Projekt Kaktus - Florian Kogel - E-Book

Projekt Kaktus E-Book

Florian Kogel

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Beschreibung

Adam, gelangweilt von seinem neuen Job, macht nacheinander zwei Entdeckungen, die sein Leben von Grund auf verändern: Mit Hilfe seiner Kollegin Trish findet er heraus, dass sein Vater womöglich nicht der war, von dem ihm seine verwitwete Mutter stets erzählte. Noch unglaublicher ist aber, was für Fähigkeiten bisher in ihm schlummerten, ohne dass er davon wusste: Er kann Pflanzen allein mit der Kraft seiner Gedanken dazu bringen, sich zu verändern. Diese Erkenntnis bleibt nicht ohne Folgen, und schon bald bringt ihn dieses Talent in Lebensgefahr. Gleichzeitig stellt ihn die Suche nach seinem wahren Vater vor ungeahnte Herausforderungen...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 226

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für Jane und Jamie.

Florian Kogel

Projekt Kaktus

© 2020 Florian Kogel

Autor: Florian Kogel

Umschlaggestaltung: Florian Kogel

unter Verwendung von Abbildungen von Scott Webb/Pexels,Damir Mijailovic/Pexels und fancycrave1/Pixabay

Verlag & Druck:

tredition GmbH, halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Paperback: 978-3-347-20717-2

ISBN Hardcover: 978-3-347-20718-9

ISBN e-Book: 978-3-347-20719-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1Vertrocknet

Ein Kaktus. Etwas vernachlässigt in seinem kleinen, weiß glasierten Keramiktopf, stand er auf der Fensterbank. Adam starrte ihn an, während seine Gedanken erneut abschweiften. Diese schmucklose Pflanze ohne jede Blüte, die selbst für einen Kaktus schon viel zu lange kein Wasser mehr gesehen hatte, weckte sein Interesse mehr als die Tätigkeit, die man ihm zugeordnet hatte. Er konnte beinahe fühlen, wie ausgetrocknet dieser zähe Überlebenskünstler in seinem Topf ausharrte. Sich seine Energie aufsparte und mit jeder Zelle versuchte, mit den wenigen Nährstoffen auszukommen, die seine fein verästelten Wurzeln erreichen konnten. Er hätte ihm wenigstens hier und da ein paar Knospen gewünscht…

Adam wurde ein wenig flau, ein leichtes Schwindelgefühl erinnerte ihn daran, dass auch er sein Frühstück heute Morgen ausgelassen hatte. Er spürte die kritischen Blicke von Tom auf sich, der als Einziger seiner Teamkollegen seinen Arbeitsplatz direkt einsehen konnte. Widerstrebend wandte er sich wieder seinem Bildschirm zu, bevor seine Unaufmerksamkeit allzu deutlich wurde.

Eine Frau mittleren Alters, rothaarig, mit schmalen Lippen, sah ihn lächelnd an, wobei ihre Zähne teilweise zum Vorschein kamen. Er schob den Regler in den Bereich »freundlich« und bestätigte seine Auswahl mit einem Klick. Sofort blickte ihn ein hagerer, älterer Herr mit ausgeprägter Zornesfalte aus zusammengekniffenen Augen an. Die Wahl fiel schnell auf »ärgerlich«. Und so präsentierte ihm das Programm in einer endlosen Kaskade fremde Gesichter, die er verschiedenen Eigenschaften zuordnete.

Er fragte sich, ob man die Freiwilligen dieser scheinbar unerschöpflichen Datenbank gebeten hatte, den jeweiligen Gesichtsausdruck zur Schau zu stellen, oder ob man sie auf irgendeine Art dazu gebracht hatte, tatsächlich so zu empfinden. Würden die neuronalen Netze, denen man die klassifizierten Bilder später als Lernmaterial zum Fraß vorwarf, mit geschauspielerter Emotion nicht in die Irre geführt? Sollten sie nicht später echte Gefühle entdecken? Andererseits war es ethisch sicher etwas schwierig, Menschen nur für ein passendes Bild zu verärgern oder sogar in Angst zu versetzen.

Er wischte den Gedanken beiseite und versuchte sich wieder auf seine digitale Fließbandarbeit zu konzentrieren, gegen die es seiner Meinung nach eine eigene Ethikkommission geben sollte. Vielleicht war er undankbar, dachte er sich. Im Grunde musste er froh sein, dass Dan ihm diesen Job verschafft hatte. Im Vergleich zu den bisherigen Tätigkeiten, die er probiert hatte, um seine Miete zusammen zu bekommen, war das hier mit Abstand die bequemste Variante. So gesehen hatte er großes Glück, dass sein Abteilungsleiter Kunde in Dans Werkstatt war und Dan irgendwann die Gelegenheit genutzt hatte, ihn nach einer freien Stelle für den Sohn seiner Freundin zu fragen. Leider hatte Adam immer noch nicht das Gefühl, das hier könnte seine Zukunft sein. Auch wenn CleerBloo ein beliebter Arbeitgeber war und er sich später bestimmt ein neues Aufgabengebiet erschließen könnte, wenn er sich gut anstellte.

Leider hatte Adam keine konkrete Vorstellung davon, welcher Karriereweg besser zu ihm passen würde, selbst wenn er die freie Wahl hätte. Er hatte keine Träume oder Vision, wohin es ihn zog, für welche spannende oder wichtige Aufgabe er eine Berufung verspürte.

Adam spürte eine Hand auf seiner Schulter und zuckte leicht zusammen.

»Na, überfordert mit der Aufgabe?« zog Tom, der plötzlich hinter ihm stand, ihn auf.

»Und wie!« Adam drehte sich mit gekünsteltem Grinsen um. »Habe ich nicht erzählt, dass ich Asperger bin und keine Ahnung von Gefühlen habe?«

Tom lachte und machte sich auf den Weg, um sich einen Kaffee zu holen.

Erneut klickte sich Adam durch eine Reihe zufälliger Ausgaben der Gesichtsdatenbank. Die Aufgabe war einfach zu stupide, um gedanklich bei der Sache zu bleiben. Er dachte an Dan, den aktuellen Freund seiner Mutter. Eigentlich ganz nett, aber seine kumpelhaften Versuche, sich mit Adam anzufreunden, empfand er als lästig. Er hatte sich abgewöhnt, allzu enge Bindungen aufzubauen und brauchte spätestens seit Teenager-Zeiten keinen Vaterersatz mehr. Nicht, dass er es seiner Mutter übel nahm, wenn sie neue Freunde hatte. Sie hatte ihr eigenes Leben, und während Adams gelegentlicher Besuche kam er gut damit klar, dass da noch jemand war – solange er sie gut behandelte.

Tom kam zurück mit seinem dampfenden Kaffeebecher. Als Adam kurz aufblickte und in seine Richtung sah, nahm er eine Bewegung hinter ihm im Korridor wahr, der quer durch die Abteilungen führte und dank der gläsernen Konstruktion von vielen Seiten einsehbar war. Eine junge Mitarbeiterin, schätzungsweise in seinem Alter, durchquerte den Korridor mit zügigen Schritten – in auffällig roten Schnürstiefeln und sonst komplett in Schwarz gekleidet. Ihre halblangen schwarz gefärbten Haare wippten leicht im Takt ihrer Schritte.

Tom bemerkte Adams Blick und sah hinter sich.

»Ah, deshalb. Das ist Trish.«

Beide beobachteten, wie sie neben einer der Sicherheitstüren nah an die Wand herantrat und ihre Iris scannen ließ, bevor die Tür bereitwillig aufschwang und Trish aus ihrem Sichtfeld geriet.

Adam schaute vielleicht eine halbe Sekunde zu lang, nachdem sie bereits verschwunden war, weshalb ihn Tom prüfend von der Seite ansah.

»Schlag sie dir aus dem Kopf. Nicht unsere Liga.«

Adam holte schon Luft, um zu protestieren, überlegte es sich dann aber anders. Tom ging hinüber zu seinem Platz, stellte den Becher ab und ließ sich ächzend auf seinen Stuhl fallen.

»Weder in dieser Firma noch woanders. Zu schlau, zu erfolgreich, unerreichbar. Ein paar haben sich schon die Finger verbrannt. Aber wenn dir ein bissiger Kommentar nichts ausmacht… und eine ziemliche Blamage wie bei Nick hier« – er machte eine Kopfbewegung nach schräg hinten zu seinem blonden Kollegen, der Rücken an Rücken mit ihm saß – »bitte schön!«.

»Na herzlichen Dank auch« grunzte Nick, ohne sich auch nur umzudrehen.

Tom loggte sich ein und machte sich lautstark tippend wieder an seine Arbeit.

2Pendler-Gedanken

Mit unruhigem Rumpeln schob sich der Zug durch die Vorstädte. Adam hatte Glück und schon im zweiten Abteil einen Platz gefunden, auf dem er keinen Sitznachbarn hatte. Dafür nahm er die gestresste Mutter in der Sitzreihe gegenüber in Kauf, die ihre Heimreise mit einem aufgedrehten Vorschulkind angetreten hatte. Der Kleine reichte nicht mit den Füßen zum Boden und ließ die Hacken seiner Schühchen immer wieder gegen die Verkleidung unter seinem Sitz sausen. Aus gelangweiltem Bewegungsdrang – und vielleicht auch, weil er mit den trommelnden Geräuschen perfekt seine Mutter provozieren konnte. Die ständigen Ermahnungen seiner Mutter feuerten die Trommelei nur noch weiter an. Andere Pendler in Sichtweite versuchten die Szene zu ignorieren und bemühten sich, in andere Richtungen zu sehen oder sich anderweitig abzulenken. Mit Ausnahme der älteren Grauhaarigen, die mit verzücktem Lächeln jede Bewegung des Kindes verfolgte.

Adam fühlte etwas in seiner Tasche vibrieren, wühlte kurz darin und warf dann einen Blick auf sein Display: Seine Mutter rief an.

»Hi, Mom.«

»Adam, bist du schon auf dem Heimweg? Kommst du gleich noch vorbei? Ich koch uns auch was Schönes…«

»Ach Mom, heute nicht, ich will einfach nur nach Hause.«

»Weißt du, ich habe Probleme mit irgendwelchen Updates und dem Drucker – vielleicht könntest du mal schauen, was da nicht stimmt?«

»Kann das nicht warten? Was ist denn mit Dan, kann er sich das nicht ansehen?«

»Du weißt doch, er ist ein toller Handwerker, aber sowas ist nicht seine Welt.«

»Na gut«, seufzte Adam. »Dann komme ich Morgen nach der Arbeit vorbei. Vielleicht!« beeilte er sich hinzuzufügen.

»OK… Wie läuft es denn bei dir?«

»Ganz gut, ganz gut« sagte Adam und war sich dabei bewusst, dass die Wiederholung die Aussage nicht unbedingt überzeugender machte.

»Aber lass uns das doch morgen besprechen!«

»Verstehe – gut, dann lass uns morgen reden.«

Sie verabschiedeten sich kurz, dann legte Adam auf.

Er dachte an Dan. Er betrieb eine recht erfolgreiche Autowerkstatt, die sich vor allem auf Classic Cars spezialisiert hatte. Wann immer ein Autoliebhaber für seinen chromblitzenden Verbrenner ein neues Ersatzteil brauchte, egal wie alt oder selten, Dan fand es dank bester Kontakte für ihn und baute es fachmännisch ein. So hatte er sich einen Ruf als absoluter Experte erarbeitet – und ein lukratives Geschäft.

Das hatte Adam unter anderem den Job bei CleerBloo eingebracht: Als Charles, ein Abteilungsleiter in einem der erfolgreichsten IT-Unternehmen des Landes, mal wieder seinen Mustang 289 Coupé zur Reparatur gegeben hatte, nutzte Dan die Gelegenheit und erkundigte sich nach einer freien Stelle für den Sohn seiner Freundin. Tatsächlich hatte Charles ein wenig Unterstützung in seinem Team gebrauchen können und lud Adam zu einem Vorstellungsgespräch ein. Offenbar stellte er sich gut genug an, um für eine Weile auf Probe eingestellt zu werden. Ein glücklicher Zufall – oder zumindest ein Zufall, soweit es Adam anging.

Dan war nicht der Erste in einer überschaubaren Reihe von Männern, mit denen seine Mutter Pam nach dem frühen Tod von Adams Vater noch einmal ihr Glück gesucht hatte. An die ersten beiden hatte Adam keine Erinnerung mehr, er war einfach noch zu jung gewesen. Sie waren auch immer wieder mal für ein paar Jahre nur zu zweit gewesen, seine Mutter und er. Aber meist hatte es eben doch jemanden gegeben, der für sie da war.

Von kleineren Konflikten während der Pubertät abgesehen war Adam immer recht gut mit den wechselnden Vaterfiguren zurechtgekommen. Die klischeehaften Eifersüchteleien oder gar offenen Aggressionen, die zu jedem fiktionalen Drama in dieser Konstellation gehören, blieben allen Beteiligten glücklicherweise erspart. Allerdings hatte Adam auch nie eine wirklich tiefe Bindung aufbauen können oder wollen.

Und obwohl er seinen Vater nie hatte kennenlernen können, machte Adam sich die Lücke in seinem Leben immer wieder schmerzlich bewusst. Er erlaubte es sich nicht, den Menschen zu vergessen, der ihn nicht mehr aufwachsen sehen konnte. Der fester Teil seines Lebens – und natürlich seiner Mutter – hätte sein sollen. Ein etwas abgegriffenes Foto von ihm, das ihm seine Mutter einmal überlassen hatte, war eines der wenigen Erinnerungsstücke, die ihm geblieben waren. Er trug es deshalb immer bei sich. Er war sich nicht ganz sicher, ob das eine gesunde Einstellung für einen halbwegs erwachsenen Mann war, aber er konnte sich nicht überwinden, das kleine Foto aus seiner Geldbörse endgültig zu entfernen.

Eine kurze automatische Durchsage holte ihn mit ihrer merkwürdigen Mischung aus Monotonie und formeller Freundlichkeit zurück in die Gegenwart. Seine Station war nah, und er machte sich bereit für den Ausstieg und die letzten 15 Minuten Fußweg bis nach Hause.

Während der letzten Blocks, die er durchqueren musste, meldete sich sein Magen bereits mit lautstarkem Knurren. Er passierte eine wenig einladende Wohngegend mit hohen Gebäuden, die im Laufe der Jahrzehnte sichtlich vernachlässigt worden waren. Sein Ziel sah zwar wenig besser aus, aber immerhin hatte die Fassade vor einem halben Jahrzehnt einen neuen Anstrich und neue Außenleuchten bekommen. Auf der Treppe hoch zu seinem Apartment öffnete sich kurz die Tür seiner Nachbarn unter ihm; er nickte kurz Padme zu, die offenbar den Müll nach unten tragen wollte und ihn mit freundlichem Lächeln grüßte. Der exotische Geruch von Curry waberte durch das Haus und befeuerte seinen Appetit, so dass er seine Schritte hinauf beschleunigte.

Adam wollte den Arbeitstag so schnell wie möglich hinter sich lassen. Während sich wenig später ein Fertiggericht in der Mikrowelle drehte, startete er den Streaming-Dienst, um sich für den Rest des Abends mit einer guten Serie aus seiner eigenen Welt auszuklinken.

3Hunter

»Verdammt«, zischte Hunter. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, und schon hatte eine Salve ihn nur knapp verfehlt. Doch dank gut trainierter Reflexe hechtete er blitzartig aus der Schusslinie und hinter die nächstbeste Deckung. Er presste sich mit dem Rücken an das alte Ölfass, über dem dekorativ ein Tarnnetz hing, und horchte auf seine Umgebung. In der halbdunklen Lagerhalle kam es darauf an, auf alle Sinne zu achten, und jede Aktion seiner Gegner vorauszuahnen. Schon konnte er die schnellen Schritte ihrer Stiefel hören. Das war ihr letzter Fehler gewesen. Die Erregung des Kampfes mischte sich mit der Vorfreude auf den kommenden Triumph und ließ ihn grinsen. Entschlossen rollte er sich über den Boden aus der Deckung und feuerte dabei auf seinen ersten Verfolger. Der Schuss saß: Hunter hörte den Einschlag der Kugel und sah gerade noch den roten Fleck auf der olivfarbenen Weste, als er auch schon wieder hinter dem nächsten Hindernis verschwunden war. Dort blieb er nicht lange, sondern zielte darüber hinweg auf den zweiten Verfolger. Er gab in schneller Folge zwei Schüsse ab und traf zwei Mal: Helm und Schutzbrille. Wutentbrannt schleuderte der Getroffene seine Waffe zu Boden. Sein erstes Opfer lehnte sich resignierend gegen eine der aufgestellten Wände, die mit farbigen Klecksen übersät war.

»Nächstes Mal bist du fällig, Hunter«, stieß er unter seinem Helm etwas kurzatmig hervor.

»Sicher«, erwiderte Hunter höhnisch und tippte lässig mit dem Lauf seiner Waffe an seinen Helm. »Wie jedes Mal, Carl.«

Einen Moment sah es so aus, als wollte Carl auf Hunter losgehen.

»Lasst es gut sein, Jungs«, schaltete sich jetzt derjenige ein, der zuerst aus dem Spiel gewesen war. »Ich hab’ jetzt Lust auf ein kühles Bier. Wie sieht’s aus?«

Hunter zog Helm und Schutzbrille ab.

»Gute Idee, Doug. Ich bin verdammt durstig.«

Alle drei machten sich gemeinsam auf den Weg zum Umkleideraum, ihre Ausrüstung unter dem Arm.

»Bist du am Wochenende wieder auf dem Schießstand?«

Doug sah Hunter dabei von der Seite an, doch dieser schüttelte mit dem Kopf.

»Geht nicht. Muss leider arbeiten.«

»Okay, dann ein anderes Mal. Hast du deine Heckler & Koch schon eingeweiht?«

Hunter zeigte seine Zähne mit einem breiten Grinsen.

»Aber klar, was denkst du denn. Du kannst sie gerne beim nächsten Mal selber ausprobieren.«

»Freu mich drauf!«

Doug stieß die Tür mit dem Fuß auf und ging voran. Carl hatte seit seiner Niederlage kein Wort mit den beiden anderen mehr gewechselt und folgte Hunter schlecht gelaunt in die Umkleide.

4Begegnung auf dem Dach

Adam hängte die Jacke über seinen Drehstuhl und verstaute seine Umhängetasche unter dem Schreibtisch. Während er den Computer hochfuhr, um sich erneut an die Klassifizierung von Gesichtsausdrücken zu machen, streifte sein Blick für einen Moment die kleine Zimmerpflanze am Fenster – und blieb dann überrascht daran hängen: Pink leuchtete es ihm entgegen, denn der Kaktus hatte offenbar über Nacht Dutzende Knospen ausgebildet und stand zum Teil sogar bereits in Blüte. Nichts deutete mehr darauf hin, dass er noch am Vortag wirkte, als würde er keine 24 Stunden mehr überstehen.

Adam sah das als gutes Vorzeichen für seine Arbeit und nahm sich vor, mit frischer Motivation ans Werk zu gehen. Vorher beeilte er sich aber, vor dem Einloggen in der Büroküche noch schnell ein Glas mit Leitungswasser zu füllen und die Erde im Topf damit zu tränken.

Zu den ersten Nachrichten im Posteingang gehörte eine als wichtig markierte Info an alle Mitarbeiter, mit der Anweisung, für ein gutes Erscheinungsbild in ihren Abteilungen zu sorgen. Externer Besuch hatte sich angekündigt. McCarthy, offenbar CPO bei Schwarz Industries, war zu Vorverhandlungen für einen lukrativen Auftrag eingeladen worden und sollten durch Teile der Firma geführt werden.

»Schon gelesen?« rief Tom herüber. »Morgen müssen wir die guten Sneaker anziehen.«

»Ja, gerade« murmelte Adam, der direkt den Firmennamen in die Suchmaschine eingegeben hatte und die Ergebnisse las.

»Rüstungsunternehmen… Military Optics…«

Bald hatte er ein Bild von Jason McCarthy vor sich, Vorstandsmitglied und zuständig für strategischen Einkauf.

»Wusste gar nicht, dass CleerBloo irgendwas mit Waffen zu tun hat…?«

Tom lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bevor er antwortete.

»Naja, eher indirekt – und sicher auch nicht von Anfang an. Da geht es wohl eher um sichere Informationssysteme, Bildauswertung, Zielerfassung, sowas in der Art.«

Er tippte ein paar Zeilen und ergänzte dann:

»Trish von gestern – du erinnerst dich? In ihrer Abteilung werden Sachen entwickelt, die ziemlich interessant sind für solche Firmen wie Schwarz.«

Stirnrunzelnd nahm Adam seine Arbeit wieder auf. Der Motivationsschub, den er heute zu Beginn durch den Anblick der plötzlichen Kaktusblüte verspürt hatte, war schon nach wenigen Minuten komplett aufgebraucht. Er war froh über jede kleine Ablenkung und erleichtert, als er sich endlich bis zur Mittagspause durchgekämpft hatte.

CleerBloo hatte für seine Mitarbeiter einen aufwändig gestalteten Dachgarten angelegt, der sich über mehrere Gebäude des Firmenkomplexes hinweg erstreckte. Er diente als Ort der Entspannung, bot Rückzugsmöglichkeiten für kleinere Besprechungen an der frischen Luft und Sitzgelegenheiten für eine kreative Pause. Zum Service gehörten auch Stände, wo es Sandwiches, Wraps und frisches Obst für die Angestellten gab.

Adam stand am gut gesicherten, breiten Rand des Flachdaches und blickte über die Dächer der Umgebung Richtung Horizont. Sollte das hier sein Leben für die nächsten Jahre bedeuten? Sicher, über die Arbeitsbedingungen konnte er sich nicht beklagen. Vielleicht sollte die derzeitige digitale Fließbandarbeit nur eine vorübergehende Aufgabe sein, bevor man ihm Tätigkeiten zuwies, die ihn stärker forderten.

Er fragte sich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er als Teil einer intakten Familie aufgewachsen wäre. Nicht zum ersten Mal in diesen Tagen zog er das Foto seines Vaters hervor und betrachtete es gedankenverloren. Glattrasiert, kurzer Haarschnitt, ein freundliches Lächeln. Der Blick direkt in die Kamera gerichtet, mit dunklen Augen so wie seine eigenen. Die Ähnlichkeit war offensichtlich. Adam fragte sich, welche charakterlichen Eigenschaften er wohl geerbt hatte…

»Adam…?«

Eine unbekannte Frauenstimme hinter ihm rief seinen Namen. Er drehte sich um: Auf der hohen Beeteinfassung hockte Trish, wie gestern in roten Schnürstiefeln, diesmal aber in Jeans und weißem T-Shirt, was ihrem Auftritt etwas weniger Dramatisches verlieh als der schwarze Look vom Vortag. Sie hielt eine angebissene Birne in der Hand und schaute ihn neugierig an.

»Wie gefällt’s dir bei CleerBloo?«

Adam war verwirrt über die plötzliche Kontaktaufnahme.

»Ähm, gut soweit. Kann nicht klagen…«

Er näherte sich Trish bis auf einen knappen Meter, um nicht zu laut reden zu müssen.

»Ich bin übrigens Trish. Willkommen in der Mannschaft!«

»Ich weiß, danke. Woher kennst du denn meinen Namen?« wollte Adam wissen.

»Du scheinst meinen ja auch zu kennen, oder? Also könnte ich dich das Gleiche fragen« grinste Trish ihn an und biss noch einmal herzhaft in ihre Birne. Kauend deutete sie mit einem Finger auf ihre Augen.

»AR-Linsen, Produkt des Hauses sozusagen. Ich bekomme Infos eingeblendet – und dein Gesicht ist halt in der Firmendatenbank. Ist alles nicht so geheimnisvoll.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:

»Du hast auch keine Lust auf das Kantinenessen…?«

»Das Essen ist in Ordnung«, erwiderte Adam. »Ich bin lieber ein bisschen alleine.«

»Ah, verstehe. Ich störe also…«

»So war das nicht gemeint« beeilte sich Adam klarzustellen.

»Schon in Ordnung.« Trish lächelte ihn freundlich an. »Ich mag es auch nicht besonders, unten im Lärm zu sitzen.«

Sie musterte Adam interessiert.

»Darf ich fragen, was du da hast?«

Sie wies auf das Foto in seiner Hand.

Adam zögerte kurz, ob er dieser Fremden Einblicke in sein Leben gewähren sollte, aber bei ihr fühlte es sich irgendwie nicht falsch an. Sie hatte eine ungewohnt offene Art, wirkte aber nicht oberflächlich, sondern aufrichtig interessiert. Er reichte ihr das Bild und setzte sich neben sie.

»Das ist – oder war – mein Vater. Er ist ein paar Tage vor meiner Geburt gestorben.«

»Das tut mir leid…«

Sie schaute lange auf das Foto in ihrer Hand, bevor sie es Adam zurückgab. Dabei schien es ihm, als würde sie für einen Sekundenbruchteil gedanklich abschweifen, bevor sie ihn fragte:

»Was ist denn passiert?«

»Ein Motorradunfall. Ein Van hat ihn beim Abbiegen übersehen…«

Adam steckte das Foto wieder ein. Die unvermeidliche Stille, die sich nach so einem Gesprächsthema einstellte, ließ ihn nach anderen Dingen suchen, über die sie sich unterhalten konnten.

»Was genau machst du eigentlich bei Cleer-Bloo?« fragte er sie schließlich.

»Ich bin in der Entwicklungsabteilung. Mein Spezialgebiet ist Mustererkennung. Also zum Beispiel dein Gesicht automatisch als solches zu erkennen – und zwar so schnell wie möglich. Wir setzen das in unseren Augmented-Reality-Linsen ein. Kunden brauchen sowas in der Logistik, beim Warten komplexer Anlagen oder beim Militär.«

Trish kaute noch einmal an ihrer Birne herum.

»Jeder Kunde ist dann in seinem eigenen Layer unterwegs – er sieht dann genau das eingeblendet über seinem Sichtfeld, was nur er sehen soll.«

»Verstehe, also Anleitungen, Anweisungen und sowas.«

»Genau, oder auch wichtige Zusatzinformationen, Markierungen, Klassifizierungen. Es gibt ziemlich viele Einsatzmöglichkeiten.«

Sie saßen einen Moment schweigend nebeneinander. Adam wusste, dass seine Pausenzeit sich dem Ende näherte, aber er wollte die Gelegenheit nutzen und suchte nach einem anderen Thema. Trish kam ihm zuvor:

»Dieses Bild von deinem Vater…«

Man merkte, dass es ihr schwerfiel, weiterzusprechen.

»Ich muss noch einmal darauf zurückkommen. Ich habe dieses Foto schon einmal gesehen.«

Adam starrte sie verdutzt an.

»Aber – wie soll das möglich sein?«

»Ich kann es mir auch nicht erklären. Aber was solche Dinge angeht, habe ich ein verdammt gutes Gedächtnis.«

Zurück an seinem Arbeitsplatz, fiel es Adam noch schwerer als sonst, sich zu konzentrieren. Er mochte Trish, wusste aber nicht, was er von ihr halten sollte, seit sie das Foto erneut angesprochen hatte. Sie hatte in etwa sein Alter, konnte seinen Vater also unmöglich gekannt haben. Ebenso wenig kam eine Meldung mit diesem Foto in der Zeitung in Frage, die sie gesehen haben könnte. Ein Jahrbuch aus gemeinsamer Schulzeit der Eltern vielleicht, durch das sie als Kind zuhause geblättert hatte? Was für ein unglaublicher Zufall das wäre. Das ergab alles einfach keinen Sinn. Sie musste sich irren. Dieses fotografische Gedächtnis, das sie sich selbst zuschrieb, war wahrscheinlich doch nicht so ausgeprägt, wie sie glaubte.

Adam zuckte ein wenig zusammen, als er eine breite Hand auf seiner Schulter spürte.

»Na, wie läuft’s, Adam?« fragte Charles, sein Abteilungsleiter. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:

»Weißt du eigentlich, was du da siehst?«

Er deutete auf den Bildschirm und das gerade angezeigte Gesicht. Ein weiteres Paar fremder Augen sah ihn direkt an.

»Du denkst vermutlich, das sind alles Fotos realer Menschen. Aber in Wahrheit ist es viel spannender: Unser Programm hat aus Tausenden von Porträtfotos, die als Grundlage dienten, eigene Gesichter generiert. Niemand existiert, der exakt so aussieht wie auf einem dieser Fotos. Unsere Künstliche Intelligenz oder KI, nennen wir es der Einfachheit halber so, lernt also, wie Gesichter aussehen, Nasen, Ohren, Münder, Proportionen, Hauttöne, und welche Variationsmöglichkeiten es gibt. Daraus setzt sie dann bei Bedarf unendlich viele neue Gesichter zusammen, die von echten nicht zu unterscheiden sind.«

Man merkte Charles an, wie sehr ihn das Thema begeisterte, und wie er Adam mit seiner Euphorie anstecken wollte.

»Das sind dann alles gewissermaßen Chimären…?« warf Adam ein, der an die zusammengesetzten Wesen aus der griechischen Mythologie dachte.

»Wenn du so willst. Und jetzt lernt unsere KI, die generierten Gesichter mit glaubhafter Mimik zu versehen. Hier kommst du ins Spiel.«

Charles stellte sich seitlich neben Adam, damit er ihn ansehen konnte.

»Bei dir durchlaufen die Gesichter eine erste Prüfung. Die Mimik muss schließlich vor allem Menschen überzeugen können. Das Ergebnis wird protokolliert und dient später auch als Klassifizierung. Im nächsten Schritt bringen wir eine weitere KI ins Spiel. Sie wird mit Hilfe der von dir markierten Bilder darauf trainiert, Mimik zu erkennen – und zwar solche, die aus menschlicher Wahrnehmung glaubhaft wirkt. Später können wir diese zweite KI nicht nur verwenden, um – ohne deine Unterstützung – Gesichter anhand ihres Ausdrucks Emotionen zuzuordnen. Egal, ob von echten Menschen oder Chimären, wie du sie nennst. Sie kann außerdem dabei helfen, die Ergebnisse der ersten KI zu beurteilen. Ab diesem Moment können die beiden Programme in eine Art Wettstreit treten, um immer bessere Ergebnisse zu erzielen: Das eine generiert die Gesichter, mit dem es das andere überzeugen muss. Am Ende haben wir hochspezialisierte Systeme für menschliche Mimik.«

Mit begeisterter Miene beendete er seinen Vortrag:

»Spannend, oder?«

»Wow, echt interessant!« stimmte Adam zu, und bemühte sich dabei, überzeugend zu klingen.

»So – dann will ich dich nicht weiter von deiner Arbeit abhalten!« sagte Charles und ging schnellen Schrittes zurück in sein Büro, das nur durch Glaswände von seinem Team getrennt war.

Die Anspannung fiel von Adam ab, als er endlich wieder alleine vor seinem Bildschirm saß. Tatsächlich fand Adam durchaus interessant, was er über den Hintergrund seiner Aufgabe erfahren hatte. Das änderte allerdings wenig daran, dass ihn die Tätigkeit zutiefst langweilte. Daher hielt die vorübergehend gesteigerte Konzentration nicht lange an, und seine Gedanken schweiften erneut immer wieder ab. Er konnte es kaum erwarten, den Arbeitstag hinter sich zu bringen und nahm sich vor, sein Versprechen einzulösen und seine Mutter zu besuchen.

5Druckerprobleme

Pam und Dan. Dan und Pam. Die Kombination klang schon ein wenig seltsam, aber das war ja nichts, was ihn interessieren musste. Adam saß auf allen Vieren unter dem altmodischen Schreibtisch der beiden und stellte sicher, dass alle Kabel eingesteckt und am richtigen Platz waren. Bei jemandem wie seiner Mutter wusste man nie. Vielleicht war alles in Ordnung mit dem Drucker, aber stattdessen einfach nur ein Anschluss gelockert. Aus dem Nebenzimmer hörte er den Fernseher plärren.

»Adam, dein Boss ist im Fernsehen!« rief seine Mutter herüber.

»Wer?« ächzte Adam, während er wieder unter dem Schreibtisch hervorrobbte.

»Dieser Clay. Scheint ja ein richtiger Menschenfreund zu sein.«

Adam hörte, wie sie die wohltätigen Projekte und Stiftungen von Thomas Clay aufführten, Philanthrop und Kunstmäzen, um dann zu Bildern vom Empfang bei einer Benefizgala überzuleiten. Offensichtlich zugunsten Kinder mit seltenen Erbkrankheiten.

»Ach so. Das ist nicht mein Boss. Ihm gehört die Clay Holding, zu der wiederum meine Firma gehört.«

»Sag ich doch. Sie sagen, er war damals Gründer von CleerBloo.«

»Ja, kann sein. Sag mal, wann hast du zuletzt etwas ausgedruckt?«

Adam ging hinüber zu seiner Mutter, die fasziniert den Klatsch aus der Welt der Reichen verfolgte. Gerade zeigten sie ein lächelndes Paar auf dem roten Teppich.

»… Clays Tochter, Sonya McCarthy, in einem atemberaubenden schwarzen Abendkleid aus silberdurchwirktem Chiffon…«

Der Kerl neben ihr im Maßanzug musste der CPO von Schwarz Industries sein, der mit unnatürlich weißem Lächeln in die Kameras blickte. Das also sollte der Manager sein, der die Firma besichtigen würde. Dann war die Zusammenarbeit zwischen den Firmen offenbar schon weiter fortgeschritten, dachte Adam. Obwohl er nicht wusste, ob Sonya McCarthy überhaupt im Unternehmen tätig war. Vermutlich trieb sie sich hauptberuflich auf Wohltätigkeitsveranstaltungen herum.

»Also, Mom – kümmern wir uns jetzt mal um den Drucker?«

Adam hörte laute Motorengeräusche und sah durch das Fenster zum gepflegten Vorgarten. Er beobachtete, wie Dan in seinem eindrucksvollen Pickup die Auffahrt hochfuhr. Die Fensterscheiben vibrierten, bis Dan den Motor des Dodge Ram abstellte und ausstieg. Er dachte an sein Apartment und war froh, dass wenigstens seine Mutter hier bei Dan ein angenehmeres Leben in einer anständigen Wohngegend führen konnte.

Später, beim gemeinsamen Abendessen, nutzte Adam die Gelegenheit, sich noch einmal für die Vermittlung des Jobs zu bedanken. Er hütete sich, undankbar zu sein und davon zu erzählen, wie trostlos und langweilig die Tätigkeit in Wahrheit war.

»Freut mich, dass es geklappt hat, Adam!«

Dan schaufelte sich noch eine Portion auf den Teller und zwinkerte ihm dabei zu.

»Das ist zwar kein Job für ausgewachsene Männer, herumsitzen und ein bisschen mit der Maus klicken, aber echte Arbeit ist halt nicht so dein Ding, was?« lachte Dan ihn an.

In jedem Fall teilten sie nicht denselben Humor, oder was auch immer das sein sollte. Adam lächelte gezwungen und aß schweigend weiter.