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Eine mysteriöse Prophezeiung. Eine tödliche Waffe. Ein Opfer für die Liebe.
Die Schlacht in der Sirenenbucht hat tiefe Spuren in Arwen Valondale hinterlassen. Nicht genug damit, dass sie den Tod ihrer Mutter verarbeiten muss, sie muss auch lernen, die ungezähmte Macht, die in ihr erwacht ist zu beherrschen. Schnell verwandeln sich Trauer und Angst in Wut und das Verlangen nach Rache. Rache, an dem Mann, dem sie vertraut und der sie verraten hat: König Kane Ravenwood …
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Seitenzahl: 664
Veröffentlichungsjahr: 2025
Erst hat Arwen Valondale Kane Ravenwood, den finsteren König von Onyx, gefürchtet, dann hat sie ihn geliebt – und nun hat er sie verraten. Doch Arwen kann Kane nicht aus ihrem Leben verbannen, denn sie braucht seine Hilfe, um die legendäre Sonnenklinge zu finden, die einzige Waffe, mit der der grausame Fae-König Lazarus besiegt werden kann. Gemeinsam segeln sie zum sagenumwobenen Königreich Citrine, in dem die Sonnenklinge verborgen liegt. Während Arwen mit ihren widersprüchlichen Gefühlen für Kane kämpft, ist dieser bereit, sich seiner dunklen Macht zu ergeben, um Arwen zu beschützen.
Und dann gibt es da noch die uralte Prophezeiung, die Arwen zu erfüllen gezwungen ist. Sollte sie scheitern, besiegelt sie damit nicht nur ihr und Kanes Schicksal, sondern das aller Menschen, die sie liebt. Entschlossen tritt Arwen ihren Feinden entgegen, kämpft gegen wilde Kreaturen und eine Magie, die mächtiger ist, als sie es sich je hätte vorstellen können.
Kate Golden lebt in Los Angeles und arbeitet hauptberuflich in der Filmindustrie. Mit Dawn of Onyx, dem Auftakt zu ihrer großen Edelsteinsaga begeisterte sie auf TikTok Millionen von Fans. In ihrer Freizeit liebt Kate Golden es, ins Kino zu gehen, zu lesen, knifflige Puzzles zu lösen, zu wandern und auf Flohmärkten herumzustöbern.
KATE GOLDEN
DIE EDELSTEIN-SAGA
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kirsten Borchardt
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel A PROMISEOFPERIDOT bei Berkley Romance, an imprint of Penguin Random House LLCDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 03/2025
Copyright © 2024 by Natalie Sellers
Published by Berkley Romance, an imprint of Penguin Random House LLC
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Lisa Scheiber
Karte: Jack Johnson
Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, nach einer Vorlage von Katie Anderson unter Verwendung mehrerer Motive von istockphoto
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32133-8V001
www.heyne.de
Für meine Leser*innen. Sie sind wirklich alle für euch. Eure Leidenschaft hat mein Leben verändert. Danke für alles.
Eine Welt von Lichte, über alle Stein’ gesegnet.
Ein König, durch den zweitgebor’nen Sohn dem Untergang geweiht.
Eine Stadt, zu Asch’ und Knochen eingeebnet.
Ein Komet, der kündet von neuem Krieg in unserer Zeit.
Die letzte Fae, geboren von reinem Blut.
Die Sonnenkling’ sie nur in ihrem Herzen find’t.
Nach fünfzig Jahr’ eint Kind und Vater Kriegesglut.
Und mit dem Flug des Phoenix dann die letzte Schlacht beginnt.
Ein König, der durch sie allein dem Tod entgegengeht,
Eine Frau, die um ihr bitt’res Schicksal weiß.
Vor der Rettung beider Lande ein schweres Opfer steht,
Ohne das ein ganzes Reich ins Unglück fällt.
Für beide wahre Faen bedeutet es den Tod.
Das ist der Preis, um all’ zu retten aus der Not.
LIGEIA, DIE SEHERIN VON LUMERA, VOR 113 JAHREN
ARWEN
»Gleich wird mir wieder übel«, warnte Ryder, der den Kopf über den nassen Stahl der Reling schob. Zornige Regentropfen prasselten auf uns beide nieder, während ich meinem Bruder mit kreisförmigen Bewegungen beruhigend den Rücken massierte. Das feuchte Hemd klebte an seiner Haut.
»Ich bin da«, sagte ich und versuchte, Lichte in seinen verkrampften Bauch zu schicken. Als nichts geschah, wartete und wartete ich, bis ich schließlich die Finger anspannte und mit Gewalt versuchte, etwas aus der Leere heraufzubeschwören, in der sich mein Lichte eigentlich schon vor Tagen wieder hätte regenerieren sollen.
Nichts.
Und noch immer nichts.
Ryder übergab sich würgend ins aufgewühlte Meer.
In den zehn Tagen, die seit der Schlacht in der Sirenenbucht vergangen waren, hatte ich die gesamte Schiffsbesatzung ohne meine magischen Kräfte geheilt. Lazarus’ Armee hatte den Soldaten aus Onyx und Peridot schlimmere Verletzungen zugefügt, als gewöhnlicher Stahl es vermocht hätte; Lichte und Faenwaffen hatten für schwerste Verbrennungen und aufklaffende Wunden gesorgt. Vor solchen Herausforderungen hatte ich als Heilerin nie zuvor gestanden.
Und inmitten von Verbänden und Fieberschweiß versuchte ich, meine Trauer zu verarbeiten.
Wir hatten ihr ein kleines, improvisiertes Begräbnis gegeben, jener Frau, die ich stets für meine Mutter gehalten hatte. Zum rhythmischen Knarren der Taue und dem leisen Flattern der Segel hatten die unverletzt gebliebenen Soldaten ihren Leichnam ins Meer hinabgelassen. Ich hatte ein paar Worte gesagt, die sich für mich flach und fremd anhörten. Mari sang ein Trauerlied. Ryder weinte. Leigh sah niemanden von uns an und verschwand unter Deck, noch bevor die Zeremonie vorüber war.
Es war schrecklich gewesen.
Kane hatte gefragt, ob er dabei sein dürfte. Oder vielmehr, er hatte wohl so etwas gesagt wie: »Ich wäre gern für euch da, wenn ich darf.« Als ob es mir durch seine Gegenwart irgendwie besser gegangen wäre und nicht unendlich, unendlich schlechter. Auf keinen Fall wollte ich ihn in der Nähe meiner Familie wissen – oder in der Nähe der wenigen Menschen, die ich als Familie betrachtete.
Dann brach der Sturm los.
Prasselnder, trommelnder Regen ging auf uns nieder, und die Wellen schlugen wie Rammböcke gegen das Schiff. Die ganze Fahrt über wütete und wütete der Sturm. Wenn man auch nur eine Minute aus der Kajüte trat, um der verbrauchten Luft im Innern des Schiffs zu entkommen, wurde man sofort von Eiswasser durchweicht. Am Tag zuvor hatte der Kapitän den Kohlenvorrat rationiert, sodass wir kein heißes Wasser mehr hatten. Schon jetzt konnte ich kein lauwarmes Porridge mehr herunterbringen.
Ich betrachtete meine Finger, die auf Ryders Rücken ruhten. Schon die ganze Zeit waren sie verschrumpelt wie kleine Rosinen. Er würgte erneut, und ein paar Schritt entfernt stand eine Frau aus Peridot in einem wettergegerbten Wollmantel und tat es ihm nach.
Glücklicherweise litt ich nicht unter Seekrankheit, im Gegensatz zu den anderen Passagieren. Tag und Nacht hörte man ununterbrochen Würggeräusche, bis einem selbst übel davon wurde. Ich kümmerte mich so gut wie möglich um die Leute, konnte allerdings ohne mein Lichte nicht allzu viel ausrichten.
Kane hatte ich allerdings keine Hilfe angeboten.
Ich beobachtete, wie er mit Energie und Leichtigkeit eine wacklige Treppe hinaufeilte, und das nur einen Tag nachdem ihm die Brust von einem Speer aus Eis durchbohrt worden war. Er nahm gleich zwei Stufen auf einmal – flink, stark, beinahe munter.
Wie konnte das sein, wo er doch damals in der Krankenstation von Schattenstein angeblich so dringend meine Heilkräfte benötigt hatte?
Lügen, nichts als Lügen. So viele Lügen, dass mir schwindlig wurde.
Ich wartete instinktiv darauf, dass mich lähmende Angst überfiel, wenn ich an das Schicksal dachte, das er mir die ganzen letzten Monate verschwiegen hatte. Die Prophezeiung, laut der Kanes Vater mir den Tod bringen würde. Aber ich fühlte gar nichts.
Schon seit Tagen nicht.
Nachdem ich bisher mein Leben lang stets zu viel Angst und Tränen und Sorgen gehabt hatte, konnte ich ganz plötzlich gar kein Gefühl mehr heraufbeschwören.
Ryder würgte noch einmal und glitt dann mit einem tiefen Atemzug an der stählernen Bordwand hinab. »Das muss es gewesen sein. Es ist nichts mehr in meinem Magen, was ich noch ausspucken könnte.«
Ich verzog das Gesicht. »Ein sehr schönes Bild, vielen Dank auch.«
Er antwortete mit einem schwachen Lächeln.
Aber in meinem Kopf war eine Erinnerung erwacht. Es war ein träger Herbstnachmittag gewesen, an dem nichts zu hören war außer dem Wind, der raschelnd durch das Kraut vor unserem Haus fuhr. Mir war schlecht, weil ich etwas Verschimmeltes gegessen hatte – Powells Motto lautete nicht umsonst Nur nichts verschwenden, das kann man alles noch essen –, und meine Mutter hatte mir beruhigend über den Rücken gestrichen, als ich das verdorbene Zeug wieder von mir gab. Damals hätte ich mich selbst heilen können, aber mich dafür entschieden, das nicht zu tun. Es war zu schön, dass sie mich tröstete, dass ich ihre Hand auf meiner Schulter fühlte und ihre sanften Worte hörte. Leigh war kurz zuvor geboren worden, und Ryder und ich mussten uns erst daran gewöhnen, nicht mehr die einzigen Anwärter auf ihre Aufmerksamkeit zu sein.
Es war völlig selbstsüchtig und kindisch gewesen, eine Stunde lang zu erbrechen, anstatt meine eigenen Heilkräfte zu aktivieren, nur damit sie weiter neben mir in der kühlen Abendluft saß und nicht bei ihrem neuen Baby, ihrem Mann und ihrem Sohn.
Aber es hatte sich so gut angefühlt, umsorgt zu werden.
Und jetzt …
Jetzt fragte ich mich jede Nacht vor dem Einschlafen, wer diese Frau überhaupt gewesen war.
Hatte sie mich eines Tages auf der Straße gefunden?
Hatte jemand sie gezwungen, mich bei sich aufzuziehen?
Und falls das stimmte, wo um alles in der Welt waren dann meine richtigen Eltern? Da sie beide reinblütige Faen sein mussten, lebten sie wahrscheinlich in einem anderen Reich. In einem schmelzenden Land aus versengter Erde und Asche, das von einem Tyrannen beherrscht wurde …
»Geht’s dir etwas besser?«
Mari war zu uns getreten, in einen dicken Pelz gehüllt. Gleich am ersten Abend hatte sie das ganze Schiff durchstöbert und dabei sofort die modischsten Kleidungsstücke entdeckt, die es an Bord gab. Aber selbst ihr eleganter Mantel konnte nicht verbergen, dass ihr das kupferrote Haar in nassen Löckchen am Gesicht klebte und dass eisige Regentropfen über ihre Nase und die beinahe blauen Lippen liefen.
Als er sie sah, richtete sich Ryder gleich wieder ein wenig auf und faltete die Hände selbstbewusst vor der Brust. »Alles bestens. Mir ist so gut wie gar nicht übel.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zu der Frau aus Peridot, die sich immer noch über die Bordwand beugte. »Mir tun nur die anderen Leute leid.«
»Er hat sich bis eben noch die Seele aus dem Leib gekotzt«, klärte ich Mari auf.
Ryder warf mir einen bösen Blick zu, während Mari ihn mitleidig ansah. »Tut mir leid. Dieser Sturm lässt aber auch gar nicht nach.«
»Tja, so ist es …« Das Schiff schlingerte über die nächste hohe Woge, und Ryder wurde blass und hielt sich den Bauch. »Ich … ich muss deswegen noch mit jemandem reden. Sofort.« Er begab sich hastig außer Sichtweite.
Mari sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Mit jemandem reden … über den Sturm?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er ist einfach zu stolz.«
»Also, ich finde es ja süß, dass ihm so etwas peinlich ist. Hier.« Sie zog ein kleines Glasfläschchen aus ihren Röcken hervor. »Gib ihm das. Es heißt Magenstärkung.«
»Ist das nicht ein Mittel, das man vor allem Bestattern gibt?« Nachdem ich das Buch über Blumensorten aus der Bibliothek von Peridot schon zum zweiten Mal gelesen hatte, ging ich jetzt aus reiner Langeweile Maris Zauberbücher durch. Sie hatte ohnehin kaum noch Verwendung für sie. Schließlich hatte sie jetzt das Amulett.
Ich konnte ihr das nicht verübeln. Mari hatte nie gelernt, ihre Magie richtig zu benutzen, da ihre Mutter, die einzige Hexe in ihrer Familie, bei ihrer Geburt gestorben war. Mit Hilfe von Briar Creightons Halskette, die wir aus Kanes Arbeitszimmer gestohlen hatten, konnte sie ihre nicht unerheblichen Kräfte nun bewusst lenken. Und das Amulett lag stets um ihren Hals.
Mari zuckte die Achseln und fasste unbewusst nach dem violetten Stein, der auf ihren Schlüsselbeinen ruhte. »Ich dachte eben, es könnte ihm helfen. Es war ganz leicht zuzubereiten.«
Das einzig Knifflige an der ganzen Sache war, dass sie dabei eigentlich weder die Kräfte Briars noch die ihrer Vorfahren anzapfen konnte. Kane hatte mir erzählt, dass es sich bei dem Amulett um ein bloßes Schmuckstück handelte, und das bedeutete, dass alle Zaubersprüche, die Mari inzwischen mit Leichtigkeit wirkte, tatsächlich aus ihr selbst kommen mussten. Mari hatte ich davon nichts gesagt, und ich horchte nun in mich hinein, ob ich mich deswegen schlecht fühlte. Natürlich schuldete ich ihr die Wahrheit, aber dort, wo früher einmal mein moralischer Kompass gewesen war, gähnte jetzt nichts als reine Apathie. Zwar wollte ich sie nicht anlügen, aber …
Mir fehlte einfach die Energie.
»Hast du heute schon mal mit Kane gesprochen?«, fragte Mari nun und hielt sich an der glitschigen Reling fest, als das Schiff wieder eine kabbelige Welle nahm.
Ich seufzte tief und stieß dabei hörbar die Luft aus. Auch das hatte ich noch nicht über mich bringen können. »Nein.«
»Vielleicht gibt es ja doch einen anderen Weg? Hat er nicht irgend so etwas gesagt?«
Hatte er, als wir zuletzt miteinander gesprochen hatten. Nach dem Tod meiner Mutter. Nach meinem explosionsartigen Kraftausbruch, bei dem ich Tod und Verderben über unsere Feinde gebracht hatte. Kane hatte gesagt, er sei bereit, den ganzen Kontinent in Lazarus’ Hände fallen zu lassen, um mich vor dem prophezeiten Tod zu bewahren und mir ein Leben in Frieden zu ermöglichen.
Aber was für einen Frieden würde ich finden, solange ich mir bewusst war, dass deswegen so viele unter Lazarus’ Knute leiden würden, während ich mich unter falschem Namen in irgendeinem idyllischen Städtchen vor meinem Schicksal versteckte?
»Er kann mir bei gar nichts helfen. Ich kann weglaufen, sonst nichts.«
Mari schürzte die Lippen. »Ja, vielleicht, aber … Er weiß doch mehr über diese Prophezeiung als sonst jemand. Kannst du nicht doch ein wenig Hoffnung bewahren?«
»Ich muss runter von diesem Schiff«, erklärte ich und starrte zu den düsteren, dräuenden Sturmwolken hinauf.
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Diese Reise war wirklich elendig.«
Aber ich dachte nicht an den Regen oder die Kälte oder an das eklige Würgen der Seekranken. Ich wollte nur eins – Leigh und Ryder sicher nach Citrine bringen und dann selbst so viel Abstand zu Kane bekommen wie möglich. Irgendwo an einem Ort, an dem ich allein sein konnte, bis ich gebraucht wurde. Ein Opferlamm, das auf seinen Schlächter wartete.
Daher schwieg ich, während mir der Regen ins Gesicht schlug, und suchte in meinem Herzen nach Schmerz, nach Hoffnung oder auch nur einem kleinen Kitzel Angst angesichts meiner entsetzlichen Zukunft.
Aber da war nichts.
Ich vermisste meine Mutter.
Ich wollte nach Hause.
Ich wollte ganz, ganz lange schlafen.
»Warum sagt uns denn niemand, was uns in Citrine erwartet?« In den letzten zehn Tagen hatte ich mit nicht besonders vielen Menschen gesprochen, aber die Lieutenants und die Adligen, die mit uns reisten, ließen sich kaum ein Wort über das geheimnisumwobene Königreich entlocken. Man hatte uns nur gesagt, dass es unmöglich zu erstürmen sei und wir daher dort vor Lazarus in Sicherheit sein würden.
Mari zuckte die Achseln. »In den Texten, die ich darüber finden konnte, heißt es nur, es sei sehr schwer zugänglich. Auf den meisten Landkarten schwebt es entweder irgendwo mitten im Mineralmeer oder fehlt gleich komplett.«
Ich ließ mich wieder von einer hohen Woge schaukeln, während Mari die Hände fester um die nasse Reling schloss.
»Könnte es sich um eine Insel handeln? Wie das Jadereich?« Bei den Jade-Inseln handelte es sich um ein ähnlich geheimnisumwittertes Land, aber immerhin kannte Mari ein paar Leute, die schon einmal dort gewesen waren; ihren Berichten zufolge lebte dort niemand.
»Wahrscheinlich. Das werden wir ja wohl bald herausfinden.« Ihre Augen glänzten angesichts der Vorstellung, etwas völlig Unbekanntes entdecken zu dürfen. »Willst du in die Messe hinunterkommen und etwas essen?«
Ich sah zum zornigen Himmel hinauf, tieflila, blau und grau. Wie eine Prellung oder ein schillernder Taubenflügel. Schwere Regentropfen prasselten mir unrhythmisch aufs Gesicht. »Nein, ich denke, ich bleibe noch eine Weile hier draußen.« Als sie die Stirn runzelte, versuchte ich, meiner Stimme einen wärmeren Klang zu geben. »Aber ich komme später nach.« Ich hielt mich nach Kräften aufrecht, und Mari wusste das.
Sie flitzte davon, mit dieser koboldhaften Energie, die so typisch für sie war – egal, bei welchem Wetter. Sie hatte einfach enorme Widerstandskräfte, und es schien, als ob nichts – weder die jüngste Schlacht, der wütende Sturm oder das krängende Schiff – ihre Lebensgeister dämpfen konnte.
Schwere Schritte wurden laut, und sofort wandte ich mich zu der Gruppe um, die jetzt über das schartige Deck kam.
Ich kannte diese Schritte. Diesen Gang.
Kane marschierte neben Griffin zur Kajüte, gefolgt von Leigh.
Ein ganz schwaches Flämmchen Zorn, kaum mehr als ein Funke, entzündete sich bei seinem Anblick in meiner Brust.
Sein tiefschwarzes Haar war nass und klebte an Stirn und Nacken. Offenbar hatte er wenig geschlafen, jedenfalls ließen die grauen Schatten um seine Augen darauf schließen. Über sein Kinn zog sich ein Bart, der aussah, als ob er juckte, und durch den übermäßigen Alkoholgenuss der letzten Tage und Nächte wirkte sein Gesicht etwas verschwollen.
Er war in einer ziemlich üblen Verfassung.
Durch die dünnen Wände meiner Kajüte hatte ich oft gehört, wie er, Griffin und Amelia bis in die späte Nacht zusammengesessen und reichlich getrunken hatten. Wie sie dann lachten, Karten spielten, erbärmlich schlecht sangen … Aber falls nun doch eine Art Eifersucht in mir aufflammte, weil Kane und Amelia auf ihre weinselige Art so viel Spaß miteinander hatten, dann schrieb ich das einem reinen Reflex zu. Manchmal leisteten ihnen Mari und Ryder aus Langweile Gesellschaft. Das schmerzte mich noch mehr.
Ich sagte mir, dass es ein Segen war, so gar nichts mehr zu fühlen.
Dass aber ausgerechnet Leigh große Zuneigung zu Kane entwickelt hatte, war am schwersten zu ertragen. Manchmal erwischte ich die beiden dabei, wie sie in eigentlich verbotene Bereiche des Schiffs schlichen, um dann mit gestohlenen Leckereien oder irgendwelchen verrosteten Schätzen wiederaufzutauchen. Ich hörte, wie er ihr von missgestalten, fauchenden Geschöpfen erzählte, die in Ländern lebten, die ihre wildesten Fantasien überstiegen. Und sie schien mehr als nur ein wenig fasziniert von ihm.
Das Gefühl verstand ich nur zu gut.
Schließlich war auch ich einmal naiv und leichtgläubig gewesen.
Ich winkte zu ihr hinüber. Leighs Locken wippten über den Schultern des viel zu großen grauen Mantels, den sie trug, und sie sagte etwas zu den beiden Männern, die sie deutlich überragten. Sie wirkten wie ihre Wachhunde – hochgewachsen, imposant und mächtig. Regennass und knurrend. Als Leigh schließlich zu mir herüberkam, während Kane und Griffin die Treppe zu den Kajüten hinuntergingen, atmete ich erleichtert aus.
»Was treibst du dich mit den beiden herum? Sie sind gefährliche Faen, Leigh. Keine Spielkameraden.«
Sie verdrehte die Augen.
Meine Haut begann zu kribbeln. »Was denn?«
»Du bist so hart zu ihm.«
Inzwischen war sie kälter und ernster geworden. Zwar verstand ich ihren Schmerz, und ich versuchte, geduldig zu bleiben, aber ihre ganze Wut schien sich allein gegen mich zu richten.
Ich ging etwas in die Knie, um ihr auf Augenhöhe ins Gesicht zu sehen. »Ich weiß, dass du eine unglaublich schwere Zeit durchmachst. Ich vermisse sie auch.«
»Mit Mutter hat das nichts zu tun.«
»Aber deine Wut …« Ich fasste nach ihrem Arm. »Ich denke, das liegt daran, dass …«
Sie schüttelte meine Hand ab. »Hör doch einfach auf. Du bist ganz fix und fertig wegen Mutter. Weil du sie nicht retten konntest.« Sie schluckte und sah mich dann hart an. »Du bist ganz durcheinander wegen dem, was du bist. Und das lässt du an ihm aus.«
Diese Bemerkung traf mich so hart, dass ich mir unwillkürlich auf die Zunge biss.
»Ich weiß, du hältst ihn für charmant, Leigh. Und ihr beide habt diese eigentümliche Freundschaft, aber er hat mich angelogen. Er hat mein Leben zerstört.« Schon als ich die Worte sagte, fühlten sie sich leer an. Ohne jede Emotion. Als hätte ich gerade gesagt: Er hat mein Sonnenschirmchen verbummelt. Diese tiefschwarze Leere, die mich innerlich aushöhlte, war mir so fremd, dass ich mich selbst kaum erkannte. »Du bist noch zu jung, das verstehst du nicht.«
Unter dem Blick, den sie mir zuwarf, wäre sogar die Sonne eingefroren. »Er kommt nur mit Mühe durch jeden Tag.«
»Ich höre jeden Abend, wie er in der Kapitänskajüte Seemannslieder grölt. Klingt das für dich, als sei er am Boden zerstört?«
»Er versucht nur zu überleben, so, wie wir alle.«
Wie aufs Stichwort kam Kane jetzt wieder die Treppe hinauf, allerdings allein und mit einer Flasche Whiskey in der Hand. Unsere Blicke trafen sich – und ganz offensichtlich erkannte er sofort, dass wir gerade über ihn geredet hatten. Ich verschränkte die Arme und sorgte dafür, dass sich das Eis in meinen Adern auch in meinem Gesichtsausdruck niederschlug. Kane zog die Augenbrauen zusammen, bevor er den Blick wieder abwandte.
Ich drehte mich um, weg von Leigh, und sah auf die endlose Weite ungleichmäßiger, tintendunkler Wellen hinaus. Auf diesem Schiff gab es einfach keine Möglichkeit, die hundert Meilen Entfernung zwischen mich und Kane zu bringen, die für mich so dringend nötig gewesen wären. Leigh hatte recht. Ich war grausam gewesen. Aber er hatte das verdient. Im Grunde verdiente er sogar noch Schlimmeres. Er war ein Lügner und ein Mörder, ein Mann, der mich betrogen, der mich benutzt hatte. Der das erste bisschen echter Freude, das ich in meinem ganzen Leben je empfunden hatte, genommen und in Asche verwandelt hatte. Der mich zerstört hatte, bis nur noch eine leere Hülle von mir übrig war. Eine Schale, in deren Innerem einst ein Mensch gelebt hatte. Mehr schlecht als recht, aber immerhin.
Das Gefühl, das ich ihm jetzt entgegenbrachte – diese Wut –, das war einfach. Im Augenblick das Allereinfachste, wozu ich in der Lage war.
Ich würde ihm niemals vergeben können.
Also hasste ich ihn stattdessen.
KANE
Ich war in sie verliebt. Und es war ein verdammt beschissener Albtraum.
Schon allein meine Gefühle gegenüber Arwen – dass mein Puls jedes Mal zu rasen begann, wenn ich sie sah, dass ich ständig das Bedürfnis hatte, mit ihr herumzuschäkern, zu flirten, sie zum Lachen zu bringen, sie seufzen zu hören, ihr Gehirn herauszufordern, ihre Lippen zu schmecken oder zu sehen, wie sie die Stirn so krauste, dass diese senkrechte Falte zwischen ihren Brauen entstand … das allein hätte schon gereicht, um jeden Mann um den Verstand zu bringen. Ich wusste nicht, wie man es überleben konnte, so verliebt zu sein. Es fühlte sich genauso zerstörerisch an, wie ich immer befürchtet hatte. Und … es machte mir Angst. Dass ich niemals von ihr würde genug bekommen können. Und dass ich diese Gefühle vielleicht nie wieder loswerden würde.
Selbst wenn wir beide die Schlacht überlebten, die uns drohte – was ziemlich unmöglich erschien –, würde ich den Rest meines Lebens, Jahrzehnt um Jahrzehnt, durch diese Welt gehen müssen, während sich diese nagende, quälende, schwärende Liebe um mein Herz legte und mich zu ihr hinzog.
Dazu kam, dass es mir auch noch gelungen war, genau das zu tun, was ich eigentlich um jeden Preis hatte vermeiden wollen: Wieder einmal hatte ich ausgerechnet die Person verletzt, die mir am meisten bedeutete.
Es war wie ein verdammter Fluch.
Das Schiff hob sich erneut über einen Wellenkamm, dass es einem den Magen umdrehte, und ließ mich auf der harten Holzbank ein Stück abwärts rutschen, während das flackernde Kajütenlicht Amelia und Griffin, die mir gegenübersaßen, mit geisterhaften Schatten überzog.
Sie sahen ziemlich schlecht gelaunt aus.
Wie hatte ich all das zugelassen? Da hatte ich die Fae gefunden, die ich schon so lange suchte, um mich dann elendig und selten dämlich in sie zu verlieben? Jetzt musste ich einen anderen Weg suchen, um meinen Vater zu vernichten. Einen, bei dem es nicht dazu kam, dass Arwen …
Bei dem Gedanken stieg ölige Übelkeit in mir auf, die ich zurückzudrängen versuchte.
Ein ganzes Jahrhundert lang hatte ich keine andere Möglichkeit gefunden. Und jetzt, da Lazarus wusste, wer sie war, würde es nur noch schwerer werden. Er würde nach ihr suchen. Und er würde sie unweigerlich finden. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu den Göttern zu beten, dass wir bis dahin vorbereitet sein würden.
»Bist du ins Koma gefallen?« Amelia fuchtelte mit ihrer kleinen, gebräunten Hand vor meinem Gesicht herum. Ihre Stimme wurde durch den harten Schnaps allmählich etwas schrill. Die sterbliche Prinzessin trank selten so viel, dass sie mit Faen wie Griffin und mir hätte mithalten können, aber heute Abend hatten sie und mein Commander beide schon eine halbe Flasche intus.
Und ich war bei meiner vierten.
Ihren untypischen Durst konnte ich nur auf Schuldgefühle zurückführen. Bei der Schlacht in der Sirenenbucht hatte sie alles verloren. Ihre Soldaten, ihre Bürger, ihre gesamte Existenz – die Hauptstadt der Peridot-Provinzen war von meinem Vater und seinen Truppen völlig zerstört worden. Sie versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber bei jedem Schluck stand zweifelsohne großes Leid in ihren Augen.
Die Kapitänskajüte war mit Eichenholz vertäfelt und bot wenig Komfort, abgesehen von ein paar dicken Flanelldecken und einer verrosteten Laterne, aber wir hatten sie dennoch bisher an jedem Abend dieser grässlichen Reise zu unserer Behelfstaverne gemacht. Wir hätten nach Citrine fliegen sollen, so wie wir es immer taten – mit einer Eisschicht über meinen Schuppen, verursacht von dem Sturm, der das Königreich schützte, und dem Geruch statischer Aufladung von den Blitzen in meinen Nüstern. Aber für einen solchen Flug waren zu viele Menschen an Bord, und die wenigen von uns, die schon einmal in der Hauptstadt des Reichs gewesen waren, mussten den anderen zeigen, auf welchem Weg sie in die Stadt gelangen konnten. Ich ließ mich tiefer auf die knarrende Bank sinken, deren Holzverstrebungen sich in meine Schultern bohrten.
»Ich sagte gerade«, fuhr Amelia fort, »dass du unbedingt Dagan benachrichtigen musst, bevor wir in Citrine ankommen, damit er das Mädchen weiter ausbilden kann. Wo ist er?«
»Er ist in Garnet geblieben, um einer Spur zu folgen, die vielleicht zur Sonnenklinge führt«, sagte ich. »Aber ich werde ihm einen Raben schicken.«
Wir waren dorthin gereist, um Arwens Familie abzuholen.
Das ließ mich an den Tod ihrer Mutter denken, und mein Magen krampfte sich zusammen. Und dann die Kleine, Leigh. Durch den Verlust hatte sie sich jetzt schon verändert; etwas Dunkles, Dorniges hatte sich in ihr festgefressen und nährte sich von ihrer Trauer.
»Vielleicht bringt er sie gleich mit?« Hoffnung schwang in Amelias Stimme mit. »Die Klinge, meine ich.«
»Bei unserem Glück in letzter Zeit glaube ich das kaum«, brummte Griffin.
Mein Commander, positiv wie immer.
Griffin und ich hatten gemeinsam mehr Qualen durchlitten, mehr Triumphe erlebt und mehr Schnaps gesoffen als irgendjemand sonst in Evendell. Er war mehr als nur der Befehlshaber meiner Truppen, mehr als ein Verbündeter oder mein Freund. Früher hatte ich ihn meinen Bruder genannt. Bevor Yale starb.
»Komm schon, Griff. Dafür kannst du nicht unsere jüngste Pechsträhne verantwortlich machen«, schalt ich ihn und griff nach der nächsten Flasche. »Wir haben beim Aufspüren der Klinge in den letzten fünf Jahren nichts als Pleiten erlebt.«
Ich kannte jedes Versteck auf dem Kontinent so gut wie die Schuppen meiner eigenen Flügel … Wo in diesem verdammten Reich mochte das Ding sein?
Das Schiff schleuderte uns wieder nach vorn, und Amelia stieß ein gequältes Stöhnen aus. »Hört doch mal. In der Prophezeiung heißt es doch, Arwen wird die Klinge ›in ihrem Herzen‹ finden, oder? Wir schneiden sie einfach auf und gucken, ob sie da drin ist. Die Hexe kann sie dann später wieder heilen. Wenn sie das nicht sowieso selbst zustande bringt.«
»Der Witz hat allmählich einen langen Bart, Amelia«, zischte ich sie an. »Wenn du auch nur in ihre Nähe kommst, bringe ich dich um. Das weißt du, nicht wahr?«
»Und was, wenn das nur ein Trick reinblütiger Faen ist und das Ding die ganze Zeit schon in ihr drin ist?«
Ich starrte sie nur finster an.
»Das meine ich ernst!«
»Ich auch.«
Amelia bekam einen Schluckauf. »Liebestoller Idiot.«
Griffin verzog beim letzten Schluck das Gesicht. »Ich sag ja nicht, dass wir Arwen wie ein Holzscheit spalten sollten, aber vielleicht wäre es wirklich an der Zeit, auch einmal um die sprichwörtliche Ecke zu denken.«
Meiner Meinung nach war Griffins Vater – der ein entsetzlich pragmatischer General gewesen war – ebenso wie seine strenge, zurückhaltende Mutter schuld an der Distanziertheit meines Freundes. Und an seiner endlosen Geduld. An seiner Empfindungslosigkeit – ja, seiner Gefühlskälte. In eher unglücklichen Augenblicken, in denen mich Temperament und Impulsivität überwältigten, wusste ich diese Eigenschaften durchaus zu schätzen, aber jetzt hätte ich seinem überaus gelassenen Gesicht gern einen kräftigen Stiefeltritt verpasst.
»Läuft uns die Zeit davon?«, fragte Amelia.
»In einem Jahr liegt die Rebellion fünfzig Jahre zurück«, erwiderte er. »Dann soll erneut ein Krieg ausbrechen.«
»Tatsächlich heißt es«, warf ich ein, »dass Vater und Sohn in ›Kriegesglut‹ vereint werden. Also, sich begegnen.«
»Aber ihr seid euch doch gerade begegnet. Vor nur wenigen Tagen.«
Das stimmte … Aber ich wollte nicht über meinen Vater nachdenken. Ich wollte mich noch mehr betrinken.
»Ich glaubte, er hätte dich getötet«, gab Griffin zu. »Wie konntest du ihm entkommen? Dort in der Sirenenbucht?«
Das war eine berechtigte Frage. Er war ebenfalls mit meinem Vater aufgewachsen. Hatte miterlebt, wie Lazarus einen ungehorsamen Wachmann mit weiß glühender Flamme zu Asche verbrannte oder einen aufrührerischen Adligen mit den Krallen zerriss, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Vor einigen Tagen waren mein Vater und ich mit Klauen und Zähnen hoch oben in der Luft über den blutgetränkten Stränden Peridots übereinander hergefallen. Ich wusste, dass ich ihn nicht töten konnte; das würde niemandem gelingen außer Arwen, wenn sie die Klinge schwang. Aber das hatte mich nicht daran gehindert, es trotzdem zu versuchen. Und auch nicht daran, seine Soldaten und Söldner immer wieder anzugreifen und mich über jeden Streich und Schlag zu freuen, egal, auf wen unsere Widersacher prallten, wenn sie vom Himmel stürzten. Aber dann waren ihre Schreie durch meinen Blutrausch gedrungen wie ein heißes Messer durch Fleisch.
»Ich hörte sie. Als sie …« Die beiden wussten, was ich meinte. Als sie alles zerstört hatte, was ihr unter die Augen kam. Das Lichte war aus ihr herausgeströmt wie aus einem geborstenen Damm, und sie hatte die Wesen, die Schiffe und Waffen ihrer Feinde mit einer gnadenlosen Flamme in der ganzen flachen Bucht verbrannt. Eine atemberaubende, brutale Göttin des Zorns.
Er hatte mich zu ihr gehen lassen. Obwohl er mich hätte vernichten können. Vielleicht fürchtete er sie. Oder er dachte, dass sie ihn töten könnte. Aus welchem Grund auch immer – er hatte mich am Leben gelassen. Uns beide.
»Sie war außerordentlich.« Das war das wohl größte Kompliment, das Amelia Arwen bisher gezollt hatte.
»Ja.« Ich trank meinen Whiskey. »Das war sie.«
Eine Weile verharrten wir in Schweigen, während das Licht der Laterne über unseren Köpfen zu flackern begann und zu verlöschen drohte. Ich sah aus den runden Fenstern hinter mir. Sowohl der Himmel als auch die See waren beinahe pechschwarz. Dicke Gewitterwolken verdeckten jetzt in der dritten Nacht in Folge Mond und Sterne. Die Intensität des Sturms zeigte, dass wir unserem Ziel näher kamen.
»Ich bin froh, dass er dich nicht umgebracht hat«, erklärte Amelia schließlich, die sich ein wenig zurücklehnte und die Knie an die Brust zog.
»Arschloch-Väter. Das Einzige, was wir beide je gemeinsam hatten.« Ich hob meine Flasche zu einem spöttischen Toast. Sie stieß mit ihrer kurz an, dann tranken wir beide.
»Eryx scheint mehr denn je entschlossen, dich mit dem Höchstbietenden zu verheiraten«, bemerkte Griffin.
»Erinnere mich bloß nicht daran.« Amelia kuschelte sich tiefer in ihren weißen Pelz. Das kalte Wetter war vor allem für die Peridoter schwer erträglich. Amelia war zwar schon weit gereist, wie viele Menschen königlichen Bluts, aber da sie ihre Kindheit im tropischsten Klima des ganzen Kontinents verbracht hatte, reagierte sie doch sehr empfindlich auf kühlere Temperaturen. Heute war sie eingepackt wie ein Blätterteigpastetchen, wobei der warme Bronzeton ihrer Haut stets einen starken Kontrast zu dem strengen, reinweißen Haar bildete. »Es ist viel weniger angenehm als weithin angenommen, eine Schachfigur im politischen Spiel des eigenen Vaters zu sein.«
»Hast du deine Position bei Hofe je mit ihm diskutiert?«, fragte ich.
Amelia hatte gehofft, eine Allianz zwischen Peridot und Onyx würde klarstellen, dass sie mehr war als nur ein menschliches Unterpfand, das sich gewinnbringend einsetzen ließ.
»Er sagte mir, wenn er glaubte, dass es für die Provinz von Vorteil sei, würde er mich sogar selbst heiraten.«
Griffin hustete. »Das ist ja krank.«
»Dass unser Königreich dem Erdboden gleichgemacht wurde, hat ihn immerhin dazu gebracht, einige Zeit lang über etwas anderes nachzudenken als über den Umstand, dass an meinem Finger noch kein Ring steckt.«
»Hat niemand auf dich geboten?«, neckte ich sie.
»Du einmal«, gab sie schnippisch zurück.
Amelia war sicherlich eine beeindruckende Schönheit, aber wenn ich sie jetzt ansah, dann verstand ich überhaupt nicht mehr, wieso ich so oft mit ihr geschlafen hatte.
Es war nicht übel gewesen. Wir waren Freunde, und daher hatte es etwas Vertrautes, Angenehmes, irgendwann auch endlich miteinander zu vögeln. Aber jetzt … Jetzt konnte ich mir nicht mehr vorstellen, mit irgendjemand anderem außer Arwen ins Bett zu gehen.
Ein Blitz hüllte die Kajüte kurz in blassblaues Licht, bevor ein heftiger Donnerschlag die See erschütterte.
Meiner Schätzung nach dauerte es jetzt nur noch wenige Stunden.
»Wenn wir dort ankommen …« Ich verstummte. Was genau uns in Citrine erwartete, vermochte ich nicht zu sagen. Mein Verhältnis mit dem Königreich war … angespannt. Um es freundlich auszudrücken.
»Ich weiß«, sagte Griffin trotzdem.
»Oh, nein … Was habt ihr zwei Idioten angestellt?«
»Was willst du ihnen sagen?«, erkundigte sich Griffin, ohne auf Amelias Frage einzugehen.
Ich kratzte mich in meinem Dreitagebart. »Irgendwas wird mir schon einfallen.«
»Hallo.« Amelia schwenkte ihre Hand vor uns beiden. »Was ist passiert?« Inzwischen war sie mehr als ein wenig betrunken und gehörte dringend ins Bett.
»Wenn wir die Stadt schon betreten müssen«, fuhr Griffin fort und ignorierte sie weiterhin, »dann sollten wir endlich Crawford einen Besuch abstatten.«
Das war keine schlechte Idee. Bisher hatten wir den Adligen noch nie nach der Klinge befragt; sie war erst aus der Schatzkammer meines Reichs verschwunden, als meine Verbannung aus Citrine schon über ein Jahr zurücklag. Meine Spione hatten Crawford und seine weltbekannte Sammlung einzigartiger, seltener Gegenstände dennoch im Auge behalten. »Falls die Klinge in seinen Schatz eingegangen ist, dann wüssten wir das.«
»Aber vielleicht hat er Informationen?«
»Man wird es uns in Citrine nicht leicht machen, eine Audienz bei ihm zu bekommen.«
»Na, ich hoffe, dass man wenigstens den Menschen auf diesem Schiff Asyl gewähren wird«, sagte Amelia. »Die Leute sind schließlich unschuldig.«
Ich hatte keine Ahnung, ob die Citriner das tun würden. Allerdings würde das unsere geringste Bitte sein. »Wir werden außerdem ihre Meermagie brauchen.«
»Und ihre Armee«, setzte Griffin hinzu.
»Das stimmt«, nuschelte Amelia. »Weil meine von dämonischen Faensoldaten vernichtet wurde. Weißt du«, sagte sie und deutete mit der erhobenen Flasche auf mich, »ich hab tatsächlich versucht, dieses Mädchen zu retten.«
Mein Blick fand ihren, während sie noch einen Schluck nahm und dann das Glas auf die Tischplatte knallte. »Wie das?«
Amelia hickste. »Ich hab ihr in Sirenenstrand gesagt, dass du nichts taugst. Dass du sie nur benutzt. Wär schön gewesen, wenn das auch mir jemand vorher gesagt hätte.«
Bei ihren Worten stieg etwas Fauliges in meiner Kehle auf.
Sie hat recht. Du bist völlig verwerflich.
Es war sogar noch schlimmer, wenn jemand anders es sagte.
»Aber sie war völlig von dir besessen. Hat mir kein Wort geglaubt.«
Also hatte Amelia Arwen helfen wollen, und nun wollte sie sie aufschlitzen, um zu sehen, ob die Klinge in ihr ruhte? »Was hat deine Einstellung ihr gegenüber geändert?«
Amelia nahm einen letzten Schluck und warf die leere Flasche mit viel Schwung hinter sich in die Kapitänskajüte. Keiner von uns zuckte auch nur mit der Wimper, als sie auf dem Boden zerschellte. »Jetzt herrscht irgendwelcher Abschaum über mein Königreich, mein Volk ist tot, meine Hauptstadt wurde verwüstet. Also sollten wir tun, was wir tun müssen.«
Die Laterne über ihrem weißen Haupt war bei der letzten hohen Woge beinahe ausgegangen. Nun flackerte sie verzweifelt noch einige Male und tauchte die Kajüte in zuckendes, gelbes Licht.
»Wir müssen mit Arwen vorsichtig sein, wenn wir da sind«, sagte ich. »Jetzt, da Lazarus weiß, wie sie heißt und wie sie aussieht … Er wird dafür sorgen, dass ganz Garnet, Amber und Peridot nach ihr Ausschau halten. Und bald der ganze Kontinent.« Ich fuhr mir übers Gesicht. Es würde eine unmögliche Aufgabe sein, für ihre Sicherheit zu sorgen. »Niemand in Citrine darf wissen, wer sie ist.«
»Dann sagen wir, sie ist unsere Heilerin«, schlug Griffin vor. »Das stimmt doch.«
»Im Augenblick«, wandte Amelia ein. »Aber, Kane …«
Ich ahnte, was sie sagen wollte, aber das wollte ich nicht hören. Nicht heute Abend.
Griffin ersparte es mir, mich deswegen mit ihr anzulegen. »Ein anderes Mal.«
»Na gut«, brummte sie und stand schwankend auf. »Aber irgendwann müssen wir mal darüber reden.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er das kann.«
»Ach, jetzt kommt schon.« Amelia wandte sich mir zu und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, um nicht umzufallen. Als ich Griffin nicht widersprach, weiteten sich ihre Augen. »Kane ist ein bisschen besessen von dem hübschen Faenmädchen, von mir aus. Aber er würde sich doch von nichts aufhalten lassen, wenn es darum geht, seinen Vater zu erledigen. Das Volk von Lumera zu befreien. Unsere Königreiche zu befreien, unseren Kontinent. Oder?«
Griffin sagte nichts, blickte aber in meine Richtung.
»Oder?«, fragte Amelia jetzt direkt mich und klang deutlich angespannt.
»Natürlich.« Ich lächelte ausdruckslos. Es spielte keine Rolle, was sie dachte. Ich hatte meine Wahl vor Monaten getroffen und würde die Sache auf die eine oder andere Weise durchziehen.
Amelia schien besänftigt, jedenfalls für den Augenblick, und wankte jetzt zur Tür. »Gut. Ich gehe ins Bett.«
In dankbarem Schweigen tranken Griffin und ich unsere Flaschen aus.
Die ersten trägen Sonnenstrahlen schimmerten auf den ungebärdigen Meereswogen und drangen durchs Kajütenfenster. Mein Mund war trocken, ich war komplett betrunken, und allmählich wurde mir ziemlich flau im Magen. Ich fühlte meine Beine kaum, als ich zur Tür torkelte. »Ich muss pissen.«
In den schmalen Gang unter Deck fiel noch kein Morgenlicht, aber trotzdem sah ich am anderen Ende die Tür zu Arwens Kajüte, die mich zu verspotten schien.
Wovon sie wohl träumte? Vielleicht von Lilien. Oder von diesem grasbewachsenen Hügel in der Nähe ihres Hauses in Abbington. So sehr ich über Amber gelästert hatte, spürte ich nun trotzdem den großen Wunsch, mit ihr dort hinzugehen. Es drängte mich, alles zu berühren, was sie jemals angefasst hatte. Mich auf dem Gras wälzen, auf dem sie einst gelegen hatte. Ich war wie ein Hund, der eine Witterung in der Nase hat. Am liebsten hätte ich in ihr gebadet.
Eine kleine Gestalt stieß in dem schattenhaften Gang gegen mich, und ich fasste instinktiv nach den zarten Schultern vor mir, um mich abzustützen. Es war Arwen, die wie immer nach Orangenblüten und Geißblatt roch. Ich hatte sie seit Tagen nicht mehr berührt, und bei unserem Kontakt lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Ich verstärkte meinen Griff und versuchte, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Ihre ohnehin schon zierliche Gestalt war auf der Reise noch schmaler geworden, das spürte ich an den harten Schulterblättern. Die von kleinen Sommersprossen übersät waren, wie die weißen Tupfen eines Rehkitzes.
»Entschuldigung«, sagte sie.
»Angenommen.«
»Du bist betrunken.« Als sie sich meinem Griff entwand, kam ich durch ihre abrupte Bewegung und das Schwanken des Schiffs leicht ins Stolpern. Sie öffnete den Mund und wollte mich zweifelsohne rügen, wie ich an ihrem herrlichen Schmollmund und der gerunzelten Stirn erkannte, aber das Schiff schlingerte heftig, und sie prallte wieder gegen mich.
»Vorsicht.« Ich fasste nach ihrer Körpermitte, während der Boden unter uns ein wildes Tänzchen aufführte, und Arwen hielt sich aus Reflex an meiner Brust fest. Ich strich ihr mit dem Daumen über die Hüfte. Natürlich nur, um sie festzuhalten, wie ich mir einredete. Damit sie nicht stürzte.
»Hör auf damit«, fuhr sie mich an und stützte sich jetzt gegen die Wand, während das Schiff die nächste Woge nahm.
Sie hat ja recht. Das gehört sich wirklich nicht.
Ein harter Ruck schleuderte sie mit dem Kinn gegen mein Brustbein. Mir brummte der Schädel. »Ich hätte überhaupt nie etwas mit dir anfangen dürfen.«
Die schwankende Laterne am anderen Ende des Flurs ließ schwache Lichtbalken über ihr Gesicht zucken. In ihre olivfarbenen Augen trat ein beleidigter Ausdruck. Oder war es Bedauern? Schmerz? Was auch immer, ich war zu angetrunken, um das zweifelsfrei zu erkennen. Davon abgesehen, war ich nicht einmal nüchtern in der Lage, ihr gegenüber die richtigen Worte zu finden, und betrunken gelang mir das schon gar nicht. »Ich meine nur«, versuchte ich es noch einmal, »ich wusste, was auf uns zukommt. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass wir …«
»Ich weiß, was du meinst.«
Ihr kleines Herz klopfte wild, das spürte ich. Sie sah mich an, als ob …
Dieses Gesicht …
Es waren schon Schlachten aus geringeren Gründen geführt worden. Kriege.
Ein Ruck ging durch das Schiff, dann lag es still. Wir lösten uns voneinander, obwohl in mir alle Alarmglocken läuteten und alles in mir danach verlangte, etwas anderes zu tun. Das genaue Gegenteil. Sie an mich zu binden, ob sie wollte oder nicht, und mit ihr in den Sonnenaufgang zu fliegen. Alles – diesen Krieg, diese Prophezeiung, diese Rache – den anderen zu überlassen und Arwen die Welt zu zeigen. Ihr vor Augen zu führen, wer ich war, mit allen guten und schlechten Seiten. Sie dazu zu bringen, dass sie mir verzieh, indem ich Tage und Wochen wechselweise vor ihr auf dem Bauch kroch und sie liebkoste. Ich war ein schlichter Mann – bei mir hätte diese Strategie verfangen. Vielleicht war auch sie auf diese Weise zum Umdenken zu bewegen.
Stattdessen kehrte ich um und stolperte zur Kapitänskajüte zurück, wobei ich beinahe das Gleichgewicht verlor und um ein Haar den glitschigen, nassen Boden geküsst hätte. Dann hielt ich die Augen fest auf meine Schuhe gerichtet, bis ein entnervter Seufzer mich dazu brachte, sie wieder zu heben. Nun, da das Schiff seine Sturmfahrt beendet hatte, stand Griffin in der Kajütentür.
Er betrachtete uns. Wahrscheinlich wirkten wir beide schuldbewusst, auch wenn ich keinen Grund dafür hätte nennen können. Es war eine alberne Situation, und ich musste mich beherrschen, um nicht zu grinsen. Es war unglaublich, wie sehr mir jegliche Kontrolle entglitten war. Arwen interpretierte meinen Gesichtsausdruck offenbar anders, denn sie schnaubte wie ein wütendes Pferd.
Griffin bedachte uns beide mit einem Kopfschütteln. »Wir sind da.«
ARWEN
Nach einem Blick auf Griffins finstere Miene beschloss ich, zu verschwinden und die Treppe zum Deck in Rekordzeit hinaufzueilen. An meinen Schultern und meiner Taille haftete noch immer die Erinnerung an Kanes große, warme Hände. Diese Begegnung war zu eng, zu aufgeladen gewesen. Ich holte tief Luft, um die Anspannung aufzulösen, die meinen Körper ergriffen hatte. Den Steinen war dafür zu danken, dass er so betrunken gewesen war. Solange er mit schwerer Zunge kein Wort gerade herausbekam, konnte man seine sinnliche Ausstrahlung, sein verruchtes Charisma leicht ignorieren.
Oder zumindest leichter.
Ich stieß die dicke Eichentür auf, und ganz unerwartet strömte Sonnenlicht über mein Gesicht. Die warmen Strahlen kitzelten meine Haut und ließen mich wieder an Onyx denken – an gemähtes Gras, weiße Schmetterlinge und zirpende Grillen. Nachdem es die letzten zehn Tage unaufhörlich gegossen hatte, war mir beinahe entfallen, dass es noch immer Sommer war.
Die Zeit verging, die Welt drehte sich weiter. Obwohl meine Mutter gestorben war. Obwohl wir so viel verloren hatten. Und trotz allem, was ich getan hatte.
Das Sonnenlicht tauchte die hoch in den Himmel ragenden Masten in einen Schimmer wie flüssiges Gold. Eigentlich hätte ich bei diesem Anblick lächeln sollen. Wieder kam mir meine Mutter in den Sinn. Was sie wohl gedacht hätte, wenn ich unter so leuchtender Sonne ein so finsteres Gesicht machte.
Aber das strahlende Licht erinnerte mich nur an die vielen Leben, die ich in meinem Zorn vernichtet hatte, als meine Macht so unkontrolliert aus mir hervorgebrochen war. Ich sah tropfendes Rot aufblitzen, hörte das Knacken von Knochen, und plötzlich wurde mir schlimmer übel als zuvor, als das Schiff noch wie ein Stück Treibholz auf den Wellen tanzte.
Nach und nach kamen auch die anderen Passagiere an Deck. Manche hielten Abstand von mir, begaben sich sofort an die Reling oder drängten sich unter den bauschenden Segeln zusammen. Nachdem sie mit angesehen hatten, wozu ich in der Lage war, wollten sie nicht mehr in meine Nähe kommen, und das konnte ich ihnen nicht verübeln.
Andere waren einfach nur glücklich, dass der Sturm nachließ, und als ich sie miteinander reden hörte, konnte ich mich aus dem verworrenen Netz meiner Gedanken lösen. Sogar Amelia, die ebenfalls ziemlich betrunken aussah, lächelte ausnahmsweise und wandte ihr gebräuntes Gesicht dem Himmel zu.
Doch es war seltsam: Hatte Griffin nicht behauptet, dass wir unser Ziel erreicht hatten? Nirgendwo war Land zu sehen. Sicherheitshalber ging ich noch einmal zur anderen Schiffsseite hinüber, aber auch dort bot sich kein anderes Bild; wir ankerten inmitten endloser, blauer Weite. Außer sich kräuselnden Wellen und der einen oder anderen Möwe über unseren Köpfen war nichts zu sehen.
»Bei den heiligen Steinen, es ist vorbei!« Mari, die jetzt auf mich zukam, freute sich hörbar.
Ryder folgte in ihrem Kielwasser, so wie er es die ganze Fahrt über getan hatte. Er konnte das Flirten nicht lassen, und offenbar richtete sich sein ganzes Interesse gerade auf meine einzige Freundin. Nachdem ich mein Leben lang jeden Menschen mit meinem wesentlich charismatischeren Bruder hatte teilen müssen, hätte ich erwartet, dass mich das richtig nervte. Aber dort, wo sich früher meine Eifersucht verborgen hatte, gähnte nur ein leerer Brunnen. Dafür gab es jemand anderen an Bord, der sich deutlich daran störte, dass Ryder um Mari herumschwänzelte.
»Hexe«, sagte Griffin grußlos zu Mari, während er die Schnallen seines schwarzen Lederharnischs wieder festzog, »der König braucht deine Hilfe.« Sein Gesichtsausdruck gab nichts preis – wie üblich –, aber seine Bewegungen waren fahrig und nervös, und nachdem sein Brustpanzer wieder richtig saß, zupfte er an seinem Kragen.
So etwas hatte ich vorher bei ihm noch nie erlebt.
»Also wirklich, Mann«, schalt Ryder. »Ihr kennt ja wohl ihren Namen.«
»Immerhin nenne ich sie nicht Rotschopf«, gab Griffin zurück und warf Ryder einen so tödlichen Blick zu, dass selbst ich mich beinahe wegduckte.
Aber Ryder grinste nur und sah Mari von der Seite an. »Das ist nur liebevoll gemeint«, erklärte er, drehte eine ihrer leuchtenden, lockigen Haarsträhnen um seinen Finger und zupfte spielerisch daran. »Sie weiß, dass ich sie genug respektiere, um sie Mari zu nennen. Nicht wahr, Rotschopf?«
Ein Blick auf Griffin zeigte mir, dass er ganz offensichtlich überlegte, welche Folgen es nach sich zöge, wenn er Ryder den Finger abriss und über die Bordwand ins Meer warf.
Ich versuchte, ihn mit einem etwas freundlicheren Gesichtsausdruck zu bedenken. Zwar war ich mir nicht sicher, ob er mich besser leiden konnte, seit ich durch die grenzenlose Trauer schwermütiger geworden war, oder ob ich ihn lieber mochte, weil er nie ein künstliches Lächeln oder eine falsche Aufmunterung erwartete. Jedenfalls kamen wir beide mit der neuen Dynamik zwischen uns gut zurecht.
Mari lächelte Ryder unverbindlich an, wurde aber nicht einmal rot. Sie war in dieser Hinsicht ein wenig distanziert; eine ihrer eher überraschenden Charaktereigenschaften. Sie zog zwar stets die Blicke des anderen Geschlechts auf sich, interessierte sich aber im Gegenzug höchstens dann für einen Mann, wenn der ihr einen wissenschaftlichen Text anbieten konnte. Ich wusste, dass das gar nicht so sehr aus Gleichgültigkeit geschah, sondern auf ihren Selbsterhaltungstrieb zurückzuführen war. Als Heranwachsende war sie von Jungen drangsaliert worden, und seitdem ging sie allen Männern aus dem Weg. Auf Außenstehende wie Ryder wirkte sie dadurch selbstbewusst. Unerreichbar. Nur ein einziges Mal hatte ich sie anders erlebt – bei diesem bizarren Abendessen mit Griffin in Schlangenquell, über das sie seitdem nie wieder hatte reden wollen, obwohl ich immer wieder davon angefangen hatte.
»Na schön«, unterbrach ich in der Hoffnung, uns noch eine weitere Runde dieses lächerlichen Kleinkriegs zu ersparen. »Griffin, wir kommen mit Euch.«
Griffin stieß hörbar die Luft aus, und wir folgten ihm zu einem Grüppchen von Leuten, das sich um König Eryx geschart hatte. Der abgesetzte König der Peridot-Provinzen stand unter der Takelage, und hinter ihm erstreckte sich nun, da sich der Sturm vollends gelegt hatte, ein klarer, blauer Horizont. Eryx rieb sich gedankenverloren seinen Spitzbauch und ließ den Blick stolz über sein maritimes, neues Reich schweifen. Sein wächsernes, dünner werdendes Haar, das dieselbe weiße Farbe hatte wie das seiner Tochter, flatterte in der Meeresbrise.
Wir drängten uns zwischen den Umstehenden hindurch und blieben bei Barney stehen, der natürlich neben Kane und Leigh Wache hielt. Natürlich. Mir drehte sich der Magen um.
Er zeigte ihr gerade den Knauf seines Schwerts, und das Sonnenlicht funkelte auf dem glänzenden Metall und spiegelte sich in Leighs großen Augen. Gern hätte ich die beiden unterbrochen, irgendetwas über Waffen gesagt, die nicht in Kinderhände gehörten, aber Leigh zeigte zum ersten Mal seit Tagen wieder Interesse an irgendetwas. Mir gegenüber mochte Kane zwar immer wieder schrecklich falsche Entscheidungen treffen, aber … zu Leigh war er sehr gut.
»Endlich mal wieder ein schöner Tag«, sagte Barney, der zu den geblähten weißen Segeln über uns hinaufsah. Seine Glatze schimmerte in der hellen Sonne. »So sollte es immer sein, wenn man über das Meer segelt.«
Barney war echter Lichtblick; allein er und Mari hatten diese Reise für alle anderen ein wenig erträglicher gemacht. Ich versuchte, ihn anzulächeln. »Wart Ihr schon einmal in Citrine?«
»Noch nie. Aber ich habe schon viele großartige Dinge darüber gehört. Einige Männer der Königsgarde waren mit Seiner Majestät hier und haben berichtet, dass es eine Erfahrung war, die ihr Leben verändert hat.«
Den Steinen sei Dank. Genau so eine Erfahrung brauchte ich jetzt. Vielleicht konnte ich wie Mari werden und mein Leben dem Erforschen und Erlernen neuer Dinge widmen. Jedenfalls das bisschen Leben, das mir noch blieb.
Uh.
Von meinem Selbstmitleid wurde mir selbst übel.
Ein sonniger Tag, eine sonnige Arwen. So musste es sein.
»Es war eine schauderhafte Reise.« König Eryx’ dröhnende Stimme ließ das Geschnatter der Leute verstummen. »Aber das Elend ist endlich vorüber. Ich habe uns zum sichersten Königreich in ganz Evendell geführt.« Durch die Menge, die sich rund um ihren König versammelte, ging ein erleichtertes Raunen. Ein Mann klatschte übereifrig, und Eryx grinste voller falscher Bescheidenheit.
Nur mit Mühe konnte ich ein Augenrollen unterdrücken.
Eryx wandte sich weiterhin an die durchnässten Passagiere, aber auf Kanes leises Lachen hin wandte ich den Kopf und sah, wie Leigh zu ihm aufblickte und schelmisch grinste. Ohne weiter darüber nachzudenken, wandte ich mich an Barney und bemerkte: »Meint Ihr nicht auch, dass betrunkene, ältere Männer nicht mit zehnjährigen Mädchen über andere Leute lästern sollten?«
Barney erbleichte und sah zwischen mir und seinem König hin und her. Offenbar hatte ich lauter gesprochen als beabsichtigt, denn Leigh wurde puterrot, wandte sich von uns ab und verschwand in der Menge. Ich wollte ihr nach, aber Kane fasste mich am Arm; meine Haut wurde heiß unter seiner Berührung. Mit einem Ruck riss ich mich los.
»Sieh doch nur, was du angestellt hast«, schalt er mich leise. »Das war der Kleinen furchtbar peinlich.«
Ich warf ihm einen giftigen Blick zu, aber während ihm der frische Wind das Haar ins Gesicht wehte und der Sonnenschein auf seinen silbernen Ringen funkelte, wirkte er tatsächlich völlig ruhig. Er ließ mich los und schob seine Hand in die Tasche. »Und außerdem bin ich nicht betrunken. Nicht mehr.«
»Das kann gar nicht sein.«
»Psssst!«, zischte eine Frau mit hartem Gesicht, die sich kurz zu uns umwandte und dann gleich wieder ihre Aufmerksamkeit auf Eryx richtete.
Voller Scham schoss mir die Röte in die Wangen und kühlte meinen Zorn. Ich versuchte, mich auf Eryx zu konzentrieren, der wild gestikulierte, während er über seine lange, historische Verbundenheit mit Citrine salbaderte.
»Deine Hexenfreundin hat mir gestern einen Nüchternheitstrank gebraut«, unterbrach Kane meine Konzentration mit tiefer, samtiger Stimme. »Würdest du dich in meinem Namen bei ihr bedanken?«
Hätte man mich in diesem Moment als Illustration für ein Märchenbuch gezeichnet, hätte sich mir wohl Rauch aus den Ohren gekräuselt. Kane wusste genau, wie sehr ich mich daran störte, dass er mit Leigh so vertraut war, und das Vergnügen über meine Genervtheit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Dieser selbstzufriedene, nervtötende, lügende Drecks…
»Und nur noch mal zur Information«, hörte ich ihn ganz dicht an meinem Ohr, und als er sich zu mir hinunterbeugte, überwältigte sein Geruch nach Zedernholz und Whiskey meine Sinne. »Ich verbringe deshalb Zeit mit Leigh, weil sie einsam ist. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert.«
Ich gab mir keine Mühe, meine Stinkwut zu tarnen. »Ich kümmere mich sehr gut um sie.«
In dem angespannten Schweigen, das nun folgte, ließ ich mich wieder auf Eryx’ Rede ein. »Nach vielen Jahren der Trennung wird uns mein lieber Freund, König Broderick, wärmstens willkommen heißen, davon bin ich überzeugt. Wir müssen nur einige besondere Maßnahmen treffen, bevor wie die Hauptstadt Azurine betreten.«
Jetzt meldete sich Ryder und deutete auf die weite, wogende Wasserfläche rund um das Schiff. »Betreten? Entschuldigung, Euer Majestät, aber hier ist doch auf Meilen nichts.«
Auch ich ließ den Blick wieder über das Meer schweifen. Ryder hatte recht, aber in mir wallte trotzdem keine Angst, keine Nervosität auf. Die anderen Passagiere begannen allerdings besorgt zu murmeln. Die muskelbepackten Männer, die Eryx’ Königsgarde bildeten, versteiften sich angesichts der Unruhe, die sich auf Deck ausbreitete, und der König hob die Hand, um die Leute zu beruhigen, lief allerdings leicht rot an. Kane grinste nur sardonisch, wobei sich auf seiner unrasierten Wange ein Grübchen bildete.
»Das Königreich Citrine ist für das bloße Auge unsichtbar«, erklärte Eryx jetzt etwas lauter und weniger gefasst. »Weil es unter uns liegt. Auf dem Meeresboden.«
ARWEN
Eine versunkene Stadt? Man hatte uns doch Sicherheit versprochen.
Ich starrte Kane fassungslos an, aber er wirkte wie immer völlig gelassen, als hätte Eryx lediglich gesagt: Das Königreich ist gleich die Straße runter, erste Kreuzung links.
»Keine Angst«, fuhr Eryx fort. »Habe ich uns jemals in Gefahren geführt? Die besonderen Maßnahmen, die ich soeben erwähnte, werden uns helfen, über einen Ozeangraben zum sicheren Strand der Stadt zu gelangen. Glücklicherweise habe ich dafür gesorgt, dass eine talentierte Hexe uns begleitet.« Mein Blick fiel auf Mari, die gefasst lächelte und ihr Amulett umklammerte. »Sie muss lediglich mit einem Zauberspruch dafür sorgen, dass alle Passagiere unter Wasser atmen können. Alles Weitere erledigt dann der Trichter.«
Zu Maris Ehrenrettung musste ich sagen, dass sie weiter selbstbewusst lächelte und bestätigend nickte. Aber ich kannte sie gut genug, um die Anspannung in ihren Augen zu lesen. Sie wollte vor all diesen Leuten auf keinen Fall versagen.
»Keine Sorge«, schnurrte Kane. »Der Zauberspruch ist das am wenigsten Unangenehme an der ganzen Sache. Und falls es damit nicht klappt, soll Ertrinken ja nur ein kleines bisschen quälend sein, bevor man den Löffel abgibt, habe ich jedenfalls gehört.«
Nachdem mein Herz tagelang reglos wie ein Stein in meiner Brust gelegen hatte, regte sich jetzt endlich ein kleines bisschen Angst und ließ mein Blut schneller fließen. Es war gleichermaßen scheußlich und doch sehr erleichternd. Zwar wollte ich mit Kane eigentlich keinen Augenblick länger sprechen, aber eins musste ich doch noch wissen.
»Was heißt unangenehm?«
Etwas wie Mitgefühl ging kurz über sein Gesicht, und als er mir nun antwortete, war sein Ton insgesamt weicher. »Es ist ein surreales Gefühl, Wasser einzuatmen. Aber der Trichter ist schnell. Das Ganze ist vorüber, bevor man es richtig mitbekommt.«
»Und wenn wir dann in Azurine sind? Wird im ganzen Reich Wasser eingeatmet?«
»Nein, Citrine hat seine eigene Atmosphäre. Das ist eine uralte Magie, die sich von der Zauberkunst der Hexen oder Faen unterscheidet. Die Meermagie sorgt seit vielen Tausend Jahren für die Sicherheit des Landes. Noch nie ist es jemandem gelungen, gewaltsam in das Reich einzudringen.«
Ich nickte, obwohl mir ein Schauer über den Rücken lief. Die Vorstellung, keine Luft atmen zu können, war schrecklich; meine Handflächen wurden feucht. Dann spürte ich Kanes große Hand auf meinem Rücken. Er streichelte mich mit kleinen, kreisenden Bewegungen, und ich versteifte mich.
»Was machst du da?«
Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, schien Kane um eine Antwort verlegen. Er ließ die Hand sinken und schluckte. »Ich dachte … es sah so aus, als ob du …«
»Fass mich nicht an.«
Als Kane nicht reagierte, sah ich an Barney vorbei zu Mari. »Wie schwierig wird das?«
»Kein bisschen«, sagte sie, während sie immer noch über ihr Amulett strich. Vielleicht hätte sie noch mehr gesagt, aber plötzlich bekam sie große Augen und schob die Kette unter die hochgeschlossene Leinenbluse. Ryder zog die Augenbrauen in die Höhe und hörte auf, Eryx zuzuhören, um sich stattdessen auf unser Gespräch zu konzentrieren. Ich folgte Maris Blick und stellte fest, dass Kane uns drei anstarrte.
Es war Zeit für ein Geständnis. »Mari, er weiß Bescheid.«
Maris Wangen färbten sich rosig. »Es tut mir so leid, König Ravenwood. Es …«
»Das Amulett steht dir viel besser als mir.« Auf seine Bemerkung hin lachte Mari zwar, aber es klang eher wie ein erleichterter Seufzer. »Eins muss ich dir allerdings sagen«, fuhr Kane fort und beugte sich zu uns. Mir wurde schlecht. Er konnte ihr das doch nicht ausgerechnet jetzt erklären, bevor sie …
»Briar wäre sehr eifersüchtig, falls sie jemals erführe, dass ich ihr kostbares Amulett einer anderen Frau gegeben habe. Noch dazu einer anderen schönen Hexe. Wir sollten das für uns behalten, ja?«
Mari nickte, und ich atmete erleichtert aus.
»Bitte stellt euch vor der jungen Hexe auf«, befahl Eryx den Passagieren.
Ich brachte ein Lächeln zustande und sah Mari an. »Viel Glück.«
Maris Hand lag auf meiner Brust, als die Magie uns umfing, mein Haar und meine Röcke aufwirbelte und meine Haut küsste. Ein Geruch nach Erde und Moos lag in der Luft, und kaum, dass es begonnen hatte, war es auch schon wieder vorüber.
Ich fühlte mich nicht anders als vorher. Ein kurzer Blick an mir hinunter brachte mich zu der Überzeugung, dass mein Körper auch nicht anders aussah. Die anderen Passagiere, die Mari schon verzaubert hatte, wurden von Eryx’ Gardisten an die Bordwand geführt, aber ich trat einstweilen noch zur Seite, um auf Leigh zu warten.
Griffin kam als Nächster. Mari war mindestens einen Fuß kleiner als er, aber sie drückte ihm dennoch selbstbewusst die Handfläche gegen die Brust. Dann stimmte sie einen tiefen, rhythmischen Gesang an, und das wilde Flammenhaar umspielte ihr Gesicht, während Griffin mit zusammengebissenen Zähnen dastand und die Hände fest hinter dem Rücken verschränkt hielt. Er sah überall hin, nur nicht zu ihr, und seine Wangen hatten eine leicht rosige Färbung angenommen.
Als sie fertig war, trat Griffin beiseite und rieb sich gedankenverloren die Stelle, die sie mit ihrer Hand berührt hatte.
Leigh kam als Nächste, und danach traten wir gemeinsam auf die Planke.
»Taucht zum Trichter hinunter«, erklärte uns einer der Gardisten. »Er liegt drei Fuß unter der Oberfläche. Sobald ihr drin seid, kräftig schwimmen. Sobald ihr Land seht, fangt ihr an zu laufen.«
»Laufen?«, fragte Leigh. »Wie denn laufen?«
Aber der Mann gab schon den Nächsten hinter uns dieselben knappen Anweisungen.
Kalte, salzige Luft fuhr mir prickelnd ins Gesicht, als wir über die Planke schritten, die am Heck angebracht worden war, und dann starrte ich zu den dräuenden Wellen unter uns, eiskalt und tief. Kleine Schaumkappen schwappten spritzend gegeneinander.
Angst überlagerte meinen klaren Blick. Vielleicht konnten Leigh und ich einfach immer weitersegeln. Dieses Schiff hier nehmen, segeln und segeln und segeln und nie wieder umkehren.
»Bereit?« Leighs Stimme durchdrang mein Entsetzen.
Gemeinsam holten wir tief Luft, und dann sprangen wir.
Bevor ich ins Wasser fiel, schoss mir ein einzelnes Bild durch den Kopf …
Das leblose Gesicht meiner Mutter.
Mein Gehirn spürte die Kälte, noch bevor sie meinen Körper erreichte. Ich wusste einfach, dass es so viel kälter war, als ich erwartet hatte. Nur einen Augenblick später spürten meine Glieder die stechende Schärfe, mit der uns die beißende, bitterkalte See umfing. Ich versuchte, mein panisch schlagendes Herz zu beruhigen – und die seltsame Erinnerung an meine Mutter abzuschütteln, die sich in meine Gedanken gedrängt hatte. Wir mussten schwimmen. Obwohl das Salz in meinen Augen brannte und meine Zähne klapperten, stieß ich Leigh voran.
Das Meer war endlos tief, mein Blick verschwommen, aber dennoch sah ich die offene Mündung des Trichters unter uns. Wie eine mundgeblasene Vase, die sich weit öffnete und dahinter verjüngte. Wir schwammen darauf zu, ohne uns weiter umzusehen.