten Teller wollte sie der Rasselbande nicht »zum Fraß vorwerfen«, wie sie es ausdrückte.

»Wie viele kommen denn?«, fragte Eugène, der sich zur Feier des Tages freigenommen hatte; kein ganz einfaches Unterfangen, weil sein Chef auch diese Gelegenheit für Schikane genutzt hatte. Aber an verbale Entgleisungen war Bouchard gewöhnt, und vielleicht wurde seine Haut ja tatsächlich allmählich dicker, sodass es ihm leichter fiel, mit den Launen derer, die ihm das Leben verdrießen wollten, umzugehen.

Möglicherweise verhinderte jedoch auch nur seine eigene Aufgeregtheit, wie das Geschenk bei Thierrys Freunden ankommen würde, dass er sich nicht so piesacken ließ wie sonst. Und außerdem war er zu Hause. In seiner Wohlfühloase.

Chloe zuckte die Achseln, während sie Leinensäckchen auf die Teller legte, die rechts und links von Messer und Gabeln gesäumt waren. In den Säckchen befanden sich kleine Aufmerksamkeiten für die Gäste: Trillerpfeifen, Überraschungseier, Fotos von vergangenen Geburtstagen und was ihr sonst noch in die Hände gefallen war. Sie hatte eine Kiste, in der sie das ganze Jahr über Dinge wie diese sammelte, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein.

Lange würde sie damit wohl nicht mehr Eindruck schinden können, das war ihr klar. Aber noch war Thierry in einem Alter, in dem die Mühe, die sie sich machte, nicht zur Peinlichkeit geriet.

»Keine Ahnung, alle denke ich. War bisher nie anders. Ich habe Thierry zehn Einladungen gegeben, die er an seine Freunde verteilen durfte – für jedes Lebensjahr eine Person. So haben wir es immer gehalten, oder?«

Er nickte und winkelte den Arm an, um auf die Uhr zu schauen. »Gleich geht's los. Wo ist Thierry? Meistens kommen sie alle gleichzeitig als Gruppe, und dann sollten nicht wir das Begrüßungskommando stellen, das kann er schon sehr gut selbst übernehmen. Richtig?«

»Richtig.« Auch Chloe sah sich um. Als sie ihn nicht entdeckte, rief sie: »Thierry?«

Keine Antwort.

»Ich kann mir schon denken, wo er steckt.« Er nickte zu der Eiche hinüber, die von nahezu perfektem Wuchs für ein Baumhaus war. Mehrere der unteren Äste verteilten sich auf einer Höhe und fast waagrecht um den Stamm. Das hatte Eugène erst auf die Idee gebracht, seinem Sohn die Idee vorzutragen, mit der er ihn in diesem Jahr zu seinem Geburtstag glücklich machen wollte.

»Ist das nicht zu groß?«, hatte Chloe zunächst gezweifelt, aber er hatte ihre Bedenken schnell zerstreuen können.

»Wie oft im Leben wird man zehn? Mit achtzehn werden wir ihn im besten Fall mit dem Führerschein, idealerweise gleich verbunden mit einem passablen fahrbaren Untersatz, begeistern können. Groß wird das Baumhaus nur dadurch, dass es Schweiß und Arbeit kostet. Aber genau damit will ich ihn ja kriegen. Normalerweise verraten wir ja auch nicht, was wir uns für ihn ausgedacht haben. Auch das ist ein Novum. Und wenn er anbeißt ...«

»Wenn er anbeißt«, war ihm Chloe ins Wort gefallen, »erfüllt sich gleich auch noch dein eigener Kindheitstraum, ich weiß. Du hast oft davon gesprochen, wie sehr du dir einen solchen Rückzugsort gewünscht hättest. Aber du hattest auch so alles, worum ich dich beneide. Wenn du wüsstest, was sich meine Eltern für mich haben einfallen lassen. Verglichen damit warst du ein König.«

»Was ist Thierry dann? Ein Kaiser?«

»Fragen wir ihn. Kletterst du hoch? Mir ist die Strickleiter nicht geheuer. Musste es denn unbedingt eine sein? Mit einer Treppe oder wenigstens einer Holzleiter wäre ich glücklicher gewesen. Ich weiß nicht, ob ich je da hochkomme.«