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Endlich ist nach Retrograd der zweite Teil der Erlebnisse von P. erschienen! Der Name des Buches ist Programm. Prokrastinieren! Sogar der Autor hat das Schreiben angeblich wegen anderer Projekte zwei Jahre vor sich her geschoben. Dabei brannten die Themen Paul Datura auf der Seele. Gibt es Sex auf dem Jakobsweg? Wie lange ist Koks haltbar? Kann man den Killern der Mafia überhaupt entkommen? An diese Fragen wagt P. in seinem neuen Abenteuer gar nicht zu denken und entscheidet nie irgendetwas. Doch die Umstände zwingen P. zum Handeln. Ohne es zu wissen, führt er die gefährlichsten Killer der Mafia mit seiner Unentschlossenheit an der Nase herum.
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Seitenzahl: 231
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Prokrast
Du kannst nicht zurück
Paul Datura
Roman
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Vertagt
Rauch
Alte Spuren - Fate
Oh Mann!
Der alte Mann und der Stein
Familienehre
Die Insel
Tot im Seil
Hand gegen Koje
Cleaner
Caminho del mal
Un amor
Lydia
Love in vain
Das Ende der Welt
Fuchs geh voran
Die Jagd beginnt
Glande despedazado
Camino revolta
Good Times
Das Meer
Where Is My Mind
Wir kriegen dich
Hinterland
Dejavu
Blutzoll
Palingenese
Dead End
Happiness
Hinweise des Autors
Vorwort
Der Name des Buches ist Programm.
Prokrastinieren!
Sogar der Autor hat das Schreiben angeblich wegen anderer Projekte zwei Jahre vor sich her geschoben. Dabei brannten die Themen Paul Datura auf der Seele.
Gibt es Sex auf dem Jakobsweg?
Wie lange ist Koks haltbar?
Kann man den Killern der Mafia überhaupt entkommen?
An diese Fragen wagt P. in seinem neuen Abenteuer gar nicht zu denken und entscheidet nie irgendetwas. Doch die Umstände zwingen P. zum Handeln. Ohne es zu wissen, führt er die gefährlichsten Killer der Mafia mit seiner Unentschlossenheit an der Nase herum.
Vertagt
Er sah durch die Scheibe der Autotür eine Silhouette. Eine wahnsinnige Angst ergriff ihn. Die Tür darfst du nicht aufmachen! Doch er war wie ferngesteuert und sah seine eigene Hand den Türgriff des Fahrzeugs ergreifen. Langsam öffnete er die Tür und im selben Moment starrte ihn die Fratze einer verfallenen Mumie an und ein grauenvoller Schrei ertönte. Dann brach der Kopf der Mumie mit einem ekelhaften Knacken ab, fiel an der Seite des Wagens herunter, streifte seinen Schuh und rollte hüpfend unter das Auto.
Von seinem eigenen gellenden Schrei aus dem Schlaf gerissen fuhr P. schweißnass vom feuchten Kopfkissen hoch. Es war dieser immer wiederkehrende schreckliche Traum, der ihm keine Ruhe ließ. P. war in einer schlimmen Verfassung. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles hatte sich verändert. Sein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt worden. Und er hatte nicht den geringsten Schimmer einer Ahnung, wie es weiter gehen sollte. Seine Kinder waren über den Globus verstreut und hatten ihr eigenes Leben in Angriff genommen. Seine Frau war ebenfalls auf eigenen Pfaden unterwegs. Von ihr hörte er nur noch über ihren Anwalt. Er hatte sich schnell eine kleine Wohnung für wenig Geld in einem zweifelhaften Mietshaus gemietet. Das Haus war für den Abriss vorgesehen und deshalb hatte er nur einen befristeten Mietvertrag bekommen. Froh darüber überhaupt eine günstige Wohnung ergattert zu haben, überhörte er die unangenehmen lauten und oft randalierenden Nachbarn. Es gab zwei Abwandlungen der Mitmieter. Die ersten waren »schon immer« in diesem ehrenwerten Haus und zeterten über die schlechten neuen Zeiten, in denen keiner mehr die Hausordnung einhielt. Die anderen waren ignorante Opportunisten, die die billigen Wohnungen in einem atemberaubenden Tempo kaputt wohnten. Die alten Mieter starben langsam aus und die neuen nahmen überhand. Entsprechend sah es auch rund um das Haus und im Treppenhaus aus. Es stapelten sich nicht abgeholte Sperrmüllberge im Innenhof. Im Treppenhaus hatte sich schon vor Tagen jemand übergeben müssen. Naja egal. Immerhin roch der nun langsam abgetrocknete Fleck nicht mehr so penetrant wie am Anfang und er war zum Glück nicht mit der für Mieter obligatorischen Kehrwoche dran. Jedenfalls hatte er seine Zweizimmerwohnung und war sein eigener Herr. Diese Wohnsituation passte ziemlich genau zu seiner Gemütsverfassung. Neben dem zusammengestürzten Lebensentwurf, dem er seine »besten Jahre« geopfert hatte, war vor Kurzem eine zusätzliche Katastrophe in seinem Leben passiert. Er war auf dem Weg zur Arbeit zusammengebrochen und war nur dank gut ausgebildeter Ärzte wieder ins Leben zurückgeholt worden. Als er wieder zu sich gekommen war, musste er erkennen, dass er ein völlig falsches Bild über sich und seine Vergangenheit gehabt hatte. In seinem Kopf waren ganze Abschnitte seines Lebens zwar gespeichert gewesen. Aber durch einen grauenhaften Vorfall waren diese Episoden seiner Vergangenheit für ihn nicht abrufbar. Deshalb hatte er vergessen, dass er in den Achtzigerjahren ein ganz anderer Mensch gewesen war, als er sich bisher eingebildet hatte. Er war damals nur knapp dem Tode entronnen und er hatte tatsächlich mehrere Leichen im Keller. Also nicht bildlich gesprochen, sondern real. Ok, nicht im Keller. Eher in einer Lagerhalle. Aber es waren tatsächlich zwei mumifizierte Leichen und dazu lagerte dort noch ein Schatz aus mehreren Millionen und ein Berg mit Drogen. Dass er sich plötzlich wieder an sein altes Ich erinnern konnte, war jetzt fast ein halbes Jahr her. Doch die Details der verschollenen Erinnerungen wurden erst sehr langsam und schmerzvoll wieder für ihn abrufbar. Die auf ihn einströmenden Erinnerungen waren erschreckend. Und als er versucht hatte den Spuren der Vergangenheit zu folgen, war er auf den Tatort eines ungesühnten Mordes und zwei Leichen gestoßen. Dazu kamen noch die Scheidung von seiner Frau und das offensichtliche Desinteresse seiner geliebten Kinder an seinem Schicksal. Das alles hatte zu einer regelrechten Schockstarre geführt. Seit einem halben Jahr lebte er vor sich hin und grübelte. Er grübelte und schob alles andere in seinem Leben von sich weg. Er traf nur Entscheidungen, wenn er sie tatsächlich nicht weiter aufschieben konnte. Er tat nichts und grübelte vor sich hin. Prokrastinierte, wie sein Arzt diagnostizierte. Das wäre ein Teil seiner psychischen Störung, einer ausgewachsenen Depression, die behutsam behandelt werden müsse. Zuerst war er lange krank geschrieben gewesen. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wurde ihm eine Kur zur Wiederherstellung seiner körperlichen Verfassung empfohlen. Die Ärzte empfahlen ihm aber auch dringend eine psychologische Therapie. Er hatte ihnen zwar keine Details seiner Erinnerungen mitgeteilt, aber doch durchblicken lassen, dass er komplett durcheinander war. Ein Aufenthalt auf einer Nordseeinsel war für ihn genau das Richtige. Neben einem straffen Programm den ganzen Tag über hatte er Gelegenheit, sich bei endlosen Strandspaziergängen zu beruhigen. Er dachte die ganze Zeit über rein gar nichts und marschierte vor sich hin und genoss die Sonne und den Wind auf seiner Haut. Eine Psychologin nahm ihn unter seine Fittiche und hatte entnervend oft Recht mit ihren Diagnosen und regte sonderbare Gedankengänge bei ihm an. Er hatte den Verdacht, dass die ganz gut aussehende Frau nicht ohne Grund immer sehr kurze Röcke trug und ihre ansehnlichen Beine im Gruppengespräch gerne übereinander schlug. Und unter bestimmten Umständen hätte er in ihrem Fall das Prokrastinieren gerne aufgegeben.
›Gab es eigentlich auch das Krankheitsbild des Präkrastinierens?‹, fragte er sich in diesen Gesprächen öfter.
›Und hatte das am Ende etwas mit Ejaculatio praecox zu tun? Naja, egal!‹.
Er ließ sich natürlich nichts anmerken und gab ganz nebenbei sogar das Rauchen auf. Naja, so ziemlich. Wie man eben das Rauchen nach einem langen Raucherleben aufgeben kann. Er setzte sich in den Sand am Strand und das Erste, was er gerne machen würde, war sich eine Zigarette anzuzünden. Die gutaussehende Therapeutin forderte ihn auf, in so einer Situation zu versuchen doch das Rauchbedürfnis zu verdrängen und lieber Wind und Wellen zu genießen oder sich irgendeine andere beliebige intensive und positive Empfindung vorzustellen. Selbst am Strand mit den sich aufdrängenden Elementen Wind, Wasser und Sonne waren ihm oft nur ihre makellosen Beine eingefallen. Aber er hatte das Rauchen eingestellt. Es hatte sich aber gezeigt, dass er in speziellen Belastungssituationen - sprich in der Kneipe mit Alkoholgenuss - seine Abstinenz nicht durchhalten konnte. Und in der Kneipe war er häufig. Noch immer konnte er sich nicht auf eine Sache konzentrieren und war deshalb nicht arbeitsfähig. Ganz ohne Aufgabe schlug er die Zeit in seiner ärmlichen Wohnung tot und ging abends oft in die Kneipe, um mit Fremden zu trinken und zu palavern. Na gut, er kochte sich öfter etwas richtig Gutes und las sehr viel. Aber er hatte immer noch das Gefühl nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Und schob einen Berg an unerledigten und verschobenen Aufgaben vor sich her. Wenn nichts oder niemand käme, um ihn aus dieser Starre zu befreien, würde er sein Leben einfach verpassen.
Sie hatte ebenfalls eine große Angst ihr Leben zu verpassen. Leider hatte sie bisher nicht besonders viel Glück in ihrem Leben gehabt. Sie war schon länger arbeitslos und sprach dem Alkohol in einem ungesunden Maß zu. Von einem gelegentlichen Bierchen hatte sie sich zu einer täglichen Ration von zwei Nullfünfunddreissigerflaschen Doppelkorn hochgearbeitet. Die kleinen Flaschen bevorzugte sie, weil man sie auch mal in der Handtasche unterbringen konnte. Sie bestellte sich immer mehrere Kartons bei einem Discounter im Internet, um die Peinlichkeit zu umgehen, in einem Laden das ganze Regal leer räumen zu müssen. An ihrem Körper war dieser dauernde exzessive Missbrauch nicht spurlos vorbeigegangen und so hatte sie schon länger nicht mehr ihren ganzen Körper im großen Spiegel des Schlafzimmerschrankes angesehen. Dabei war es früher immer eine große Freude für sie gewesen, sich in Pose vor den Schrank zu stellen und ihren schlanken und tätowierten Körper von allen Seiten zu bewundern. Dabei stellte sie sich vor, wie anregend dieser Anblick auf gut gebaute junge Männer wirken würde. Auch mit Robert, ihrem Lebensabschnittspartner, stand es nicht mehr zum Besten. Der junge und drahtige Mann mit einem schönen Sixpack und einer großen Klappe hatte sich in einen zunehmend fetter werdenden und meckernden Fernsehglotzer verwandelt, seit ihn sein Chef beim Klauen erwischt hatte und aus der Werkstatt rausgeschmissen hatte. Er hatte wohl auch ein paar Mal zu oft gefehlt und sein ebenfalls ausufernder Alkoholkonsum war seinem roten und aufgequollenen Gesicht anzusehen. Inzwischen nannte sie ihn Robbie. Er nahm an, das wäre die liebevolle Verkleinerungsform seines Namens. Sie nannte ihn aber nach diesem Tier von der Nordseeküste aus der Vorabendserie im ZDF, weil er sich ähnlich bewegte und auch einer Robbe immer ähnlicher wurde. Jetzt hockte er den ganzen Tag mit glasigen Augen vor dem Fernseher und schimpfte über die Welt, die Nachbarn, die Ausländer und immer öfter fing er auch damit an, an ihr herumzumeckern. Beim Arzt hatte sie dann diese Frauenzeitschrift in die Finger bekommen. Sie musste oft zum Arzt, weil sie auf keinen Fall zu diesem arroganten Heini im Arbeitsamt gehen wollte, um sich anzuhören sie solle doch diesen oder jenen miesen Job annehmen. Da ließ sie sich lieber krankschreiben. Und ihr Arzt fand immer etwas. Es ging eben auch gesundheitlich nicht aufwärts. Naja, auf jeden Fall war in dieser Brigitte vom Tisch des Wartezimmers ein Bericht über Beziehungen und eingeschlafene Sexualtriebe verheirateter Männer gewesen und wie man oder eher Frau damit umgehen könnte. Und diesen Bericht hatte sie dann während ihrer zwei Stunden, die sie im Wartezimmer auf ihr Gespräch mit dem Arzt wartete, regelrecht verschlungen. Beschrieb er doch genau ihr Problem.
»Dein Mann hat keinerlei Interesse mehr an sexuellen Aktivitäten und findet dich nicht mehr attraktiv?«
Exakt das war ihr Problem. Genau genommen lief da fast gar nichts mehr. Und die Lösung wurde auch mitgeliefert. Man musste nur eine Partnermassage in einer erotischen Atmosphäre arrangieren und die Jungs gingen ab wie früher. Also hatte sie sich eine Literflasche des Rosenmassageöls besorgt, dass gerade bei ihrem Lieblingsdiscounter im Angebot war. Das Bett hatte sie umsichtig mit einer Folie bezogen. So ein Öl ging bestimmt nicht richtig raus aus den Laken.
»Wenn man mal was Neues ausprobiert, dann muss man sich ja nicht gleich die gute Bettwäsche und die Matratze total versauen«,
hatte sie sich altklug gesagt. Leise vor sich hin summend hatte sie Teelichter und Kerzen rund ums Bett arrangiert und angezündet. Neben dem Aschenbecher hatte sie zwei Räucherstäbchen so in eine der Teekerzen gesteckt, dass die Asche genau in den Aschenbecher fallen würde. Nur den karibischen Rum für die empfohlenen Mixgetränke hatte sie vergessen zu kaufen. Und die ganzen exotischen Zutaten für die Getränke hatte sie in ihrem Discounter auch nicht gefunden. Deshalb hatte sie zwei Flaschen des Strohrums, der schon so lange unter der Spüle stand, in eine schöne Karaffe gefüllt. Der würde bestimmt auch gehen. Und mit Cola gemischt geht sowieso alles. Es lief auch ganz gut: Obwohl Robbie mit seinem fülligen Körper ganz schön rumrutschte auf der Folie, nachdem sie ihn eingeölt und den Rücken massiert hatte. Er rutschte mit dem Knie weg und stieß sich übel seine Hoden an ihrem Hüftknochen, als er versuchte aufzusteigen. Nach einer Minute und sechsunddreißig Sekunden rollte er sich zufrieden grunzend von ihr herunter, drehte schon die Augen links ein und fing an leise zu schnarchen, bevor er breitbeinig auf dem Rücken zu liegen kam. Naja, immerhin war das ja schon mal ein Anfang. Während sie seinem Schnarchen zuhörte, versuchte sie herauszufinden, was sie das nächste Mal besser oder anders machen müsste. Vielleicht den Rum erst hinterher trinken?
›Da nehm ich mir doch lieber noch einen Schluck!‹.
Nach einem kräftigen Schluck aus der Karaffe schlief auch sie grübelnd ein. Dabei glitt ihr die rutschige und halb volle Karaffe aus der Hand und der Strohrum verteilte sich zuerst über Robbies nackten und schlaffen Unterleib und dann über die öligen Folie auf dem Bett. Robbie schnaubte kurz und schlief dann weiter. Die zwei halb abgebrannten Räucherstäbchen zitterten kurz und begannen zu schwanken, als sie sich umdrehte und ihr schwer gewordenes Hinterteil in eine bequeme Position fallen ließ. Das brennende Teelicht fiel um und rollte über das Bett. Eine leise fauchende bläuliche Flamme breitete sich schnell zwischen den haarigen Beinen von Robert in Richtung der schlaffen Körpermitte aus ...
Rauch
Er lag in seinem Bett und las einen alten Klassiker. ›Opus Pistorum‹ von Henry Miller. Das ganze Rumgebumse ging ihm eigentlich ziemlich auf die Nerven. Doch das Lesen dieses Buches war eine selbst gewählte Qual, die er sich auferlegte, um seinem vergessenen Selbst näher zu kommen. Sein vergessenes Ich aus vergangenen Zeiten hatte nämlich sehr wenige Spuren in seinem Leben hinterlassen. Nur einige lange auf dem Dachboden vor sich hin staubende Kartons voll mit Haushaltsartikeln, seine alte Stereoanlage, Büchern und Schallplatten aus seinem Singleleben hatte er aus dem Trennungsstreit mit seiner Frau retten können. Und seine alte gelbe Melitta Kaffeemaschine für zwei Tassen, die jetzt wieder blubbernd und knatternd ihren Dienst in der Küche erledigte. Die Schallplatten und die speckigen Audiokassetten hörte er mit seinem alten Plattenspieler und seinem alten Tapedeck an, um diesem jungen Mann näher zu kommen. Er hatte überhaupt keine Erinnerungen an die Gefühle von diesem Mann, obwohl er ganz genau wusste, dass er selbst diese Bücher gelesen und die Musik gehört hatte. Manchmal knackten die Boxen der Anlage laut und der Ton war nur noch auf einem Kanal zu hören. Aber er brauchte die Stimulanz für sein kaputtes Hirn, um lange nicht abgerufene Erinnerungen wieder in sein Bewusstsein zu rufen. Wobei er manchmal nachts schweißnass aufwachte und Minuten brauchte, um sich selbst im Hier und Heute zu finden. Und dann waren sie da. Die Erinnerungen an einen anderen P.. Einen P., der jung und gesund war und sehr fremd. Und dann war er sich wieder selbst ein Rätsel, dem er aber mit aller Kraft auf den Grund gehen wollte.
Deshalb hatte er sich vorgenommen, diese ganzen Bücher noch einmal zu lesen. Auch wenn er sich sicher war, diese Bücher schon einmal gelesen zu haben, kannte er den Inhalt nicht. Und so hatte er einen der alten Umzugskartons voller Bücher neben sein Bett gestellt. Bücher von Miller, Bukowski aber auch Dick und Hemingway waren in diesen Karton lieblos rein gestopft und vergessen worden. Für seinen alten Plattenspieler hatte er sich für teures Geld eine neue Nadel zugelegt, um die alten Platten hören zu können. Jetzt musste er sich durch die endlosen Orgien längst verstorbener Chauvinisten durch quälen und war über sein vergessenes Ich erstaunt. Hatte er tatsächlich diese Literatur genossen, als er der andere P. war? Eine Flasche guten Rotwein hatte er sich gegönnt und ließ jetzt das Buch müde auf seinen Bauch sinken. Ja Frauen! Natürlich kann man keinen Miller lesen, ohne an seine eigenen Bedürfnisse denken zu müssen und wie Frauen hier helfen könnten. Aber eigentlich hätte er jetzt viel lieber eine gute und starke Zigarette. Er wusste auch, dass sich in seiner Küche eine Packung Overstolz ohne Filter befand, die er sich vor kurzem aus rein historischen Gründen im Internet bestellt hatte. Allerdings hatte er es bisher geschafft, nicht in seiner Wohnung zu rauchen. Aber es würde ja nur eine einzige sein. Nein. Auf keinen Fall würde er jetzt rückfällig werden. Er konnte den Rauch fast schon riechen und schmecken. Mein Gott. War er so abhängig vom Rauchen, dass er sich den Rauch schon vorstellen konnte? So könnte er das ja dann auch machen. Einfach nur dran denken und er würde Rauch riechen und schmecken. Jetzt roch er aber tatsächlich Rauch. Er konnte ihn praktisch auf seiner Zunge schmecken. Und dann sah er Rauch durch seine einen Spalt offenstehende Schlafzimmertür hereinströmen und zur Zimmerdecke aufsteigen. Als er den Feuerschein vor dem Fenster wahrnahm, war es schon zu spät. Mit einem Knall zerbrachen die Fensterscheiben und die helle und heiße Urgewalt Feuer nahm von den labbrigen Vorhängen und dann auch von seinem Schlafzimmer Besitz. Er griff sich seine Hosen und rannte in den Flur. Ein lautes Rumpeln und verzweifelte Schreie in der Wohnung unter ihm ließen Schlimmes befürchten. Die alte Glastür zum Treppenhaus mit der Einfachverglasung in Holzrahmen war undurchsichtig schwarz. Scheiße, die Bude brennt ja lichterloh! Er wagte die Tür zum Treppenhaus zu öffnen. Sofort drang dicker und heißer Rauch in sein Gesicht. Schnell schloss er die Tür wieder. Was für eine Riesenscheiße war das denn? Er eilte zurück ins Schlafzimmer. Sein Bett mit dem nassen roten Fleck, der sich neben der umgestürzten Weinflasche auf dem Lacken ausbreitete, dampfte schon wegen der Hitze, die durch die zerbrochenen und brennenden Fenster hereindrang. Auch sein Kleiderschrank rauchte schon an der dem Fenster zugewandten Seite. Schnell griff er sich seinen Parka mit seiner Brieftasche und seinem Handy darin. Mit einem letzten Blick verabschiedete er sich von seinen Büchern neben dem Bett, die schon von kleinen Flammen umzüngelt wurden. Es muss am Rotwein gelegen haben, dass er das Feuer nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Während er den Parka anzog, stolperte er in die Küche und fand nach einigem Herumsuchen die Schachtel Overstolz in einer der Küchenschubladen. Seine historische Kaffeemaschine schmolz in der harten Wärmestrahlung der Flammenlohe vor dem Küchenfenster blasenwerfend und rauchend in sich zusammen. Gleich würde auch in der Küche das Fensterglas nachgeben und das Feuer in die Wohnung brausen. Er musste jetzt sofort raus aus dieser Todesfalle. Schnell machte er das müffelnde Küchentuch in der mit ungespültem Geschirr voll bepackten Spüle nass und wickelte sich den fleckigen nassen Lappen um den Kopf. Dann schloss er den Reißverschluss des Parkas und zog die Kapuze über seinen Kopf. Sein ganzer Stolz in dieser Küche war ein ausziehbarer Wasserhahn. Den zog er sich jetzt über seinen Kopf und duschte sich schnell ausgiebig ab. An der Tür machte er kurz Halt. Er konnte Sirenen hören, die sich schnell näherten. Sollte er warten? Fetter Rauch schwallte unter der Wohnungstür herein und auch aus dem Schlüsselloch drang ein fingerdicker Strahl flimmernder schwarzer Luft. Nein, er würde hier gegrillt werden und ersticken, wenn er sich nicht sofort selbst rettete. Also öffnete er die Tür und spürte sofort den brühend heißen Qualm im Gesicht. Er fiel auf die Knie und tastete nach dem Treppengeländer. Mit den Fingern ertastete er das heiße Metall. Die Luft anhaltend hangelte er sich Hand für Hand nach unten. Seine Wohnung war im ersten Obergeschoss.
›War gewesen!‹, dachte er panisch.
Es fühlte sich an, als ob seine Augenbrauen jetzt gerade abgefackelt werden würden. Scheiße! Von unten und oben hörte er verzweifelte Schreie. Vermutlich von den anderen Hausbewohnern, die um ihr Leben kämpften. Auf keinen Fall durfte er jetzt diesen heißen und giftigen Rauch einatmen. Aber er würde die Luft nicht mehr lange anhalten können. Plötzlich griff eine behandschuhte Hand aus der Schwärze des Rauches nach ihm. Dann musste er einfach atmen. Das hätte er besser nicht tun sollen. Hustend und würgend sog er noch einen Atemzug der giftigen und glühend heißen Luft ein, bevor ihm die Lichter ausgingen.
Alte Spuren - Fate
Er gönnte sich erst mal einen großen Schluck von seinem frischen Bier. In dieser Kneipe nahm ihm keiner übel, dass er ziemlich penetrant nach Rauch stank und Schmauchspuren an seiner Kleidung waren. Er war in einem Notarztwagen aufgewacht, als ihm ein Rettungssanitäter Sauerstoff mit einer Maske in die Lungen blies. Dann reinigte der gute Mann ihm das Gesicht und untersuchte ihn aufmerksam nach Verletzungen. Die er glücklicherweise nicht fand. Ganz im Gegensatz zu den bedauernswerten anderen inzwischen ehemaligen Mitbewohnern, die unüberhörbar jammernd und schimpfend in den anderen Rettungswagen behandelt wurden. Das Haus war nicht mehr zu retten gewesen. Die Feuerwehr kontrollierte wohl das Feuer. Aber von dem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert mit der Holztreppe und den dünnen Holzdecken waren nur noch die rußgeschwärzten Umfassungswände intakt. Das Innere des Gebäudes war ein großes Mikado aus schwarzen, rauchenden und nassen Trümmern. Und nach Auskunft eines leichtverletzten Nachbarn, der neben seinem Rettungswagen lautstark um seine frisch gekaufte und nicht mal bezahlte Wohnlandschaft Barcelona inklusive Flachbildschirmfernseher trauerte, waren nicht alle Bewohner lebend davongekommen. ›Schade um die Platten und die Bücher, die ich jetzt doch nicht mehr hören und lesen kann.‹, dachte er wehmütig. Nach einer kurzen aber sehr heftigen Diskussion und einer Unterschrift entließ ihn der Sanitäter aus seiner Obhut. Der Mann hätte ihn gerne zur Beobachtung ins Krankenhaus gefahren. Verdacht auf Rauchvergiftung. Aber P. bat nur darum, in einen Spiegel schauen zu dürfen. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass seine Augenbrauen und Wimpern noch vorhanden waren, wollte er auf keinen Fall schon wieder in die Obhut von gutmeinenden und weiß gekleideten Spezialisten wechseln. Und so war er, mit den Telefonnummern der Polizei, der Stadtverwaltung und des Krankenhauses ausgestattet, ohne zurückzublicken, von der Brandruine weggegangen. Er dürfe auf die Unterstützung der Stadtverwaltung bei der Suche nach einer Unterkunft zählen, war ihm von einer sehr besorgt dreinschauenden Dame, die den Bürgermeister vertrat, zugesichert worden. Aber ihm war jetzt nach einem sehr sehr starken Getränk zumute. Sein gesamtes bisheriges Leben hatte sich in letzter Zeit buchstäblich und die letzten Stunden auch physikalisch in Rauch aufgelöst. Er war sich klar, dass er einen riesengroßen Fehler machte, wenn er die gut gemeinte Hilfezusage nicht annahm. Aber er hatte die Schnauze jetzt mal richtig voll und wollte eben erst einmal allein und dann in Gesellschaft eines hochprozentigen Helfers sein. Alles weg! Alles, was ihn mit seiner Vergangenheit verband, war weg. Jetzt hatte er tatsächlich nur noch die Erinnerungen in seinem Kopf. Und auf diese Erinnerungen konnte er sich überhaupt nicht verlassen. Und so saß er an der Theke der Bahnhofskneipe und starrte in sein Glas, dass eine ziemlich beleibte und auch besorgte Bedienung ungefragt immer wieder auffüllte, ohne das er auch nur den Kopf heben musste. Alle anwesenden Gäste hatten von seinem Schicksal gehört und konnten sich auch aus mehreren Metern Entfernung olfaktorisch davon überzeugen, dass an der Geschichte was Wahres dran war. Dem armen Kerl waren sämtliche Eigentümer unter dem Hintern weggebrannt. Auch wenn in dieser Kneipe nur harte Säufer, stocknüchterne Automatensüchtige, illusionslose Montagearbeiter und gestresste Schichtarbeiter waren, hatte er das vollste Mitleid und die absolute Solidarität aller Gäste. Deshalb durfte er nicht mal ansatzweise seine Drinks bezahlen. Dafür sorgten die zu einer altruistischen Gemeinschaft gewandelten Gästeschar, die sich in ihrer Hilfsbereitschaft mit einem unschuldigen Opfer sonnten, dem es jetzt aber wirklich dreckiger ging als ihnen selbst. In kurzen Zeitabständen schaute immer wieder jemand nach ihm und seinem Getränkevorrat. Als er endlich nach einem der ungezählten Kurzen doch seinen Kopf erhob, schaute er in das lachende Gesicht eines angetrunkenen Montagearbeiters in voller Arbeitskluft.
»Dich hats ganz schön erwischt, was?«
Mit einem dumpfen Knall haute er seine Pranke auf den Rücken von P., knapp über der Nierengegend. P.s Parka staubte leicht.
»Dann hau dir mal einen Jackie rein, Alter!«
Damit stellte er ihm ein Glas neben das Bier und stieß auch gleich mit seinem Whiskeyglas an.
»Na los, komm schon. Es is wies is!«
Warum P. diese Geschichte jetzt einfiel, konnte er nicht nachvollziehen. Sein Gehirn spielte ihm immer wieder Streiche, indem es plötzlich Erinnerungen zur Verfügung stellte, die vorher nicht greifbar oder vielleicht einfach unwichtig waren. Eine dunkle Erinnerung an den großen und in schwarzem Leder gekleideten Rocker, zu dem er mal vor langer Zeit an der Bar einer verrauchten Kneipe ironisch grinsend im Spaß sagte:
»Jackiecola macht schwul!«,
brachte ihn zum Lachen. Damals ging das nicht gut aus. Echte Rocker verstehen keinen Spaß und Ironie kennen sie schon gar nicht. Damals verlor er, wenn er sich jetzt richtig erinnerte, ein kleines Eckstück seines rechten Schneidezahnes. Aber er war froh, dass ihm wieder ein Puzzleteil seiner Vergangenheit eingefallen war und zudem auch noch - im Nachhinein - ein lustiger. Außerdem war er froh, dass der versierte Zahnarzt das Eckstück kunstfertig und kostengünstig wieder anfügte, so dass er weiterhin sein damals strahlendes Lächeln zeigen durfte. Also lachte er den Mann neben sich an und trank das Glas mit einem Schwung aus und knallte es zurück auf den Tresen.
»Da hast du Recht: es is wies is! Spannend is für mich nur wies eigentlich mal war, bevors so geworden is wies jetzt is, weisst du!«
Das war jetzt zu viel Information auf einmal für den Wohltäter, der kurz die Stirn runzelte, sich aber sonst nichts anmerken ließ.
»Ich hab ´ne Idee, Alter!«
Und daraufhin eröffnete er P., dass er immer, wenn er in der Stadt war, in einem Boardinghaus übernachtete, dass ziemlich günstig war. Günstig deshalb, weil er den Besitzer der Kette persönlich kannte und deshalb einen Sondertarif bekam. Irgendwie spielte seine Schwester eine Rolle bei dieser Sonderstellung. Und jetzt wolle er seine Beziehungen spielen lassen und dem Überlebenden des Infernos auch eine Unterkunft zu Sonderkonditionen verschaffen. Nachdem er dies ziemlich laut verkündet hatte, damit auch der restliche Teil der Anwesenden auf dem Laufenden blieb, zog er theatralisch sein Smartphone aus der Gesäßtasche und begann lautstark zu telefonieren:
»Ja, von dem Brand heute Abend ... ja, der steht neben mir und hat nur noch das was er am Leib trägt ... ja klar wird sich bestimmt die Presse für den Fall interessieren ... Was!?«.
Die gesamte Kneipe stand still, Gläser wurden mitten auf dem Weg zum Mund angehalten und man konnte neben der vor sich hin dudelnden Musik keinen einzigen Laut mehr hören.
»Es is kein Zimmer mehr frei? Der Mann hat alles verloren und soll jetzt in der Turnhalle schlafen oder was? Zur Not nehme ich ihn mit auf mein Zimmer, Alter!«
Nachdem er eine Zeitlang nickend zugehört hatte, brüllte er aufgeregt:
»In der Leonbergerstraße? OK, das könnte doch gehen! Das is doch die Lösung - völlig OK! Super - danke dir schon mal. So machen wir das - Bis dann, wir kommen später, aber du bist ja dann noch da, oder?«.
Nachdem ihm offensichtlich zugestimmt worden war, nahm er das Smartphone vom Ohr und schaute nochmal nach, was sich sonst so getan hatte in den anderen Apps seines Smartphones. Er war sich ganz sicher, die absolute Aufmerksamkeit jedes einzelnen Menschen in diesem Raum zu haben. Deshalb widmete er sich ganz seinem Smartphone und wischte eifrig hin und her, als hätte er alle Zeit der Welt und wäre ganz alleine in diesem Laden.
»Jetztkommschonsagwasdufürunserenkumpelausgemachthast«,
brummelte einer der Umstehenden undeutlich. Er war das Sprachrohr aller Anwesenden, die jetzt endlich wissen wollten, was das Großmaul für ihren abgebrannten Helden ausgehandelt hatte.
»Wartgschwind!«,
sagte der und wischte weiter. P. konnte seine Aufmerksamkeitsspanne leider nicht weiter ausdehnen und wandte sich wieder seinen Getränken zu. Es waren inzwischen einige Gläser, die ohne Nachfrage an seinen Platz gestellt worden waren. Die untersetzte Bedienung hatte mittlerweile das Arbeiten eingestellt und lehnte von innen an der Theke. Neben ihren mächtigen tätowierten Unterarmen hatte sie auch einen - wie P. nur schaudernd vermuten konnte - größeren Teil ihres Oberkörpers ebenfalls auf der Theke abgelegt und starrte die Szenerie mit offenem Mund an.
»Darf ich jetzt eine drinne rauchen?«,